Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen,...

225
Jägerstrasse 63 d • D - 10117 Berlin • Tel.: +49 (0)30 - 206410-21 Fax: +49 (0)30 - 206410-29 www.deutsche-orient-stiftung.de • www.deutsches-orient-institut.de • [email protected] Der Arabische Frühling Auslöser, Verlauf, Ausblick Studie des Deutschen Orient-Instituts September 2011

Transcript of Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen,...

Page 1: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Jägerstrasse 63 d • D - 10117 Berlin • Tel.: +49 (0)30 - 206410-21 • Fax: +49 (0)30 - 206410-29 www.deutsche-orient-stiftung.de • www.deutsches-orient-institut.de • [email protected]

Der Arabische FrühlingAuslöser, Verlauf, Ausblick

Studie des Deutschen Orient-InstitutsSeptember 2011

Page 2: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Inhalt

Deutsches Orient-Institut

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ........................................................................................................................................ 2

Maghreb

Tunesien....................................................................................................................................... 5

Ägypten ..................................................................................................................................... 18

Libyen ........................................................................................................................................ 34

Algerien ..................................................................................................................................... 60

Marokko ..................................................................................................................................... 67

Mashrek

Syrien ........................................................................................................................................ 74

Libanon ...................................................................................................................................... 84

Jordanien ................................................................................................................................... 92

Irak ........................................................................................................................................... 102

Palästinensische Autonomiegebiete ........................................................................................ 115

Golfstaaten

Saudi-Arabien .......................................................................................................................... 126

Jemen ...................................................................................................................................... 141

Vereinigte Arabische Emirate .................................................................................................. 151

Katar ........................................................................................................................................ 160

Bahrain .................................................................................................................................... 168

Oman ....................................................................................................................................... 180

Kuwait ...................................................................................................................................... 187

Externe Akteure

Türkei ....................................................................................................................................... 194

Deutschland, die Europäische Union und der „Arabische Frühling” ........................................ 208

Vorstand und Kuratorium der Deutschen Orient-Stiftung......................................................... 221

Vorstand und Beirat des Nah- und Mittelost-Vereins- NUMOV................................................ 222

Impressum................................................................................................................................ 224

Page 3: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Deutsches Orient-Institut

DER GRÖßTE SIEG DES ARABISCHEN FRÜHLINGS LIEGT IN SEINER REIFE; SEIT LANGEM

HÄUFEN SICH DIE DEMÜTIGUNGEN, WIRD DIE VERACHTUNG IMMER UNERTRÄGLICHER, IST DAS FASS AM ÜBERLAUFEN UND DROHT SOGAR IN TAUSEND TEILE ZU ZERBERSTEN.

DOCH DIE GESCHICHTE HAT IHREN EIGENEN RHYTHMUS UND IHRE EIGENE LOGIK, DIE NICHT IMMER DENEN DER HISTORIKER ENTSPRECHEN.

Taher Ben Jalloun, in: Arabischer Frühling. Vom Wiedererlangen der arabischen Würde, Bonn 2011, S. 11.

DIE REVOLUTION IST DIE ERFOLGREICHE ANSTRENGUNG, EINE SCHLECHTE REGIERUNG LOSZUWERDEN UND EINE SCHLECHTERE ZU ERRICHTEN.

Oscar Wilde

MAN KANN NIEMALS EINE REVOLUTION MACHEN, UM DAMIT EINE DEMOKRATIE ZU

GRÜNDEN. MAN MUSS EINE DEMOKRATIE HABEN, UM EINE REVOLUTIONHERBEIFÜHREN ZU KÖNNEN.

Gilbert Keith Chesterton

WER MIT 19 KEIN REVOLUTIONÄR IST, HAT KEIN HERZ. WER MIT 40 IMMER NOCH EIN REVOLUTIONÄR IST, HAT KEINEN VERSTAND.

Theodor Fontane

Page 4: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Vorwort

Deutsches Orient-Institut 2

Vorwort

Der Mann, der zu einem der wichtigstenGesichter des „Arabischen Frühlings“werden sollte, war bei seinem Tod am

4. Januar 2011 gerade einmal 26 Jahre alt –im März hätte er Geburtstag gefeiert. Der tu-nesische Gemüsehändler Muhammad Bou-azizi, geohrfeigt und entehrt von einertunesischen Polizistin, verbrannte sich ausVerzweiflung über die Korruption einer elitä-ren Bürokratie, über die Willkürherrschafteines tunesischen Staates, der sich selbst vielnäher war als seinem Volk.

Der Tod dieses jungen Tunesiers wurde derFunke, der die Zündschnur entflammte. Mitt-lerweile gehen in vielen Ländern der arabi-schen Welt Menschen auf die Straße,demonstrieren für Würde, Teilhabe, Respekt,gegen Armut, Arbeitslosigkeit und Korruption.Bouazizi wurde, ebenso wie später der Blog-ger Khaled Said in Ägypten, in diesem „Arabi-schen Frühling” zum Symbol für viele anderejungen Menschen einer entrechteten Genera-tion, deren Wut, Zorn und Perspektivlosigkeiterst das Regime von Ben Ali in Tunesien, spä-ter das von Hosni Mubarak in Ägypten stür-zen sollte und in anderen arabischen Ländernwie Syrien oder Jemen Triebfedern des Auf-stands sind.

Viel ist geschrieben und gesagt worden über„die arabische Jugend“, die mit ihrem Enthu-siasmus, politischen Willen, Mut und ihrer Mo-bilität die „jungen Gesichter“ dieses„Arabischen Frühlings” geworden sind. Wäh-rend in der Vergangenheit ihre Bedeutungmarginalisiert oder nicht selten negiert wurde,bilden sie nun die Speerspitze des erhofftenWandels – so stellt sich zumindest die verän-derte Breitenperzeption in der medialen Öf-fentlichkeit dar.

Die Dynamik und die Wucht, mit der die tune-sischen, libyschen, jemenitischen oder syri-schen Jugendlichen auf die Straße gehen,ihre Rechte einfordern und sich einem seitJahrzehnten etablierten Repressions- undVerfolgungsstaat entgegenstellen, haben inder internationalen Beobachtung zu Staunenund Respekt geführt. Grund für dieses Stau-

nen, für diese offen gezeigte Überraschung,war die als pauschalisierendes Mantra ge-brauchte Formel, die Araber seien träge, un-politisch und genügsam, was in derKonsequenz mündete, sie seien zu weit rei-chenden Veränderungen im politischen Sys-tem nicht fähig. Dies war ein Trugschluss.Dass nun der Widerstand aus der Mitte der je-weiligen Gesellschaften kam, verursachtegravierende Argumentationslücken und zeigteauf, wie fremd „uns“ die „anderen“ arabischenGesellschaften bis heute sind.

Denn die plötzlich sichtbare Dynamik der Ju-gend ist nur das letzte Fanal einer sich seitLangem wandelnden islamischen Welt. In fastallen arabischen Ländern beträgt der Anteilder Menschen unter 25 Jahren mindestensein Drittel. In Algerien, Ägypten, Libyen undMarokko sind weit über 60% unter 35, in Jor-danien und Saudi-Arabien gar über 70%.Ebenso hoch ist die Arbeitslosigkeit, die z.B.in Algerien, Ägypten, Jordanien, Marokko, Sy-rien und Saudi-Arabien offiziell ca. 10% be-trägt. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt weitaushöher; so konstatieren Experten für das ölrei-che Saudi-Arabien eine Arbeitslosigkeit beiSaudi-Arabern unter 25 von etwa 30%.1

Gleichzeitig übersteigt das Bildungsniveauzumindest das der Eltern bei Weitem. Diesbelegen auch statistische Einschätzungendes United Nation Development Programme

(UNDP): So erreichten Länder wie Algerien(Koeffizient: 0,708), Jordanien (0,797), Libyen(0,859), Tunesien (0,739), Libanon (0,797)oder Saudi-Arabien (0,779) verhältnismäßiggute Bewertungen2 . Beispielsweise rangierenSaudi-Arabien, Jordanien, Libyen oder der Li-banon vor Ländern wie Türkei, Malaysia oderChina. Bahrain nimmt unter den arabischenLändern auf Platz 54 den Spitzenplatz ein, ge-folgt von Jordanien und dem Libanon auf denRängen 67 und 68. Schlusslicht auf Platz 171von 177 ist der Jemen. Auch Marokko undIrak bewegen sich auf Platz 139 und 144 imunteren Drittel. Bemerkenswert ist allerdingsin allen arabischen Ländern der Entwick-lungsfortschritt, der sich in den letzten 40 Jah-ren beim Bildungsniveau vollzogen hat. Sostieg in Libyen der Bildungsindex von 0,383(1970) auf 0,859 im letzten Jahr. Ähnlich ra-sante Entwicklungen vollzogen sich in Bah-

1 Die Diskrepanz zu den offiziellen Statistiken rührt auch daher, dass Frauen nicht aufgeführt werden, aller-dings häufig keine Anstellung finden, da die patriarchalische Geschlechterordnung in Saudi-Arabien denFrauen nur wenige Berufsperspektiven bietet.

2 Bei der Kategorisierung des UNDP beschreibt der Wert „1“ das höchste, die „0“ das niedrigste Bildungs-niveau. Spitzenreiter ist Australien mit einem Wert von 0,993. Deutschland rangiert auf Platz 28 (0,878).

Page 5: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Vorwort

Deutsches Orient-Institut3

rain (0,511 auf 0,817), in Ägypten (0,333 auf0,647), in Saudi-Arabien (0,267 auf 0,779), inTunesien (0,346 auf 0,739) oder in Oman(0,172 auf 0,706).

Doch trotz all dieser Positiventwicklungen istdie Qualität der jeweiligen Bildungssystemeinternational nach wie vor nicht konkurrenzfä-hig. Noch immer bestimmen Auswendiglernenund Frontalunterricht den Schul- und Univer-sitätsalltag, eigenständiges, kreatives Den-ken, das Stärken des Problembewusstseinssowie eine breite geisteswissenschaftlicheBildung sind die Rarität an arabischen Univer-sitäten. In Libyen war es bis vor einigen Jah-ren verboten, eine Fremdsprache zu erlernen.Hinzu kommt die oftmals besser ausgebildeteKonkurrenz aus dem Ausland: Facharbeiteraus Europa sind nach wie vor begehrter alseinheimische Arbeitskräfte. Dies gilt insbeson-dere für die Golfstaaten. Zwar verfolgt fastjedes Land mittlerweile eine Nationalisie-rungspolitik des einheimischen Arbeitsmark-tes, aber neben der besseren Qualifikation,die sie mitbringen, fordern die ausländischenGastarbeiter häufig weniger Gehalt. DieFolge: Die Arbeitslosigkeit bei den Einheimi-schen steigt, während das Anspruchsdenkenauf hohem Niveau stagniert. Hier erscheintder soziale und finanzielle Druck noch gerin-ger als in anderen arabischen Staaten wieÄgypten und Tunesien. Doch sollten die Allo-kationsmechanismen der Golfstaaten mittel-fristig versagen und die sozialen bzw.familiären Netzwerke junge Arbeitslose nichtmehr auffangen können, könnte dies zu weitreichenden Protesten aus sozioökonomi-schen Motiven führen.

Eines zumindest scheint sich zu bewahrhei-ten: Die arabische Jugend besteht keines-wegs aus willfährigen Untertanen.Stattdessen ist sie längst Teil der globalisier-ten Welt. Vernetzt über Internet, Facebook

oder Satellitenfernsehen wie al-Jazeera parti-zipieren sie viel stärker an den Entwicklungender Postmoderne, als es von Seiten einerwestlichen Öffentlichkeit wahrgenommenwurde. Dabei spielen Entwicklungschancen,Bildungsaufstieg, Karriere, Selbstverwirkli-chung und Teilhabe an der kapitalistischenKonsumgesellschaft eine viel größere Rolleals beispielsweise die Religion. Dass der„Islam als die Lösung“ keine besonders hoheAttraktivität mehr für viele junge Muslime be-sitzt, zeigte sich auf den Straßen in Kairo oderTunis. Individuelle, pragmatische Forderun-

gen standen im Vordergrund, keine Visioneines islamischen Kalifats, einer islamisti-schen Herrschaft oder einer einendenummah. Das Schreckensszenario neuer Got-tesstaaten erfüllte sich bisher nirgends. Auchdies war überraschend und augenöffnend für„uns“, „den Westen“ – für die jungen Muslimeaber bereits lange Teil ihrer Identität und ihrerRealität. Die letzten Monate bewirkten dahernicht nur einen fundamentalen Wandel in derpolitischen Landschaft im Nahen und Mittle-ren Osten, sie modifizierten auch die Sicht ex-terner Akteure auf die jungen Gesellschaftenin der arabischen Welt. So bleibt der Islam mitSicherheit ein wichtiger Anker, ein spirituellerHalt und eine traditionelle Konstante für jungeMuslime, aber sollte längst nicht als der wich-tigste identitätsstiftende Faktor gesehen wer-den.

Hinzu kommt, dass es keine einheitliche ara-bische Jugend gibt, so wie es nicht eine isla-mische Welt gibt. Die islamisch geprägtenGesellschaften sind so heterogen, dass jedePauschalisierung von der Realität binnenTagen überholt werden kann. Der „ArabischeFrühling” zeigt demnach „die islamischenWelten“, wie sie auch sind: Bunt, dynamisch,änderungswillig, kämpferisch, hoffnungsfroh,ambivalent, konflikt- und komplexbeladen, un-sicher, auf der Suche nach Identität. Die Ju-gend, ihr Aufschrei und die Mittel, die sienutzen, zeigen andere Facetten dieser multi-dimensionalen Welt mit ihren heterogenenGesellschaften. Sie ringen um ihre Rechteund ihre Freiheit und fordern Pluralismus imSystem. In der innergesellschaftlichen Struk-tur herrschte diese stets. Die heutige Gene-ration der arabischen Jugend wuchs auf inrepressiven Systemen, viele kennen nureinen politischen Führer, sei es Ali AbdallahSalih im Jemen, seit 1978 an der Macht,Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 JahreÄgyptens Präsident war, oder Vater Hafiz undSohn Bashar al-Asad, die Syrien insgesamt40 Jahre lang regieren. Verkrustete, korrupteund repressive Regime bestimmten den Alltagvieler junger Menschen. Sie arrangierten sichmit dem Nepotismus, den Patronage- undKlientelnetzwerken. Sie wuchsen auf mit derideologisch verbrämten sozialistischen, natio-nalistischen oder royalistischen Propagandader diversen Regimes. Doch sie gewöhntensich nicht an die Unterdrückung der indivi-duellen Freiheit, der Presse und der Mei-nungsvielfalt. Stattdessen schufen sieGegengesellschaften, individuelle Netzwerke,

Page 6: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Vorwort

Deutsches Orient-Institut 4

die flexibel und chamäleonartig den Fängender Sicherheitsapparate entflohen, die sichinteraktiv austauschten und sich über dasInternet internationalisierten. In diesen Tagenscheint es, als hätten immer mehr ihre Angstvor den Repressionsmaschinerien der Regi-mes verloren. Die einstmaligen postkolonialenBefreier haben längst Ansehen, Akzeptanz,Autorität und Unterstützung weiter Teile derjungen Menschen verloren. Heute spielenIdeologien oder Führeridole keine Rolle mehrbei der Jugend. Die säkularen Ideologienhaben ebenso wie der Islamismus den jungenFrauen und Männern keinen wirtschaftlichenFortschritt und individuelle Verwirklichungs-möglichkeiten gebracht. Es scheint so, als be-freiten sie sich aus der Illusion, ihr Schicksalkönne von anderen Akteuren zum Besserengewendet werden. Der „Arabische Frühling”beweist, dass die arabische Jugend ihren ei-genen Weg suchen will.

Doch wohin führen die Revolutionen? WelcheRolle wird die Jugend mittelfristig einnehmenkönnen? Kann sie wirklich ein einflussreicherund von den alten Eliten respektierter und ak-zeptierter change agent werden? Viele derpolitischen Strukturen, in denen sie soziali-siert wurden, werden durch den Sturz einesRegimes nicht obsolet. Die alten Eliten wer-den weiter über Einfluss verfügen. Sie konn-ten Netzwerke aufbauen und auf ihnen beruhtdie politische und administrative Infrastruktur.Die Transition dieser Systeme wird Zeit brau-chen und sie wird von vielen Kräften vorange-trieben werden, von Kräften, deren Wille nachVeränderung der bestehenden Verhältnissedeutlich schwächer ausfallen dürfte als beiden jungen Demonstranten: Traditionelle Ak-teure des autoritären Staates, die fürchten,ihre Pfründe zu verlieren. Wenn Systeme fal-len, kippen auch die Patronage- und Kliente-lismusnetzwerke. Dies führt zu Verlierern inden Reihen der alten Eliten. Das gilt vor allemfür die Wirtschaftsmagnaten und das Militär.Ob sie gewillt sind, als Relikte einer negativwahrgenommenen Vergangenheit ihren Ein-fluss aufzugeben, muss bezweifelt werden.Viele Akteure der alten politischen und wirt-schaftlichen Strukturen werden sich transfor-mieren, um zu reüssieren. Die Jugend mussGeduld haben. Ein radikaler Wandel, eine Ex-klusion der alten Machteliten erscheint un-wahrscheinlich und vielleicht auch unklug. AlsBeispiel kann die Verbannung der altenBaath-Kader und Militärs im Irak nach demSturz von Saddam Hussein in die Bedeu-

tungslosigkeit gesehen werden. Dies er-zeugte soziales Sprengpotenzial, schuf radi-kalisierte, desillusionierte und staatsfeindlicheGruppen, die mit zur instabilen Lage des Iraksin der Post-Saddam-Ära beitrugen. Hier gilt esvor allem in den Ländern Ägypten und Tune-sien abzuwägen ohne abzuschwächen, natio-nalen Dialog herzustellen ohne zuverharmlosen, zu integrieren ohne zu ver-drängen, zu verändern ohne massiv zu spal-ten.

Hierbei muss die Jugend ebenso einbezogenwerden wie islamitische Gruppierungen, z.B.die ägyptischen Muslimbrüder oder die tune-sischeAn-Nahda-Partei. Eines jedoch scheintsicher: Die arabische Welt durchläuft einenfundamentalen, historischen Wandel und dieJugend ist eine wichtige, wenn nicht sogar diewichtigste Triebfeder dieses Wandels. Esbleibt abzuwarten, ob sie auch eine tragendeRolle in der postrevolutionären Ära erhaltenwird, wann immer diese beginnt, oder ob siezwischen den einzelnen nach Macht und Ein-fluss strebenden Akteuren an Einfluss undBedeutung verliert. Zu hoffen bleibt, dass die„Jasminrevolution“ nicht verwelkt.

Die Publikation „Der Arabische Frühling: Aus-löser, Verlauf, Ausblick” des DeutschenOrient-Instituts analysiert die Ereignisse derletzten Monate in den Ländern des Nahenund Mittleren Ostens, stellt diese in den histo-rischen, sozioökonomischen und gesell-schaftlichen Kontext und untersucht denWandel in der arabischen Welt.

Hierbei werden nicht allein Staaten wie Tune-sien, Ägypten oder Libyen in den Blick ge-nommen, die als Hot Spots des „ArabischenFrühlings” gelten, sondern auch die vermeint-lichen „Horte der Stabilität” wie Saudi-Ara-bien oder andere ressourcenreicheGolfstaaten. Auch vor diesen Ländern machtder Wandel in der Region nicht Halt. Er ve-deutlicht sich aber in jedem Land auf unter-schiedliche Weise. So möchte die Publikationauf Tendenzen, Perspektiven, Brüche undHerausforderungen in allen arabischen Län-dern aufmerksam machen und in einem Ex-kurs auch die Rolle von Deutschland, der EUund der Türkei beleuchten.

Sebastian Sons

Wissenschaftlicher Abteilungsleiter

des Deutschen Orient-Instituts

Page 7: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Tunesien

Deutsches Orient-Institut 5

1 CIA – The World Factbook.2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.3 http://www.tradingeconomics.com/tunisia/population-density-people-per-sq-km-wb-data.html.4 https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/ts.html.5 CIA – The World Factbook.6 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.8 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators,

http://hdr.undp.org/en/data/profiles.9 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.10 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN.11 CIA – The World Factbook.12 CIA – The World Factbook. 13 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.15 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG;

International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, S. 183, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf.

16 United Nationas Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html.

17 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm.18 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia,

http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf.19 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us.20 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,

http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf, abgerufen am 29.08.2011. 21 United Nations Development Programme (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection:

Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends.

22 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf.

23 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp.

24 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

Landesdaten TunesienFläche1 2011 163.610 km²

Bevölkerung2 2010 10.400.000

Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 67,81

Ethnische Gruppen4 201098% Araber, 1% Europäer und andere

Religionszugehörigkeit 2010 98% Muslime, 1% Christen, 1% Juden

Durchschnittsalter5 2010 30 Jahre

Bevölkerung unter 15 Jahren6 2011 24%

Bevölkerung über 65 Jahren7 2011 7%

Lebenserwartung8 2010 74,3 Jahre

Bevölkerungsprognose bis 20509 2011 12.700.000

Geburten pro Frau10 2009 2,1

Alphabetisierungsrate11 2010 74,3%

Nutzer Mobiltelefone12 2009 9.754.000

Nutzer Internet13 2011 3.600.000Nutzer Facebook14 2011 2.602.640Wachstum BIP15 2010 3,7%

BIP pro Kopf 16 2010 7.979 USD

Arbeitslosigkeit17 2010 14%

Inflation18 2011 4,0%

S&P-Rating19 2011 BBB-

Human Development Index20 2010 Rang 81(von 169)

Bildungsniveau21 2010 Rang 90 (von 177)

Bildungsniveau der Frauen (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre22 2010 33,5%

Politische Teilhabe23 2009 11,4%

Korruptionsindex24 2010 Rang 59 (von 178)

Page 8: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Tunesien

Deutsches Orient-Institut6

Tunesien

Tunesien ist das Land, in dem der„Arabische Frühling“ seinen Anfangnahm. Die Akteure der Proteste

waren dabei ebenso heterogen wie die Ak-teure der Transitionsbewegung. Die Stärkedes politischen Aktivismus und das Aus-maß der sozialen Mobilisierung hattenschließlich, für viele überraschend, zumSturz des Regimes von Zine el-Din Ben Aligeführt. Nun wird der Erfolg der Revolu-tion durch den schwierigen Transitions-prozess gebremst: Ein neues politischesSystem muss aufgebaut und Stabilität er-reicht werden, gleichzeitig fordert die Be-völkerung einen umfassenden Bruch mitder alten Ordnung. Die Bekämpfung derwirtschaftlichen und sozialen Problemegenießt oberste Priorität. Die sozialenMissstände hatten die Aufstände ausge-löst und sorgen weiterhin für Unruhen imLand und wachsende Unzufriedenheit mitder derzeitigen Übergangsregierung.

I. Politisches System und gesellschaftli-che Entwicklungen

Das heutige Gebiet Tunesiens wurde 1574von den Osmanen erobert. Unter den Husai-niden, die von Beginn des 18. Jahrhundertsbis zur Ausrufung der Republik 1957 als re-gionale Dynastie herrschten, erlangte Tune-sien einen hohen Grad an Selbstständigkeit,blieb aber offiziell osmanische Provinz. Die im19. Jahrhundert von der staatlichen Führunginitiierten Reformmaßnahmen konnten denzunehmenden Einfluss europäischer Mächtenicht zurückdrängen. Wirtschaftliche Schwie-rigkeiten hatten die Regierung dazu gezwun-gen, außerdem lenkte Tunesien aufgrundseiner strategischen Lage schnell das Inter-esse Frankreichs und Italiens auf sich. 1881wurde Tunesien zum französischen Protekto-ratsgebiet erklärt. Unmittelbar nach dem Er-sten Weltkrieg entstand eine gegenFrankreich gerichtete nationale Protestbewe-

gung, die sich in den 1930er Jahren zuneh-mend radikalisierte. Unter der Führung HabibBourguibas konnte Tunesien 1956 die staatli-che Unabhängigkeit wiedererlangen. 1957setzte die verfassungsgebende Versammlungden letzten Husainiden-Bey ab und prokla-mierte die Republik.

Bourguiba wurde der erste Staatspräsidentder Republik Tunesien. Er verfolgte einenautoritären Regierungsstil und ließ sich 1975in seinem Amt auf Lebenszeit bestätigen. Erorientierte sich an der westlichen Welt, indemer enge diplomatische Beziehungen zu denUSA und Europa unterhielt. Sein Ziel war es,Zugang zu den europäischen Märkten zu er-langen. Unter seiner Herrschaft wurden eineReihe sozialer und wirtschaftlicher Reformendurchgeführt, welche den Einfluss der Reli-gion auf das öffentliche Leben stark ein-schränkten. Islamistischen Gruppen wurdeder Zugang zum politischen System verwei-gert. Im Zuge der Säkularisierung wurdenKoranschulen verstaatlicht und der Kompe-tenzbereich der Gelehrten eingeschränkt. Einsäkulares Rechtssystem und ein für arabi-sche Staaten revolutionäres Familienrecht,das die Frau dem Mann gleichstellte, wurdenerlassen. Bourguibas Amtszeit stützte sich aufdrei Pfeiler: die Dominanz des Präsidenten,die Übermacht der Staats- und EinheitsparteiDestour1 sowie eine moderne staatliche Ver-waltung. Als Opposition zur fast uneinge-schränkten Machtfülle des Präsidentenentwickelten sich zwei politische Gegenkräfte:Zum einen die Gewerkschaften2, zum ande-ren die islamistische Bewegung, die sich 1981unter der Führung Rachid Ghannouchis3 alsMouvement de la Tendance Islamique (MTI)zu organisieren begann.

Nach einer erfolglosen sozialistischen Phaseorientierte sich die Wirtschaft bald an markt-wirtschaftlichen Prinzipien. Dennoch blieb sievom öffentlichen Sektor beherrscht und vonäußerer Konkurrenz isoliert. Der instabilsteFaktor der tunesischen Wirtschaft blieb die in-

1 Die Destour-Partei wurde 1920 von der einheimischen tunesischen Führungsschicht mit dem Ziel ge-gründet, Tunesien von der französischen Kolonialkontrolle zu befreien. Der Begriff „Destour“ stammt ausdem Persischen und wird auch heute im Hocharabischen als Bezeichnung für „Verfassung“ verwendet. Die Neo-Destour-Partei wurde 1934 von Habib Bourguiba gegründet, nachdem es zur Spaltung der Des-tour-Partei gekommen war. Sie war nach der Unabhängigkeit jahrelang die allein regierende Partei Tu-nesiens.

2 Beim Kampf für die Unabhängigkeit hatte Bourguiba eng mit der Union Générale Tunisienne du Travail(UGTT) zusammen gearbeitet, deren Führer Ferhat Hachad war. Die UGTT wurde 1946 gegründet. Spä-ter kam es zu Konflikten mit dem Bourguiba-Regime, das den Einfluss des Gewerkschaftsverbandes teilsmit Gewalt zurück drängte. Die UGTT war im Verlauf der Revolution 2011 eine treibende Kraft währendder Proteste.

3 Der Philosophie-Lehrer Rachid Ghannouchi wurde 1987 zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt. Seitden 1970er Jahren propagierte er eine Rückkehr zu islamischen Werten in der tunesischen Gesellschaft.Auf die Gründung seiner Bewegung der islamischen Orientierung (MTI) reagierte der Staat repressiv undförderte letztendlich radikale Tendenzen innerhalb der islamistischen Bewegungen Tunesiens.

Page 9: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Tunesien

Deutsches Orient-Institut 7

effiziente Landwirtschaft. So wuchs die Ab-hängigkeit Tunesiens von ausländischenMärkten stetig. Das Bourguiba-Regime wurdeauch mit einem zunehmenden Entwicklungs-gefälle zwischen dem vernachlässigten Lan-desinneren und den Küstengebietenkonfrontiert. Ebenso wuchs die Bevölkerungum 2,5% jährlich, die Arbeitslosigkeit betrugum die 20%. Mitte der 1980er Jahre spitztesich die wirtschaftliche Lage zu: Auslöserwaren zwei aufeinander folgende Misserntensowie die kollabierenden Ölpreise bei gleich-zeitig explodierenden Auslandsschulden. DieAufstände wurden durch eine Brotpreiserhö-hung aufgrund des Wegfalls staatlicher Sub-ventionen entfacht. Zur Beruhigung der Lagewurden die Preiserhöhungen teilweise zurückgenommen und soziale Zugeständnisse wiedie Schwächung der Einparteienherrschaftund die Zulassung einzelner Oppositionspar-teien erlassen. Bourguiba war zu diesem Zeit-punkt schon gesundheitlich geschwächt,seine zweite Ehefrau Wassila Ben Ammar sollim Hintergrund die Amtsgeschäfte geführthaben. 1987 kam Zine el-Abidin Ben Ali4

durch einen unblutigen Putsch an die Machtund löste den altersschwachen Bourguiba alsStaatspräsidenten ab. Es wurde bekannt ge-geben, dass Bourguiba mit zunehmenderKrankheit nicht mehr im Stande sei, die Re-gierungsgeschäfte zu führen. Die Übernahmeder Macht durch Ben Ali war mit Artikel 57 derVerfassung vereinbar, da danach der Pre-mierminister Präsident wird, sobald diesernicht mehr fähig ist, die Regierungsgeschäftezu führen.

Ben Ali sicherte sich seinen Führungsan-spruch durch ein mehrgleisiges Vorgehen:Zum einen musste er das Vertrauen der Be-völkerung für sich gewinnen, zum anderen diewirtschaftlichen Probleme des Landes be-kämpfen. 1988 wurden zahlreiche Parteienzugelassen5, und die Amtszeit des Präsiden-ten wurde auf 15 Jahre beschränkt. Anfangsmachte die Freilassung oppositioneller Ge-fangener der Bevölkerung Hoffnung auf einweniger autoritäres Regime unter Ben Ali. Seit1992 ging Ben Ali, der als Innenminister be-reits seit 1984 mit der Bekämpfung der isla-

mistischen Opposition beauftragt war, wiederhart gegen jene Gruppen vor. Der Ausbruchdes Bürgerkrieges in Algerien nach demWahlsieg der islamistischen FIS förderte inTunesien die Entstehung eines allmächtigen,mit strenger Zensur und Polizeigewalt herr-schenden Staates. Dadurch wurde die Ent-wicklung einer starken Zivilgesellschaftbehindert. Ben Ali verfolgte die Strategie, dasSystem soweit zu reformieren, dass es leis-tungsfähiger wurde, ohne jedoch den neuenAkteuren zu viel Macht zukommen zu lassen.Die Destour-Partei benannte er in Rassem-

blement constitutionnel démocratique (RCD)um. Die RCD-Partei hatte sowohl programm-als auch machtpolitisch ein geringeres Ge-wicht als unter Bourguiba, sie wurde lediglichzur Umsetzung der Regierungspolitik beauf-tragt. Es wurden nur Oppositionsparteien zu-gelassen, die dem Regime loyal gegenübereingestellt waren. Ben Ali stützte seine Herr-schaft auf einen ausgebauten Sicherheitsap-parat sowie einen inneren Zirkel vonpersönlichen Beratern. Diese entstammtenfrüheren politischen Führungspositionen oderbanden strategisch wichtige Bevölkerungs-gruppen mit ein.

Tunesien erhielt finanzielle Zuwendungen derEU und der Weltbank. Der politische Liberali-sierungskurs wandelte den tunesischen Marktin eine marktwirtschaftliche und exportorien-tierte Wirtschaft (v.a. Textilien und Handwerk).Ein wichtiger Schritt war die Unterzeichnungdes Euro-mediterranen Assoziierungsabkom-mens von 1995, das Tunesien den Zugangzum europäischen Markt ermöglichte. Die EUwurde mit 96% zum Hauptabnehmer aller tu-nesischen Produkte. Die wirtschaftliche Ent-wicklung unter Ben Ali muss so auch alsErfolg bewertet werden. So stieg die Export-rate um 5% jährlich, das Bruttoinlandsproduktverzeichnete zeitweise ein Wachstum von fast5%. Die Geburtenrate sank6 und die Armutging zurück7. Demnach wurde Tunesien imHuman Development Index zwischen 1980und 1999 der größte Fortschritt in der Regiondes Nahen und Mittleren Ostens bescheinigt.Doch die soziale Entwicklung blieb hinter denökonomischen Fortschritten zurück, was sich

4 Ben Ali war unter Bourguiba von 1958-1974 zunächst Chef des militärischen Sicherheitsdienstes. 1978wurde er als Sicherheitschef in die Regierung berufen, 1980 ernannte ihn Bourguiba zum Leiter des na-tionalen Sicherheitsdienstes, 1984 wurde er Innenminister.

5 Darunter: Demokratische Sozialistische Bewegung (MDS), Kommunistische Partei Tunis (PCT), Volks-einheitspartei (PUP), Fortschrittliche Sozialistische Vereinigung (RSP), Liberale Sozialpartei (PSL) und die Vereinigte Demokratische Union (UDU). Religiös orientierte Parteien waren verboten.

6 Geburtenrate pro Frau im Vergleich: Zwischen 1970 und 1975 lag diese bei 6,2, zwischen 2000 und2005nur noch bei 2,0. Tunesien hat heute die niedrigste Geburtenrate der ganzen arabischen Welt undein Bevölkerungswachstum von etwa 1%.

7 Verbreitung von Armut in Prozent: 1995 lag diese bei 8,1%, im Jahr 2000 nur noch bei 4,1%.

Page 10: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Tunesien

Deutsches Orient-Institut8

in hohen Arbeitslosenraten (14%) und einemhohen Grad an Analphabetismus (25%) aus-drückte. Viele Tunesier waren von demWiderspruch zwischen hohem Ausbildungsni-veau und der Realität auf dem Arbeitsmarktbetroffen.

Die Hoffnung in der Bevölkerung, dass mit derwirtschaftlichen Liberalisierung zwangsläufigauch eine politische Öffnung erfolgen würde,wurde somit enttäuscht. Während Bourguibaseinen Machtanspruch politisch legitimierte(Erreichen der Unabhängigkeit, Formierungeiner modernen säkularen tunesischen Na-tion), legte Ben Ali seinem Machtansprucheine ökonomische Basis zugrunde. Der bes-sere Zugang zu Ressourcen sollte die Bevöl-kerung die fehlenden politischen Freiheitenvergessen lassen.

Ben Ali baute eine neue Herrschaftselite ausder einheimischen Wirtschaftselite auf. Zielder neuen Eliten war jedoch nur, das Systemzu reformieren, um es zu stabilisieren – nicht,es wesentlich zu verändern. Diese neue Ge-neration der Eliten wurde oftmals durch Heiratuntereinander zusätzlich verbunden. Diesekleine Zahl mächtiger Familien stand in engerBeziehung zur Familie Ben Alis oder der sei-ner Ehefrau Leila Trabelsi. Tunesien wurdedamit zum Prototyp eines „autoritären Refor-mers”. Die selektive Umgestaltung der Ge-sellschaft durch die Liberalisierung derWirtschaft bei gleich bleibend restriktivem po-litischen System führten dazu, dass das alteSystem trotz Erneuerung der Eliten bestehenbleiben konnte. So gelang es Ben Ali, dasautoritäre Regime Bourguibas zu modernisie-ren und durch einen neue Form des „pluralis-tischen Autoritarismus“ zu ersetzen: EinzelneOppositionsparteien wurden zugelassen,doch der Ausgang der Wahlen soll regelmä-ßig zugunsten Ben Alis manipuliert wordensein8. Es wurden scheindemokratische Insti-tutionen gebildet. Nur wer die Regeln des Re-gimes akzeptierte, konnte am politischenLeben teilhaben, was mit persönlichen Vor-teilen verbunden war. Die Methoden desMachterhalts schwankten zwischen Tolerie-rung und Repression, der Sicherheitsapparatdiente als Mittel zur Machtsicherung.

Die Bedrohung durch ein Erstarken islamisti-scher Gruppen und bürgerkriegsähnlicher Zu-stände wie in Algerien nahm das Regime alsBegründung und Rechtfertigung für den aus-

gebauten Sicherheitsapparat. Eine Aussöh-nung mit den islamistischen Parteien hättefolglich kontraproduktiv gewirkt, so die ein-hellige Haltung des Regimes. Zur Stärkungdes Sicherheitsapparates setzte Ben Ali Si-cherheitsoffiziere in hohe Regierungspostenein.

Vetternwirtschaft war ein weiteres wesentli-ches Merkmal aus Ben Alis Regierungszeit.So besetzten die Familie Ben Ali und die Fa-milie seiner Frau wichtige Schlüsselpositionenin Politik und Verwaltung, Korruption war weitverbreitet. Die politische Macht verlagerte sichvon der offiziellen Hauptstadt Tunis hin zumPräsidentenpalast in Karthago. Die Parteispielte kaum mehr eine Rolle, vielmehr bliebdie Entscheidungsgewalt dem Präsidentenund seiner Entourage vorbehalten. Somit wur-den klientelistische Netzwerke weiter ge-stärkt.

Außenpolitisch unterhielt Ben Ali gute Bezie-hungen zum Westen. Er unterzeichnete 1988als erster aller arabischen Staatschefs dieAnti-Terror-Konvention der Vereinten Natio-nen. Auch mit den arabischen Staaten, be-sonders mit Libyen und Ägypten, leitete erBeziehungen ein. 1988 wurde die Arab-Magh-reb-Union9 gegründet, um gesicherte Wirt-schaftsverbindungen nach dem Vorbild derEU zu entwickeln. Die Terroranschläge vom11. September 2001 gaben Ben Ali die Recht-fertigung, noch härter gegen die Oppositionvorzugehen und seine Alleinherrschaft aus-zuweiten.

Die Geschichte Tunesiens zeigt auf, dass einWechsel der Eilten nicht zwangsweise miteinem Wechsel des Systems verbunden seinmuss. Ben Ali verstand es, den Übergangvom Regime Bourguibas zu seinem Regimefließend erfolgen zu lassen. So band er vorhermarginalisierte Provinzen sowie (staatstreue)säkulare Oppositionsgruppen mit ein und ver-knüpfte beim Aufbau der neuen Herrschafts-eliten alte und neue einflussreichePersönlichkeiten miteinander.

Zentrale Probleme, die sich unter Ben Ali wei-ter verschärften, waren zum einen die Spal-tung der Bevölkerung entlang regionaler(Küstengebiete und Landesinnere) sowiesprachlicher (Frankophone vor Arabophonenbevorzugt) Linien. Diese Spaltung hatte sichbereits im 19. Jahrhundert herauskristallisiert.

8 Obwohl es verfassungsrechtlich nicht möglich war, kandidierte Ben Ali im Oktober 2004 nochmals alsPräsident und gewann die Wahlen offiziell mit 99,44% aller Stimmen.

9 Mitgliedsstaaten waren bei der Unterzeichnung des Vertrages die fünf Maghrebstaaten Tunesien, Alge-rien, Libyen, Mauretanien und Marokko. Generalsekretär wurde zunächst Mohamed Amamou (Tunesien).

Page 11: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Tunesien

Deutsches Orient-Institut 9

Hinzu kamen externe Faktoren: Die EUstützte das autoritäre Regime in Tunesien in-direkt durch ihre Konzentration auf die wirt-schaftlichen Aspekte der Zusammenarbeit.Innenpolitisch zeigt die Entwicklung unter BenAli, dass der Einfluss der Partei abgenommenhat, dafür aber die herrschenden Eliten anEinfluss zugenommen haben.

II. Voraussetzungen für den Willen nachWandel

Die Proteste in Tunesien Ende 2010/ Anfang2011, die innerhalb kürzester Zeit zum Sturzvon Ben Alis 23-jähriger Herrschaft führtenund als Initial für andere Protestbewegungenin der arabischen Welt gelten, wurden be-sonders von der Jugend und den Hochgebil-deten getragen. Schon 2008 gab es in derProvinz Gafsa im Südwesten des LandesProteste gegen die hohe Arbeitslosigkeit unddie steigenden Lebensmittelpreise. Bis 2010kam es zu vereinzelten lokalen Aufständen imSüden gegen die sozioökonomische Lage.Besonders die südlichen Regionen des Lan-des stehen in Kontrast zu den Küstengebie-ten und sind stark unterentwickelt; Es mangeltan Infrastruktur, Arbeit und Ausbildungsmög-lichkeiten.

Der Anteil der jungen Generation unter 15Jahren betrug Anfang 2011 24%, über 25%der Jugendlichen war von Arbeitslosigkeit be-troffen10. Auf die wirtschaftlichen Erfolge der1980er und 1990er Jahre folgten keine sozia-len Reformen, so dass die Jugend zwar gutausgebildet war, parallel aber nicht genügendneue Arbeitsplätze zum Beispiel in der Indus-trie geschaffen wurden. Aufgrund des kliente-listischen Netzwerkes war es dem Großteilder Bevölkerung verwehrt, adäquate Jobs zufinden. Der Transparency International Index2010 bewertete die Verbreitung von Korrup-tion in Tunesien mit 4,311, damit belegt Tune-sien Rang 59 von 178 Ländern weltweit. Diezwei Herrscherfamilien Ben Ali und Trabelsibesetzten alle Spitzenpositionen in Wirtschaftund Politik. So floss auch ein Großteil der wirt-schaftlichen Einnahmen in die Hände derMachthaber. Der steigende Wohlstand kamnur in der Hauptstadt Tunis und den touristi-schen Küstengebieten an, die ländlichen Re-gionen hatten kein Wirtschaftswachstum zuverzeichnen. Die schlechte soziale Lagewurde durch die stetig steigenden Lebens-

mittelpreise verschärft. Diese Faktoren führ-ten so zu wachsenden Klassenunterschiedenin der Bevölkerung: Tunesien war nicht sostark von extremer Armut betroffen, wohl abervon einer großen Diskrepanz bezüglich derEinkommensverteilung, wobei auch regionaleFaktoren eine Rolle spielten.

Der autoritäre Führungsstil des Regimeszeigte sich auch an den Einschränkungen inder Presse- und Meinungsfreiheit, die zwar inder Verfassung garantiert werden, in derRealität jedoch keinerlei Kritik am Präsiden-ten zuließen. Der Missmut über die politi-schen und wirtschaftlichen Missstände führtebesonders unter den Jugendlichen zu einerwachsenden Entfremdung von den einheimi-schen Eliten. Das Bedürfnis nach einemLeben in Würde, in Freiheit, das Gefühl vonErniedrigung durch und Machtlosigkeitgegenüber den Autoritäten veranlassten dieTunesier dazu, Ende 2010 landesweit auf dieStraße zu gehen.

III. Akteure des Wandels und konkreteAuslöser

Als konkreter Auslöser für die Proteste gilt derSelbstverbrennungsakt des arbeitslosen Stu-denten Muhammad Bouazizi aus Sidi Bouzid,der sich nach Schikanen durch die örtlichePolizei aus Hilflosigkeit selbst anzündete.Bouazizi war nach dem Tod seines Vaters fürsich, seine Mutter und seine fünf Geschwisterverantwortlich. Er finanzierte seinen Ge-schwistern die Schulbildung durch den Ver-kauf von Gemüse. Da er keine Genehmigungdafür hatte, geriet er mehrmals mit der Poli-zei aneinander. Als er am 17. Dezember 2010wiederum keine Lizenz für den Straßenver-kauf vorweisen konnte, wurde seine Ware be-schlagnahmt. Auf der Polizeiwache kam es zuMisshandlungen, eine Polizistin soll ihn ge-ohrfeigt haben. Diese Demütigung, von einerFrau in der Öffentlichkeit geschlagen unddamit entehrt worden zu sein, sowie die Ver-zweiflung darüber, durch die Beschlagnah-mungen den einzigen Lebensunterhalt zuverlieren, veranlassten ihn zu seiner Tat12. Am4. Januar 2011 erlag er im Krankenhaus sei-nen Verletzungen.

In den darauf folgenden Tagen organisiertesich die Jugend über soziale Netzwerke, dieentscheidend zum Erfolg der Revolution bei-

10 Arab League, UNDP Development Challenges for the Arab Region, 2009.11 1 = höchste Korruptionsrate, 10 = niedrigste Korruptionsrate.12 Im Islam gilt Selbstmord als große Sünde. Die Familie Bouazizis rechtfertigte seine Tat als politische Re-

bellion.

Page 12: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Tunesien

Deutsches Orient-Institut10

tragen sollten: Facebook, Twitter und Co.haben die Revolutionsbewegung für andereweltweit sichtbar gemacht. Auf Youtube wur-den Live-Videos von den Demonstrationengezeigt. Somit trugen die sozialen Netzwerkezu einer Politisierung der tunesischen Ju-gendlichen bei. Das Lied Rais lebled („DerPräsident meines Landes“) des 20-jährigenRappers Hamada Ben Amour, genannt El Gé-nérale, wurde zur Hymne der Protestbewe-gungen. In seinem Songtext beklagt er dieProbleme der Jugendgeneration und die weitverbreitete Korruption im Land. Er war mehr-mals aufgrund seiner regimekritischen Texteverhaftet worden, nach dem Sturz Ben Aliswird sein kommendes Album nun sogar offi-ziell vom Kulturministerium gefördert.

Einer der wichtigsten Akteure der Revolution,der sich von Anfang an auf die Seite der De-monstranten stellte, war der Gewerkschafts-verband Union Générale Tunisienne du

Travail (UGTT). Die UGTT hatte seit seinerGründung 1946 bereits mehrmals eine ent-scheidende Rolle bei Unruhen gespielt undwar unter Bourguiba immer eine wichtige Op-position gegenüber dem Einparteienstaat ge-wesen. Unter Ben Ali hatte sich der Einflussder UGGT jedoch drastisch reduziert. DerPräsident hatte die Führung der UGTT mit re-gimetreuen Personen ersetzt. Bei der Revo-lution Ende 2010/ Anfang 2011 trugen dielokalen und regionalen Sektionen der UGTTviel zur Verbreitung der Aufstände bei: Am 12.Januar fand die bis dato größte Protestkund-gebung mit 30.000 Menschen statt, zu der dieGewerkschaften aufgerufen hatten.

Weiterer wichtiger, vielleicht sogar wichtigsterchange agent wurde die tunesische Armee,die Ben Ali ihre Unterstützung versagte. Ge-neral Rachid Ammar weigerte sich, auf De-monstranten zu schießen – ob aushumanitären Gründen oder als kalkulierendeEntscheidung bleibt ungewiss. Fakt ist je-doch, dass das Militär unter Ben Ali nie einepolitische Rolle spielte. Die Truppe belief sichauf 35.000 Mann, von denen nur 15.000-18.000 mobilisierungsfähig waren. ObwohlBen Ali selbst eine militärische Karriere durch-laufen hatte, war das Militär in den unblutigenPalastcoup von 1987 kaum involviert gewe-sen. Die Staatsausgaben für das Militär be-liefen sich unter Ben Ali nur auf 1,4% desBruttoinlandsproduktes (Vergleich Ägypten:3,4% in 2010). Die Präsidentengarde war alseinzige loyal gegenüber Ben Ali eingestellt.Der umfassende Sicherheitsapparat, den BenAli aufbaute und mit dem er seinen autoritären

Regierungsstil gegenüber der Oppositiondurchsetzte, zählte ungefähr 120.000 Mann.Den Demonstranten versprach General Ra-chid Ammar, die Sicherheit während der Über-gangsregierung und den Wahlen zugewährleisten.

Mit der regionalen Ausweitung der Protestekamen andere Akteure hinzu: Rechtsanwälte,Journalisten und andere Personengruppenaus der gehobenen Mittelschicht protestiertengegen die erlebten Unfreiheiten unter demRegime und forderten offen den Rücktritt BenAlis. Damit bekamen die Proteste, die sich an-fangs aufgrund der sozialen Spannungenunter den Jugendlichen entluden, eine stär-kere politische Dimension.

Politische Parteien spielten keine ausschlag-gebende Rolle während der Revolution. Ob-wohl es unter den Demonstranten mit derregionalen Ausweitung zu einer Politisierungkam, hatten die Aufstände keine gemeinsamepolitische Richtung. Die politischen Parteiennahmen zunächst nur indirekt an den De-monstrationen teil, viele Aktivisten unter ihnenwurden verhaftet. Die Rassemblement Con-

stitutionnel Démocratique (RCD) blieb passivund organisierte keine einzige regime-unter-stützende Kundgebung. Selbst die Partei An-Nahda13 („die Erneuerung“) wurde erst nachder Revolution aktiv. Da sie unter Ben Ali ver-boten war und ihr Führer Rachid Ghannouchilange Zeit im Exil in London lebte, konnte siedie Proteste kaum beeinflussen.

IV. Auswirkungen des “Arabischen Früh-lings” und bisherige Reaktion staatlicherAkteure

Die Demonstrationen wandelten sich voneiner spontanen, von der Wut auf das Schick-sal Bouazizis getragenen Bewegung zueinem nationalen Aufstand, zur viel zitiertenund als historisch zu bezeichnenden „Jas-minrevolution“. Durch die Repression des Re-gimes in Form von Verhaftungen undgewaltsamem Vorgehen der Polizei gegenDemonstranten erfuhren die Proteste eineschnelle Politisierung. Die Verhängung vonAusgangssperren und die Schließung derUniversitäten und Schulen konnten die Pro-teste ebenfalls nicht eindämmen.

Als die Aufstände schließlich Tunis erreichten,versuchte Ben Ali in einer Fernsehanspracheam 10. Januar 2011, die Bevölkerung zu be-ruhigen und versprach Reformen, darunterdie Schaffung von 300.000 neuen Arbeits-

13 Die MTI wurde Ende der 1980er Jahre in An-Nahda umbenannt.

Page 13: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Tunesien

Deutsches Orient-Institut 11

plätzen und die Anhebung der Subventionenauf Lebensmittel. Seine Rede ließ zwar dieBedeutung der sozioökonomischen Kompo-nente erkennen, die Zugeständnisse an dasVolk kamen jedoch zu spät: Die Demonstran-ten forderten mittlerweile nicht nur die Ver-besserung der politischen, wirtschaftlichenund sozialen Lage im Lande, sondern denRücktritt des Präsidenten, der seit 1987 auto-ritär den Staat regiert hatte. Auch die EhefrauBen Alis, Leila Trabelsi, und ihre Familie wur-den für ihre quasi-mafiösen Machenschaftenangeprangert. Am 28. Dezember 2010 be-suchte Ben Ali das Krankenbett von Bouaziziund bot der Familie eine beträchtliche SummeGeld an, was diese jedoch ablehnte. Am 13.Januar 2011 kündigte er in einer weiterenFernsehansprache an, die Regierung aufzu-lösen und sich selbst künftig nicht mehr zurWahl zu stellen14. Nachdem die Unruhen nichtmehr zu kontrollieren waren, flüchtete Ben Aliam 14. Januar 2011 ins Exil nach Saudi-Ara-bien.

Somit lagen nur vier Wochen zwischen derSelbstverbrennung Bouazizis und dem Sturzdes Regimes. Ben Ali verstand es im Gegen-satz zu Bourguiba nicht, die Bevölkerungdurch Ansprachen für sich zu gewinnen undin der Öffentlichkeit medienwirksam aufzutre-ten. In seiner Rede vom 10. Januar 2011hatte er die Aufständischen noch als feindli-che Gruppen mit extremistischem und terro-ristischem Hintergrund bezeichnet, die sichdie Arbeitslosigkeit nur als Mittel zur Massen-mobilisierung für ihre eigenen Zwecke zuEigen machten15.

Die Medien benannten die Revolution in Tu-nesien indes „Jasminrevolution“ nach der Na-tionalblume Tunesiens. Interessant ist andieser Stelle, dass auch der unblutige Putsch1987, bei dem Bourguiba aufgrund seiner Al-tersschwäche durch Ben Ali entmachtetwurde, als „Jasminrevolution“ bezeichnetwurde.

Als Präsident der neuen Übergangsregierungwurde Fouad Mebazaa16 gemäß der tunesi-schen Verfassung ernannt, der innerhalb der

nächsten 60 Tage freie Präsidentschaftswah-len durchführen sollte. Der Artikel 57 besagt,dass der amtierende Premierminister für 45bis 60 Tage als Präsident eingesetzt werden,er aber den Übergang zu Neuwahlen ermög-lichen muss. Nachdem Fuad Mebazaa undder neu ernannte Premierminister Muham-mad Ghannouchi17 aus der RCD austraten,wurde die Partei am 6. Februar 2011 für einenMonat außer Kraft gesetzt und nach einigenWochen schließlich ganz demontiert. Ihre Po-litbüros wurden geschlossen. Nach etlichenweiteren Protesten wurde entschieden, dieVerfassung von 1959 außer Kraft zu setzen.Anhänger des alten Regimes sollten sichnicht mehr zur Wahl stellen können. Daherwurde, zunächst für Juli 2011, eine Wahl füreine verfassungsgebende Versammlung be-schlossen, die eine neue Verfassung ausar-beiten sollte. Jedoch wurde diese auf den 26.Oktober 2011 verschoben, um den neu ent-standenen Parteien mehr Zeit für die Ausar-beitung eines politischen Programms und denWahlkampf zu geben. Die Aufgabe der ver-fassungsgebenden Versammlung soll darinbestehen, das Regierungssystem so zu re-formieren, dass ein Gleichgewicht zwischenden einzelnen Akteuren entsteht. Erst 2012sollen Präsidentschaftswahlen durchgeführtwerden, wie am 3. März 2011 entschiedenwurde. Am 12. April 2011 wurde ein neuesWahlrecht erlassen, welches die Gleichstel-lung der Geschlechter beinhaltete. Ebensowurde den schätzungsweise eine Million Tu-nesiern, die im Ausland wohnen, das Wahl-recht zugesprochen.

Die erste Übergangsperiode, die von Mitte Ja-nuar bis Ende Februar andauerte, war ge-prägt von der Angst vor einem Rückfall in dieVergangenheit auf der einen und der Angstvor einer „institutionellen Leere“ auf der an-deren Seite. Die Übergangsregierung wurdezum Teil aus Politikern des alten Regimes ge-bildet. Die Bevölkerung befürchtete, dass dasautoritäre System und die alten Eliten da-durch erhalten blieben und der endgültigeBruch mit dem alten Regime nicht gelingenwürde. Weitere Demonstrationen nach demSturz Ben Alis erzwangen unter anderem den

14 Kalima: La "révolution du jasmin" a fleuri dans tout le pays, Courrier International, http://www.courrierinternational.com/article/2011/01/15/la-revolution-du-jasmin-a-fleuri-dans-tout-le-pays,abgerufen am 28.07.2011.

15 Le Temps : A l’écoute du peuple, Ben Ali annonce de grandes mesures, http://www.letemps.com.tn/arti-cle-51934.html, abgerufen am 28.07.2011.

16 Geboren wurde er 1933 in Tunis. Er blickt auf eine lange politische Karriere zurück, zuerst unter Bour-guiba, später auch unter Ben Ali. Er war Bürgermeister von Tunis und Karthago und hatte zahlreiche Mi-nisterämter während des Ben Ali-Regimes inne.

17 Geboren 1941 (nicht verwandt mit Rachid Ghannouchi, dem Führer der An-Nahda-Partei). Er war seit1989 Minister unter Ben Ali.

Page 14: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Tunesien

Deutsches Orient-Institut12

Rücktritt des Ministerpräsidenten MuhammadGhannouchi. Nachfolger wurde Beji Caid-Es-sebsi, der bis heute dieses Amt bekleidet. Eswurden verschiedene Kommissionen ge-schaffen, die den schrittweisen Übergang zurDemokratie gewährleisten und die Übergriffeund Korruptionsfälle des alten Regimes näheruntersuchen sollen, darunter die Kommissionfür politische Reformen, die Kommission fürKorruption und Repression sowie die Kom-mission für Gelderveruntreuung. Die Über-gangsregierung wurde damit beauftragt, dieWahlen vorzubereiten, die Sicherheitslage zustabilisieren und den Reformbedarf der Be-völkerung anzustoßen. Damit sollte ein tiefe-res Vertrauen zwischen der Bevölkerung undder Übergangsregierung entwickelt werden.

Die Wirtschaft ist durch die Revolution nega-tiv beeinflusst worden. Der Tourismus brachzu Beginn des Jahres 2011 zusammen. In derRegel generiert dieser Wirtschaftszweig über400.000 Stellen und bringt 2,5 Mrd. USD jähr-lich ein, was 6% des Bruttoinlandsproduktesausmacht. Jedoch standen in diesem Som-mer über die Hälfte der Hotels leer, viele öff-neten erst gar nicht. Seit den Unruhen sankder Umsatz des Tourismus um mehr als 50%.Viele Läden mussten schließen und klagtenüber gravierende Einkommenseinbußen18,weil die wenigen Touristen, die kamen, sichnicht aus dem Hotel trauten. Die Unruhen inLibyen und die damit verbundene steigendeZahl der Flüchtlinge behinderte den Tou-rismus zusätzlich, da ein Großteil der Touris-ten nicht nur aus dem nahen Europa, sondernauch aus Libyen kam. Bis April 2011 flohenmehr als 10.000 Libyer über die Grenze nachTunesien.

Die Ölpreise stiegen durch die Unruhen in Tu-nesien und im gesamten arabischen Raum.Auch die Arbeitslosenrate erhöhte sich von14% auf 19%, wahrscheinlich dürfte sie nochweitaus höher liegen. Eines der primärenZiele der Übergangsregierung muss daherdarin bestehen, neue Arbeitsplätze zu schaf-fen. Die wirtschaftlichen Probleme können je-doch erst angepackt werden, wenn diegrundlegenden politischen Aufgaben bewäl-tigt wurden. Das Wirtschaftswachstum sankseit den Unruhen in diesem Jahr um bis zu5%, wobei hier der Libyenkonflikt eine großeRolle spielt. Die EU war bisher der größte wirt-schaftliche Partner Tunesiens. Daneben spie-len China, Indien sowie die Türkei eine immerwichtigere Rolle. Die für das Wirtschafts-

wachstum wichtigen Einnahmen durch privateInvestitionen und Exporte gingen nach derRevolution entscheidend zurück. 55% der In-vestitionen war auf den Energiesektor fokus-siert.

Tunesien unterzeichnete viele Freihandels-abkommen, unter anderem mit der EuropeanFree Trade Association, der Türkei, der Ara-bischen Liga und das Agadir Agreement19.Ebenso schloss Tunesien mit Libyen unterMuammar Gaddafi ein Abkommen ab, wo-durch die Handelsbeziehungen erleichtertwurden. Vor der Revolution war Libyen einerder wichtigsten wirtschaftlichen Partner Tu-nesiens im nordafrikanischen Raum. Obwohldie ausländischen Investitionen sich mittler-weile wieder gesteigert haben, wird es Zeitbrauchen, bis ausländische Investoren wiederVertrauen in die tunesische Wirtschaft gewin-nen. Erst mit der politischen Stabilität wirdsich die Wirtschaft langfristig erholen können,viele politische Parteien haben sich mittler-weile des sozialen Themas bemächtigt.

Ein weiteres Problem, das die Übergangsre-gierung angehen muss, besteht im großenEntwicklungsgefälle zwischen den Provinzenund kleineren Städten auf der einen und Tunisund den Küstengebieten auf der anderenSeite. Sidi Bouzid, Kasserine und Tala sindHauptorte von Sit-Ins, zu denen sich in denletzten Monaten nach dem Sturz Ben Alis er-neut Tausende versammelten und gewaltfreifür eine Verbesserung der wirtschaftlichenund sozialen Lage protestierten. Das nachdem Sturz des Regimes entstandene Vakuumin Verwaltung und Politik in den Provinzenwird nun von den Gewerkschaften ausgefüllt.In Städten wie Sidi Bouzid fehlt es an nen-nenswerter Infrastruktur. Die Zukunft der Ju-gend sieht im Inneren des Landes deutlichschlechter aus als in den Küstenregionen.Eine neue Verwaltung existiert zum Teil nochnicht. Die Präsenz der Polizei wurde durcheine unorganisierte Miliz, basierend auf Loy-alisten Ben Alis, ersetzt, um Angst und Schre-cken unter der Bevölkerung zu verbreiten. DiePolitiker sehen für ihren Wahlkampf ein gro-ßes Wählerpotential im Landesinneren, dochist die Haltung der Bevölkerung eher resig-nierend. Sie wollen keine Vorschläge oderIdeen, sondern fordern konkrete Projekte.

Vor allem die gemäßigt islamistische ParteiAn-Nahda steht zurzeit im Fokus der interna-tionalen Aufmerksamkeit. Die Partei, die unter

18 Der Handel auf dem Schwarzmarkt boomt derweil, weil es kaum noch Kontrollen durch die Polizei gibt. 19 Das Agadir Agreement wurde 2005 auch von Marokko, Ägypten und Jordanien unterzeichnet und soll

die Handelsbeziehungen zwischen den Mitgliedsländern vereinfachen.

Page 15: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Tunesien

Deutsches Orient-Institut 13

Ben Ali den stärksten Repressionen unterle-gen war, wurde 1989 verboten, nachdem siebei den Wahlen gute Ergebnisse erzielt hatte.Seitdem hat die Partei einen Wandel vollzo-gen und präsentiert sich mittlerweile offengegenüber anderen politischen Kulturen. Be-sonders in Bezug auf die Frauenrechte versi-cherte Ghannouchi mehrmals, dassAn-Nahda das Familienstandsgesetz von195620 nicht aufheben werde. Die Tatsache,dass sich seit dem Sturz Ben Alis kein politi-scher Akteur gegen eine Mitbeteiligung An-Nahdas aussprach, ist auf derenzunehmende Dialogbereitschaft zurück zuführen. Seit dem Sturz Ben Alis beteiligt sichAn-Nahda nun stark am Demokratisierungs-prozess. Manche Beobachter befürchtetenzunächst, dass An-Nahda versuchen würde,Tunesien in einen islamischen Staat umzu-wandeln. Allerdings betont Rachid Ghannou-chi immer wieder die liberale Einstellungseiner Partei, die Trennung von Staat und Re-ligion im tunesischen Staat wird jedoch grund-sätzlich abgelehnt. Seitdem Ghannouchi ausdem Exil zurückgekehrt war, bereiste er dasgesamte Land und konnte viele Wählerstim-men für seinen moderaten islamischen Kursgewinnen. Besonders in den Provinzgegen-den Tunesiens ist die Partei sehr beliebt.Ghannouchi gab jedoch bekannt, dass er sichnicht als Präsidentschaftskandidat zur Wahlaufstellen lassen wird. Am 1. März 2011wurde An-Nahda als Partei durch die Über-gangsregierung zugelassen. Sie eröffneteBüros in den einzelnen Provinzen und führtaktiv Wahlkampagnen durch. Dennoch fehltes bis heute an einem Parteiprogramm, wel-ches das Misstrauen der anderen Parteienentkräften könnte. Umfragen aus dem Juli2011 bescheinigten der Partei einen Stim-menanteil von 30%, wobei anzumerken ist,dass sich ein Großteil der Bevölkerung nochnicht endgültig für eine Partei entschieden hatund sich zahlreiche neue Parteien erst eta-blieren müssen.

Im Juli 2011 wurden gerichtliche Verfahrengegen Ben Ali und seinen Familienclan ein-geleitet. Ihm wurden unter anderem Drogen-handel, Waffenschmuggel, Geldwäsche,Mord und Machtmissbrauch vorgeworfen.Viele Familienmitglieder des Trabelsi-Clanssollen ebenfalls angeklagt werden. Noch am20. Januar 2011 wurden etwa 30 nähere An-gehörige bei dem Versuch, Tunesien zu ver-lassen, festgenommen. Ben Ali wurde bereitszu 35 Jahren Haft und einer Geldstrafe in

Millionenhöhe verurteilt. Die Prozesse wurdenin Abwesenheit des Ex-Präsidenten durchge-führt. Die Übergangsregierung hatte Saudi-Arabien vergeblich um die Auslieferung BenAlis ersucht. Der frühere Sicherheitschef AliSeriati wurde freigesprochen, obwohl ihm vor-geworfen wurde, dass er Ben Ali die Fluchtnach Saudi-Arabien durch gefälschte Papiereermöglichte. Seriati gilt als Symbol des re-pressiven Regimes des Ex-Präsidenten, dieBevölkerung reagierte mit Entrüstung auf sei-nen Freispruch.

Europa wird durch die Folgen der Revolutionunmittelbar beeinflusst. Die Konten der Fami-lie Ben Ali wurden, bis auf jene in derSchweiz, auf unbestimmte Zeit eingefroren.Die Bevölkerung brachte der EU aufgrund derwirtschaftlich und diplomatisch guten Bezie-hungen mit dem ehemaligen Ben Ali-Regimekaum Vertrauen entgegen. Die bilateralen Be-ziehungen wurden durch die anhaltendenFlüchtlingsströme aus Nordafrika seit Beginndes Jahres 2011 erschwert. Als Folge der Un-ruhen kamen seit Januar über 30.000 Flücht-linge nach Italien und Frankreich, die über dieitalienische Insel Lampedusa nach Europagelangen wollten. Die französische und italie-nische Regierung waren mit den vielen Immi-granten überfordert und konnten nichtausreichende Hilfe leisten. Mittlerweile wer-den die Küstenregionen von Lampedusa vonder italienischen Küstenwache streng über-wacht, um neue Flüchtlingsströme zu vermei-den. Bei den meisten Flüchtlingen handeltees sich um so genannte Wirtschaftsflücht-linge, die in Europa Arbeit suchen. Seit Jahrenbilden die Geldtransfers21 der im Ausland le-benden Tunesier eine wichtige Einnahme-quelle für die einheimische Wirtschaft, ebensogründen viele Tunesier nach ihrer Heimkehreigene Geschäfte. Unmittelbar nach demSturz Ben Alis versuchten aber auch zahlrei-che Anhänger des alten Regimes, das Landunbemerkt Richtung Europa zu verlassen. Dieanhaltende Migration stellt für die Über-gangsregierung ein weiteres ungelöstes Pro-blem dar.

V. Zukunftsszenarien

Die Protestbewegung in Tunesien, die inner-halb kürzester Zeit zum Sturz Ben Alis führte,zeichnete sich durch eine große Heteroge-nität aus: Unterschiedlichste Gruppen warenan den Kundgebungen beteiligt, darunter dieJugend, Gewerkschaften, Vereine, politische

20 Dieses schaffte u. a. die Polygamie ab.21 Allein in Deutschland arbeiten und wohnen rund 40.000 Tunesier und überweisen jährlich nach tunesi-

schen Schätzungen über 50 Mio. EUR.

Page 16: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Tunesien

Deutsches Orient-Institut14

Kräfte und Institutionen. Auch die anschlie-ßende Transitionsbewegung verläuft sehrheterogen: Die verschiedenen politischen undgesellschaftlichen Gruppen haben bisher einehohe Kompromissbereitschaft gezeigt, dieKommissionen zeigten sich sehr transparent.Die Ereignisse der ersten Monate gaben zu-nächst Grund zur Hoffnung: Es bildeten sichzahlreiche neuer Gewerkschaften, Vereineund politischen Parteien22. Durch die Revolu-tion war eine neue, politikbewusstere Gene-ration entstanden. Die Integration derIslamisten ließ auf eine friedliche Transitionhoffen.

Die Aufgaben der Übergangsregierung liegennun, nach der Einrichtung transitioneller Insti-tutionen, in der Vorbereitung der Wahlen zurverfassungsgebenden Versammlung sowie inder Überwindung der ökonomischen Pro-bleme. Die unsichere politische Lage un-mittelbar nach dem Sturz Ben Alis sowie diekriegerischen Auseinandersetzungen imNachbarland Libyen haben die wirtschaftlicheLage der Bevölkerung noch zusätzlich ver-schlimmert: Der Umsatz im Tourismusbereichund ausländische Investitionen sind drastischzurückgegangen. Die ökonomischen Pro-bleme sind besonders in den vernachlässig-ten Regionen im Süden erdrückend.

Der Erfolg der Revolution wird derweil durchden schwierigen Transitionsprozess ge-bremst. Nach dem 14. Januar 2011 zeigtesich bald, dass der Kopf des alten Regimeszwar entmachtet, die alten Institutionen undEliten aber immer noch intakt waren. So ent-stand in den darauf folgenden Monaten eineneue Protestwelle, die den endgültigen Bruchmit dem alten Regime forderte und unter an-derem den Rücktritt des PremierministersGhannouchis erzwang. Viele Tunesier be-fürchteten, dass ehemalige Mitglieder derRCD erneut an die Macht gelangen könnten.Die anhaltende Unzufriedenheit der Bevölke-rung mit der aktuellen Regierung hängt auchdamit zusammen, dass die Jugend, die dietreibende Kraft der Protestbewegung war, bisdato nicht an der Übergangsregierung betei-ligt wurde und sich um ihre „Revolutionsdivi-dende“ betrogen fühlt. Auch die Provinzensind wieder unzulänglich repräsentiert. Teileder Bevölkerung fühlen sich übergangen, inder Provinz von Sidi Bouzid herrschen heuteimmer noch die gleichen wirtschaftlichen und

sozialen Zustände wie vor der Revolution.Daher richteten sich die neuen Protestegegen die Unfähigkeit der Übergangsregie-rung, schnelle und effektive Reformen einzu-leiten. Die Gefahr, dass viele Initiatoren der„Jasminrevolution” sich ihres Umsturzes be-raubt fühlen, ist demnach groß.

Das wichtigste Datum in naher Zukunft für Tu-nesien ist sicherlich die Wahl zur verfas-sungsgebenden Versammlung am 26.Oktober 2011. Es wird interessant sein zusehen, welche Parteien sich innerhalb derwachsenden Parteienlandschaft durchsetzenkönnen. Der Entschluss, die Wahlen von Juliauf Oktober zu verschieben, basierte auf demWunsch, den zahlreichen neu entstandenenParteien mehr Zeit für die Ausarbeitung einespolitischen Programms zu geben. Kritiker be-werten dies hingegen als ein Zeichen der po-litischen Stagnation: Die Bevölkerungreagierte schon in den Sommermonaten un-geduldig auf die versprochenen Reformen.Die Vorbereitung der Wahlen verläuft nichtohne Probleme: Bis Ende Juli hatten sich erst1,35 Mio. Bürger für die Wahlen zur Verfas-sungsgebenden Versammlung eingeschrie-ben. Angesichts dieser geringen Quote, dienur 16% der Wahlberechtigten entspricht,wurde die Registrierungsfrist bis Mitte Augustverlängert. Viele Tunesier waren schlecht in-formiert über den Inhalt der Wahlen und dieAufgaben der Verfassungsgebenden Ver-sammlung, es kam zu Verwechslungen zwi-schen Registrierungsvorgang und demeigentlichen Wahlgang im Oktober. Die politi-schen Parteien unternehmen derweil zuwenig, um die Bevölkerung aufzuklären, dieKompetenzen der Verfassungsgebenden Ver-sammlung sind noch nicht genau geklärt. Soll-ten die Wahlen mit einer ähnlich geringenWahlbeteiligung wie zu Zeiten des Ben Ali-Regimes (teils unter 30%) stattfinden, würdedie unzureichende Legitimität der gewähltenVerfassungsgebenden Versammlung dasdamit verbundene politische Patt der derzeiti-gen Übergangsregierung nicht beenden.

Das politische Vakuum der letzten Monate be-wirkt gleichzeitig eine anhaltende wirtschaftli-che Instabilität. Obwohl sich langfristiggesehen die Wirtschaft stabilisieren wird, sindExperten der Meinung, dass Investoren zu-nächst die weitere politische Entwicklung Tu-nesiens abwarten werden. Sollte sich nach

22 Ende Juli hatte das Innenministerium weitere sechs politische Parteien registriert, womit sich die Ge-samtzahl auf 100 Parteien erhöhte. Vor der Revolution am 14. Januar 2011 existierten lediglich acht Par-teien. Bisher wurden 145 Anträge auf Registrierung einer politischen Partei verweigert, die meisten davonmit islamistischem Hintergrund.

Page 17: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Tunesien

Deutsches Orient-Institut 15

den Wahlen ein demokratischer Prozess er-folgreich entwickeln, gibt es Hoffnungen, dassauch die Investitionen wieder steigen werden.Das Beispiel Tuneisen zeigt, dass es viel Zeitbraucht, die politische Landschaft demokra-tisch zu transformieren. Denn zunächst giltes, ein politisches Fundament zu schaffenund darauf basierend Wahlen durchzuführen.

Die meisten Experten und auch viele Tunesierselbst sind sich einig, dass die Revolutionnoch lange nicht zu Ende ist und erst dieWahlen im Oktober die zukünftige Richtungaufzeigen werden. Die historische Entwick-lung Tunesiens verdeutlicht, dass politischeUmbrüche nicht zwangsläufig eine vollkom-mene Zäsur darstellen müssen; oftmals blie-ben die alten elitären Machtstrukturenerhalten. Einige internationale Organisationenhaben schon finanzielle Hilfe in Reaktion aufdie politischen Umbrüche in Tunesien undÄgypten in Aussicht gestellt. Der G8-Gipfelhat 20 Mrd. USD versprochen, der Internatio-nale Währungsfonds (IWF) 35 Mrd. USD unddie Weltbank 6 Mrd. USD. Für die Förderungder sozialen und wirtschaftlichen Entwicklunghat die Europäische Investitionsbank im Juli2011 versprochen, ein Darlehen von 140 Mio.EUR zur Verfügung zu stellen. Die deutscheBundesregierung hat durch das Bundesmi-nisterium für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung (BMZ) zur kurzfristigenUnterstützung des Transformationsprozessesin Nordafrika und Nahost drei Fonds zu fol-

genden Schwerpunkten aufgelegt:● Aufbau und Entwicklung demokrati-

scher Strukturen (5,25 Mio. EUR): Be-ratung und Stärkung von politischenParteien, staatlichen Institutionen undZivilgesellschaft;

● Schaffung von Arbeitsplätzen für dieJugend (8 Mio. EUR für den Zeitraum2011-2014):Vermittlungsangebote,Existenzgründungsprogramme;

● Förderung der wirtschaftlichen Ent-wicklung (20 Mio. EUR): Mikrokreditefür kleine und mittelständische Unter-nehmen.

Auch die EU erarbeitet derzeit ein Maßnah-menpaket zur Unterstützung des Transforma-tionsprozesses.

Wie wird der zukünftige tunesische Staat alsoaussehen? Es gibt bisher zwei Modelle, diefür Tunesien vorstellbar sind: Entweder wirdTunesien sich zu einem islamischen modera-ten Staat entwickeln, sollte An-Nahda lautUmfragen die Wahlen im Oktober dominieren.Eine weitere Möglichkeit wäre, dass Tunesienein säkularer Staat bleibt, sich an dem west-lichen Demokratiemodell orientiert und Staatund Religion weitestgehend voneinandertrennt.

Samira Akrach und Tugrul von Mende

VI. Literaturangaben

ABBATE, FRANCESCO: L’intégration de la Tunisie dans l’économie mondiale: Opportunités et défis, in: Programme des Nations Unies sur le développement, Vereinte Nationen, Genf 2002.

ARIEFF, ALEXIS: Political transition in Tunisia, in: CRS Report for Congress, June 27, 2011.

BASLY, RAJAA: The future of al-Nahda in Tunisia, in: Arab Reform Bulletin, 20. April 2011, http://carnegieendowment.org/2011/04/20/future-of-al-nahda-in-tunisia/ic, abgerufen am13.07.2011.

BOULBY, MARION: The Islamic Challenge: Tunisia since Independence, in: Third World Quarterly, April 1988, Vol. 10, No. 2, S. 590-614.

CASSARINO, JEAN-PIERRE: Confidence-building in Tunisia after the Popular Uprising. Strategies and Dilemmas of the interim government, www.iai.it/pdf/DocIAI/iaiwp1104.pdf, abgerufen am 13.07.2011.

ERDLE, STEFFEN: Ben Ali’s ‚New Tunisia’ (1987-2009). A Case Study of Authoritarian Modernization in the Arab World, Berlin 2010.

FILIU, JEAN-PIERRE: The Arab Revolution. Ten Lessons from the Democratic Uprising, London

Page 18: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Tunesien

Deutsches Orient-Institut16

2011.http://europafrica.net/2011/07/27/the-role-of-migration-in-post-revolution-tunisia/

(zugegriffen auf 15.8.2011)

http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2011/aug/11/tunisia-democracy-revolutionary-pluralism (zugegriffen auf 17.8.2011)

http://english.aljazeera.net/news/middleeast/2011/03/201131132812266381.html (zugegriffen am 15.8.11)

http://www.nytimes.com/2011/06/09/world/africa/09tunis.html (zugegriffen am 15.8.11)

http://carnegieendowment.org/publications/index.cfm?fa=view&id=45318&solr_hilite=Tunisia (zugegriffen am 12.8.11)

http://www.africaneconomicoutlook.org/fileadmin/uploads/aeo/Country_Notes/2011/Full/Tunisia.pdf(zugegriffen am 17.8.11)

http://www.bbc.co.uk/news/world-africa-12623237 (zugegriffen am 16.8.11)

http://www.bloomberg.com/news/2011-01-20/tunisia-s-four-day-old-government-battles-corruption-to-boost-credibility.html (zugegriffen am 11.8.11)

http://www.amnestyusa.org/research/reports/annual-report-tunisia-2011?page=show (zugegriffen am 10.8.11)

http://www.tnr.com/article/world/81611/making-sense-tunisia ( zugegriffen am 11.8.11)

http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010/results (zugegriffen am 11.8.11)

http://www.foreignpolicy.com/articles/2011/07/13/tunisia_s_forgotten_revolutionaries?page=0,4 (zugegriffen am 15.8.11)

http://carnegieendowment.org/publications/index.cfm?fa=view&id=45318&solr_hilite=Tunisia (zugegriffen am 12.8.11)

http://carnegieendowment.org/2011/08/10/transitional-failure-in-egypt-and-tunisia/4ma4 (zugegriffen am 12.8.11)

http://www.amnestyusa.org/research/reports/annual-report-tunisia-2011?page=show(zugegriffen am 9.8.11)

http://mideast.foreignpolicy.com/posts/2011/01/20/the_calculations_of_tunisias_military (zugegriffen am 18.8.11)

http://www.internews.org/regions/mena/amr/tunisia.pdf (zugegriffen am 18.8.11)

http://www.cpj.org/internet/2011/01/tunisia-invades-censors-facebook-other-accounts.php(zugegriffen am 18.8.11)

http://www.merip.org/mero/mero043011 (zugegriffen am 12.8.11)

http://lynch.foreignpolicy.com/posts/2011/06/29/tunisias_new_al_nahda (zugegriffen am 18.8.11)

http://www.inthesetimes.com/working/entry/6968/tunisian_refugee_crisis_a_measure_of_unfinished_revolution/ (zugegriffen am 19.8.11)

Page 19: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Tunesien

Deutsches Orient-Institut 17

http://www.theglobeandmail.com/news/world/doug-saunders/wave-of-tunisia-refugees-a-thorny-problem-for-italy-europe/article1909014/ (zugegriffen am 19.8.11)

http://www.france24.com/en/20110425-humanitarian-crisis-paris%E2%80%99-doorstep (zugegriffen am 19.8.11)

http://www.bbc.co.uk/news/world-africa-14507127(zugegriffen am 25.8.11)

http://www.bbc.co.uk/news/world-africa-14340863(zugegriffen am 25.8.11)

http://www.lexpress.fr/actualite/monde/afrique/chronique-de-la-revolution tunisienne_953980.html(zugegriffen am 05.08.2011)

INTERNATIONAL CRISIS GROUP: Soulevements populaires en Afrique du Nord et au Moyen-Orient: La Voie Tunisienne, Rapport Nr. 106, 28. April 2011.

KAROUI-BOUCHOUCHA, FATEN: Tunisie: Réflexions sur une revolution. Que nous apprend la transition de la dictature vers la démocratie?, in: Middle East Studies Online Journal, Volume 2/2011, http://www.middle-east-studies.net/wp-content/uploads/.../faten-reflexions1.pdf, abgerufen am 13,07.2011.

KODMANI, BASSMA: Tunisia’s democratic revolution and its actors, in: NOREF Report, February 2011, http://www.peacebuilding.no/eng/Regions/Middle-East-and-North-Africa/Publications/Tunisia-s-democratic-revolution-and-its-actors, abgerufen am 12.07.2011.

MELZER, RALF: Tunesien in (post)-revolutionärer Transformation. Eine Momentaufnahme, Friedrich Ebert Stiftung, Januar 2011.

MURPHY, EMMA: Economic and Political Change in Tunisia From Bourguiba to Ben Ali, London 1999.

NOUIRA, ASMA: Obstacles on the path of Tunisia’s Democratic Transformation, in: Arab Reform Bulletin, 30. März 2011, http://www.carnegieendowment.org/2011/03/30/obstacles-on-path-of-tunisia-s-democratic-transformation/1w3, abgerufen am 12.07.2011.

N.N.: Dustur, in: EI², Bd. 2, S. 638a-640a.

PICKARD, DUNCAN: Elections in Tunisia Face Credibility Test, in: Arab Reform Bulletin, 27. Juli 2011, http://carnegieendowment.org/2011/07/27/elections-in-tunisia-face-credibility-test/4a47, abgerufen am 13.07.2011.

SADIKI, LARBI: Ben Ali’s Tunisia: Democracy By Non-Democratic Means, in: British Journal of Middle Eastern Studies, Mai 2002, Vol. 29, No. I, S.57-78.

SCHÄFER, ISABEL: Von der Revolution ins Reformlabor. Wer gestaltet den Übergang inTunesien?, in: Internationale Politik, Aufstand in Arabien, März/April 2011, Nr. 2.

STAIGER, RICA: Tunesien. Aufstieg zwischen Orient und Okzident, Frankfurt am Main, 2003.

Page 20: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Ägypten

Deutsches Orient-Institut 18

1 CIA – The World Factbook.2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.3 http://www.data.worldbank.org/indicator/EN.POP.DNST 4 CIA – The World Factbook. 5 CIA – The World Factbook.6 CIA – The World Factbook.7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.8 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators,

http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles.10 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN.12 CIA – The World Factbook. 13 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.15 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG,

International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf.

16 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html.

17 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm.18 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia,

http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf.19 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us.20 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,

http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 21 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection:

Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/.

22 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf, abgerufen am 29.08.2011.

23 The World Bank “Voice and Accountability”, Worldwide Governance Indicators, http:www.//info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp.

24 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

Landesdaten ÄgyptenFläche1 2011 1.001.450 km²

Bevölkerung2 2010 84.500.000

Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 85

Ethnische Gruppen4 2010 Araber 99,6%, andere 0,4%

Religionszugehörigkeit5 2010 Muslime 90%, Kopten 9% andere Christen 1%

Durchschnittsalter6 2010 24,3

Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 31%

Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 5%

Lebenserwartung9 2010 70,5

Bevölkerungsprognose bis 205010 2010 129.500.000

Geburten pro Frau11 2009 2,8

Alphabetisierungsrate 2010 66,4%

Mobiltelefone12 2009 55.352.000

Nutzer Internet13 2009 20.136.000

Nutzer Facebook14 2011 7.295.240

Wachstum BIP15 2010 5,2%

BIP pro Kopf 16 2010 5.840 USD

Arbeitslosigkeit17 2010 9%

Inflation18 2011 11,8%

S&P-Rating19 2011 BB

Human Development Index Rang20 2010 Rang 101 (von 169)

Bildungsniveau21 2010 Rang 120 (von 177)

Bildungsniveau der Frauen (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)22

2010 43,4%

Politische Teilhabe23 2010 15,2%

Korruptionsindex24 2010 Rang 98 (von 178)

Page 21: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Ägypten

Deutsches Orient-Institut19

Ägypten

Nachdem Ben Ali in Tunesien ge-stürzt worden war, erhofften sichauch die Ägypter den Sturz des Mu-

barak-Regimes. Nach 18 Tagen des Pro-tests im ganzen Land, vor allem auf demTahrir-Platz in der Hauptstadt Kairo, sowiemehreren hundert Toten wurde diese Hoff-nung erfüllt. Die demographische und wirt-schaftliche Realität im Land trieb dieMassen an – denn von Wachstum und Li-beralisierung profitierten nur wenige. DasMilitär ließ sich nicht gegen die Demon-stranten instrumentalisieren und trugsomit entscheidend zum Gelingen der Re-volution bei. Der politische Umbruch wirdjedoch trotz des bereits erfolgten Verfas-sungsreferendums nicht innerhalb kurzerZeit zu vollziehen sein, denn Ägypten siehtsich vielen entscheidenden Herausforde-rungen gegenüber, darunter dem Prozessgegen die Mitglieder des alten Regimessowie die Parlamentswahlen.

I. Politisches System und gesellschaftli-che Entwicklungen

Nachdem Ägypten 1922 als Königreich Ägyp-ten einen Teil seiner Souveränität von Groß-britannien zurückgewinnen konnte, erhielt esnach dem Tod von König Fuad I. 1936 seinevöllige Unabhängigkeit.

Nach schweren Rückschlägen im Palästina-krieg 1947, die nur durch diplomatische Inter-ventionen von Seiten der Briten nicht in einerisraelischen Besetzung des Sinai endeten,sowie massiven Vorwürfen der Korruption undMisswirtschaft gegen König Faruk, kam es am23. Juli 1952 zu dessen Sturz durch einen Mi-litärputsch. Die Initiatoren des Putscheswaren die Anhänger der Bewegung der„Freien Offiziere“, zu denen auch die späte-ren Präsidenten Ali Muhammad Nagib, GamalAbdel Nasser und Muhammad Anwar as-Sadat gehörten. Nachdem König Faruk am18. Juni 1953 ins Exil gegangen war, wurdeNagib als Präsident der neu proklamiertenRepublik Ägypten vereidigt. Nachdem Ägyp-ten und Syrien sich kurzzeitig zur VereinigtenArabischen Republik (1958-1961, arabisch:al-Jumhuriyya al-Arabiyya al-Muttahida) zu-sammengeschlossen hatten, nahm Ägypten1971 seinen bis heute offiziellen Namen „Ara-

bische Republik Ägypten“ (arabisch: al-Jum-

huriyya Misr al-Arabiyya) an.

Bekannte sich Präsident Nagib noch aus-schließlich zum Militär, so schuf Gamal AbdelNasser zu Beginn seiner Amtszeit ab 1956eine neue, politische Bewegung des „arabi-schen Nationalismus und Sozialismus“, diesich zur Partei der Arabischen SozialistischenUnion (arabisch: Al-Ittihad al-Ishtiraki al-Arabi,ASU) formierte. Aus ihr erwuchs noch zu Zei-ten Sadats 1978 die NationaldemokratischePartei (NDP), die Einheitspartei, der seit ihrerGründung bis zur Revolution im Frühjahr 2011alle Präsidenten einschließlich Hosni Muba-rak angehörten. Mubarak machte nach sei-nem Eintritt in die ägyptische Armee Karrierebei der Luftwaffe, deren Oberbefehlshaber er1972 wurde. Im Jahr darauf befehligte Muba-rak als Generalleutnant die Luftangriffe imJom-Kippur-Krieg/ Oktoberkrieg1 und wurde1975 zum Vizepräsidenten ernannt. Sadatentsandte Mubarak 1979, um die Friedens-gespräche mit Israel voranzubringen, womitdieser maßgeblich am Zustandekommen desisraelisch-ägyptischen Friedensvertrags imgleichen Jahr beteiligt war. Nach dem An-schlag auf Sadat 1981 übernahm Hosni Mu-barak kurz darauf das Amt. Der Attentäter, derSadat während einer Militärparade in Kairovor laufenden Kameras erschoss, bekanntesich zur islamistischen Gruppe Al-Jihad. Inder Zeit nach dem Anschlag kam es zu Mas-senverhaftungen, ermöglicht durch die Ein-führung der Notstandsgesetze, auf Grundlagederer Mubarak das Land bis zu seinem Rück-tritt 2011 weitgehend uneingeschränkt re-gierte. Die exekutive Gewalt setzte Mubarakmit Hilfe des staatlichen Sicherheitsapparatesdurch, der aus einer 250.000 Mann starkenparamilitärischen Einheit bestand, die demInnenministerium unterstellt ist und zum Er-halt der inneren Sicherheit dienen soll. Dieägyptischen Streitkräfte sind gegenwärtig diestärkste Militärmacht auf dem afrikanischenKontinent.

Durch eine Truppenstärke von 450.000 Mannund ihrer zentralen, strategischen Lage ge-nießen sie auch im Nahen und MittlerenOsten eine Vormachtstellung. Jährlich fließenmehr als 2,5 Mrd. USD in den Erhalt und Auf-bau der ägyptischen Armee. Davon werden1,3 Mrd. USD durch die Militärhilfe der USAfinanziert, die in Hurghada, als zentralen Kno-tenpunkt mit unmittelbarer Nähe des Suezka-

1 Um eine direkte Positionierung im Nahostkonflikt zu vermeiden, werden hier beide Schreibweisen wieder-gegeben.

Page 22: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Ägypten

Deutsches Orient-Institut 20

nal, einen Marinestützpunkt unterhalten. DieSicherheitskräfte des Innenministeriums die-nen in Ägypten nicht zur Ergänzung des Mili-tärs, sondern bilden vielmehr einGegengewicht. Das wurde auch während derRevolution deutlich, als die militärische Füh-rung sich auf die Seite der Demonstrantenstellte, während sich die Sicherheitskräfte re-gimetreu zeigten.2

Das gesellschaftliche Zusammenleben vonChristen und Muslimen in Ägypten3 ist in denletzten Jahren zunehmend konfliktreicher ge-worden. In den 1950er und 1960er Jahren,die stark von nasseristischen Ideologien4 undwestlichen Einflüssen geprägt waren, tratenreligiös bedingte Differenzen vermehrt hinterdem einenden, arabischen Nationalstolz zu-rück. Vor allem aber auch die lange Zeit sehrrestriktive Handhabe des Staatsapparatesgegenüber der Muslimbruderschaft drängtediese zurück. Die verschiedenen religiösenGruppierungen wurden als Konkurrenz staat-lichen Herrschaftsanspruchs angesehen.Eine wieder aufflammende Religiosität seitden 1980er Jahren verstärkte die Ausgren-zung von Christen im öffentlichen Leben undführte vor allem in der jüngsten Vergangen-heit zu gewalttätigen Auseinandersetzungen.Die zunehmende Islamisierung der muslimi-schen Mehrheitsgesellschaft entstand in Re-aktion auf das Scheitern der nationalistischen,panarabistischen Identität, welche mit demstarken Einfluss konservativer, wahhabiti-scher5 Ideologien zusammenfiel, die sich imZuge der Arbeitsmigration nach Saudi-Ara-bien auch in Ägypten verbreiteten.

Während der Regierungszeit Mubaraks öff-nete sich die ägyptische Wirtschaft partiell.Zunächst profitierte das Land vom internatio-nalen Wohlwollen durch seine Opposition zurirakischen Invasion in Kuwait. Danach be-gann eine sukzessive Liberalisierung zugun-

sten des privatwirtschaftlichen Sektors, umden Vorgaben verschiedener internationalerOrganisationen und Geldgebern zu entspre-chen. Innerhalb Ägyptens profitierten davonjedoch beinahe ausschließlich einige wenigeOligarchen. Ferner wuchs die Wirtschaft zwar,jedoch nicht genug, um der großen Zahl jun-ger Ägypter, die jedes Jahr auf den Arbeits-markt strömten, gerecht zu werden.

Die Bevölkerung Ägyptens hat in den letzten25 Jahren einen enormen demographischenWandel vollzogen. Ägypten ist von einem ra-piden Bevölkerungswachstum (1,9% p.a.) ge-prägt und gegenwärtig dasbevölkerungsreichste Land in der arabischenWelt. Seit 1985 ist die Einwohnerzahl von 50auf rund 85 Mio. gestiegen, in dessen Folgesich eine Reihe von problematischen Ent-wicklungen vollzogen, die Nährboden für dieRevolution im Februar 2011 waren. So führteder demographische Wandel in den letztenJahren zu einer hohen Arbeitslosigkeit von of-fiziell 9%, von denen jedoch fast 90% auf dieunter 30-Jährigen entfällt. Vor allem die breiteMasse der jungen Bevölkerung übt einen star-ken Druck auf den Arbeitsmarkt aus.6 Imwachsenden Maße sind auch Akademiker be-troffen, die unter zunehmender Perspektivlo-sigkeit leiden und nach dem Studium keinequalifizierte Arbeit finden. Viele haben meh-rere Arbeitsplätze, um ihre Familie finanziellzu unterstützen und ihre Existenz zu sichern.Diese Entwicklung verschärfte sich über dieletzten Jahre, sodass in Ägypten gegenwär-tig mehr als 40% der Bevölkerung unter derArmutsgrenze leben. Die Menschen leidenimmer mehr unter den steigenden Energie-und Lebensmittelpreisen, und die regionaleLebensmittelproduktion wird immer stärker anihre Grenzen gebracht. Die große Abhängig-keit vom Weizenimport führte zu einer Stei-gerung des Brotpreises von über 30%innerhalb eines Jahres (2010-2011). In einem

2 Das ägyptische Militär genießt im Volk hohes Ansehen und ist eng mit ihm verbunden. Dies kommt zumeinen durch die dreijährige Wehrpflicht, die von allen ägyptischen Männern ab 18 Jahren absolviert wer-den muss. Zum anderen haben viele Männer der Eltern- und Großelterngeneration in den arabisch-is-raelischen Kriegen gekämpft und fühlen sich immer noch eng verbunden mit der Armee. Besonders derKrieg 1973 war für Ägypten trotz der militärischen Niederlage, ein Sieg auf politischer Ebene, da man dieRückgabe der Sinai-Halbinsel erwirken konnte.

3 In Ägypten gehören 6-10% der Gesamtbevölkerung der christlichen Religion an. Die Mehrheit ist Mitgliedder koptischen Kirche, daneben gibt es kleinere Gemeinschaften von Griechisch-Orthodoxen, Griechisch-Katholischen oder Protestanten.

4 Diese beziehen sich auf den ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser und seine Politik des arabi-schen Nationalismus beziehungsweise Panarabismus. Hierbei wird die Einheit aller arabischsprachigenVölker betont und deren Vereinigung favorisiert. Ägypten soll dabei die Führungsrolle einnehmen. UnterAbdel Nasser genossen auch die beiden Orientierungen des Panislamismus sowie des PanafrikanismusZuspruch, der Panarabismus besaß jedoch die Priorität.

5 Siehe Beitrag zum Königreich Saudi-Arabien in dieser Publikation.6 Die Jugendarbeitslosigkeit liegt offiziell bei über 30%. Das Durchschnittsalter in Ägypten liegt bei 24,3

Jahren. (z. Vgl. Deutschland: 44 Jahre).

Page 23: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Ägypten

Deutsches Orient-Institut21

Land wie Ägypten, in dem durchschnittlich60% des Einkommens für Nahrungsmittelausgegeben werden7, stellt dies eine so be-unruhigende Entwicklung dar, dass es schonvon Seiten der Regierung zu Brotsubventio-nierungen kam.

Was die finanziellen Ressourcen der ärmerenBevölkerungsschichten noch zusätzlich be-lastet, ist die allgegenwärtige Korruption imLand. Im Alltag durchzieht sie alle staatlichenInstitutionen, auch Schulen und Universitätensind betroffen. Besonders die Polizei machtden Ägyptern mit willkürlichen Geldbußen zuschaffen. Auch die Familie Mubaraks und An-hänger seiner Regierung agierten im großenMaße korrupt. Wiederholt wurden Staatsauf-träge an Angehörige der Familie Mubarak ver-geben, auch bereicherte sich diese durch einvon Privatisierung und den Verkauf von staat-lichen Grundstücken geprägtes System. Dar-aus hervor ging eine milliardenschwereFamilie Mubarak8 sowie deren Freundes- undFamilienkreis, auf Kosten einer immer stärkerverarmenden Bevölkerung. Der InternationaleKorruptionsindex bewertet Ägypten als „über-durchschnittlich korrupt“ und stufte das Landauf Platz 98 ein, weit hinter anderen Ländernder Region wie Katar (22), Jordanien (49)oder Marokko (89).

Diese Ausgangslage war entscheidend fürdas Verlangen des Volkes nach einem Um-sturz. Vom Wirtschaftswachstum und der zu-nehmenden Einbindung der Privatwirtschaftprofitierte beinahe ausschließlich eine kleineElite, die zum engen Netzwerk des Präsiden-ten gehörte. Die fehlende Teilhabe der meis-ten Ägypter am politischen Prozess und derEntscheidungsfindung führte dazu, dass derWillen auf der einen sowie die Bereitschaft

nach Wandel auf der anderen Seite stieg undschließlich eine kritische Masse erreichte.

II. Vorraussetzungen für den Willen nachWandel

Im Vorfeld der Revolution verschärfte sich dieSituation aufgrund verschiedener Faktoren.Nach einer Reform des Wahlrechts im Fe-bruar 2005 wurden bei den Präsidentschafts-wahlen im gleichen Jahr zum ersten MalGegenkandidaten zugelassen. Im September2005 gelang es daraufhin dem Kandidatenund Gründer der Ghad-Partei, Aiman Nur,7,8% der Stimmen auf sich zu vereinen, waseinen Teilerfolg für die Opposition darstellte.Kurz darauf wurde er wegen Urkundenfäl-schung angeklagt und zu fünf Jahren Haftverurteilt, von denen er drei Jahre verbüßenmusste. Hosni Mubarak blieb mit 88,5% derStimmen Präsident Ägyptens. Bei den Parla-mentswahlen im Dezember 2005 konnten dieMuslimbrüder als unabhängige Kandidatenerstmals 20% der Sitze erringen und wurdensomit stärkste Opposition.9 Die Muslimbru-derschaft genießt in Ägypten eine große Po-pularität in weiten Teilen der Gesellschaft.Obwohl sich die Organisation in den 1970erJahren von militanten Ablegern wie Jihad al-

Islam distanziert hatte, ist sie bis heute offi-ziell verboten. In anderen Ländern wieAlgerien, Tunesien, Syrien und Palästinahaben sich seit der Gründung der Muslimbru-derschaft 1928 mehrere „Ableger“ gegründet.Diese haben jedoch nicht alle gleichermaßender Gewalt abgeschworen, so beispielsweisedie Hamas. Der gesellschaftliche Rückhaltder Muslimbruderschaft in Ägypten basiert vorallem auf ihrem karitativen Engagement, mitdem sie die Lücken im sozialen und gesell-schaftlichen Leben füllt, die von der Regie-

7 z. Vgl. Deutschland: 12%.8 Das Vermögen der Familie Mubarak wird auf insgesamt 40 Mrd. USD geschätzt. Die gegenwärtige Staats-

verschuldung beläuft sich auf 30,61 Mrd. USD. Es besteht die Hoffnung, dass man Teile des Vermögensder Familie Mubarak an den Staat zurückfließen lassen könne. Die Schweiz und die USA haben bereitsKonten eingefroren. Eine Auszahlung des Geldes wird sich jedoch rechtlich schwierig gestalten.

9 Die Bewegung der Muslimbruderschaft entstand 1928 durch Hassan al-Banna in Ägypten. Ihre Zielset-zung beinhaltet die Einführung und Durchsetzung islamischer Moral- und Verhaltensregeln und beruftsich auf den Panislamismus. Anfangs gegen die britische Kolonialherrschaft gerichtet, gehörten bald auchdie Wahrung der muslimischen Identität Ägyptens und der Kampf gegen den Säkularismus zu den Zie-len. Neben einer politischen Aktivität – die jedoch zumeist Opfer von Unterdrückung wurde – zeichnet sichdie Bewegung vor allem durch soziales und karitatives Engagement aus. In der Ära Gamal Abdel Nas-sers sah sie sich starker Unterdrückung ausgesetzt; einer ihrer wichtigsten Vordenker – Sayyid Qutb –wurde hingerichtet. Nach diesem war die derzeitige Situation in Ägypten mit der Zeit vor dem Islam gleich-zusetzen, der heidnischen jahiliyya, da sämtliche Regeln unbeachtet blieben. In den 1970er Jahren spal-teten sich dann die beiden militanten Bewegungen Takfir wa-l-Higra sowie Al-Jihad Al-Islami ab. Damitgewannen die gemäßigten Kreise die Oberhand. Die MB schwor der Gewalt ab, beteiligte sich am poli-tischen Geschehen und wurde vor allem bei den Parlamentswahlen 2005 als stärkste Oppositionskraftbestätigt. Sie verfügt heute über eine sehr breite Verankerung in der ägyptischen Gesellschaft und be-sitzt wohl das größte Mobilisierungspotential. In anderen Ländern der Region wurde sie ferner häufigzum Vorbild genommen – auf sie führt sich beispielsweise die Hamas zurück.

Page 24: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Ägypten

Deutsches Orient-Institut 22

rung vernachlässigt wurden.10 Bei den Parla-mentswahlen 2010 kam es zu massiven Ma-nipulationen. So wurden Menschen mitGewalt daran gehindert, die Wahllokale zubetreten, woraufhin es zu Zusammenstößenmit den Sicherheitskräften kam, bei denenvier Menschen starben. Darüber hinauswurde vermehrt über Stimmenkauf berichtet.11

Im Vorfeld war es außerdem zu Boykottaufru-fen von Seiten der Oppositionsparteien ge-kommen, die eben diese Wahlmanipulationerwarteten.

Der Boykott, die Resignation innerhalb derWählerschaft und die Manipulation des Wahl-vorgangs führten zu einer Wahlbeteiligungvon nur 25% und einem Erdrutschsieg derNationaldemokratischen Partei. Die Muslim-brüder kamen auf nur noch einen Sitz, auchandere Oppositionsparteien hatten schwereVerluste zu verzeichnen.12 Die Regierung Mu-baraks erreichte eine Zweidrittelmehrheit, dieihr die volle Kontrolle über zukünftige Verfas-sungsänderungen zurückbrachte. In Erwar-tung dessen hatte sich 2010 im Vorfeld derWahlen die Bewegung Jamiat al-Taghyir

(„Union des Wandels“) um den ägyptischenNobelpreisträger Mohammed ElBaradei ge-gründet, die eine Unterschriftensammlung mitdem Ziel organisierte, eine Wahlrechtsreformzu erwirken und ElBaradei als Gegenkandi-daten aufstellen zu können.

In den letzten Jahren trat auch der Sohn desPräsidenten, Gamal Mubarak, in den Vorder-grund des politischen Geschehens und über-nahm 2002 den Posten des Generalsekretärsder NDP. Als Reaktion darauf wurden ersteStimmen in der Bevölkerung laut, die be-fürchteten, Mubarak würde das Amt des Prä-sidenten nach syrischem Vorbild an seinenSohn weitervererben wollen. Dies war einerder Gründe für die erste Anti-Mubarak-Demonstration der Kifaya-Bewegung („Es istgenug“) im Jahr 2004. Die pazifistische Be-wegung formierte sich im Jahr 2000 als Re-

aktion auf die Zweite Intifada in Palästina undgewann an Unterstützung durch ihre Demon-strationen gegen den Irakkrieg 2003.

Eine weitere Bewegung gründete sich 2008auf Facebook aus Solidarität mit den Mas-senprotesten in der Stadt Mahalla al-Kubra,bei denen am 6. April 2008 mehr als 27.000Arbeiter der größten Textilfabrik Ägyptens aufdie Straße gingen um gegen ihren geringenLohn und die steigenden Lebensmittelpreisezu demonstrieren. Zwei Mitglieder der Ghad-Partei gründeten daraufhin als Zeichen derUnterstützung die „Bewegung 6. April“, diebald mehr als 87.000 Anhänger auf Facebook

zu verzeichnen hatte. In den Monaten vor derRevolution kam es wiederholt zu einer lan-desweiten Streikwelle, die diesmal auch dasBau-, Lebensmittel- und Transportwesensowie verschiedene Ministerien betraf. Wo-chenlang campierten die Betroffenen vor demParlamentsgebäude, um auf ihre Situationaufmerksam zu machen – ohne Erfolg.

Eine der treibenden Kräfte der Revolutiongründete sich in Reaktion auf die brutale Tö-tung des 28-jährigen Khaled Said im Juni2010 in der Hafenstadt Alexandria. Der jungeBlogger Khaled Said hatte sich in einem Inter-netcafé aufgehalten, als zwei Polizisten hin-einstürmten und seine Papiere forderten.Kurz darauf packten sie ihn und zerrten ihn ineinen nahe gelegenen Hauseingang, wo sieihn zu Tode prügelten. Danach wurde sein biszur Unkenntlichkeit entstellter Leichnam wie-der vor dem Internetcafé abgelegt. Das Fotovon Saids Leiche wurde über das Internet ver-breitet und schuf eine weltweite Öffentlich-keit.13 Aufgrund des internationalen Druckswurden die beiden Polizisten am 27. Juli 2010verhaftet und angeklagt. Der Prozess wurdeseitdem wiederholt vertagt. Die Anklage lautet„unrechtmäßige Verhaftung unter Einsatzphysischer Gewalt und Brutalität“, worauf dieHöchststrafe ein Jahr Haft beträgt. Als Zei-chen des Protests gegen die Willkür der Poli-

10 Sie bietet kostenlose medizinische Dienste an, organisiert Armenspeisungen und unterstützt Kinder armerFamilien mit zusätzlichen Schulangeboten. Die Bewegung besitzt darüber hinaus eigene Moscheen,Krankenhäuser, Schulen und Unternehmen, die sie in den Dienst der Allgemeinheit stellen.

11 So wurden auf Twitter tagsüber die Preise für die Stimmen der einzelnen Wahlbezirke ausgetauscht.12 Die Sitzverteilung bei den Parlamentswahlen veränderte sich von 2005 bis 2010 wie folgt: NDP von 330

auf 420 Sitze; Wafd-Partei von fünf auf sechs Sitze; Partei der Union für nationalen Fortschritt von ein auffünf Sitze; Ghad-Partei behält einen Sitz; Unabhängige der Muslimbruderschaft von 88 auf einen Sitz. DiePartei für soziale Gerechtigkeit, die Demokratische Generationspartei und die Demokratische Friedens-partei ziehen mit jeweils einem Sitz ins Parlament ein.

13 Als Ergebnis der Ermittlungen erklärte die Staatsanwaltschaft, Khaled Said sei von den beiden Polizistenbeim Handel mit Drogen aufgegriffen worden, woraufhin er ein Päckchen verschluckt hätte, an dem er dar-aufhin erstickt sei. Die Anwälte der Familie, die von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen ge-stellt wurden, forderten eine unabhängige Untersuchung und erwirkten eine Wiederaufnahme derErmittlungen, die jedoch zu dem gleichen Ergebnis führten wie die vorangegangene.

Page 25: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Ägypten

Deutsches Orient-Institut23

zei und den Staat, der sich schützend vor dieTäter stellte, gründete sich eine Solidaritäts-bewegung von jungen Ägyptern auf Face-

book, die sich mit dem Schicksal KhaledSaids identifizieren konnten und den NamenWe are all Khaled Said trägt. Khaled Saidwurde zur Symbolfigur der arabischen Revo-lution. Bis heute unterstützen mehr als146.000 Menschen die Bewegung auf Face-book.14

Das angespannte Verhältnis von Christen undMuslimen wurde in den letzten Jahren immerkonfliktreicher. Im Jahr 2010 wurden im ober-ägyptischen Nag Hamadi acht Kopten beimVerlassen der Kirche als Rache für die Ver-gewaltigung eines muslimischen Mädchensdurch einen Christen im Vorjahr erschossen.Als Folge kam es zu Übergriffen und Aus-schreitungen zwischen den beiden Religions-gruppen. Am 1. Januar 2011 ereignete sich imAnschluss an den Neujahrgottesdienst einschwerer Anschlag auf die koptische Kirche„Zwei Heiligen“ in Alexandria, als eine Auto-bombe vor dem Eingang der Kirche explo-dierte. Der Anschlag galt den koptischenGläubigen, die nach dem Ende des Gottes-dienstes das Gebäude verließen.15 Die Kircheund die angrenzende Moschee wurdenschwer beschädigt.16 Unmittelbar nach demAnschlag kam es zu Zusammenstößen zwi-schen anwesenden Muslimen und Christen,die von der Polizei mit Tränengas getrenntwurden.

Am nächsten Tag hatte sich die Lage jedochdahingehend gewandelt, dass sich Muslimesolidarisch mit ihren koptischen Mitbürgenzeigten und geschlossen mit ihnen unter derFlagge der Revolution von 1919 demonstrier-ten, auf der Kreuz und Halbmond zusammenfür die Einheit des ägyptischen Volkes abge-

bildet sind. Diese Symbolik setzte sich auchwährend der Revolution fort, als Demon-stranten mit ineinander verschränktem Kreuzund Halbmond auf ihren Plakaten gegen dieRegierung Mubaraks demonstrierten. Die Re-volution in Ägypten war daher keineswegsgänzlich unvorhersehbar. Schon häufig hattees Demonstrationen gegeben, die jedochimmer stark lokal oder auf eine bestimmteInteressengruppe beschränkt blieben undnicht auf die breite Bevölkerung übergreifenkonnten. Die Regierung Mubarak verstandsich darauf, weite Teile der Bevölkerung soam Existenzminimum zu halten, dass es ge-rade noch zum Überleben reichte. Die Angst,sich durch ein Aufbegehren gegen das Re-gime die eigene Lebensgrundlage zu entzie-hen und seine Familie mit ins Unglück zureißen, lähmte die Menschen über Jahr-zehnte. Vor allem durch die demographischenFaktoren verschlechterten sich die Lebens-umstände jedoch rapide über die letztenJahre und ließen jene Stimmen immer lauterwerden, die ein Ende der Mubarak-Ära for-derten.

Schon eine Woche vor Beginn der ersten Pro-teste warnte die Muslimbruderschaft voreinem möglichen Überspringen des revolutio-nären Funkens aus Tunesien und forderte dieRegierung mit einem Zehn-Punkte Plan zusubstantiellen Reformen auf, was jedoch un-gehört blieb.17

III. Akteure des Wandels und konkreterAuslöser

Der unmittelbare Auslöser der ägyptischenRevolution waren die Geschehnisse in Tune-sien, die den Protesten in Ägypten voraus-gingen. Den Tunesiern war es gelungen, nachWochen des Protests, ihren Präsidenten Zine

14 Es ist jedoch hervorzuheben, dass dies keineswegs einen aktivistischen Einsatz beinhalten muss. Durchdas Anklicken des Like-Buttons wird zwar eine generelle Unterstützung ausgedrückt. Aktives Engagementist damit jedoch nicht verbunden. Die Anzahl an Unterstützern bei Facebook lässt somit keine Rück-schlüsse auf das Mobilisierungspotential zu. Es handelt sich viel eher um ein Stimmungsbild.

15 Insgesamt kamen 23 Menschen ums Leben und 97 wurden verletzt.16 Die Attentäter wurden zunächst einer lokalen, Al-Qaida nahe stehenden Terrorgruppe zugeordnet. Spä-

ter hieß es, die Attentäter kämen aus dem Ausland. Inzwischen gibt es Hinweise des britischen Ge-heimdienstes, nachdem der ehemalige Innenminister Habib al-Adly selbst in den Anschlag verwickeltgewesen sei soll, um das repressive Vorgehen der Regierung gegen die Opposition zu rechtfertigen.

17 Darin wurden zunächst die Aufhebung des Ausnahmezustands, die Auflösung des Parlaments im Zu-sammenhang mit Verfassungsänderungen für demokratische Wahlen, die Gewährleistung von Organi-sations- und Pressefreiheit und die Freilassung politischer Gefangener gefordert. Weiterhin sollten dieVerantwortlichen für die Veruntreuung des Volksvermögens zur Rechenschaft gezogen werden.

Page 26: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Ägypten

Deutsches Orient-Institut 24

el-Abidine Ben Ali zum Rücktritt zu zwingen.18

Der Erfolg der tunesischen Revolution warwohl der Funke, der das Pulverfass Ägyptenzur Explosion brachte. Die Angst, die dieÄgypter über Jahrzehnte in ihrer sich ständigverschlechternden Lebenssituation hatte aus-harren lassen, fiel von ihnen ab. Tunesienhatte gezeigt, dass sich der Umsturz eines al-teingesessenen Regimes nicht über Nacht er-reichen ließ und gab den ägyptischenDemonstranten die Kraft, trotz aller Rück-schläge an ihren Zielsetzungen festzuhalten.

Der Beginn der Revolution in Ägypten war der25. Januar 2011, als ein Bündnis aus der „Be-wegung 6. April“, We are all Khaled Said, Ki-

faya, der „Union für den Wandel“ und derUnterstützung der Jugend der Muslimbruder-schaft gemeinsam auf Facebook zum „Tagdes Zorns“ aufriefen. Anders als erwartet folg-ten dem Aufruf mehrere zehntausend Men-schen; allein 15.000 Demonstrantenbesetzten an diesem Tag den Tahrir-Platz inKairo, der sich zum Zentrum der Revolutionentwickeln sollte. Die Polizei ging mit Was-serwerfern und Tränengas gegen die De-monstranten vor. Drei Menschen wurden beiden Unruhen des ersten Tages getötet. Trotzeines Demonstrationsverbots kam es wäh-rend der beiden folgenden Tage wiederholt zuZusammenstößen mit der Polizei. In der StadtSuez wurde als Reaktion auf das Verbot derTrauerfeier für die am Vortag getöteten De-monstranten die Polizeistation in Brand ge-setzt.

Über Facebook und Twitter wurde zu weite-ren Massenprotesten im Anschluss an dasFreitagsgebet aufgerufen. Um der Organisa-tion und Vernetzung entgegenzuwirken, ließdie Regierung das Internet sowie weite Teiledes Mobilfunknetzes kappen19 und verbot dieVersammlung zum Freitagsgebet in den grö-ßeren Städten. Trotzdem gingen zur Mittags-zeit Hunderttausende in Kairo und anderen

Städten auf die Straße und forderten denRücktritt des Präsidenten. Die Polizei rea-gierte mit äußerster Härte gegen die Demon-stranten. Es wurde versucht, die Massen mitTränengas und Wasserwerfern zu trennen,wiederholt drangsalierten Polizisten die Auf-ständischen mit Schlagstöcken und Gummi-geschossen. Am Abend des 28. Januar undder folgenden Nacht eskalierte die Gewalt:Die Proteste gingen ungeachtet der verhäng-ten Ausgangssperre weiter. Einigen Demon-stranten gelang es, bis zur Parteizentrale derNDP vorzudringen und diese in Brand zu set-zen. Mubarak entschied daraufhin, die Polizeiweitgehend abzuziehen und ließ an derenStelle das Militär mit Panzern nach Kairo ein-rücken. Ob sich das Militär auf die Seite derDemonstranten stellen oder es sich doch loyalzum Präsidenten, dem Oberbefehlshaber derStreitkräfte, bekennen würde, blieb für die fol-genden Tage ungewiss.

Am nächsten Tag waren weder Polizei nochSicherheitskräfte auf den Straßen präsent.Übergriffe von Banden auf Geschäfte und Pri-vatpersonen häuften sich, auch Krankenhäu-ser wurden Opfer solcher Raubzüge. BeiPlünderungen im Ägyptischen Museum inKairo wurden wertvolle altägyptische Expo-nate zerstört. Gerüchte kamen auf, die Plün-derer seien Polizisten und Sicherheitsleute,die vom Innenministerium angewiesen wor-den wären, die Bevölkerung durch Angst voranarchischen Zuständen in die Knie zu zwin-gen. Nachdem die Armee sich weiterhin zukeinem aktiven Eingreifen entschied, formier-ten sich Nachbarschaftswehren, die in ihrenStadtteilen patrouillierten und Straßenkontrol-len errichteten.

Eine Reaktion Mubaraks auf diese Entwick-lungen blieb zu diesem Zeitpunkt weitgehendaus. Weder versuchte er, durch schnell undernsthaft implementierte Reformvorhaben diewirtschaftlichen Forderungen der Demon-

18 Dieser verließ daraufhin am 14. Januar 2011 das Land und hält sich gegenwärtig in Saudi-Arabien auf.Ben Alis Frau, Leila Trabelsï, sowie weitere Mitglieder seiner Familie werden inzwischen mit internatio-nalem Haftbefehl gesucht, er selbst ist auf die Gunst der saudischen Herrscher angewiesen, die seineAuslieferung bisher verweigert haben. Der erste Prozess gegen Ben Ali und seine Frau fand bereits inderen Abwesenheit statt. Beide wurden zu einer Haftstrafe von 35 Jahren und einer Geldstrafe in Milli-onenhöhe verurteilt. Weitere Verfahren aufgrund des Vorwurfs des Mordes und der Folter sollen vor demMilitärgericht verhandelt werden, Ben Ali droht hier die Todesstrafe. Nach der Einschätzung von Beob-achtern wird es jedoch – nachdem das erste Urteil bekannt wurde – nicht zu einer Auslieferung von Sei-ten Saudi-Arabiens kommen. Ben Ali selbst ließ durch seine Anwälte verlauten, die Vorwürfe wären haltlosund er habe nicht die Absicht, den Prozess ernst zu nehmen.

19 Die sozialen Netzwerke im Internet waren vor allem während der Anfänge der Revolution ein wichtigesMedium für die Organisation und Verständigung der jugendlichen Demonstranten. Im Vergleich zu an-deren arabischen Ländern und vor allem Europa ist das Internet in Ägypten noch vergleichsweise wenigverbreitet, doch ist es insbesondere in den Großstädten und innerhalb der jungen Mittel- und Oberschicht,die maßgeblich die Revolution initiiert und getragen hat, sehr präsent und ein wichtiges Kommunika-tionsmittel. Die Internetverbreitung in Ägypten beträgt 24,5% (z. Vgl. Deutschland: 67,1%).

Page 27: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Ägypten

Deutsches Orient-Institut25

stranten zu erfüllen, noch kam er der Haupt-forderung nach, selbst zurückzutreten. Statt-dessen ernannte er zum ersten Mal währendseiner Regentschaft einen Vizepräsidenten.Seine Wahl fiel auf Omar Suleiman20, denChef des ägyptischen Geheimdienstes, derbis zum Rücktritt Mubaraks erste Verhand-lungen mit der Opposition führte und die Re-gierung Mubaraks in den Medien vertrat. Dieunvorhersehbaren Entwicklungen veranlas-sten Botschaften, Konsulate und einen Groß-teil ausländischer Unternehmen, ihreMitarbeiter auszufliegen. Die Anzahl derKampfpanzer in den Städten wurde nochmalsdeutlich erhöht, auch in den Urlaubsgebietenam Roten Meer rückte die Armee immer wei-ter vor. Die USA und Deutschland sowie wei-tere europäische Länder gabenReisewarnungen heraus und entschieden,Sondermaschinen zu schicken um ihreStaatsbürger auszufliegen.

Zum wichtigsten Akteur während der Revolu-tion wurde schnell das ägyptische Militär, aufdas sich die Hoffnungen der Demonstrantenstützten. Ein Sprecher der ägyptischen Armeegab bekannt, dass die Armee die Forderun-gen der Demonstranten anerkenne und keineGewalt gegen sie anwenden würde. Die Ent-scheidung des Militärs wurde unter großemJubel willkommen geheißen, von nun anwurde „Das Militär und das Volk sind vereint“skandiert. Die Abgrenzung des Militärs vonder Regierung Mubarak liegt jedoch nicht nuran der Verwurzelung des Militärs in der Ge-sellschaft, sondern auch an der Person Mu-baraks selbst. Zwar hatte auch er seineKarriere beim Militär begonnen, doch gehörteer nicht mehr der Garde der „freien Offiziere“an und hatte sich für eine politische Führungentschieden.

Mit dem Militär auf ihrer Seite riefen die De-monstranten für Dienstag, den 1. Februarzum „Marsch der Millionen“ auf. Bis zu 2 Mio.Menschen kamen dem allein in Kairo nach.Am Abend versammelten sich die Massen aufdem Tahrir-Platz, um auf Großleinwänden derangekündigten Ansprache des Präsidentenzu folgen. Erwartet wurde seine Rücktrittser-klärung. Doch diese Hoffnungen wurden ent-täuscht: Mubarak erklärte lediglich, dass ernicht für eine weitere Amtszeit kandidieren

würde und zu Gesprächen mit der Oppositionbereit sei. Als Folge dieser Erklärung kipptedie hoffnungsvolle Stimmung unter den De-monstranten augenblicklich. Trotz des Drän-gens von Seiten des Militärs, die Forderungenseien gehört worden und es müsse zu einemEnde der Demonstrationen kommen, verblie-ben die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz.Sie beharrten auf ihren Forderungen, Muba-rak müsse sofort zurücktreten, das Parlamentauflösen und eine Übergangsregierung miteiner Verfassungsänderung und Neuwahlenbetrauen. Um seine Absichten zu unterstrei-chen, löste Mubarak am folgenden Tag dasParlament auf, die Ausgangssperre wurdeverkürzt und auch die meisten Internet- undTelefondienste wurden wieder frei geschaltet.Das Militär verblieb mit den Demonstrantenauf dem Tahrir-Platz, beteiligte sich jedochnicht mehr an den Personenkontrollen an denZugängen zum Tahrir-Platz, die an den Vorta-gen die Demonstranten vor Übergriffen sei-tens Regimetreuer geschützt hatten. AmNachmittag dieses Tages kam es zu blutigenEskalationen, als der von Demonstranten be-setzte Tahrir-Platz von mit Messern, Steinenund Schlagstöcken bewaffneten Anhängerndes Regimes gestürmt wurde. Dazu kam die„Kavallerie-Attacke“ mit Unterstützern aufPferden und Kamelen, die mit Peitschen undMacheten auf die Demonstranten am Bodeneinschlugen. Von den Angriffen überraschtversuchte ein Großteil zu fliehen, jedoch wur-den sie von den Angreifern zurück gedrängt.Die Soldaten hatten den Befehl, nicht einzu-greifen und verharrten weitgehend tatenlosauf ihren Panzern, vereinzelt wurden Warn-schüsse abgegeben. Die Demonstranten, dieaufgrund der Personenkontrollen der voran-gegangenen Tage komplett unbewaffnetwaren, verteidigten sich mit Flaschen undPflastersteinen, die sie aus dem Boden ris-sen. Die Zusammenstöße dieses Nachmit-tags kosteten 13 Menschen das Leben, über1.500 Verletzte wurden in den umliegendenMoscheen behandelt, die von freiwilligen Hel-fern und Ärzten zu Feldlazaretten umfunktio-niert worden waren. AusländischeMedienvertreter mussten ihre Hotels verlas-sen, als von den Unterstützern des Regimeswiederholt Jagd auf sie gemacht wurde. Eswurde von 70 Festnahmen seit dem Ausbruchder Gewalt am 2. Februar berichtet. Ein Jour-

20 Omar Suleiman durchlief, wie Mubarak, eine Militärlaufbahn, wechselte jedoch 1986 zum militärischen Ge-heimdienst und wurde Chef des zivilen ägyptischen Geheimdienstes (arabisch: Mukhabarat) 1993. Dadieser dem Präsidenten direkt untergeordnet ist, standen sich Suleiman und Mubarak stets sehr nah.Zum engsten Verbündeten des Präsidenten wurden Suleiman beim Afrika-Gipfel 1995, als er die Limou-sine Muabaraks gegen ein gepanzertes Fahrzeug austauschen ließ und dieser so einen Anschlag isla-mistischer Terroristen überlebte

Page 28: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Ägypten

Deutsches Orient-Institut 26

nalist wurde von einem Scharfschützen getö-tet.

Als Reaktion auf die Geschehnisse des Vor-tags errichteten die Demonstranten am 3. Fe-bruar Barrikaden um den Tahrir-Platz, um sichvor weiteren Attacken zu schützen. Trotzdemkam es wiederholt zu Übergriffen auf die Re-gierungsgegner: Mehrfach wurden Brand-bomben geworfen und auch von gezieltenSchüssen von den umliegenden Häusernwurde berichtet. Nachdem die Armee mit Sta-cheldraht den Platz abgesperrt hatte und wie-der verstärkt für den Schutz derDemonstranten eintrat, richteten sich die Be-setzer des Tahrir-Platzes in den folgendenTagen darauf ein, in der Situation zu verhar-ren. Privatpersonen und Organisationen, allenvoran die Muslimbruderschaft, organisierteneine Infrastruktur, die eine Versorgung mit Le-bensmitteln, Zelten und sanitären Anlagen si-cherstellte. Immer wieder gab es Szenenreligionsübergreifender Solidarität, wenn An-hänger beider Konfessionen sich gegenseitigbei ihren Gebeten schützten. Einige von ihnenhielten als Zeichen der Koexistenz der beidenReligionen unter dem Vorzeichen der ägypti-schen Nation Kreuz und Koran in den Hän-den.

Auf der politischen Bühne reduzierten sich dieOptionen des Regimes auf ein Minimum.Während am Anfang befürchtet wurde, dieRegierung könnte den Aufstand mit Gewalt imKeim ersticken, wurde spätestens nach derSolidarisierung des Militärs mit den Demon-stranten deutlich, dass die Machthaber einenanderen Weg finden mussten. Trotz der Ver-suche von Seiten Mubaraks, die Protestbe-wegung zum Einlenken zu bewegen, indemer ihr Zugeständnisse machte, kam es nichtzu einem Ende der Proteste. Suleiman lud am6. Februar Vertreter der Oppositionsparteienund der Jugendbewegungen sowie den kop-tischen Großunternehmer Naguib Sawiris,einen Vertreter Mohammed ElBaradeis undAnhänger der Muslimbruderschaft ein, mitdem Ziel, ein Komitee zu gründen, das überVerfassungsänderungen hinsichtlich dernächsten Präsidentschaftswahlen im Sep-tember beraten sollte. Dieses Komitee wurdespäter als “Rat der weisen Männer“ Bekannt.Gamal Mubarak wurde der Posten des Ge-neralsekretärs der NDP entzogen. An dessenStelle trat Hussam Badrawi21, der jedoch nochvor dem Rücktritt Mubaraks das Amt wiederaufgab. Mubarak berief an den folgenden

Tagen ein Komitee aus elf Richtern ein, dieeine Verfassungsänderung ausarbeiten soll-ten, um die Kandidatur für die Präsidentschaftzu vereinfachen und die Amtszeit zu begren-zen. Damit wurde eine erste Teilforderung derDemonstranten erfüllt. Allerdings kam es nochimmer zu keiner Auflösung der Proteste. DieMenschen forderten weiterhin den sofortigenRücktritt Mubaraks.

Das gewalttätige Vorgehen der Regierunggegen die Demonstranten hatte viele Opfergefordert. Nach offiziellen Angaben starbenbei den Protesten 846 Menschen durch dieHand des Regimes. Weitere 6.000 wurdenverletzt. Hätte sich die Regierung schon inden ersten Tagen der Demonstrationen zu Zu-geständnissen bereit erklärt, so hätte sieeventuell den großen Zulauf der Protestbe-wegung unterbinden und die Aktivisten in sichspalten können.

Für den Großteil der Demonstranten standfest, dass sie keine Kompromisse eingehenwürden. Gerade die junge Generation der De-monstranten, die noch unter keinem anderenPräsidenten als Mubarak gelebt hatte, wurdedurch die Revolutionsbewegung zum erstenMal politisch aktiv. Sie hatte die Hoffnung, miteinem Sturz der Regierung und einer Ände-rung des Systems für ihre eigene Zukunft unddie ihrer Kinder eine bessere Perspektiveschaffen zu können.

Während sich in den Tagen vor dem Rücktrittein Stillstand der Verhandlungen abzeichnete,was einen ungewissen Ausgang erwartenließ, kam es doch kurz darauf am 10. und 11.Februar zu einem schnellen, weitgehendfriedlichen Ende des Regimes. Am 17. Tagdes Aufstandes tagte der Oberste Militärratwiederholt ohne seinen OberbefehlshaberHosni Mubarak und erklärte die Forderungender Bewegung für legitim. Dies deutete aufeinen signifikanten Bruch zwischen militäri-scher Elite und Mubarak hin, sodass die Spe-kulationen zunahmen, Mubaraks Rücktrittstehe unmittelbar bevor. Jedoch trat Mubarakin seiner Fernsehansprache am Abend des10. Februars nicht wie erwartet zurück, son-dern gestand zunächst eigene Fehler ein undversicherte eine Verfolgung derer, die für dieTötung der Demonstranten verantwortlichwaren. Mubarak übergab darüber hinaus Teileseiner Befugnisse an den Vizepräsidenten,versicherte jedoch, das Amt des Präsidentennicht aufzugeben. Auch der Ausnahmezu-

21 Hussam Badrawi war innerhalb der NDP als Reformer bekannt und seine Ernennung wurde von den De-monstranten als Zugeständnis empfunden.

Page 29: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Ägypten

Deutsches Orient-Institut27

stand blieb weiterhin in Kraft. Die zuvor aus-gelassene Stimmung auf dem Tahrir-Platzschlug augenblicklich um. Die wütendeMasse zog unter Protestrufen in Richtung desPräsidentenpalasts.

Für den 11. Februar wurde zur größten De-monstration seit Beginn des Aufstandes auf-gerufen. Am Morgen trat der Oberste Militärraterneut zusammen. Mubarak ließ wissen, dassein Mitglied aus dem „Rat der weisen Männer“nach dem Rücktritt des vorigen Premiermi-nisters Ahmed Shafiq das Amt übernehmensolle, um als Vermittler zwischen Regierungund Opposition zu fungieren. Am selben Tagwurde Essam Abdel Aziz Sharaf zum Pre-mierminister Ägyptens ernannt, was von wei-ten Teilen der Oppositionsbewegung begrüßtwurde.

Am Mittag des 18. Tags der Demonstrationenversammelten sich bis zu einer Million Men-schen auf dem Tahrir-Platz und bis weit in dieNebenstraßen hinein. Auch in anderen Städ-ten Ägyptens wie Mansoura, Mahala, Tanta,Alexandria, Ismailiya und Suez gingen meh-rere hunderttausend Menschen auf dieStraße. In Kairo zogen mehrere Tausend Re-gimegegner vom Tahrir-Platz zum Präsiden-tenpalast und vor das Gebäude desstaatlichen Fernsehsenders. Die Weltöffent-lichkeit schaute in diesen Stunden auf Ägyp-ten. Als erster hochrangiger europäischerPolitiker bezog der dänische PremierministerLars Lokke Rasmussen Position und forderteden sofortigen Rücktritt des ägyptischen Prä-sidenten.

Andere europäische Politiker schlossen sichim Laufe des Tages an. In den Nachrichtenkam es zu Spekulationen über den Aufent-haltsort des Präsidenten, es wurden Vermu-tungen laut, er habe das Land bereitsverlassen. Bilder aus Alexandria und Kairozeigten Militär und Marine, die sich um dieDemonstrationszüge positionierten und dieMenschen mit Lebensmitteln und Wasser ver-sorgten.

Um 18.00 Uhr Ortszeit trat Omar Suleimanvor die Presse. In einer knappen Ansprachegab er den Rücktritt des ägyptischen Präsi-denten Hosni Mubarak bekannt. Alle Befug-nisse wurden dem Obersten Militärrat unterLeitung von Hussein Tantawi übergeben. Die-ser hatte selbst eine lange Militärkarrieredurchlaufen und war seit 1991 Verteidigungs-

minister. Seine Person ist jedoch alles andereals unumstritten, da er gemeinhin als ProtégéMubaraks gilt. Nach dem Rücktritt Mubarakstraten auch Omar Suleiman sowie weiterehochrangige Regierungsmitglieder von ihrenÄmtern zurück. Die Konten Mubaraks undseiner Familie wurden eingefroren. Mubarakerhielt ein Ausreiseverbot und wurde unterHausarrest gestellt

IV. Auswirkungen des „Arabischen Früh-lings“

Auf der Welle der Euphorie ergriff die ägypti-sche Jugend Eigeninitiative: Es gründetensich Gruppen, die sich um die Müllbeseitigungauf den Straßen kümmerten, andere ersetz-ten die zunächst noch abwesenden Ver-kehrspolizisten und regelten den Verkehr aufden großen Straßen, wieder andere zogenmit Pinsel und Farbe durch die Städte und er-neuerten die Bordsteinmarkierungen. Esfolgte jedoch schnell erste Ernüchterung. DerDemokratisierungsprozess und die Verurtei-lung der ehemaligen Regimeanhänger gehenvielen der Demonstranten bislang nichtschnell genug voran.

Im Frühsommer flammten die Proteste wiederauf, wenn auch bei weitem nicht in dem Maßewie zuvor. Am 9. April starben erneut zweiMenschen bei Zusammenstößen mit der Po-lizei. In der Folgezeit campierten die Demon-stranten auf dem Tahrir-Platz undbeabsichtigten dort auszuharren, mit demZiel, die ehemaligen Regimegrößen vor Ge-richt zu stellen, alle Minister der alten Regie-rung auszutauschen und denDemokratisierungsprozess zu beschleunigen.Bisher hatte der Premierminister der Über-gangsregierung, Essam Sharaf, nur gut dieHälfte der Ressorts neu besetzen können.Trotz der andauernden Proteste wurde dasneue Kabinett am 21. Juli 2011 durch HusseinTantawi vereidigt.

Die Verhandlung gegen Mubarak, seineSöhne, den ehemaligen Innenminister Habibal-Adly und weitere regimenahe Größenwurde am 3. August 2011 eröffnet. Die An-wälte der Angeklagten spekulieren auf einenlangen Prozess. Die Vorwürfe lauten Korrup-tion, Veruntreuung und Amtsmissbrauch. Dar-über hinaus soll geklärt werden, inwieweitMubarak und seine Söhne die Übergriffe aufDemonstranten angeordnet und ihren Tod bil-ligend in Kauf genommen haben. Die Ange-

Page 30: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Ägypten

Deutsches Orient-Institut 28

klagten weisen alle Vorwürfe zurück.22 Auchdie Wirtschaft Ägyptens hat noch mit denNachwehen der Revolution zu kämpfen. Nachdem ersten wirtschaftlichen Kollaps währendder Revolution, als der Handel an der ägypti-schen Börse ausgesetzt wurde da die Aktien-kurse innerhalb von 15 Minuten um 6,25%gefallen waren, stabilisiert sich die LageÄgyptens jetzt langsam wieder. Wichtige Wirt-schaftszweige wie der Tourismus beginnenwieder anzulaufen und die Gebühreneinnah-men des Suezkanals sind aufgrund anwach-sender Exporte aus Indien und Ostasiensogar um 10% gestiegen. Insgesamt wird je-doch ein Rückgang des BIP in 2011 um 2,5%erwartet. Dies liegt vor allem am Fernbleibender ausländischen Investitionen. Die großenGeldgeber aus den Golfstaaten befürchtendauerhafte Instabilität aufgrund des Umstur-zes und haben ihr Investitionsvolumen deut-lich heruntergefahren. Seit Beginn des Jahressind die Devisenreserven um 25% zurückge-gangen. Ein viel versprechendes Signal kamunterdessen im Mai dieses Jahres vom G8-Gipfel, auf dem man sich unter dem NamenDeauville Partnership für eine finanzielleUnterstützung Tunesiens und Ägyptens aus-sprach. Darüber hinaus sicherten der Inter-nationale Währungsfonds (IWF) und dieWeltbank ein Finanzpaket von insgesamt 7,5Mrd. USD für Ägypten zu. Weiterhin gab esauch positive Resonanz von Investoren ausÄgypten selbst und dem Golfkooperationsrat,die bereits mehr als 8,4 Mio. USD in den EndeMai eingerichteten „Zukunft Ägypten”-Fond(arabisch: Misr al-Mustaqbal) investierthaben.

Vor allem kann man jedoch sagen, dass derarabische Frühling in Ägypten erfolgreich einInteresse und Engagement für die Partizipa-tion im politischen Entscheidungsprozess ge-weckt hat. In verschiedenen Institutionenhaben die Mitarbeiter bereits von sich aus be-gonnen, interne Wahlen zu veranstalten undInteressenvertretungen zu gründen. An eini-gen Universitäten haben die Fakultäten in Ei-geninitiative angefangen, neue Dekane zuwählen und in einem Kairoer Krankenhausschlossen sich die Mitarbeiter zu einem Be-triebsrat zusammen, um den regimetreuenKrankenhausleiter abzusetzen. Die Ägypterfangen an, sich zu informieren, was es für

Möglichkeiten der Partizipation im Alltag gibt,denn für viele bedeutete Demokratie – wenn-gleich sie diese in ihrem Land nicht erfuhren– bisher ausschließlich das Recht auf freieWahlen.

V. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure

Bereits am 19. März 2011 wurden die Ägypterzum ersten Mal an die Wahlurnen gebeten.Es ging um ein Verfassungsreferendum, dasüber Veränderungen an der alten Verfassungentscheiden sollte, die nach dem Sturz derRegierung außer Kraft gesetzt worden war.Hierbei sollte nicht eine neue Verfassung aus-gearbeitet, sondern die alte nur korrigiert wer-den, um baldige Neuwahlen und ein Ende derÜbergangsregierung zu ermöglichen. Die Än-derungen betrafen in erster Linie die Amtszeitund die Befugnisse des Präsidenten sowiedie Abschaffung des Artikels 179, da dieservon der Regierung Mubarak unter dem Deck-mantel der Terrorbekämpfung dazu benutztworden war, die Grundrechte der Bevölkerungmassiv einzuschränken. Insgesamt sprachensich 77% der Wähler – bei einer Wahlbeteili-gung von rund 41% – für die Verfassungsän-derung aus.23 Gegenstimmen kamen vorallem aus den Jugendbewegungen sowie vonSeiten der Oppositionsführer Mohamed El-Baradei und Amr Moussa, die anstelle einerVerfassungskorrektur die Ausarbeitung einerneuen Verfassung vorgezogen hätten. Darü-ber hinaus bemängelten sie, dass die Zeit biszu den Neuwahlen nicht ausreiche, damit sichauch die neuen und kleinen Parteien im Par-teienspektrum etablieren könnten. Die Partei-enlandschaft Ägyptens ist, wie bei anderenautoritären Regierungen, sehr unterentwi-ckelt. Obwohl Ägypten laut Verfassung einMehrparteiensystem ist, gab es vor der Re-volution außer der NDP faktisch keine einzigePartei, die auf politischer Ebene Einfluss neh-men konnte. Insgesamt haben die ägypti-schen Parteien bisher keinen großenRückhalt in der Bevölkerung erreichen kön-nen. Dies lag vor allem daran, dass sie durchdie Einflussnahme der Regierungspartei NDPkeine nennenswerten Wahlsiege erringenkonnten, um aktiv am politischen Entschei-dungsprozess teilzunehmen. Einigen der Op-positionsgruppen wurde eine„Scheinopposition“ vorgeworfen, denn sie op-

22 Der frühere Innenminister Habib al-Adly wurde bereits vor Gericht gestellt und am 6. April wegen Geld-wäscherei und persönlicher Bereicherung für schuldig befunden und zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Wei-tere Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft wurden eingeleitet. Ihm wird vorgeworfen, während derRevolution den Befehl zur Tötung und Folterung der Demonstranten gegeben zu haben. Sollte er oderMubarak in diesem Punkt für schuldig befunden werden, droht ihnen die Todesstrafe. Anschuldigungen,Habib al-Adly sei in die Anschläge auf die koptische Kirche 2011 involviert, wurden bisher nicht bestätigt.

23 Vgl. http://www.bbc.co.uk/news/world-middle-east-12801125, abgerufen am 21.09.2011.

Page 31: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Ägypten

Deutsches Orient-Institut29

ponierten in Absprache mit der Regierung.Stärker demokratisch orientierte Gruppenwaren meist nicht ausreichend organisiert undfanden außerhalb der bürgerlichen Schichtender Großstädte keine Anhänger. Die wenigenoppositionellen Politiker, die auch in der brei-ten Bevölkerung anerkannt waren, fielenwiederholt Scheinprozessen zum Opfer, diesie für längere Zeit ins Gefängnis brachten.Dies galt zum Beispiel für Aiman Nur, denPräsidentschaftskandidaten der Ghad-Parteivon 2005, welcher erst nach gut drei Jahrenim Februar 2009 aus der Haft entlassenwurde. Ihm wurde vorgeworfen, er habe Do-kumente gefälscht, um die Ghad-Partei 2004gründen zu können.

Eine Parteigründung hing in Ägypten bishersehr stark vom Gutdünken des zuständigenAusschusses des Shura-Rates24 ab, der mitAnhängern der Regierungspartei besetztwar.25 Eine Vereinfachung der Regelungenzur Gründung von Parteien war eine zentraleForderung der Protestbewegung, die derOberste Militärrat Ende Februar erfüllte, umdie Entwicklung einer ägyptischen Parteien-landschaft voranzubringen.26 In Ägypten gabes bis zur Revolution 2011 mehr als 20 regis-trierte Parteien, von denen bei den Wahlen2010 sieben einen Sitz im Parlament errei-chen konnten. Die stärkste Opposition, ob imParlament vertreten oder nicht, bleibt dieMuslimbruderschaft, deren Mitglieder seit1984 als unabhängige Kandidaten bei Wah-len antreten. Trotz ihres Wandels zu einer Or-ganisation mit vornehmlich sozialdienstlichemCharakter, darf die Muslimbruderschaft nichtals religiöse Wohlfahrtsorganisation unter-schätzt werden, denn ihre Forderungenwaren und sind hochpolitisch. Laut der ägyp-tischen Verfassung dürfen sich Parteien bisheute nicht auf einer Religion basierend grün-den, jedoch sind nicht alle Parteien deshalbsäkular.27 Die Muslimbruderschaft gründeteam 30. April 2011 eine eigene Partei unterdem Namen „Partei für Freiheit und Gerech-tigkeit“. Anders als in der Vergangenheit for-dert die Partei keine theokratische Staatsformmehr, sondern eine Demokratie mit islami-

schen Elementen, wie einer Rechtssprechungauf Grundlage der Scharia. Für Christen undJuden soll es jedoch besondere Gesetzesre-gelungen geben, die ihrer Religion angepasstsind, beispielsweise beim Ehe- und Erbrecht.Bereits unter den über 8.800 Gründungsmit-gliedern befanden sich 93 Kopten, weitere978 Gründungsmitglieder waren Frauen.

Bis August existierten in Ägypten 46 Parteienund politische Gruppierungen, die sichschwerpunktmäßig in drei Zeiträumen grün-deten. Knapp die Hälfte wurde noch vor denWahlrechtsreformen 2005 gegründet, vorwie-gend Ende der 1970er, Anfang der 1980erJahre. Im Zuge des Referendums und der an-schließenden Wahlrechtsreform 2005 regis-trierten sich weitere sieben Parteien, unterihnen die Ghad-Partei von Aiman Nur, die ausder bereits 1978 gegründeten Wafd-Parteihervorging. Bei den Wahlen gehörten jedochnur zwei der sieben im Parlament vertretenenParteien zu den „Wahlrechtsreformparteien“:die Ghad-Partei und die Demokratische Frie-denspartei. Die nächste Gründungswellefolgte im Anschluss an die Revolution 2011.Bisher konnten sich drei Parteien registrierenund weitere drei erwarten ihre offizielle Be-stätigung. Darüber hinaus verfügen politischeBewegungen wie die bereits genannte „Be-wegung 6. April“, Kifaya und die „Union fürden Wandel“ über politisch-gesellschaftlichenEinfluss. Sie streben voraussichtlich nicht an,sich als Parteien zu etablieren, sondern ver-stehen sich als soziales Bündnis mit politi-schen Forderungen. Die Mitglieder dieserBewegungen sind zum Teil nicht nur in einerder Bewegungen aktiv, sondern bekennensich darüber hinaus zu einer etablierten Par-tei wie der Ghad-Partei oder sind Mitglied derMuslimbruderschaft. Durch die virtuelle Ver-netzung haben die Bewegungen eine flacheHierarchie mit fließenden Übergängen zu an-deren Organisationen. Bis jetzt haben sichfünf Kandidaten für die kommende Präsident-schaftswahl offiziell aufstellen lassen. Zuihnen gehört der Gründer der „Union für denWandel“ Mohamed ElBaradei. Als die erstenUnruhen ausbrachen, kehrte er nach Ägypten

24 Der Shura-Rat wurde in Ägypten 1980 per Verfassungsänderung eingeführt. Er fungiert als zweite Kam-mer des Parlaments (besitzt also auch gesetzgebende Kompetenz) und besteht aus 264 Mandaten (je-weils für sechs Jahre). Von diesen sind 174 gewählt und 88 durch den Präsidenten ernannt.

25 Dieser Ausschuss musste eine Genehmigung zur Gründung einer neuen Partei erteilen. Darüber hinausbrauchte es 50 Gründungsmitglieder, von denen 20 Teil der Volksversammlung und 25 von Beruf Arbei-ter oder Bauer sein mussten.

26 Gegenwärtig braucht eine Partei 5.000 Gründungsmitglieder. Die Partei kann dann direkt angemeldetwerden, es ist keine Genehmigung mehr nötig. Über die Rechtmäßigkeit der Partei entscheidet ein rich-terlicher Ausschuss.

27 Es bekennen sich offiziell 52% der Parteien als primär säkular und 30% vertreten religiöse Grundsätze.

Page 32: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Ägypten

Deutsches Orient-Institut 30

zurück, um die Demonstranten auf der Straßezu unterstützen und fungierte als ihr Sprach-rohr in den Medien. Er genießt in Ägyptengroße Popularität aufgrund seiner Rolle alsGeneraldirektor der AtomenergiebehördeIAEA während des Irakkriegs, als er sichgegen die US-Regierung wandte und bestä-tigte, dass der Irak nicht im Besitz von Mas-senvernichtungswaffen sei.28 Darüber hinausübte er heftige Kritik an der Doppelmoral deramerikanischen Außenpolitik, wenn es um dieNutzung von Atomenergie und Atomwaffenvon Seiten Irans und Israels ging. Vor allemdie aufgrund seiner Arbeit im Ausland seit1964 absolute Unabhängigkeit vom RegimeMubaraks steigerte seine Popularität in derBevölkerung, die ihn vermehrt als neutralePerson wahrnahm. Gegenstimmen kritisieren,dass er das alltägliche Leben des ägyptischenVolkes nicht kenne, da er selbst den Großteilseines Lebens im Ausland verbrachte hätte.Die Union für den Wandel sowie die „NeueWafd-Partei“ haben ihm für die kommendenWahlen ihre Unterstützung zugesichert, auchwenn er als unabhängiger Kandidat antretenwird.

Einer seiner stärksten Konkurrenten ist derehemalige Generalsekretär der ArabischenLiga, Amr Moussa, der ebenfalls als unab-hängiger Kandidat bei den nächsten Präsi-dentschaftswahlen antreten wird. Er hat alsägyptischer Botschafter, unter anderem beiden Vereinten Nationen, über 21 Jahre Er-fahrung als Diplomat gesammelt und war von1991-2001 Außenminister Ägyptens. DieseVerflechtung mit der Mubarak-Regierung wer-fen ihm heute manche Kritiker vor. Jedoch ge-nießt er allgemein eine hohe Popularitätaufgrund seiner kritischen Position gegenüberder Politik Israels und fordert, wie auch ElBa-radei, die Öffnung der Grenze zwischenÄgypten und dem Gazastreifen. In einer Be-fragung während der Revolution gaben 26%der Befragten an, Amr Moussa als nächstenPräsidenten zu favorisieren.

Die drei weiteren unabhängigen Kandidatenhaben einen stark religiös geprägten Hinter-grund: Zum einen der islamische Denker undJurist Hazem Salah Abu Ismail der besondersdurch seine Auftritte im Fernsehen einenhohen Bekanntheitsgrad erreicht hat. Zum an-deren der Kandidat Abdel Moneim Abdoul Fo-touh, der von der Muslimbruderschaftausgeschlossen wurde, um zu kandidieren.Die Muslimbruderschaft hatte zuvor bekannt

gegeben, keinen eigenen Präsidentschafts-kandidaten zu stellen. Die Kandidatur Fo-touhs sei eine persönliche Entscheidunggewesen und werde nicht von der Gruppe ge-fördert. Unter den parteigebundenen Kandi-daten, die Interesse an einer Kandidaturverlauten ließen, ist Aiman Nur der Bekann-teste. Der Prozess gegen den Gründer derGhad-Partei und die anschließende Haftbrachten ihm Sympathien in der Bevölkerung.An der Revolution beteiligte er sich aktiv undging mit anderen Demonstranten auf dieStraße, bis er aufgrund einer schweren Kopf-verletzung ins Krankenhaus gebracht wurde.Bisher konnte jedoch noch nicht abschließendgeklärt werden, ob sich Aiman Nur aufgrundseines Gefängnisaufenthaltes überhaupt zurWahl aufstellen lassen darf.

Weitere Kandidaten sind Sameh Ashour, Vi-zepräsident der Nasseristischen Partei, Re-faat El-Saeed, Präsident der ehersozialistisch-säkularen Partei der Union fürnationalen Fortschritt und gegenwärtiges Mit-glied der Ratsversammlung, El-Sayyid el-Ba-dawi, Präsident der Neuen Wafd-Partei, undMamdouh Ramzi, ein koptischer Anwalt undMitglied der Partei für freie, soziale Rechts-staatlichkeit. Wiederholt gab es Gerüchte, derChemienobelpreisträger Ahmed Zewail wäreein möglicher Kandidat für die Präsident-schaftswahlen. Dieser war während der Re-volution nach Ägypten zurückgekehrt undhatte sich bereit erklärt, zusammen mit AimanNour in einem Komitee zur Verfassungsän-derung zu arbeiten. Darüber hinaus war erneben ElBaradei einer der Vermittler zwi-schen den Jugendbewegungen und der Re-gierung. Er selbst dementierte die Gerüchteum seine mögliche Kandidatur, jedoch ist an-zunehmen, dass ihm ein Posten als Beraterin der neuen Regierung offen stehen wird.

Mögliche Kandidaten aus der aktuellen Re-gierungsspitze haben bisher keine Kandida-tur bekannt gegeben. Zur Wahl stünden deraktuelle Präsident der Übergangsregierungund Vorsitzender des Obersten Militärrats,Mohammed Hussein Tantawi, und der wäh-rend der Revolution eingesetzte Premiermi-nister Essam Sharaf, der mit der Neuordnungdes Kabinetts betraut war. Das Militär erklärte,es habe nicht die Absicht, einen Kandidatenfür Präsidentschaftswahlen ins Rennen zuschicken. Über die Position Essam Sharafs istbisher nichts Konkretes bekannt.

28 Für sein Engagement für friedliche Nutzung der Atomkraft und gegen den Missbrauch von Atomwaffen er-hielt er 2005 den Friedensnobelpreis.

Page 33: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Ägypten

Deutsches Orient-Institut31

VI. Zukunftsszenarien

Das junge Ägypten kämpft gegenwärtig mitder Realität der Post-Mubarak-Ära. Die ersteEuphorie ist vorüber und vielen wird klar, dasseine funktionierende Demokratie, wirtschaftli-che Prosperität und gesellschaftliche Freiheitnicht über Nacht entstehen können. Sowohldie Jugend als auch deren Elterngenerationhaben zuvor nie am demokratischen Prozessteilgenommen. Sich selbst über politischeZielsetzungen zu informieren und eine eigeneMeinung zu entwickeln, war bisher weder er-laubt noch erwünscht. Die Demonstrantenhatten das Ziel verfolgt, das alte Regierungs-system zu stürzen, um mit einer neuen Ver-fassung ein demokratisches System zuimplementieren. Der gute Wille ist da; aller-dings ist längst noch nicht in allen Köpfen an-gekommen, dass der Weg zur Demokratie einLernprozess ist. Nach dem Rücktritt Muba-raks kam es auf internationaler Ebene zuSpekulationen und Prognosen über zukünf-tige Entwicklungen auf politischer Ebene. Ei-nige Beobachter fürchteten zunächst, dasMilitär könne die Macht nach dem Sturz derRegierung an sich reißen und eine Militärdik-tatur installieren. Dies sollte man nicht ver-harmlosen, jedoch sieht es nach bisherigerBeobachtung nicht danach aus, dass diesesSzenario eintreten könnte. Gegenwärtig hatsich eine ambivalente Stimmung entwickelt,was die Rolle des Militärs in der Übergangs-regierung betrifft. Gerade die etablierten Par-teien drängen auf Wahlen in naher Zukunftund werfen dem Militär Verzögerungstaktikenvor, um selbst länger an der Macht zu bleiben.Eine langfristige Machtübernahme durch dasMilitär ist jedoch nicht realistisch.

Insgesamt liegt der Fokus der Ägypter nochimmer stärker auf der Person des Präsiden-ten als auf den Parteien. Viele haben sich be-reits für einen der Präsidentschaftskandidatenentschieden. Bei Umfragen in der letzten Zeitlagen die unabhängigen Kandidaten weitvorne. Laut einer Umfrage der staatlichen Zei-tung al-Ahram liegen Abdel Moneim AbdoulFotouh und Amr Moussa mit jeweils 20%

gleich auf. ElBaradei kam auf nur rund 12%der Stimmen, rangiert damit jedoch immernoch auf den oberen Plätzen. Die Parla-mentswahlen sind ebenfalls für November2011 angesetzt worden.29 Diese Terminset-zung wird jedoch von einigen Beobachternäußerst kritisch gesehen, da die kurze Zeitkaum zur Bildung neuer Parteistrukturenreicht. Vor allem die etablierten Muslimbrüderund die „schein-oppositionellen“ Parteien desancient régime würden davon profitieren, dasie das größte Mobilisierungspotential hätten.

Es wird erwartet, dass die Muslimbruder-schaft mit der Partei für Freiheit und Gerech-tigkeit als stärkste Partei aus den Wahlenhervorgehen wird. Insbesondere, da sie mitihrem Programm einen Spagat zwischen De-mokratie, islamischer Gesetzgebung, Forde-rungen nach Freiheit, Gleichheit und sozialerGerechtigkeit, sowie der Garantie der Grund-rechte wagen wird. Inwieweit diese Themenin der Praxis vereinbar sind, wird sich zeigen.Die Partei genießt auch außerhalb der Mus-limbruderschaft einen großen Rückhalt. ImGegensatz zu den meisten Parteien habendie Muslimbrüder schon jahrzehntelangessoziales Engagement bewiesen, was sich beiden kommenden Wahlen bemerkbar machenkönnte. Viel mehr als eine strukturelle Demo-kratisierung braucht es in Ägypten ein gesell-schaftliches Umdenken, einendemokratischen Lernprozess, damit die De-mokratie des Landes keine leere Hülle bleibt.Allen voran die muss Korruption, die sichdurch alle Teile des öffentlichen Lebens zieht,wirkungsvoll bekämpft werden. Dafür müssendie involvierten Entscheidungsträger ausge-tauscht werden und eine bessere Aufklärungund Sensibilisierung innerhalb der Bevölke-rung stattfinden.30 Es gibt jedoch noch weitereFaktoren, durch die die Entwicklung der ägyp-tischen Gesellschaft zurzeit blockiert wird: Diestarre Hierarchie, in der das gesamte gesell-schaftliche Zusammenleben geregelt ist, er-schwert die Kooperation und die Entwicklungvon interessengruppenübergreifenden Orga-nisationen.31 Nach der Vereidigung des Kabi-netts muss die Übergangsregierung als

29 Der Oberste Militärrat gab am 21. Juli 2011 das neue Wahlgesetz bekannt. Danach sollen die Hälfte der504 Abgeordneten durch Verhältniswahlrecht und der Rest durch Mehrheitswahlrecht in den Wahlkreisenbestimmt werden. Es sind alle Parteien mit mehr als 5.000 Gründungsmitgliedern zu den Wahlen zuge-lassen.

30 Im Zuge dieses Personalwechsels wurden im Juli dieses Jahres 582 hochrangige Polizeioffiziere in denvorzeitigen Ruhestand entlassen.

31 So haben die ungeschriebenen Regeln die Gründung des Betriebsrats im Krankenhaus von Kairo im er-sten Versuch zum Scheitern gebracht, da sich die Ärzte weigerten, mit Pflege- und Verwaltungspersonalzusammenzuarbeiten. Erst nachdem man sich von einem internationalen Gewerkschaftsspezialistenhatte beraten lassen, erklärten sich die Ärzte bereit, mit allen Mitarbeitern in Kooperation zu treten. Die-ses Beispiel ist exemplarisch für die hierarchische Gliederung der Gesellschaft, die immer dann zu Stag-nation und Konflikten führt, wenn die Beteiligten nicht mit bestehenden Mustern brechen wollen.

Page 34: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Ägypten

Deutsches Orient-Institut 32

nächsten Schritt die Prozesse gegen die ehe-maligen Machthaber in Angriff nehmen. Ander Verzögerung des Prozessbeginns ent-zündeten sich Misstrauen und Unmut gegen-über den Verantwortlichen derÜbergangsregierung. Gegenwärtig fokussiertsich die Öffentlichkeit verstärkt auf diesesThema und provoziert Zweifel an der Unab-hängigkeit von Justiz und Übergangsregie-rung. Die Entscheidungsträger müssendiesen Tendenzen gegensteuern, um zu ver-hindern, dass sich die Bevölkerung in dieserThematik verrennt und damit so den demo-kratischen Fortschritt behindert. Eine weitereHerausforderung für die neue Regierung wirddie Umstrukturierung des Sicherheitsappara-tes sein.

Die Sicherheitslage in Ägypten ist weiterhinangespannt und weder die Polizei noch dieSicherheitskräfte haben Interesse daran, dasssich dies in naher Zukunft ändert. Der An-schlag auf israelische Busse nahe des Ha-fenstadt Eilat am Roten Meer Ende Augustsowie die Stürmung der israelischen Bot-schaft in Kairo Anfang September warfen ver-stärktes Licht auf den Status desFriedensvertrages. Zwar wird dieser von offi-zieller Seite nicht generell in Frage gestellt.Eine weitere Abkühlung der Beziehungen zwi-schen beiden Staaten ist jedoch wahrschein-lich. Dennoch sähe sich Ägypten bei einerAufkündigung enormem internationalemDruck ausgesetzt und würde wohl kaum wei-ter hohe Hilfszahlungen erhalten. Die Gründefür eine Umstrukturierung sind jedoch naheliegend: Sowohl die Polizei als auch die Si-cherheitskräfte sind personell überbelegt,daher sehr bürokratisch und kostenintensiv.

Der Sicherheitsapparat ist aus finanzieller undrationaler Betrachtungsweise auf lange Sichtuntragbar, uneffizient und korrupt. Darüberhinaus stellt ein illoyaler Sicherheitsapparatein Risiko für die innere Sicherheit dar. Esbleibt abzuwarten, wie eine neue Regierungmit dieser Herausforderung umgehen wird.Zusätzlich zur ohnehin schon schwierigenwirtschaftlichen Situation Ägyptens würdeeine massive Streichung der Stellen des Mili-tärs und der Polizei gravierende Folgenhaben. Das Beispiel Irak, wo die Armee nachder US-amerikanischen Invasion aufgelöstwurde, zeigt nur zu gut, wie destabilisierendeine solche Entscheidung sein kann. Einesbleibt jedoch ohne Zweifel zu konstatieren:Die Ägypter haben den Umbruch geschafftund sind damit zum Vorbild für Menschen an-derer arabischer Länder geworden. Was alsProtest der Jugend begann, entwickelte sichzu einem Volksaufstand, der Millionen auf dieStraßen brachte und eine Revolution wurde,die das Ende des Mubarak-Regimes herbei-führte. Auch wenn die Ägypter mit dem Zielnach einem demokratischen Regierungssys-tem ein Ziel vor Augen haben, lässt sich derWeg dorthin bisher nur umreißen. ErsteSchritte sind getan, aber die Verzögerungender letzten Wochen haben die Bevölkerungerneut in Unruhe versetzt. Eine erste Stabili-sierung wird zunächst von der neu gewähltenRegierung und deren Reformen abhängen.Jedoch wird es auch innerhalb der Gesell-schaft einen Demokratisierungsprozessgeben müssen, da das Engagement des Vol-kes auch in Zukunft entscheidend für den Er-folg der Demokratie sein wird.

Sophie Awrege Vender

VII. LIteraturangaben

ASSAAD, RAGUI: Unemployment and Youth Insertion in the Labor Market in Egypt, in: Kheir-El-Din, Hanaa (Hrsg.): The Egyptian Economy. Current Challenges and FutureProspects, Cairo 2008, S. 133-178.

ASSEBURG, MURIEL: Der Arabische Frühling. Herausforderung und Chance für die deutsche und europäische Politik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/stu-dien/2011_S17_ass_ks.pdf, abgerufen am 21.09.2011.

BRADLEY, JOHN R.: The Land of the Pharaohs at the Brink of a Revolution, New York 2009.

BUSH, RAY: Egypt. A permanent revolution?, in: Review of African Political Economy, Vol. 38 (2011), No. 128, S. 303-307.

COUNCIL ON FOREIGN RELATIONS/FOREIGN AFFAIRS: The New Arab Revolt. What Happened, What ItMeans, and What Comes Next, New York 2011.

Page 35: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut 34

1 CIA – The World Factbook.2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp/3 CIA – The World Factbook.4 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.5 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.6 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators,

http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles.7 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.8 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN.9 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,

http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf.10 CIA – The World Factbook. 11 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.12 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.13 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG,

International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York 2010.14 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators,

http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html.15 CIA – The World Factbook.16 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia,

http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf.17 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us.18 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,

http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 19 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection:

Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/.

20 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf.

21 The World Bank “Voice and Accountability”, Worldwide Governance Indicators, http://www.info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp.

Landesdaten LibyenFläche1 2011 1.759.540 km²

Bevölkerung2 2010 6.500.000

Bevölkerungsdichte (pro km²) 2010 50

Ethnische Gruppen 2010 97% Berber und Araber, 3% andere

Religionszugehörigkeit 2010 97% sunnitische Muslime, 3% andere

Durchschnittsalter3 2010 24,5 Jahre

Bevölkerung unter 15 Jahren4 2011 31%

Bevölkerung über 65 Jahren5 2011 4%

Lebenserwartung6 2010 74,5 Jahre

Bevölkerungsprognose bis 20507 2010 9.800.000

Geburten pro Frau8 2009 2,6

Alphabetisierungsrate9 2010 88,4%

Nutzer Mobiltelefone10 2009 5.004.000

Nutzer Internet11 2009 353.900

Nutzer Facebook12 2011 52.860

Wachstum BIP13 2009 2,1%

BIP pro Kopf14 2010 16.999 USD

Arbeitslosigkeit15 2004 ca. 30%

Inflation16 2010 2,4%

S&P-Rating17 2011 k. A.

Human Development Index18 2010 Rang 53 (von 169)

Bildungsniveau19 2010 Rang 37 (von 177)

Bildungsniveau der Frauen (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)20

2010 44,0%

Politische Teilhabe21 2010 2,8%

Korruptionsindex22 2010 Rang 146 (von 178)

Page 36: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut35

Libyen

Im August 2011 eroberten libysche Auf-ständische mit Luftunterstützung derNATO unter der Führung des Nationalen

Übergangsrates die Hauptstadt Tripolisund stürmten die Residenz des Machtha-bers Muammar al-Gaddafi, der sich seit-dem auf der Flucht befindet. Bis zumFrühjahr 2011 war Oberst Muammar al-Gaddafi die überragende Figur des politi-schen Systems Libyens der letzten 42Jahre. Seit er sich 1969 mit seinen „freienOffizieren“ an die Macht geputscht undden bis dahin regierenden König Idris I.gestürzt hatte, entwickelte er ein politi-sches, wirtschaft- liches und sozialesSondergefüge, das sich ganz allein auf ihnfokussierte, sich durch ihn legitimierteund mit ihm aufs Engste verbunden war.Er war Libyen und Libyen war er – um esauf einen vereinfachten Nenner zu brin-gen. Als Machthaber mit der weltweit läng-sten Regierungszeit schuf er in den letztenJahrzehnten ein Staatskonstrukt, das bei-spiellos blieb. Ideologisch durch panara-bistische, panafrikanische, sozialistischeund nationalistische Ideen inspiriert,wollte er eine „neue Gesellschaft“, ein„neues System“, eine „neue basisdemo-kratische Gesellschaft“ kreieren.

In der Realität schuf er stattdessen einSystem der Angst, der Repression und derautoritären Herrschaft, an dessen Spitzenur al-Gaddafi die Entscheidungen trafund jegliche Kritik mit einer ausgeklügel-ten „Zuckerbrot-und-Peitsche“-Politikunterband. Die Staatsstrukturen wurdennicht durch institutionalisierte oder legali-sierte Rahmenbedingungen geprägt, son-dern von Willkür, Patronage undKlientelismus. So verfügt Libyen bis heuteüber keine Verfassung, da al-Gaddafi sieals unnötig ablehnte. Bis zum Frühjahr2011 galt Libyen als gesellschaftlich iso-liert, während gleichzeitig eine langsamewirtschaftliche und politische Öffnung ein-setzte, als in höchstem Maße repressiv,während al-Gaddafi in den letzten Jahrenwieder zum international respektiertenPartner aufstieg. Die meisten Beobachter

konstatierten seinem System gerade ausdieser schwer zu verstehenden Ambiva-lenz eine systemimmanente Stabilität.Dies war ein Trugschluss.

Seit dem Frühjahr 2011 befindet sich dasLand in einem blutigen Bürgerkrieg, indem die al-Gaddafi treu ergebene Elite zu-nehmend zurückweichen muss, ohne bis-lang gänzlich aufgeben zu wollen. Auf deranderen Seite kämpften die Aufständi-schen im Osten des Landes um die an-fänglich im ostlibyschen Benghasiansässige, mittlerweile teilweise nach Tri-polis verlagerte Nationale Übergangsre-gierung mithilfe einer durch denUN-Sicherheitsrat (Resolution 1973) ge-stützten NATO-Luftunterstützung gegendie Truppen al-Gaddafis. Das Regime deseinst verehrten „Bruder Führers“ ist nachder weitgehenden Eroberung der Haupt-stadt Tripolis am Ende. Daneben mehrensich Berichte über Menschenrechtsverlet-zungen und Folterungen auf beiden Sei-ten, Plünderungen und Engpässen bei derLebensmittel- und Energieversorgung. DieLoyalisten leisten teilweise noch erbitter-ten Widerstand, befinden sich aber in einerSituation des stetigen Rückzugs. Hoch-burgen al-Gaddafis, wie seine HeimatstadtSirte, stehen unter Beschuss und die mili-tärische Oberkontrolle ist al-Gaddafilängst entglitten. Nun zeichnet sich ein mi-litärischer Erfolg der Rebellen mit Unter-stützung der NATO ab, der vor wenigenWochen noch unrealistisch erschien. DerFall Tripolis als Symbol für die HerrschaftGaddafis, die Eroberung seines Regie-rungssitzes Bab al-Azaziya und derUmzug eines Teils des Nationalen Über-gangsrates in die gesamtlibysche Haupt-stadt sind wichtige Zeichen für dieenormen Fortschritte der Rebellen. Nungilt es für den Nationalen Übergangsrat,ein „neues Libyen“ aufzubauen.

Wenngleich der militärische Sieg nah er-scheint, bleiben die Herausforderungenfür das Post-Gaddafi-Libyen kolossal:Ohne demokratische Institutionen, ohneein formaljuristisch legitimiertes politi-sches System und ohne die Tradition von

Page 37: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut 36

politischer Partizipation stehen die neuenpolitischen Führer, die Vertreter des Natio-nalen Übergangsrates unter Führung desVorsitzenden Mustafa Abdul Jalil und Mah-mud Jibril, Vorsitzender des Exekutivrates,vor der gewaltigen Aufgabe, in dem eth-nisch, tribal, regional und familiär zersplit-terten Staat Sicherheit zu gewährleisten,Staatsstrukturen zu schaffen, die Trans-formation zu einem demokratischen Li-byen voranzutreiben, eine Verfassungauszuarbeiten und Wahlen durchzuführen.Stützen können sie sich auf die enormenÖlressourcen, die das Land zu wirtschaft-lichem Wohlstand verhelfen können, undauf die Hilfe der internationalen Gemein-schaft. Die Form dieser Hilfe bleibt bislangnoch nebulös. Visionen und Pläne für denÜbergang liegen vor, Maßnahmen für denWiederaufbau und den nationalen Aus-söhnungsprozess zwischen Ost und West,Siegern und Besiegten, tribalen Fraktio-nen, politischen Gruppen, Islamisten, ehe-maligen Gaddafi-Getreuen undKriegsgewinnlern müssen schnell getrof-fen werden. Sollte dieser Aussöhnungs-prozess und die Integration in denpolitischen Partizipationsprozess nicht ge-lingen, wirtschaftliche Rückschläge dieHoffnung auf rasche Veränderungen beiden Menschen zunichte machen und dieSpaltungen innerhalb des NationalenÜbergangsrates um Einfluss, Verteilungund Zukunftsziele mit aller Macht aufbre-chen, droht Libyen eine weitere Zerreiß-probe, die sich als problematischer undExistenz bedrohender darstellen könnteals der Kampf gegen al-Gaddafis System.Gleichzeitig besteht allerdings auch dieberechtigte Hoffnung, dass mithilfe funk-tionierenden, transparenten und rechtlichlegitimierten Mechanismen der Übergangzu einer Demokratie „libyschen Typus’“gelingen kann. Bisher hat der NationaleÜbergangsrat die Herausforderungenweitgehend gemeistert. Es scheint dahernicht unmöglich, dass dies auch in Zu-kunft erfolgen kann – wenn Egoismen, ge-waltbereite Machtansprüche, traditionelleAnimositäten und soziale Ungleichheitenhintangestellt werden, um gemeinsam denWiederaufbau zu realisieren. Der Aufstandin Libyen ist historisch und erfolgreich ge-wesen, doch erst in Zukunft wird sich be-weisen, wohin der steinige libysche Wegführt.

I. Politisches System und gesellschaftli-che Entwicklungen

In Libyen genoss al-Gaddafi lange Zeit einefast mystische Autorität, die durch sein Cha-risma, seinen pathetischen Habitus, seineideologische Propaganda und die Hoffnungenweiter Teile der Gesellschaft genährt wurde.Vielen galt er als Held eines unabhängigen Li-byens, als Indikator für den Aufbruch in eineandere Zeit, als Instrument zur Lösung derpostkolonialen Fesseln. Er galt als Symbol fürden libyschen Aufbruch, der dem Land Ruheund Wohlstand bringen sollte.

Libyen durchlief eine wechselvolle, konflikt-reiche Geschichte im 20. Jahrhundert. Hier-bei muss betont werden, dass einzusammenhängendes libysches Staatsgebietkeine historischen Vorbilder kannte: Währendder Westen des Landes („Tripolitanien“1) be-reits im 7. Jh. vor Chr. von den Puniern be-siedelt worden war, später dann vomRömischen Reich beherrscht wurde und sichstets eher nach Westen orientierte, blieb derOsten, die Cyrenaica, eher nach Osten ge-wandt. Seit dem 5. Jh. vor Chr. stand die Re-gion unter griechischem Einfluss, später danndominierten die schiitischen Fatimiden, dasOströmische Reich oder die Mamluken imOsten des Landes. Immer wieder wurde dieRegion in mehrere berberisch-arabische Emi-rate gesplittert; gehörte zur almohadischenoder hafsidischen Dynastie oder zu Ägypten.Diese historische Topographie prägt sozioö-konomische und gesellschaftliche Konfliktebis heute. Noch immer wird die Identität durchdie regionale Herkunft, weniger durch die Na-tionalität bestimmt. Dies lässt den Ausbruchder Aufstände im Osten des Landes, der Cy-renaica, auch als historische Kontinuität er-scheinen, immerhin bestand überJahrhunderte hinweg zwischen West und Ost,zwischen Tripolitanien und Cyrenaica, eineambivalente Konkurrenzsituation. Getrenntdurch die lebensfeindliche Wüstenregion, dieals „natürliche Grenze“ diente, verband diebeiden Regionen wenig. Handel und kulturel-ler Austausch blieben gering, obwohl 1551durch das Osmanische Reich erstmals seit rö-mischer Zeit wieder eine Vereinigung beiderLandesteile stattfand.2 Während jedoch derWesten als Sitz des Paschas zu politischerund wirtschaftlicher Blüte gelangte, wurde derOsten benachteiligt, sodass die historischenDifferenzen bestehen blieben. Als sich im 19.

1 Der Name Tripolitanien leitet sich aus den „drei Städten“ (= „tripolis“) Sabratha, Oea und Leptis Magna ab.

2 Bis heute besteht keine zusammenhängende Straßenverbindung zwischen den beiden urbanen ZentrenTripolis im Westen und Benghasi im Osten.

Page 38: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut37

Jahrhundert im Osten der Sanussi-Orden3

entwickelte, der als islamisch-sufische Bru-derschaft eine starke integrale Bedeutung fürdie östlichen Einwohner erlangen sollte,wuchsen die kulturellen Gräben weiter: Wäh-rend sich der Osten stärker islamisierte, Iden-tität und Selbstvertrauen aus dem Glaubenschöpfte, blieb der Westen eher glaubenskri-tisch und areligiös.

1911 marschierten die Italiener in Libyen ein,das damals Provinz des Osmanischen Rei-ches war. Vor allem in der Cyrenaica erhobsich seitens der Anhänger des Sanussi-Or-dens massiver Widerstand gegen die koloni-ale Bedrohung. Noch während des ErstenWeltkriegs schloss Idris, ein Enkel des Or-densgründers Muhammad, Frieden mit Italienund wurde 1920 zum ersten Emir der Cyre-naica, zwei Jahre später auch von Tripolita-nien ernannt. Doch die Ruhe währte nur kurz:Idris floh nach Ägypten, die Italiener drängtenauf die Ausweitung ihres faschistischenMachtbereichs unter Benito Mussolini. Aller-dings wehrte sich die Cyrenaica gegen die ita-lienische Vereinnahmung: Zwischen 1922und 1931 führte Umar al-Mukhtar einen Gue-rillakampf gegen die italienische Kolonialherr-schaft, konnte aber nicht verhindern, dassLibyen endgültig unter den Einfluss des Ducegeriet. Zwischen 1943 und 1951 verwaltetendie Briten dann militärisch das spätere Libyen.Erst 1951 errang Libyen offiziell seine Unab-hängigkeit: König wurde Idris I. (1890-1983,reg. 1951-1969), der nach dem Ende desZweiten Weltkriegs und der italienischenNiederlage aus dem Exil zurückgekehrt war.Als Enkel des Begründers des Sanussi-Or-dens genoss er vor allem im Osten des Lan-des viel Rückhalt, konnte aber die hohenErwartungen an ein freies, vereintes Libyennicht erfüllen. Seine Amtszeit war geprägt vonKorruption und Misswirtschaft. Hinzu kamendie Schwierigkeiten, die einzelnen Landes-teile Tripolitanien, die Cyrenaica und das süd-westliche Fezzan zusammenzuführen, einegemeinsame nationale Identität zu entwickelnund die regionalen Differenzen zu überwin-den. Um den eigenen regionalen IdentitätenRechnung zu tragen, verfügte jeder Landes-teil über eigene Parlamente und Regierun-

gen. Erst ab 1963 wurde eine zentral verwal-tete gesamtlibysche Administration, unterteiltin 13 Gouvernorate, eingeführt. Doch dieSpaltung zwischen Ost und West blieb auchwährend der Monarchie bestehen: Währendsich die Einwohner des Westens mehrheitlichals Vertreter einer aufstrebenden Modernewahrnahmen, betrachteten sie die eher reli-giös und traditionell geprägten Bewohner derCyrenaica als rückständig, konservativ undreaktionär.

Diese Spaltung der libyschen Gesellschaftsollte sich auch unter der Herrschaft al-Gad-dafis nur unwesentlich ändern. Vieles anderehingegen reformierte der „Bruder Führer“ ra-dikal. Sein Ziel war es, ein neues System miteiner neuen Gesellschaftsordnung und einerneuen Hierarchie zu kreieren. Ausgangspunktdieses Systems war die „Herrschaft der Volks-massen“ (arabisch: jamahir). IdeologischeGrundlage seines Systems wurde sein be-rühmtes „Grünes Buch“ (arabisch: al-kitab al-akhdar), in dessen „Dritter Universaltheorie“(arabisch: nazzariya al-‘alamiya al-thalitha) er1975 die Grundzüge seiner idealen politi-schen Staatsstruktur umreißt. Demzufolgemüsse die Herrschaft allein vom Volk ausge-hen, jegliche Repräsentation sei Schwindel,Parlamente unnütz, denn sie regierten nursich selbst, und Parteien ein nicht notwendi-ges Übel, da sie in einer direkten Volksherr-schaft den Willen der Menschenbeeinträchtigen und so eine Form der offenenDiktatur darstellen würden. Nur wenn dasVolk sich direkt regiere, sei wahre Demokratierealisiert, so al-Gaddafis Credo. Daraus folgtefür ihn die Schaffung eines eigenen politi-schen Systems, der „Großen SozialistischenLibysch-Arabischen Volks-Jamarihiya“ (ara-bisch: al-Jamahiriya al-‘arabiya al-libiya al-sha’biya al-ishtirakiya al-‘uzma). In derTheorie handelt es sich um eine reine Basis-demokratie, eine „Herrschaft der Volksmas-sen“, in der das Volk die Entscheidungen vonunten nach oben delegiert. So fungieren aufkommunaler Ebene die 432 so genannten„Volkskomitees“ als unterste Ebene der Ent-scheidungsgewalt. Sie sind nach al-GaddafisVorstellungen das Rückgrat des basisdemo-kratischen Systems. In ihnen finden die ge-

3 1839 gründete der Mystiker Muhammad ibn Ali al-Sanussi al-Khattabi im saudi-arabischen Mekka dengleichnamigen sufistischen Orden. Er legte seine Glaubensvorstellungen in neun Büchern nieder, setztesich stark mit zeitgenössischen Ideen des mystischen Islams, des Sufismus, und den diversen Bruder-schaften auseinander und lehnte die stereotype „Nachahmung“ von Rechtsentscheidungen (arabisch:taqlid) ab, indem er proklamierte, die besten Lehrmeinungen aller islamischen Rechtsschulen (arabisch:madhhab, Pl. madhahib) auszuwählen, um daraus die bestmögliche Quintessenz zu bilden. Dies stießschnell auf Ablehnung von Seiten der etablierten Rechtsgelehrten in Kairo und Mekka, sodass er im li-byschen al-Bayda in der Cyrenaica sein Rückzugsgebiet fand. Dort verbreitete er seine Glaubensvor-stellung und kombinierte sie mit alltäglichen Vorgehensweisen, die Landwirtschaft, Handel, Infrastrukturund Bildungswesen positiv beeinflussten.

Page 39: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut 38

sellschaftsrelevanten, politischen Debattenund Diskussionen statt, hier können sich dieBürger austauschen, indem ihnen ein Forumfür direktpolitische Partizipation geboten wird.Auf lokaler Ebene agieren die „Volkskon-gresse“, denen auf nationaler Ebene der „All-gemeine Volkskongress“ (arabisch:mu’tammar al-sha’ab al-amm, vergleichbarmit dem Parlament) übergeordnet ist. Dieserwählt das Generalsekretariat und ernennt das„Allgemeine Volkskomitee“ (arabisch: al-lajnaal-shabiya al-amma), das mit dem Kabinett zuvergleichen ist. Die Vertreter der Volkskon-gresse, die sich zwei bis vier Mal jährlich tref-fen, verfügen in der Theorie über legislativeEntscheidungskompetenzen, indem sie Ge-setzesvorschläge einbringen und verabschie-den können sowie die Vertreter für denAllgemeinen Volkskongress wählen. DieseVertreter haben die Aufgabe, die auf kommu-naler und lokaler Ebene getroffenen Ent-scheidungen weiterzureichen. Außerdem sindsie befugt, den allgemeinen Generalsekretär,der als Vorsitzender des Allgemeinen Volks-komitees und damit als nominelles Staats-oberhaupt bzw. Premierminister fungiert,sowie die Sekretäre (vergleichbar mit Minis-tern) des Allgemeinen Volkskongresses zuwählen.

Was in der Theorie wie die Idealversion einerbasisdemokratischen, direktpartizpatorischenWillensbeteiligung aller anmutet, mutierte inder Realität jedoch schnell zu einem Fassa-densystem, in dem nur eine Stimme zählte:die von Muammar al-Gaddafi. Obwohl er auspolitischem Kalkül über kein offizielles Staats-amt verfügte, wurde in der Vergangenheitkeine Entscheidung ohne ihn getroffen. Dasbasisdemokratische System legitimierte viel-mehr seine autokratische Herrschaft, indemKontrollinstanzen fehlten, die Genese von zi-vilgesellschaftlichen Institutionen verhindertund parteipolitische Akteure verboten wurden.Stattdessen konstruierte al-Gaddafi ein durchihn legitimiertes und von ihm abhängiges per-sonalisiertes Netzwerk, das weder Teil des of-fiziellen Staatssystems noch zurVerantwortung zu ziehen war. Er bestimmtede facto die politischen Leitlinien, Verwal-tungspositionen und Minister und besetzte of-fizielle Posten. Dies führte dazu, dass dieEntscheidungen von einem engen „innerenZirkel“ getroffen wurden, der al-Gaddafi nahestand und isoliert agieren konnte.4Al-Gaddafiselbst schuf sich ein Denkmal als „Übervaterder Revolution“, als „Erbauer des neuen liby-

schen Staates“, als intellektueller Denker,weitsichtiger Visionär, Kämpfer für die Schwa-chen und Entrechteten, islamischer Reformerund treibende Kraft eines antiwestlichen Pan-afrikanismus und -arabismus kombiniert mitsozialistischen und nationalistischen Elemen-ten nach Vorbild des ehemaligen ägyptischenPräsidenten General Gamal Abd al-Nasser.Schnell wurde deutlich, dass seine ideologi-schen Überlegungen, einen Staat zu schaf-fen, der allein durch das Volk regiert wurde,illusorisch und fiktiv anmuteten. Sogar erselbst schildert in seinem „Grünen Buch“,dass es sich bei dem vorgestellten Systemum einen Idealtypus handele, in der Realitätaber stets die Starken herrschen würden. Zudenen zählte er sich, indem er außerhalb derrechtlichen und politischen Rahmenbedin-gungen regierte. Hinzu kam, dass der Ent-scheidungsfindung von unten nach obenStagnation als wesentliche Entwicklungsbar-riere innewohnte: Da jede Entscheidung meh-rere hierarchische Ebenen durchlaufen muss,wurden Beschlüsse über Jahre hinweg ver-zögert, verwässert, torpediert und manipuliert,sodass in der Realität ein System entstand,das in höchstem Maße ineffizient, korrupt,intransparent, bürokratisch und unverantwor-tungsbewusst war. Da in der Theorie alle dieVerantwortung trugen, lehnte sie de factojeder ab. Da so am Ende niemand entschei-den durfte, wurde die Entscheidung immerweiter nach oben gegeben und zentrierte sichauf al-Gaddafi. Die damit ausgelöste Stagna-tion und Lähmung des Staatsapparatesdurchdrang jede gesellschaftliche, politischeund wirtschaftliche Dimension des Staatesund wurde zum grotesken Charakteristikumdieses „basisdemokratischen” Experiments.

Am Ende blieb al-Gaddafi als einzige Ent-scheidungsinstanz. Ohne offizielle Funktiongerierte er sich als Konstrukteur der wesent-lichen politischen, wirtschaftlichen und ideo-logischen Entscheidungen, als Akteur mitallumfassender Richtlinienkompetenz, dernach Belieben schalten und walten konnte.Hinzu befand er sich als – nach offizieller Les-art – externer politischer Akteur in der ange-nehmen Situation, in Krisenzeiten dieRegierung kritisieren oder austauschen zukönnen, Verantwortung für die alltäglichenProblemfälle abzulehnen und eher als Archi-tekt denn als Ingenieur der libyschen Staats-geschäfte zu gelten. Obwohl er die Prämissevertrat, dass niemand über niemanden herr-schen dürfe, fokussierte sich die reale Staats-

4 Davon zeugt z. B. die Tatsache, dass zwischen 1969 und 1999 insgesamt nur 112 Minister nominiert wur-den, was auf unzureichende Durchlässigkeit der politischen Ämter sowie auf die Abhängigkeit von derGunst al-Gaddafis hindeutet.

Page 40: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut39

gewalt Libyens in seinen Händen. Dabeistützte er sich von Beginn seiner Herrschaftauf ein Netzwerk, das als eigentlicher „Staatim Staate“ agierte und nur über individuelleLoyalitätsbindungen zu ihm zusammengehal-ten wurde. Als intransparentes Patronage-system machte sich al-Gaddafi wesentlichetraditionelle libysche Gesellschaftsstrukturenzunutze, obwohl er sich zumeist als modernund aufgeklärt gab. So stützte er sich aufStammes- und Familienstrukturen und bauteneben den basisdemokratischen Institutionennicht-gewählte revolutionäre Institutionen auf,die als parallel agierendes informelles Macht-zentrum fungierten und oftmals gegenläufigeEntscheidungen trafen. So gründete al-Gad-dafi 1977 die so genannten „Revolutionsko-mitees”, die ebenso wie er keine offizielleFunktion im politischen System einnahmen,aber die basisdemokratischen Entscheidun-gen vehement beeinflussten und zunehmendden politischen Weisungsprozess beeinträch-tigten und torpedierten. Zusätzlich stützte ersich auf die so genannten „Männer des Zel-tes“ (arabisch: rijal al-khaimah), zu der nebenseinen Familienangehörigen die Mitgliederseines Stammes Qadhafa gehören.5

Vor allem seine tribale Anbindung gliedertesich in die traditionelle Lebensweise weiterTeile der libyschen Gesellschaft: Libyen istsehr stark durch den Einfluss der einzelnenStämme dominiert und gilt als eine der amstärksten tribal geprägten Gesellschaften derRegion.6 Insgesamt gibt es etwa 138-140Stämme (arab.: Sg. qabila, Pl. qaba’il) in Li-byen, davon verfügen allerdings nur 20-30über politischen Einfluss. Zu Beginn seinerHerrschaft verfolgte Gaddafi eine antitribalePolitik, wollte die traditionellen Stammesver-bände zerschlagen und verachtete sie alsrückständig, anachronistisch und unzivilisato-risch. Er unterteilte das Staatsgebiet in unter-schiedliche Zonen, die mehrere verschiedeneStammesverbände umfassten und zerrissdamit tribale Einheiten. Das tribale Bewusst-sein konnte er dadurch jedoch nicht nachhal-tig beeinträchtigen. Obwohl durch diezunehmende Urbanisierung, die Modernisie-rung und Auflösung traditioneller Strukturendie individuelle Bindung an den Stamm nach-ließ, findet der Einzelne sozialen Rückhaltauch heute oftmals im traditionellen tribalen

und familiären Rahmen, der durch eine patri-archalische Hierarchisierung strukturiert ist. Erst aufgrund innerer und äußerer Konflikte inden 1980er Jahren änderte al-Gaddafi seineStrategie, weil er auf die Loyalität der wichti-gen Stammesfürsten angewiesen war undverfolgte von nun an eine Politik der Retriba-lisierung. Die Stämme garantieren in Libyenseit Jahrhunderten die soziale Sicherheit desIndividuums, das sich auf seinen tribalenRückhalt verlassen kann. In Abwesenheit vonzentralstaatlichen Sicherungsmechanismenübernehmen sie die Versorgung und denSchutz und sorgen für ein gewisses Maß anwirtschaftlicher Sicherheit. Insbesonderedurch den Mangel an politischen Instrumen-ten unter Gaddafi, der Ausbreitung von Will-kürherrschaft und der Absenz von staatlichenRegeln und Effizienz nahm der Einfluss derStämme als sozialer Anker wieder zu. So ver-fügen nach wie vor 85% der libyschen Bevöl-kerung über enge tribale Wurzeln, obwohl derUrbanisierungsgrad etwa gleichhoch liegt,was in der Regel zu einer Verwässerung tra-ditioneller Strukturen führt. Die Stammesäl-testen genießen hohe Autorität und denRespekt der Mitglieder; zumeist verfügen sieüber eine „noble“ Abstammung und einen ge-wissen Wohlstand.

Gaddafi selbst ist Mitglied des um Sebha undTripolis ansässigen Gadhafa-Stammes, demin der historischen innerlibyschen Stammes-hierarchie wenig Bedeutung zukam. Mit100.000-170.000 Mitgliedern unterteilt insechs Substämme verfügt der Stamm im Ver-hältnis nur über wenige Mitglieder. Der wich-tigste und größte Stamm Libyens mit etwaeiner Million Mitglieder ist der Warfala-Stamm. Auch die Warfala gehörten zeitweisezum engen Netzwerk al-Gaddafis, wurden ko-optiert und in das Patronagesystem integriert,obwohl das Verhältnis ambivalent blieb. Soscheiterte 1993 ein Putschversuch von War-fala-Stammesangehörigen, die sich bei deroffiziellen Postenvergabe übergangen fühltenund gegen al-Gaddafi aufbegehrten. Bei denim Frühjahr beginnenden Aufständen oppo-nierten sie gegen das Gaddafi-Regime undschlugen sich auf die Seite der Opposition.

Auch der zweitgrößte Stamm, die Magarha,galt in der Vergangenheit als enger Verbün-

5 Wichtige Vertraute Gaddafis waren vor allem sein Cousin Ahmed Qadhaf al-Dam (verantwortlich für dieibysch-ägyptischen Beziehungen), Ahmed Ibrahim (Leiter des World Centre for Research and Studies onthe Green Book), General Khuwaildi al-Humaidi (Generalinspekteur der Streitkräfte), Mustafa Kharroubi(früherer Leiter des militärischen Geheimdienstes) und Befehlshaber der Streitkräfte, Abu Bakr Yunis Jabr.Man bezeichnet sie auch als „Weggefährten des Führers“ (arabisch: rifaq al-qa’id).

6 In ihrer tribalen Struktur sind im Nahen und Mittleren Osten noch Jordanien und Jemen mit Libyen zu vergleichen.

Page 41: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut 40

deter al-Gaddafis, wechselte aber ebenfallsauf Seiten der Aufständischen.7Weitere wich-tige Stämme sind die Misurata im Nordwesten(Benghasi und Darneh), al-Awaqir in Barqa,die Abdiyat in Tobruk, die Masamir in der Cy-renaica, die al-Mujabra südwestlich von Tri-polis, die Farjan westlich von Ajdabiya undMasrata in Tripolis.

Jahrzehntelang gelang es al-Gaddafi, die ein-zelnen, teilweise miteinander konkurrierendenund untereinander rivalisierenden Stämmegegeneinander auszuspielen oder zu koop-tieren, indem sie mit den Ölgeldern gekauftwurden. Mithilfe einer ausgeklügelten „Zu-ckerbrot-und-Peitsche“-Politik band er diewichtigsten Stämme an sich. So wurde imMärz 1997 ein Ehrenkodex erlassen, der eserlaubte, staatliche Leistungen an einenStamm kollektiv zu entziehen, wenn sichStammesmitglieder oppositionell betätigenwürden. Demzufolge rekrutierte er die wich-tigsten Kader seiner ihm treu ergebenen Spe-zialeinheiten aus dem Gadhafa-Stamm,marginalisierte die reguläre Armee und spieltedie verschiedenen Einheiten gegeneinanderaus. So konnte das Militär im Unterschied zuTunesien oder Ägypten während des Auf-stands keinen moderierenden oder befrie-denden Einfluss nehmen und verlor nebenElitetruppen, Special Forces, paramilitäri-schen Milizen oder Söldnern schnell an Ein-fluss. Viele Soldaten desertierten.

Neben den Stämmen und den Revolutions-komitees bildeten vor allem die Söhne Gad-dafis das Rückgrat des Regimes. So stütztesich sein Sicherungsapparat immer stark auffamiliäre Bindungen. Ganz nach dem Motto:Blut ist dicker als Wasser. Dabei unterlief vorallem die Funktionsweise und Außendarstel-lung seines ältesten Sohnes aus zweiter Ehemit der Krankenschwester Safia Farkashi,Saif al-Islam (geboren 1972), in den letztenMonaten einen dramatischen Wandel. Saif al-Islam galt in den letzten Jahren als Reformer,aufgeklärter Kritiker und moderater Fördererder Demokratie im libyschen System unddamit als Hoffnungsträger für die westlicheWelt, die in ihn ihre Hoffnungen auf eineschrittweise Öffnung und Demokratisierungdes rigiden Gaddafi-Regimes stützten. AlsVorsitzender und Gründer der Gaddafi-Stif-tung für Entwicklung trat er für mehr Transpa-renz, eine unabhängige Justiz,Marktwirtschaft, die Einführung einer Verfas-

sung, Demokratisierung, Stärkung der Men-schenrechte und Liberalisierung ein. Er er-warb seinen Doktortitel an der London Schoolof Economics and Political Science8, studiertein Wien und galt als wichtigster prowestlicherAnsprechpartner in al-Gaddafis System.Innenpolitisch setzte er sich für die Freilas-sung von 100 Mitgliedern der libyschen Mus-limbruderschaft ein, prangerte in seinenReden Korruption, die Verkrustung des Sys-tems und Rückschrittlichkeit an und initiierte2003 eine Antifolterkampagne. Bei vielen Be-obachtern galt er als designierter Nachfolgerseines Vaters, womit Hoffnungen verbundenwurden, dass die unstrukturierten, personali-sierten, hoch korrupten Zustände im liby-schen System reformiert werden würden. Saifal-Islam wurde zugetraut, das System voninnen zu wandeln, es moderner, effizienter, li-beraler, offener, demokratischer und wirt-schaftlicher zu gestalten, um so dieVerfehlungen seines Vaters schrittweise zubeseitigen.

Doch die Hoffnungen trogen. Während derAufstände im Frühjahr stellte sich Saif al-Islam schnell und kompromisslos an die Seiteseines Vaters. Noch vor al-Gaddafi äußerte ersich in einer Fernsehansprache am 20. Fe-bruar 2011 aggressiv und ausgesprochenfeindlich gegenüber den Demonstranten,warnte vor dem Zerfall Libyens, einer Rezes-sion und der Rückkehr des Kolonialismus. Be-waffnete Banden seien ebenso verantwortlichfür die Unruhen wie Drogenabhängige, aus-ländische Agenten und Medien sowie mili-tante Islamisten. Damit beschwor er diestereotypen Feindbilder, die auch stets seinVater bemühte. Kurz: Der Reformer hatte sichzu einem loyalen Sohn gewandelt, dessen ei-genes Schicksal eng an das seiner Familieund seines Vaters geknüpft ist. Es scheintdemnach, als sei die Funktion Saif al-Islamsals Reformer in den vergangenen Jahrennicht vielmehr als eine instrumentalisierteScharade gewesen, um dem Westen ein Ge-sicht zu bieten, dem er vertrauen könne unddas seine Sprache spreche, ohne dass er jewirklich über entscheidenden Einfluss verfügthätte.

Neben Saif al-Islam galten vor allem al-Gad-dafis Söhne Mutassim Billah (geboren 1975),Khamis (geboren 1980) und Saadi (geboren1973) als einflussreiche Figuren innerhalbdes Patronagesystems und als unerlässliche

7 Der ehemalige Chef des Geheimdienstes, Abdullah Sanussi, gehört zu den Magarha. StammesführerAbdel Sallam Jaloud galt jahrelang als enger Partner Gaddafis und Abdel Baset Al Megrahi wurde wegenseiner wahrscheinlichen Beteiligung am Lockerbie-Attentat 1988 verurteilt.

8 Die Arbeit trägt den Titel „Die Rolle der Zivilgesellschaft für die Demokratisierung globaler Regierungsin-stitutionen“ und steht unter Plagiatsverdacht.

Page 42: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut41

Vertraute des Vaters während der Aufstände.So befehligte Mutassim die Präsidentengardeund wurde 2007 nationaler Sicherheitsbera-ter, während Khamis mit der Brigade 32 seineeigene Militäreinheit leitete und für denSchutz seines Vaters mitverantwortlich zeich-nete. Saadi befehligte seit 2006 die SpecialForces, wurde aber eher durch seine wenigerfolgreiche Karriere als Fußballprofi in Italienberühmt: Hier kaufte er sich bei den VereinenAC Perugia, Udinese Calcio und SampdoriaGenua ein, bestritt allerdings nur einige Spieleund wurde 2003 wegen Dopingmissbrauchfür drei Monate gesperrt. Er spielte außerdemfür die libysche Nationalmannschaft und warVorsitzender des libyschen Fußballverbands.Hannibal (geb. 1977) verfügte als Leiter derstaatlichen Reederei General National Marti-time Transport Company über Einfluss auf Lo-gistik und Wareneinfuhr, was insbesonderewährend der kriegerischen Auseinanderset-zung 2011 von Bedeutung war. So wurden imAugust Meldungen veröffentlicht, die davonberichteten, dass Rebellentruppen einen mit300.000 Liter Benzin geladenen Tanker desGaddafi-Regimes kaperten und nach Ben-ghasi lenkten. Verantwortlich für den Trans-port des Benzins soll Hannibal gewesen sein.In die Öffentlichkeit geriet er auch, als er 2008in der Schweiz verhaftet wurde, was zu einemdiplomatischen Eklat führte. So ließ sein Vaterdaraufhin zwei Schweizer Diplomaten verhaf-ten, die Öllieferungen einstellen, formulierteabstruse Verschwörungstheorien und atta-ckierte die Schweiz massiv.9

II. Voraussetzungen für den Willen nachWandel

Dass sich die Unzufriedenheit in weiten Tei-len der Bevölkerung in Libyen in Form einesBürgerkriegs niederschlagen sollte, hätten diewenigsten Kenner des Landes erwartet.Immerhin verfügt Libyen über 3,5% der welt-weiten Ölvorkommen, was etwa 60 Mrd. Bar-rel entspricht. Hinzu kommen weitere 1,5 Bio.Kubikmeter Erdgas. Damit gehört Libyen zuden ressourcenreichsten Ländern der Erde.Im Vergleich zu den ölreichen Golfmonar-chien blieb die allgemeine Wohlstandsent-wicklung jedoch in den vergangenen Jahrenweit hinter den Erwartungen zurück. Dies lagunter anderem an den jahrelangen internatio-

nalen Wirtschaftssanktionen, denen das Landausgesetzt war und die von den USA initiiertwurden. Bereits 1970 wurde Libyen von denUSA auf die Liste der den internationalen Ter-rorismus unterstützenden Staaten gesetzt,zehn Jahre später erfolgte der Abbruch der di-plomatischen Beziehungen. Erste Wirt-schaftssanktionen wurden implementiert. Esfolgten militärische Konfrontationen zwischenal-Gaddafi und seinem „Erzfeind“, den Ver-einigten Staaten. So veranlasste das libyscheRegime den Bombenanschlag auf die Berli-ner Diskothek La Belle am 5. April 1986. ZehnTage später erfolgten militärische Luftschlägeder USA gegen Tripolis und Benghasi. Am 21.Dezember 1988 explodierte über dem schot-tischen Lockerbie ein PanAm-Verkehrsflug-zeug, 240 Passagiere kamen ums Leben.Verdächtigt wurde der libysche Geheimdienst.1992 verhängten dann auch die VereintenNationen Wirtschaftssanktionen gegen Li-byen. Erst mit der Auslieferung der beidenvermeintlichen Attentäter 1999 nach DenHaag begann der Prozess der libyschenReintegration in die internationale Gemein-schaft. Al-Gaddafi erkannte, dass ihm aufDauer seine wirtschaftliche und politische Iso-lation nicht nutzen würde und zeigte sich zu-nehmend kompromissbereit. SeineAuffassung, die Rolle des „internationalenOutlaw“ werde seiner Reputation und der Sta-bilität Libyens nützen, revidierte er und suchtedie Annäherung an den so verpönten Westen.Nach der Einstellung des libyschen Massen-vernichtungswaffenprogramms hoben auchdie Vereinigten Staaten 2003-2004 ihre Wirt-schaftssanktionen auf. Libyen war als inte-graler Bestandteil der internationalenGemeinschaft wieder auf der Weltbühne zu-rück, Gaddafi zeigte sich in der Folgezeit alsbegehrter Gesprächspartner für hochrangigeStaatschefs aus aller Welt und genoss seinezurück gewonnene Reputation. Vor allem fürdie Europäische Union (EU) blieb Libyen inder Vergangenheit aufgrund seines Ressour-cenreichtums und der geographischen Nähezu Europa ein wichtiger strategischer Partner.Für die EU und al-Gaddafi wurden so dieJahre in der Post-Sanktions-Ära zu einer Win-Win-Situation: Während Libyens Wirtschaftwuchs, garantierte al-Gaddafi den besorgtenEuropäern ein vehementes Vorgehen gegenafrikanische Wirtschaftsflüchtlinge und wurde

9 Siehe u.a. SPIEGEL-Interview mit al-Gaddafi, 18/2010: „Sie [die Schweiz, S.S.] wollte über dem interna-tionalen Gesetz stehen. Und das hat die Schweiz zu einer Mafia gemacht.“ Al-Gaddafi behauptete auch,die Schweiz hätte mit Sterbehilfe gezielt unliebsame Gegner umbringen lassen: „Eine Reihe von Leutenist unter diesem Vorwand gezielt aus dem Weg geräumt worden. Die Schweiz behauptet, die Betreffen-den hätten den Wunsch geäußert, sich das Leben zu nehmen. Dabei ging es in Wahrheit darum, an ihrGeld heranzukommen. Mehr als 7000 Menschen sind auf diese Weise gestorben. Ich rufe deshalb dazuauf, das Staatswesen der Schweiz aufzulösen.“

Page 43: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut 42

zum engen Verbündeten im Kampf gegen denmilitanten Islamismus. Gleichzeitig profitiertedie europäische Wirtschaft von dem enormenNachholbedarf, den Libyen nach Ende derSanktionen aufwies. Durch Investitionen indie Wasserwirtschaft, den Telekommunika-tions-, Gesundheits- und Verkehrssektor unddie militärische Zusammenarbeit flossen Milli-ardensummen ins Land. Allein zwischen 2002und 2005 stiegen die ausländischen Direktin-vestitionen von 145 Mio. USD auf 1,04 Mrd.USD und verzehnfachten sich damit beinahe.Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf stieg imselben Zeitraum von 3.563 USD auf 7.429USD, während sich das BIP von etwa 28 Mrd.USD auf 44 Mrd. USD erhöhte. Allein zwi-schen 1998 und 2009 stieg das BIP von 27,3Mrd. USD auf 93,2 Mrd. USD.

Trotzdem änderten sich die wirtschaftlichenRahmenbedingungen für weite Teile der Ge-sellschaft kaum. Weiterhin blieb das Systemhochgradig korrupt, weiterhin profitierten nurder Gaddafi-Clan und seine Günstlinge vonden neu generierten Mehreinnahmen und denansteigenden ausländischen Investitionen.Vor allem die demographische Entwicklungführte zu gravierenden Problemen auf demArbeits- und Wohnungsmarkt. So vervier-fachte sich in den letzten 40 Jahren die liby-sche Bevölkerung; bis 2050 soll sie auf ca. 10Mio. steigen. Die durchschnittliche Kinderan-zahl pro Frau liegt bei 2,6 und hat sich damitzwar deutlich reduziert, doch das Bevölke-rungswachstum beträgt jährlich immer nochetwa 2%. Über ein Drittel ist jünger als 14Jahre, das Durchschnittsalter liegt bei 24 Jah-ren.

Ähnlich wie in anderen arabischen Ländernverfehlte es auch al-Gaddafi, den demogra-phischen Druck nachhaltig zu kontrollierenund den Übergang auf den Arbeitsmarkt fürdie vielen jungen Menschen sicherzustellen.So lag die Jugendarbeitslosigkeit im Frühjahr2011 bei etwa 30%, andere Schätzungengehen sogar von bis zu 65% aus. Auch derWohnungsmangel nahm dramatische Zügean. Vor dem Aufstand im Frühjahr 2011 fehl-ten etwa 540.000 Wohneinheiten, sodass al-Gaddafi anordnete, Obdachlose könntenRohbauten und Baustellen als Wohnort nut-zen. Auch in der Vergangenheit war es immerwieder zu Unruhen aufgrund der politischenund wirtschaftlichen Missstände gekommen.10

Wirtschaftliche Diversifizierungsmaßnahmen,

um die libysche Wirtschaft unabhängiger vomErdöl aufzustellen, wurden vernachlässigt. Li-byens Wirtschaft blieb eine Monokultur. Sovermied al-Gaddafi umfassende Wirtschafts-reformen, verhinderte eine weit reichende Öff-nung des libyschen Marktes und schuf keineinternational gültigen rechtlichen Rahmenbe-dingungen, um ausländische Investoren insLand zu locken. Er agierte planlos, konzeptlosund willkürlich und verhielt sich gegenüberausländischen Geschäftsleuten ebenso wiegegenüber seiner Bevölkerung mit einer „Zu-ckerbrot-und-Peitsche“-Strategie, geriertesich als exzentrischer Wüstenfürst, residiertein seinen pompösen Beduinenzelten und tratin kuriosen Phantasieuniformen auf oder ließPolitiker und Geschäftspartner stunden- odertagelang auf eine Audienz warten, ehe erihnen seine kruden ideologischen Ansichtenin monologisierender Form näher brachte.Kurzfristige Gesetzesänderungen wurden an-derntags zurückgenommen, der bürokrati-sche Apparat kannte kaum systematischeArbeitsabläufe und durfte nicht selbst ent-scheiden. Erfolgreiche Geschäfte konntenfast ausschließlich über persönliche Kontaktezu den Klientelnetzwerken realisiert werden.Korruption und Patronagestrukturen warenlängst zum wirtschaftspolitischen Alltag ge-worden, indem freie Wirtschaft verhindert undpersonalisierte Netzwerke gefördert wurden.So lag die Korruption in den Grundzügen vonal-Gaddafis System begründet und wurdezum tolerierten, ja, zum beabsichtigten Kardi-nalsdelikt der libyschen Wirtschaftspolitik. ImJahr 2011 lag Libyen im Index of EconomicFreedom der Heritage Foundation noch hin-ter Ländern wie dem Tschad, Timor-Lesteoder Syrien auf dem sechstletzten Rang undrangierte auf dem letzten Platz bei den Län-dern des Nahen und Mittleren Ostens. Esschien, als wolle al-Gaddafi ein System derständigen Verunsicherung, des institutionel-len Chaos schaffen, um sich und seine Macht-position zu sichern. Er kooptierte Stämme undstellte Liberalisierung in Aussicht, lud system-kritische Exillibyer zur straffreien Rückkehr inihre Heimat ein und schlug gleichzeitig oppo-sitionelle Gruppen brutal nieder.

Während so der Wohlstand der Elite um al-Gaddafi rasant stieg, stagnierte der Lebens-standard der breiten Gesellschaftsschichten.Unzufriedenheit und Perspektivlosigkeit nah-men ebenso zu wie z.B. der Drogen- und Al-koholkonsum. Die Bewunderung für den

10 Bei Protesten in Benghasi 2006, die sich zuerst gegen die dänischen Muhammad-Karikaturen richteten,kamen mindestens zwölf Demonstranten ums Leben, nachdem sich die Proteste schnell gegen das Re-gime gerichtet hatten.

Page 44: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut43

„Bruder Führer“ schwand, tribale und famili-äre Identitäten und Sicherheitsnetzwerke nah-men an Bedeutung zu und limitierten dasVertrauen in das Regime. Das Bildungs- undAusbildungsniveau bewegte sich im Vergleichzu anderen Rentierstaaten der Region aufunterentwickeltem Niveau. Fremdsprachen-unterricht hatte al-Gaddafi jahrelang verboten,um den „arabischen Charakter“ zu stärkenund den anglophonen Einfluss des „Erzfein-des“ USA zu unterbinden. Das Bildungssys-tem wurde bestimmt durch archaischeLehrmethoden, Auswendiglernen und derGleichschaltung der Argumentationen. Aus-ländische Literatur blieb rar, kosmopolitischeEinflüsse auf den privaten Raum beschränkt.Intellektuelle Debatten wurden unterdrückt,kritische Denker verfolgt. Einziges „intellek-tuelles Leitmedium“ wurde das Grüne Buchal-Gaddafis, das als Aushängeschild der liby-schen Geisteswelt gelten sollte und Maßstabfür politisches Denken unter al-Gaddafi blieb.

Gleichzeitig führten die nicht zu negierendenFortschritte bei Einkommen, Bildung undGeisteshaltung der letzten Jahrzehnte zueiner zunehmenden Modernisierung des Le-bens und des Denkens – allerdings außerhalbstaatlicher Strukturen und auf den nichtöf-fentlichen Raum beschränkt, da zivilgesell-schaftliche Aktivitäten unterbunden wurden.Dies wirkte sich nachteilig für die Attraktivitätder als zunehmend anachronistisch wahrge-nommenen Ideologie al-Gaddafis aus, des-sen Propaganda und Weltanschauungen andie Zeit des Kalten Krieges erinnerten, unddas Streben nach Fortschritt, Moderne undInternationalität vieler Libyer nicht mehr an-nähernd widerspiegelte. Die internationaleNormalisierung hatte nicht ansatzweise zueiner innenpolitischen Liberalisierung geführt.Kombiniert mit den gravierenden wirtschaft-lichen Problemen gingen viele Libyer auchideengedanklich zu ihrem „Volksführer“ aufDistanz. Die Zunahme der Internet- und Fa-cebook-Nutzer, die Verbreitung von Satelli-tenfernsehen und Mobiltelefonen und dielangsam aufbrechende wirtschaftliche Isola-tion führten zu deutlich mehr Mobilität der Ge-sellschaft, indem viele begannen, im Auslandzu studieren oder Kontakte in den Westen zuunterhalten.

Auch wenn al-Gaddafi nach wie vor viele Für-sprecher um sich versammeln konnte,bröckelte doch die Bewunderung vor der cha-rismatischen „Vaterfigur“ sowie die Angst vor

dem repressiven Regime rapide und wicheiner Skepsis, die schnell in Hass und aktio-nistische Wut umschlagen sollte. So kann derAufstand, der im Frühjahr 2011 ausbrach unddie Herrschaft al-Gaddafis beendete, nichtnur als Ausdruck sozioökonomischer Unzu-friedenheit und der Überwindung der Angst,sondern auch als Mobilisierungs- und Moder-nisierungsphänomen gesehen werden. DerGenerationenkonflikt zwischen den unter al-Gaddafis Herrschaft Geborenen und ihrem„Volksführer“ wurde von diesem negiert, nichtwahrgenommen und vernachlässigt. Statt-dessen flüchtete er sich weiterhin in seine ide-ologischen Gedankenkonstrukte, pflegteseine Klientelnetzwerke, die so genannten„fetten Katzen“, und verließ sich auf die Ölein-nahmen sowie die wiedererlangte internatio-nale Reputation.

III. Akteure des Wandels und konkreteAuslöser

Zu ersten Protesten, die sich schnell zu einemmilitärischen Aufstand gegen al-Gaddafi undsein Regime ausweiten sollten, kam es in al-Bayda, Darnah und Benghasi in der östlichenCyrenaica im Januar 2011. Der Ostteil desLandes um die Hafenstadt Benghasi wurdeim weiteren Verlauf das Epizentrum der Auf-stände. Konkreter Auslöser war der massiveWohnungsmangel, der sich im Osten desLandes aufgrund der jahrelangen wirtschaft-lichen Marginalisierung seitens des Gaddafi-Regimes noch deutlich negativer auswirkteals im Westen mit Tripolis als urbanem Bal-lungszentrum. Demonstranten besetzten vomStaat finanzierte Wohnungsbauprojekte; eskam zu ersten Zusammenstößen mit Sicher-heitskräften. In diesem Zusammenhang for-derte der Schriftsteller und IntellektuelleJamal al-Hajj weitere Demonstrationen undwurde am 1. Februar 2011 inhaftiert. Am 6.Februar 2011 traf sich al-Gaddafi mit vier po-pulären Rechtsanwälten des Landes, die aufgravierende Verfehlungen bei der Presse-und Meinungsfreiheit hinwiesen und endlichdie Schaffung einer Verfassung forderten.11

Das Treffen blieb aus Sicht der Anwälte er-gebnislos, al-Gaddafi lehnte alle Forderungenab, was zu einer weiteren Verschärfung derLage führte. Am 15. Februar 2011 wurde derAnwalt Fathi Tarbel verhaftet. Er vertrat dieAngehörigen von Opfern eines Aufstandes imberüchtigten Abu-Salim-Gefängnis, bei dem1996 etwa 1.200 Häftlinge erschossen wor-den waren. Tarbel selbst verlor damals seinen

11 Unter den Anwälten war auch der jetzige Vizepräsident des Nationalen Übergangsrates (NÜR), AbdulHakim Ghoga, ein in Benghasi geborener systemkritischer Rechtsanwalt.

Page 45: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut 44

Bruder, Schwager, Cousin und fünf Freunde.500-600 Befürworter sammelten sich vor demSitz des Volkskomitees in al-Bayda und for-derten Tarbels Freilassung. Es kam zu Zu-sammenstößen mit libyschen Sicher-heitskräften und zu Anti-Gaddafi-Parolen. Ins-gesamt 38 Beteiligte wurden verletzt. ZweiTage später versammelten sich Demonstran-ten in mehreren libyschen Städten, darunterBenghasi, az-Zintan, Darnah, Ajdabiya und al-Bayda, zum ersten libyschen „Tag des Zorns“:Ghoga und mehrere Facebook-Aktivisten hat-ten zu diesen Demonstrationen aufgerufen,um an die Opfer der Demonstrationen von2006 zu erinnern. Die Situation begann zu es-kalieren: Scharfschützen feuerten auf De-monstranten, Dutzende Protestanten kamenums Leben. Internet- und Telefonverbindun-gen wurden von Sicherheitskräften unterbro-chen. Was folgte, kann als der Beginn deslibyschen Bürgerkriegs gewertet werden. Am20. Februar 2011 befand sich Benghasi unterKontrolle der Aufständischen.

Es partizipierten die unterschiedlichsten sozi-alen Gruppierungen an dem Aufstand, sodassvon einer breiten Oppositionsbewegung ge-sprochen werden kann. Bei den Rebellenhandelte es sich in der Regel nicht um ge-lernte Soldaten oder gar reguläre Truppen,sondern um Zivilisten. Untrainiert, ohne Uni-formen und straffe militärische Hierarchiengründeten sich lokale Brigaden oder Milizen,die zu Beginn kaum koordiniert und eher vonEnthusiasmus denn von klarer Struktur vor-angetrieben wurden. Sie setzten sich zusam-men aus einer intellektuellen Bildungselite,geachteten Juristen, Arbeitern, Studenten,Schriftstellern, Ärzten und arbeitslosen undvernachlässigten Jugendlichen, die wederüber eine Wohnung verfügten noch über aus-reichende Bildung oder eine berufliche Per-spektive. Mehr und mehr schlossen sichDeserteure aus der regulären Gaddafi-loya-len Armee den Kampfverbänden an. Jüngereund ältere Generationen begannen, sich

gegen al-Gaddafi zu stellen. Hinzu engagier-ten sich auch zunehmend exillibysche Oppo-sitionsgruppen, die seit Jahren vor allem inEuropa aktiv waren, da jegliche Oppositioninnerhalb Libyens verboten war. Gruppen wiedie National Conference for the Libyan Oppo-sition, ein in Großbritannien ansässiger Zu-sammenschluss aus mehreren Oppo-sitionsbewegungen, forderte eine Über-gangsregierung, freie Wahlen, die Einhaltungder Menschenrechte sowie den Rücktritt al-Gaddafis. Andere Gruppen wie die NationalFront for the Salvation of Libya, die 1981 ge-gründet wurde und hauptsächlich aus denUSA und Großbritannien agiert, die LibyanLeague for Human Rights, die 1989 gegrün-det wurde, ihren Sitz in Genf hat und auchüber Büros in Großbritannien und Deutsch-land verfügt oder die pro-monarchistische Li-byan Constitutional Union mit Sitz inManchester, formulierten ähnliche Anliegen.Allerdings blieb der externe Einfluss marginal,stattdessen fand die Oppositionsbewegunginnerhalb Ostlibyens immer mehr Anhängerund wurde für das Regime al-Gaddafisschnell zu einer ernsthaften Bedrohung. Be-merkenswert blieb der relativ geringe Einflussislamistischer Gruppierungen. Ähnlich wieauch in Tunesien und Ägypten wurden bis-lang keine islamistischen Formeln und kaumForderungen des politischen Islams prokla-miert. Dabei gilt der Osten des Landes tradi-tionell als konservativ-islamisch, da hier dieSanussiyya gegründet wurde, deren Über-zeugungen die Identität vieler Muslime dortbis heute prägt. Der Einfluss militanter Isla-misten blieb während der Unruhen unsichtbar.Insbesondere Gruppen wie Al-Qaida im isla-mischen Maghreb (AQIM) verfügten auchunter al-Gaddafi über keine Basis in Libyen.Sie wurden vehement verfolgt, immerhin galtal- Gaddafi als zuverlässiger Partner desWestens im Kampf gegen den militantenIslam. Zwar kam es in der Vergangenheitauch in Libyen immer wieder zu vereinzeltenAnschlägen12 und zur Genese von radikalen

12 In den 1980er Jahren entstand eine militante islamistische Bewegung vor dem Hintergrund wirtschaft-licher Rezession: Die Ölpreise fielen, gleichzeitig nahmen die Repressionen der Revolutionskomitees zu,was den Islamisten einigen Zuspruch einbrachte. Dennoch blieben sie ein zu vernachlässigender politi-scher Faktor in Libyen. Zwischen 1995 und 1998 und 2007 kam es immer wieder zu kleineren Anschlä-gen im Osten des Landes sowie einem vereitelten Attentat auf Gaddafi. Viele Jihadisten mit libyscherHerkunft kämpften nach dem Sturz von Saddam Hussein 2003 im Irak.

Page 46: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut45

Gruppen, gesamtgesellschaftlichen Einflusskonnten diese jedoch nie gewinnen.13 Auchwenn die ersten Unruhen im Osten des Lan-des, der Cyrenaica, ausbrachen, blieb dieAnti-Gaddafi-Bewegung nicht allein auf die-sen Landesteil beschränkt. Eingebunden inihr familiäres Netzwerk und teilweise mitengen Bezügen zu ihren jeweiligen Stämmenwandten sich schnell auch erste tribale Führervon al-Gaddafi ab und opponierten auf Seitender Aufständischen.14 Insbesondere die Ab-kehr mächtiger Stämme wie dem Warfalla-Verband zeigte deutlich, dass al-al-Gaddafizunehmend die Unterstützung tribaler Einhei-ten verlor. Dabei bleibt umstritten, welcheAussagekraft die offizielle Abkehr eines Stam-mesführers für das einzelne Stammesmitgliedhatte. Zwar wird Libyen oft als tribale Gesell-schaft beschrieben, daraus jedoch zu schlie-ßen, der Stamm sei für das Individuum quasiausschließliches Entscheidungs- und Identi-tätskriterium, wäre zu eindimensional. Insbe-sondere in den urbanen Gebieten und bei derjüngeren Generation bietet der eigene Stammzwar noch immer einen gewissen sozialenBezugspunkt, darf allerdings aufgrund der di-versen Partikularinteressen und der innerenHeterogenität nicht als monolithischer Blockgesehen werden. Für viele Libyer scheint derStamm so auch stark an Bedeutung verlorenzu haben. Trotzdem galt die Abkehr vielerStammesvertreter von Gaddafi als wichtigesSymbol eines geeinten, interessensübergrei-fenden Aufstands.

Wichtigster Akteur der Anti-Gaddafi-Frontwurde der Nationale Übergangsrat (NationalTransition Council, arabisch: al-Majlis al-Wat-ani al-Intiqali, NÜR), der am 27. Februar 2011ins Leben gerufen wurde und zu Beginn aus31 Mitgliedern bestand. Zu Beginn des Auf-stands hatten sich in Städten und GemeindenÜbergangsräte mit lokalen Autoritäten gemel-

det, aus denen jeweils ein Repräsentant inden neu eingerichteten NÜR nach Benghasientsandt wurde. Der NÜR entwickelte sichschnell zur „Stimme des neuen Libyens“,seine Mitglieder gelten als Gesichter desWandels und personifizierte Hoffnungen aufdie Ablösung al-Gaddafis. Innerhalb kürzes-ter Zeit gewann der NÜR innen- und außen-politischen Einfluss, legitimierte sich alseinzige politische Alternative für die Zeit nachal-Gaddafi, handelte als Quasi-Regierung des„befreiten Libyen“ und organisierte den militä-rischen Widerstand. Dabei verdeutlichte er,welche Prämissen er verfolgt und wie ein Li-byen ohne al-Gaddafi aussehen müsse: Ineiner Erklärung des NÜR mit dem Titel „Visioneines demokratischen Libyen“ vom 29. März2011 forderte er die Überwindung der „dun-klen Tage der Diktatur“ durch Dialog, Tole-ranz, Zusammenarbeit, nationale Einheit undder aktiven Partizipation aller libyschenStaatsbürger. Die Regierung solle den freienWillen aller Libyer repräsentieren und demo-kratisch legitimiert werden. So solle ein Ge-sellschaftsvertrag geschaffen werden, der zueiner Zivilgesellschaft führe, die politischenund intellektuellen Pluralismus fördert undunterstützt. Grundlage dieses Gesellschafts-vertrags müsse eine Verfassung sein, überwelche mithilfe eines Referendums abge-stimmt werde. Darin sollen grundlegendeRechte wie die Bildung von Parteien und Ge-werkschaften, die Garantie des Wahlrechts,Presse- und Versammlungsfreiheit, starkewirtschaftliche Institutionen zur Bekämpfungvon Korruption, Arbeitslosigkeit und Armut, dieStärkung des Privatsektors, immense Inves-titionen in den Bildungs- und Forschungssek-tor, die Gleichstellung der Frau, dieAblehnung von Extremismus, Intoleranz undDiskriminierung sowie die Achtung der Men-schenrechte und des Völkerrechts verankertwerden. In den Wirren der unübersichtlichen

13 Die beiden einflussreichsten islamistischen Gruppierungen in Libyen sind die Libyan Islamic Group, derlibysche Arm der Muslimbruderschaft, der in Libyen verfolgt wurde. In den 1950er Jahren gewährte König Idris I. einigen aus Ägypten geflohenen Muslimbrüdern Schutz vor der Verfolgung durch Nasser. Al- Gad-dafi ging vehement gegen die Muslimbruderschaft vor, ließ 1998 152 Mitglieder verhaften, darunter auchder Führer und sein Stellvertreter. Beide wurden 2002 hingerichtet. 37 Mitglieder wurden zu lebenslan-gen Haftstrafen verurteilt. Saif al-Islam ließ 2006 dann 80 führende Mitglieder frei. Die zweite Gruppe,die Libyan Islamic Fighting Group (arabisch: al-Jama’a al-Islamiyya al-Muqatila fi Libya, LIFG) hat seineWurzeln in den 1970er und 1980er Jahren. Viele ihrer Mitglieder kämpften in den 1980er Jahren in Af-ghanistan gegen die Sowjetunion. Zurückgekehrte Veteranen gründeten in den 1990er Jahren dann dieLIFG. Sie wurden fast zerschlagen, viele Mitglieder flohen ins Exil nach Großbritannien oder auch nachAfghanistan, nachdem dort die Taliban die Macht übernommen hatten. Nach dem Sturz der Taliban 2001kehrten viele nach Libyen zurück, woraufhin Saif al-Islam 2007 einResozialisierungsprogramm initiierte,die Gruppe der Gewalt abschwor und daraufhin viele Mitglieder aus der Haft entlassen wurden.

14 Am 12. April 2011 unterzeichnen 61 Stammesführer eine Erklärung, in der sie sich vehement von al-Gad-dafi distanzieren und sich für ein freies, geeintes und demokratisches Libyen aussprechen. Mitunter-zeichner waren auch Vertreter des Warfalla-Stammes. So heißt es in der Erklärung: „Das Libyen vonmorgen, wird, wenn der Diktator weg ist, ein geeintes Libyen sein mit Tripolis als seiner Hauptstadt".

Page 47: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut 46

Situation in Benghasi gebildet, konnte derNÜR schnell seinen Einfluss sichern und aus-bauen. Seinen Mitgliedern gelang es, sich alsernstzunehmendes, seriöses demokratischesGegengewicht zu al-Gaddafi zu gerieren. Erwurde zur einzigen Alternative eines einiger-maßen geordneten Wiederaufbaus nach demSturz al-Gaddafis.

Die bekannten Mitglieder des NÜR sind re-nommierte Akteure der libyschen Gesell-schaft, darunter übergelaufene Diplomaten,ehemalige Regierungsangehörige, langjäh-rige Oppositionelle, Juristen sowie Angehöri-gen des Königshauses.15 Ihre regionaleHerkunft ist der Osten und Nordwesten desLandes. Auch sollen einige Mitglieder ausdem Fezzan stammen, was aus Sicherheits-gründen allerdings bislang nicht bestätigtwurde.

Als Vorsitzender des NÜR ist Mustafa Abd al-Jalil, der 1952 im östlichen al-Bayda geborenwurde und bis 1975 an der Libyschen Univer-sität Jura studiert hatte, wichtigster Akteur derAufständischen. Danach arbeitete er als Rich-ter und Staatsanwalt. Ihm gelang es, die Zieleder libyschen Übergangsregierung, ihr Stre-ben nach Demokratie und Umsturz, authen-tisch und nachhaltig zu repräsentieren,obwohl er erst am 21. Februar 2011 überge-laufen und integraler Bestandteil des Gaddafi-Systems war: Immerhin hatte er ab 2007 alslibyscher Justizminister unter al-Gaddafi ge-arbeitet, sich aber bereits zu jener Zeit als mu-tiger Kritiker des Regimes gezeigt, indem erdie Entlassung von Gefangenen forderte, dietrotz abgelaufener Haftstrafe inhaftiert blie-ben. Ebenso wie sein Stellvertreter Ghoga en-gagierte er sich für die Aufklärung desGefängnismassakers in Abu Salim von 1996.In diesem Zusammenhang hatte er bereits imMärz 2010 seinen Rücktritt angeboten, wasal-Gaddafi abgelehnt hatte. Er forderte Ent-schädigungszahlungen, machte auf allge-meine Missstände aufmerksam und kritisierteimmer wieder al-Gaddafi. Seit seiner Deser-tion stieg er schnell zum einflussreichsten Ak-teur des NÜR auf, vertrat die Interessen der

Opposition in der Öffentlichkeit und erwarbsich nicht nur im Inland, sondern auch imwestlichen und arabischen Ausland einenguten Namen.

Zweitwichtigster Akteur des Nationalen Über-gangsrat ist der Vorsitzende des Exekutivra-tes Mahmud Jibril. Der Exekutivrat wurde alsQuasi-Regierung eingerichtet, sodass Jibrilseit seiner Ernennung am 23. März 2011 auchimmer wieder als Regierungschef der Über-gangsregierung bezeichnet wurde. Währendsich Jalil aufgrund seiner mangelhaften Eng-lischkenntnisse eher innenpolitisch und re-gional engagiert, wurde Jibril schnell zur„Stimme für den Westen“. Als Vorsitzenderdes Exekutivrates und damit Quasi-Regie-rungschef gelang es Mahmud Jibril mit Jalileine schlagkräftige und international akzep-tierte Doppelspitze zu bilden. Jibril gilt als re-nommierter Finanzfachmann, verfügt er dochüber einen Abschluss an der Cairo Universityin Wirtschaft und Politik aus dem Jahr 1975.Er promovierte zehn Jahre später in Pitts-burgh, erwarb sich den Ruf eines exzellenten,kenntnisreichen Wirtschaftsanalytikers undkosmopolitischen, rhetorisch gewandtenBuchautors und betätigte sich in der Mana-gerausbildung für die Region des Nahen undMittleren Ostens. Erst Saif al-Islam holte Jibrilnach Libyen zurück. Er sollte die marodeStaatswirtschaft reformieren, den vorsichtigenWeg der wirtschaftlichen Liberalisierung be-schreiten und die Privatisierung vorantreiben.Jibril wurde 2007 Vorsitzender des Nationa-len Wirtschaftsentwicklungsrates, spürte aberschnell die limitierten Optionen seines Han-delns und den Widerstand seitens des Regi-mes. 2010 erfolgte dann der Bruch mitGaddafi.

IV. Auswirkungen des „Arabischen Früh-lings“

Es folgte ein unübersichtliches Gewirr anSchlachten, militärischen Scharmützeln, Ge-ländegewinnen der Rebellen und Niederlagengegen das Regime, das hier nicht im Detaildargestellt werden soll. In einer ersten Phase

15 Darunter ist z. B. mit Ahmed al-Senussi (geb. 1933) ein Nachkomme König Idris’ I. Auch er stand in lang-jähriger Opposition zu al-Gaddafi, plante 1970 einen Putschversuch und saß 18 Jahre im Gefängnis, eheer 2001 begnadigt wurde. Weitere Mitglieder des Exekutivrates sind u.a. der ehemalige Botschafter inIndien und jetzt zuständig für außenpolitische Angelegenheiten, Ali Abd al-Aziz al-Issawi (geb. 1966), deram 23. März 2011 desertierte, nachdem er seit 2006 als Wirtschaftsminister gearbeitet hatte, Omar al-Hariri, verantwortlich für Streitkräfte und Sicherheit und ehemaliger Haftgenosse von al-Senussi, der 1975einen Putschversuch gegen Gaddafi gewagt hatte, obwohl er ihn während des Staatsstreichs 1969 nochunterstützt hatte, oder Ali Tarhoumi (geb. 1951), bis zum 8. August 2011 verantwortlich für Finanzen, Wirt-schaft und Öl, der im Februar aus den USA zurückkehrte, wo er seit 1983 als renommierter Wirtschafts-professor an der University of Washington in Seattle und an der Michael G. Foster School of Businesslehrte. Ebenfalls aktiv im NÜR ist der bereits erwähnte Anwalt Fathi Tarbel, der um Repräsentanten derJugend benannt wurde.

Page 48: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut47

der militärischen Auseinandersetzung schienes, als sei die Rebellion zum Scheitern verur-teilt, als stünde Benghasi schnell wieder unterder Kontrolle der Gaddafi-Truppen. Immerhinverfügten diese über weit bessere personelleund technische Ausrüstung und die größeremilitärische Erfahrung. Die Lage in und umBenghasi spitzte sich bis Anfang März 2011dramatisch zu: Die Armee al-Gaddafis flogerste Luftangriffe auf den Osten des Landes.Bereits am 25. Februar 2011 hatten die USASanktionen gegen das Gaddafi-Regime ver-hängt, am 28. Februar folgte die EU16 und be-gann am 11. März 2011, die Konten vonAngehörigen der Gaddafi-Führung in Europaeinzufrieren. Am 26. Februar 2011 erließ derSicherheitsrat der Vereinten Nationen die Re-solution 1970, in der erste restriktive Maß-nahmen gegen Personen undOrganisationen, die an den Menschenrechts-verletzungen beteiligt waren, beschlossenwurden. Die Lage blieb weiterhin undurch-sichtig, während die Gewalt gegen Zivilistenvon Seiten des Regimes täglich zunahm. Am5. März 2011 forderte der NÜR beim UN-Si-cherheitsrat die Einrichtung einer Flugver-botszone, um die Luftangriffe gegen libyscheZivilisten zu unterbinden, welche am 17. März2011 durch den UN-Sicherheitsrat beschlos-sen wurde. Ziel der Resolution 1973 ist es,„alle notwendigen Maßnahmen zum Schutzder Zivilbevölkerung“ zu ergreifen, indem ein„unverzüglicher Waffenstillstand“ durchge-setzt wird. Ein Regimewechsel und der expli-zite Sturz al-Gaddafis sind keineausdrücklichen Inhalte des Resolutionstextes.Ebenso wenig wird der Einsatz von Bodent-ruppen in Betracht gezogen – ein Umstand,der damals bei vielen Beobachtern Unver-ständnis hervorrief. So wurde an die Erfah-rungen im Irak erinnert, wo Bodentruppenunerlässlich gewesen waren und dennochkein erfolgreiches Vorgehen der Besatzungs-truppen erreichen konnten. Im März wurde diegeplante Flugverbotszone von einigen Akteu-

ren aus Politik und Wissenschaft als halbher-ziges Vorgehen gewertet, das zwar einerseitsden Willen nach politischem Wandel in Libyenzeige, andererseits aber aufgrund mangeln-der finanzieller und logistischer Kapazitätenumfassendere Unterstützung der Rebellenausschließe. Hinzu fühlten sich die beteiligtenNATO-Länder immer wieder der Kritik ausge-setzt, keine langfristige, nachhaltige Strategiefür den Einsatz zu präsentieren, was als „blin-der Aktionismus“ und „übereiltes Vorgehen“gewertet wurde. Auf der anderen Seite wurdeargumentiert, der Einsatz von Bodentruppenwäre kontraproduktiv, weil eine erneute Inva-sion einer westlichen Allianz in einem isla-misch geprägten Land nach Afghanistan undIrak zu harter Kritik in der islamischen Weltführen und als neoimperialistischer, auf dasÖl konzentrierter Markteroberungsfeldzug be-zeichnet werden könnte.17

Bei der Abstimmung enthielt sich neben In-dien, China, Russland und Brasilien auchDeutschland als nichtständiges Mitglied desUN-Sicherheitsrates18, was zu einer heftigeninnen- und außenpolitischen Debatte um dieRolle Deutschlands in der internationalen Ge-meinschaft, seine Verantwortung in militäri-schen Auseinandersetzungen und seinVerhältnis zu traditionellen Bündnispartnernwie den USA oder Großbritannien führte. Am19. März 2011 begann der militärische Ein-satz der NATO-Alliierten Frankreich, USA undGroßbritannien. Grundlage der Resolutionwurde die seit 2005 bestehende völkerrecht-liche Argumentation der so genannten„Schutzverantwortung“ (responsibility to pro-tect, R2P), die der UN ein Interventionsrechtzubilligt, wenn ein Staat nicht fähig oder wil-lens ist, seine Bevölkerung vor Genozid, eth-nischer Säuberung, Verletzungen deshumanitären Völkerrechts oder Menschen-rechtsverletzungen zu schützen. Insbesondere Frankreich und Großbritannientrieben den militärischen Einsatz gegen den

16 Siehe Beschluss 2011/137/GASP des Rates, in dem die EU ihre „ernste Besorgnis“ über die Ereignissein Libyen ausdrückte. Das Vorgehen gegen Zivilisten wurde „scharf verurteilt“ und das „repressive Vor-gehen gegen Demonstranten missbilligt“. So wurde untersagt, unmittelbar militärische Ausrüstung, Per-sonal und Ausbildungsmaßnahmen dem Gaddafi-Regime und seinen Verbündeten zur Verfügung zustellen. Erste Sanktionen wurden u. a. gegen die Familie Gaddafi, den damaligen GeheimdienstchefOberst Abdullah al-Senussi oder Oberst Ma’sud Abd al-Hafiz, dritter Befehlshaber der Streitkräfte, ver-hängt.

17 In diesem Zusammenhang wurde auch zunehmend Kritik an der ambivalenten Vorgehensweise der inter-nationalen Gemeinschaft im Umgang mit repressiven Regimes in der Region laut: Während in Libyenein militärischer Einsatz legitim sei, werde bei ähnlichen Voraussetzungen ein ähnliches Vorgehen in Sy-rien nicht in Betracht gezogen. Auch hier richte sich ein repressives Regime gegen die Zivilbevölkerung,auch hier käme es zu Toten und Verletzten. Doch die Erwägung eines militärischen Einsatzes bleibe ausgeostrategischen und Sicherheitsaspekten aus, was als Messen mit zweierlei Maß gewertet werdenkönne, so Kritiker.

18 Die USA, Großbritannien, Frankreich, Bosnien und Herzegowina, Kolumbien, Gabun, Libanon, Nigeria,Portugal und Südafrika stimmten der Resolution zu.

Page 49: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut 48

Willen Deutschlands voran: Der französischePräsident Nicolas Sarkozy erhoffte sich da-durch vor allem die Rückgewinnung voninnenpolitischem Renommee, nachdem ernoch kurz vor dessen Sturz den tunesischenPräsidenten Zine el-Din Ben Ali mit französi-schen Sicherheitskräften gegen die Demon-stranten unterstützen wollte, was seinemImage deutlich geschadet hatte. Insgesamtflogen die NATO-Truppen über 20.000 Ein-sätze gegen strategische und militärischeZiele des Gaddafi-Regimes, konnten so dieRückeroberung Benghasis aufhalten, die li-bysche Flugabwehr ausschalten und den Re-bellen am Boden so entscheidendeUnterstützung gewähren. Trotzdem musstendie Rebellen gravierende Rückschläge hin-nehmen: Ostlibysche Küstenstädte wieBrega, Ras Lanuf oder Ajdabiya konnten vonden Gaddafi-Truppen zurückerobert werden,im März wurde Benghasi belagert, in Tripoliskamen Heckenschützen zum Einsatz und zu-nehmend sollten 3.000-4.000 Söldner ausafrikanischen Nachbarländern wie Mali oderNiger rekrutiert worden sein, was allerdingsvor allem im Hinblick auf Umfang und Aus-rüstung lange umstritten blieb. So zeichnetesich in der zweiten Phase des Krieges einlang andauernder, zermürbender Stellungs-krieg insbesondere um strategisch wichtigeStädte wie Brega ab. In dieser Phase wurdejedoch auch deutlich, dass es dem NÜR ge-lungen war, sich im Osten des Landes als dieStimme des Aufstands zu profilieren und zuetablieren. Was folgte, war die Anerkennungdes NÜR als legitime Vertretung des liby-schen Volkes durch viele Staaten der interna-tionalen Gemeinschaft. Während Frankreichbereits am 10. März 2011 die Legitimität desNÜR akzeptiert hatte, folgten auch viele ara-bische Länder wie Katar (28. März), Jorda-nien (24. Mai), Tunesien (21. August),Ägypten (22. August), Bahrain, Irak undOman am 23. August 2011. Bereits deutlichfrüher hatten sich viele europäische Länderwie Großbritannien im März, Italien im April,Spanien im Juni und die Türkei im Juli für dieAnerkennung des NÜR ausgesprochen. DieUSA hatten bereits im März 2011 erste Ge-spräche mit dem NÜR aufgenommen,Deutschland anerkannte den NÜR am 13.Juni 2011 als einzige legitime Vertretung deslibyschen Volkes. Die militärische Situationblieb verworren und wirkte sich immer nega-tiver auf die Zivilbevölkerung aus. Es schien,dass es den NATO-Alliierten und den Rebel-len nicht gelingen sollte, die Gaddafi-Truppen

entscheidend zurückzuschlagen. Trotz aus-geweiteter Sanktionen wurde das Regimeüber den Landweg aus Tunesien und zum Teilauch über den Seeweg mit Waffen und tech-nischer Ausrüstung versorgt. Muammar al-Gaddafi und Saif al-Islam demonstrierten beiihren öffentlichen Auftritten Stärke, verun-glimpften die Rebellen und wichen auch ver-bal nicht zurück. Es blieb umstritten, über wieviele finanzielle Reserven der Gaddafi-Clannoch verfügen konnte, waren doch seine aus-ländischen Gelder mittlerweile eingefrorenworden. Dennoch beliefen sich die Kalkula-tionen auf fast 150 Tonnen Gold im Wert von6,5 Mrd. USD. Hinzu kämen mehrere Milliar-den Dollar harter Bargeldbestände, die dieFamilie Gaddafi auch durch die Begünstigungbei Wirtschaftsverträgen angehäuft habe. Sowird vermutet, dass Gaddafis Clan direkt 60%aller projektbezogenen Einnahmen erhaltenhaben solle.

Hinzu häuften sich erste Meldungen und Au-genzeugenberichte, die davon berichteten,dass es auch auf Seiten der Rebellen zu Ge-walttaten an der Zivilbevölkerung gekommensei, was erneut die Frage aufwarf, inwieweitder NÜR im speziellen und die Rebellen imallgemeinen als vertrauenswürdiger, nachhal-tig agierender change agent gelten konnten.Immerhin hatte die Mehrheit der NÜR-Mitglie-der in der Vergangenheit mit al-Gaddafi ko-operiert, war es Teil der politischen Elitegewesen und einige desertierten erst später.

Hinzu kamen Spannungen und Interessens-konflikte innerhalb der Rebellen. So erschüt-terte der Mord an Abdul Fattah Younis, demmilitärischen Oberbefehlshaber des NÜR undrenommierter früherer Generalmajor, am 28.Juli 2011 das Bild der Rebellen als einig agie-rende Interessensgemeinschaft und ließ of-fensichtliche ideologisch-politische Gräbenzutage treten. Younis galt als erfahrener Mili-tär; so hatte er in den 1970er und 1980er Jah-ren in den Kriegen gegen Ägypten und denTschad gekämpft. 1969 unterstützte er al-Gaddafi bei seinem Putsch, diente ab 2009als Innenminister und galt lange Zeit als loyalgegenüber dem Regime. Am 22. Februar2011 desertierte er und errang schnell eineexponierte Position auf Seiten der Rebellen.Umstritten blieb er jedoch bis zu seinem Tod:Aufgrund seiner angeblich engen Verbindun-gen zur Familie al-Gaddafis sollte er an sei-nem Todestag in Benghasi zu einer Anhörunggeladen werden, gleichzeitig stieß er bei isla-

Page 50: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut49

mistischen Akteuren innerhalb der Rebellenauf Abneigung, da er während seiner Zeit alsInnenminister Islamisten verfolgen und inhaf-tieren ließ. Während der NÜR verkündete,Younis sei von Gaddafi-Getreuen getötet wor-den, streute die Gegenseite das Gerücht, ersei aus den eigenen Reihen bzw. von militan-ten Al-Qaida-Aktivisten ermordet worden, daer als Doppelagent verdächtigt worden sei.Die genauen Hintergründe sind bislang unge-klärt, dennoch zeigt der Tod Younis’, dass dieAufstandsbewegung zu keinem Zeitpunkt alsmonolithischer Block gesehen werden sollte,sondern als Akteure mit diversen Partikularin-teressen, die zuerst einmal nur das Ziel, al-Gaddafi zu stürzen, einte.

Im Hinblick auf den möglichen islamistischenEinfluss in einem „neuen“ Libyen bleibt vorallem die Rolle von Abdel Hakim Belhaj (geb.1966) nebulös. Der jetzige Militärchef in Tri-polis gilt als Gründer der militanten islamisti-schen Libyan Islamic Fighting Group (LIFG),die von den USA als terroristische Vereini-gung mit Verbindungen zu Al-Qaida eingestuftwurde. Er verschrieb sich Kampf gegen al-Gaddafis Regime, musste dann 1988 Libyenverlassen, ging nach Saudi-Arabien undführte danach den jihad in Afghanistan gegendie sowjetischen Truppen. Die LIFG unterhieltin Afghanistan Ausbildungslager für Jihadis-ten. Belhaj selbst verließ Afghanistan 1992,hielt sich in Pakistan, der Türkei und demSudan auf und ging wie viele seiner Lands-leute in den Irak. Nachdem er 2004 von derCIA in Bangkok (Thailand) gemeinsam mitseiner damals schwangeren Ehefrau inhaftiertund gefoltert worden sein soll, saß er sechsJahre bis März 2010 im Abu-Salim-Gefängnis in Libyen, aus dem er auf InitiativeSaif al-Islams mit 214 anderen politischen Ge-fangenen entlassen wurde, nachdem er derGewalt abgeschworen hatte. Jalil soll bei denVerhandlungen anwesend gewesen sein.Mittlerweile gibt sich Belhaj als geläutert undenger Verbündeter der NATO und den USA.Er verneint, jemals mit Al-Qaida auf ideologi-scher oder operationeller Ebene kooperiert zuhaben oder einen islamischen Gottesstaat inLibyen errichten zu wollen. Stattdessen sei eraufgrund des pazifistischen Transformations-prozesses der LIFG in Konflikt mit Al-Qaidageraten. Außerdem plane er, ehemalige LIFG-Kämpfer in den Militär- und Polizeidienst zuintegrieren und strebe nach einer freien,rechtsstaatlichen Gesellschaft. Die schlechteBehandlung durch die CIA habe er zwar nicht

vergessen, er könne aber verzeihen und hegekeine Rachegedanken, so Belhaj. Währenddes Aufstands erlangte er erst in den letztenWochen einen gewissen Einfluss, ohne dasser entscheidenden Anteil am Erfolg der Re-bellen gehabt haben soll. Erst beim Sturm aufal-Gaddafis Hauptquartier Bab al-Aziziya inTripolis konnten sich er und seine Männer alsdisziplinierte Kämpfer auszeichnen. Immerhinverfügte er, im Gegensatz zu den meistenFreiwilligenkämpfern, über militärische Erfah-rung aus seiner Zeit in Afghanistan. Weiterhinkursieren Vermutungen, die davon ausgehen,Belhaj habe diese exponierte Position erhal-ten, damit er direkt kontrolliert werden könne.

Es bleibt demnach abzuwarten, wie diese ver-schiedenen Strömungen und Handlungsmo-tivationen in Zukunft ausgeglichen werdenkönnen und ob sie bei Macht- und Vertei-lungsfragen wieder offen zutage treten. Ab-gewartet werden muss auch, wie sichumstrittene Akteure wie Belhaj innerhalb derneuen Regierung verhalten werden und wiedie westlichen Verbündeten auf den Perspek-tivenwechsel eines angeblichen Jihadisten zueinem militärischen Anführer auf Seiten der„Befreier“ reagieren werden. Und so personi-fiziert Belhaj das von al-Gaddafi immer wie-der gern herauf beschworene und vomWesten gefürchtete mögliche Schreckensze-nario des militant-islamistischen Einflusses inLibyen. So hat die US-Regierung schon ihreSkepsis gegenüber islamistischen Einflüssenbeim NÜR verdeutlicht.

In der dritten Phase des Aufstands gelang esden Rebellen zusehends, ihren Einflussbe-reich auszuweiten und sich der HauptstadtTripolis zu nähern. Im Mai 2011 eroberten dieAufständischen Misarata, im August dannBrega. Es folgte der Sturm auf die HauptstadtTripolis, der am 20. August 2011 begann. DieOperation verlief offenbar gut koordiniert undseit mehreren Wochen vorbereitet. So eröff-neten die Rebellen im August eine neue Frontaus den Nafusa-Bergen, während nach derEroberung der nur 50 Kilometer von Tripolisentfernten Hafenstadt az-Zawiya durch ber-berische Truppen die Versorgungsroute desRegimes nach Tunesien abgeschnitten wer-den konnte, was eine erhebliche Schwächungal-Gaddafis bedeutete. Ziel der Rebellen wares seit Beginn der Auseinandersetzungen ge-wesen, eine Revolte gegen al-Gaddafi ausden Reihen der tripolitanischen Bevölkerungzu initiieren. Dieses Unterfangen hatte sich

Page 51: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut 50

bisher als erfolglos erwiesen, sei es aus Angstder Bevölkerung, al-Gaddafi könne sich brutalan ihnen rächen, sei es aus Eigeninteressen,da insbesondere in Tripolis viele Günstlingedes Gaddafi-Regimes lebten und den Verlustihres wirtschaftlichen und politischen Einflus-ses fürchteten. Doch der anwachsende Erfolgder Rebellen und die näher rückende Frontführten dazu, dass sich immer mehr Einwoh-ner Tripolis’ zu den Rebellen bekannten undden Sturm auf die Stadt unterstützten. Daspsychologische Moment verschob sich nunzusehends zugunsten der Rebellen; insbe-sondere für eine Freiwilligenarmee, die mitmehr Enthusiasmus und Mut als strategischerPlanung und professioneller Planung agierthatte, bedeutete dieses psychologisch-emo-tionale Hoch sicherlich noch einmal einen An-reiz, die Hauptstadt des Feindes zu erobern.

Mithilfe der NATO gelang es den unter-schiedlichen Milizen der Rebellen, von Ostenund Süden nach Tripolis einzudringen und dieResidenz al-Gaddafis, Bab al-Azaziya, einzu-nehmen. In unübersichtlichen Stunden er-oberten die Rebellen Straße für Straße,lieferten sich Gefechte mit Regierungstruppenin Tajura und um den Flughafen Migati. Hoch-rechnungen gehen von etwa 2.000 Toten aus,während im gesamten Krieg bislang etwa50.000 Menschen ums Leben gekommensein sollen. Erste Meldungen, die Söhne Saifal-Islam und Saadi seien verhaftet worden, er-wiesen sich jedoch als unwahr. So gelang esSaif al-Islam, trotz der chaotischen Zuständeund Berichte über einen schnellen Sieg derRebellen, sich vor dem Luxushotel Rixos dendort ansässigen Journalisten zu präsentieren.Er versicherte, die Situation sei unter Kon-trolle, seine Truppen behielten die Oberhandin der Stadt. Bisher konnte nicht aufgeklärtwerden, ob Saif al-Islam von Rebellen gefan-gen genommen worden war und wenn, wie erentkommen konnte. Vermutet wurde, er habemit den Rebellen einen Deal geschlossen,indem er Informationen über den Aufenthalts-ort seines Vaters preisgab. Andere Annahmenspekulierten, er habe seine Bewacher beste-chen können oder sei befreit worden. Einigesdeutet darauf hin, dass die misslungenen Ver-haftungen und die irreführende Öffentlich-keitsarbeit auf Spannungen innerhalb derRebellentruppen zurückzuführen sein könn-ten. So äußerten sich Rebellen westlicher Mi-

lizen enttäuscht über die mangelnde Unter-stützung seitens des NÜR, der zu weniggetan hätte, um die westlichen Rebellen in dieKampfverbände zu integrieren. Zwar sei einMasterplan zur Eroberung der Hauptstadt imOsten entwickelt worden, die lokalen Detailsseien aber von Rebellen aus dem Westen er-arbeitet worden. So könne auch eine mögli-che Freilassung Saif al-Islams auf diesefraktionellen Spaltungen hindeuten: Währenderste Pläne kursierten, den Gaddafi-Sohn anden Internationalen Strafgerichtshof zu über-stellen, forderten viele Rebellen eine Ge-richtsverhandlung in Libyen. Diese Dis-sonanzen können dazu geführt haben, dassSaif al-Islam durch das Wohlwollen einigerRebellen wieder freikam.

Der Aufenthaltsort von Muammar al-Gaddafiund einem Teil seiner Söhne blieb zum Zeit-punkt der Fertigstellung dieses Artikels unbe-kannt, während sich seine Ehefrau Safia, dieSöhne Hannibal und Mohammad sowie Gad-dafis Tochter Aisha in algerisches Exil bega-ben, was dem algerischen Regime umPräsident Abdulaziz Bouteflika harte interna-tionale Kritik einbrachte.19 Dies zeigt, dasstrotz der militärischen Niederlage des Regi-mes Gaddafi selbst immer noch über eine un-bekannte Anzahl von Unterstützern verfügt,die ihn schützen und denen er offenbar ver-traut. So bleibt Anfang September 2011 dieZukunft Gaddafis ungewiss, seine Zeit als ein-flussreichster Machtakteur Libyens ist jedochvorüber.

Zwar bleibt die Festnahme al-Gaddafis undseiner Familie ein wesentliches Ansinnen fürdie siegreichen Rebellen, spielt allerdings re-alpolitisch mehr eine symbolische denn einesicherheitsstabilierende Rolle. Der politischeÜbergangsprozess ohne al-Gaddafi ist längsteingeleitet worden und bestimmt die politi-sche Realität des NÜR. Dass eine Festnahmeal-Gaddafis diesen Übergangs- und Stabili-sierungsprozess beschleunigen würde, istzwar unumstritten. Dass der ehemaligeMachthaber den Transitionsprozess jedochmittelfristig aufhalten kann, scheint sehr un-realistisch zu sein. De facto haben die Rebel-len die politische und militärische Macht inGesamtlibyen übernommen und müssen nundie immensen Herausforderungen meistern,die sich aus der erfolgreichen „Stunde Null“

19 So bezeichnete Bouteflika die Aufnahme Gaddafis Familienangehöriger aus „humanitären Gründen“ alsnotwendig, wodurch sich die libysch-algerischen Beziehungen verschlechterten. Grund für die Aufnahmevon Teilen der Gaddafi-Familie könnten innenpolitische Erwägungen sein, indem Bouteflika seiner Be-völkerung verdeutlichen möchte, dass Umstürze wie in Tunesien, Ägypten oder Libyen in Algerien nichtrealistisch seien und er nach wie vor nicht zu gravierenden Reformen bereit sei.

Page 52: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut51

ergeben.

V. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure

Vor einem halben Jahr war es jedoch als äu-ßert unrealistisch erachtet worden, dass Li-byen vor seiner „Stunde Null“ stünde undal-Gaddafis Herrschaft sich dem Ende zu-neige. Zu stabil, zu abgesichert, zu konsoli-diert, zu repressiv wirkte das „Systemal-Gaddafi“ auf außen stehende Beobachter.Scheinbar glaubte auch der „Bruder Führer“an die automatische Permanenz seines Sys-tems. Seit 42 Jahren an der Macht, empfander Libyen nicht mehr allein als „sein Land“,sondern vielmehr als „sein Eigentum“. Er be-stimmte, richtete, verwaltete und organisierte,er unterdrückte, verfolgte und ermordete –kurzum: Eine Änderung dieses Status quo be-fand sich nicht nur für ihn offenbar außerhalbjeglicher Vorstellungskraft. Hinzu kam die Er-fahrung, aus vielfachen Konflikten mit innerenund äußeren Kritikern und Feinden siegreichhervorgegangen zu sein und die Gewissheit,sich als außerordentlich resistent und wider-standsfähig bewiesen zu haben. Demzufolgeschien es, als seien die Demonstrationen imOsten des Landes im Februar eine kurze Epi-sode des haltlosen Widerstands. Zwar beob-achtete das Regime die Entwicklungen in denNachbarländern Ägypten und Tunesien mitäußerstem Argwohn, ein dynamischer Wel-leneffekt auf die libysche Gesellschaft wurdejedoch auch von externen Beobachtern aus-geschlossen. Immerhin verfüge das Landüber immense Ölreserven und keinerlei zivil-gesellschaftliche Akteure sowie keine innen-politisch organisierte Opposition, könne imGegensatz zu den TransformationsländernTunesien und Ägypten Wohlstand verteilen,werde von heterogenen und diametral agie-renden Stämmen dominiert und sei von derAußenwelt weitgehend isoliert. Dies solltesich als Irrtum erweisen.

Al-Gaddafi verbot zu Beginn der Aufständekooptierten Stämmen, sich an den Demon-strationen zu beteiligen. Gleichzeitig präsen-tierte er sich als großzügiger,verständnisvoller Regent, suchte persönlicheGespräche bei mehreren Propagandareisenin ländliche Gebiete, kündigte Wirtschaftsre-formen und Gehaltserhöhungen an. Doch dieWirkung tendierte gen null: Weder nahmen

die Proteste ab, noch gelang es al-Gaddafimit dieser in der Vergangenheit häufig prakti-zierten Politik, das Vertrauen der Bevölkerungzu gewinnen. Die Entwicklungen im Februar2011, die Vehemenz der Aufstandsbewegungund die ausgreifenden Forderungen ließendie repressive Gewalt des Regimes drama-tisch ansteigen: Moderate Lösungen wurdenersetzt durch Gewalt gegen Demonstrantenund die Blockade von Internet- und Telefon-verbindungen. Ausländische Journalistenwurden unter Druck gesetzt, Regimekritikerinhaftiert.20 Die Propaganda des Regimesmachte „ausländische Invasoren“, „Terroris-ten“ und „den Westen“ für die Unruhen ver-antwortlich. Am 22. Februar verunglimpfteal-Gaddafi in seiner ersten Fernsehansprachedie Demonstranten als „Ratten“, „Kakerlaken“und „Drogenabhängige“. Al-Qaida habe denAufständischen Halluzinogene verabreicht.Ähnlich hatte sich bereits Saif al-Islam zweiTage zuvor geäußert, indem der zuvor als Re-former eingeschätzte Sohn al-Gaddafis in ag-gressiver Wortwahl den Zerfall Libyens, einedauerhafte Rezession und die Rückkehr desKolonialismus prophezeit. Was folgte, war dieAusweitung der Gewalt mit dem Ziel, den Auf-stand brutal und rücksichtslos niederzuschla-gen. So häuften sich ab März die Berichteüber Vergewaltigungen, Angriffe auf Kranken-häuser, Zerstörung von Blutbanken und Ein-satz von Scharfschützen ebenso wieMeldungen über die Rekrutierung von afrika-nischen Söldnern aus den südlichen Nach-barländern Sudan, Nigeria, Mali, Tschad undKenia. So berichteten Malier Tuareg, ihnensei eine Einmalzahlung von 7.500 EUR undein Tagessold von 750 EUR angeboten wor-den, wenn man für al-Gaddafi kämpfenwürde. Ähnliches berichteten Ghanaer, dieein Tagessold von 1.950 EUR angaben. Auchsollen Söldner aus Serbien und Weißrusslandfür al-Gaddafi gekämpft haben. Eine unab-hängige Bestätigung dieser Berichte steht bis-her noch aus. Befürchtet wurde auch derEinsatz von chemischen Kampfstoffen wieSenfgas und biologischen Waffen, über die al-Gaddafi angeblich verfügen sollte. Die An-kündigung, bei einem Angriff auf Tripolis diegesamte Hauptstadt vollständig zu vernich-ten, schürte solche Ängste, blieb aberschließlich nur Polemik. Noch nach der Ein-nahme Tripolis äußerten sich al-Gaddafi undsein Sohn in Audiostellungnahmen, in denen

20 Sinnbildlich für die Staatswillkür wurde der Fall der libyschen Juristin Imam al-Obaidi, die sich am 27.März 2011 ausländische Journalisten im Luxushotel Rixos wandte, und berichtete, sie sei von al-GaddafisSoldaten inhaftiert, misshandelt und vergewaltigt worden. Vor laufenden Kameras wurde daraufhin dieFrau von libyschen Sicherheitskräften abgeführt und befand sich 72 Stunden in Haft. Später wurde ihr Geisteskrankheit, Alkoholsucht und Prostitution vorgeworfen.

Page 53: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut 52

sie den nahen Sieg prophezeiten oder dieAufständischen vor weiteren Blutbädernwarnten. Gleichzeitig deuteten sich Ende Au-gust 2011 erste gravierende Auflösungser-scheinungen der innerfamiliären Einheit an:So habe der Sohn Saadi mit dem NÜR überdie Bedingungen einer Kapitulation und de-mentsprechende Sicherheitsgarantien ver-handelt, berichtete der NÜR. Er wolle sichergeben, um weitere Todesopfer zu vermei-den. Allerdings konnten auch diese Berichtebislang nicht ratifiziert werden.

VI. Zukunftsszenarien

Libyen steht vor einer hoffnungsfrohen, aberauch ungewissen Zukunft. Der am Ende er-folgreiche Aufstand gegen das Regime vonMuammar al-Gaddafi hat den Willen nachWandel weiter Teile der libyschen Gesell-schaft gezeigt und die 42-jährige repressiveHerrschaft des „Bruder Führers“ beendet.Nun beginnt der Wiederaufbau, der sich wahr-scheinlich komplizierter gestalten dürfte alsder siegreiche Kampf gegen al-Gaddafi. Hier-bei können vor allem folgende Faktoren diefriedliche Konsolidierung und die Stabilisie-rung erschweren:

1. Die innere Heterogenität der Auf-ständischen: Wie bereits angesprochen,muss versucht werden, den historischenund traditionellen Gegensatz zwischenOst und West, zwischen Siegern und Be-siegten zu überwinden. Der teilweiseUmzug des NÜR von Benghasi nach Tri-polis kurz nach dem Fall der Hauptstadt istdahingehend ebenso ein wichtiges Sym-bol wie die versöhnenden und ausglei-chenden Äußerungen von Jalil und Jibril,auf Racheakte zu verzichten, die nationaleEinheit zu stärken und sich als „Brüder“wahrzunehmen. Dennoch könnte es beider Reintegration ehemaliger Gaddafi-Ge-treuen aus Politik, Wirtschaft und Verwal-tung zu enormen organisatorischen undauch psychologischen Problemen kom-men. Die Erfahrung aus dem Irak, nachdem Sturz Saddam Husseins 2003 ehe-malige Mitglieder der Baath-Partei gänz-lich aus dem Wiederaufbauprozessauszuschließen und die Armee aufzulö-sen, was zu einer Radikalisierung entwur-zelter Akteure und einem massivenAnstieg der Gewalt führte, ist für den NÜRWarnung genug. Es existieren Pläne, dass5.000 ehemalige Polizisten al-Gaddafis

übernommen werden sollen. So soll ver-mieden werden, dass ehemals einflussrei-che, nun marginalisierte Individuen undGruppen in den Untergrund gehen, sichradikalisieren und mit Gewalt den Wieder-aufbauprozess gefährden. Ob dies gelingt,hängt jedoch nicht an einer Rhetorik dernationalen Einheit und des Aussöhnungs-willens, sondern an pragmatischen Maß-nahmen, die über politische Partizipation,wie der Eingliederung von West-Libyern inden NÜR, über wirtschaftlichen Ausgleichbis hin zu rechtlicher Immunitätsgewäh-rung reichen könnten. Dass dies keine ein-fache Aufgabe werden wird, deutet sichbereits jetzt an.

2. Die Integration der Stämme: Viele ein-flussreiche Stämme zeigten sich in derVergangenheit als Unterstützer von al-Gaddafi und ließen sich bereitwillig koop-tieren. Im Verlauf des Aufstandeskündigten viele Stammesführer al-Gaddafidie Gefolgschaft und schlossen sich denAufständischen an. Doch diese Solidaritätund Loyalität muss immer wieder neu aus-gehandelt werden: Die Stämme sind keinenationalen Akteure, sondern verfolgen inder Regel gruppenspezifische Partikular-interessen, die im besten Fall mit denendes Staates und der Regierung kongruentverlaufen. Sollte dies nicht der Fall sein,könnten sich einflussreiche tribale Ge-meinschaften von den jetzigen politischenEntscheidern des NÜR abwenden und aufbessere politische Repräsentation, sozialeIntegration und wirtschaftliche Partizipa-tion drängen. Vor allem die Verteilung derStammesstimmen in einem neu zu kreie-renden Parlament, die Bedeutung derStämme in der neu zu schaffenden Ver-fassung und die Verteilung der Öleinnah-men könnten hier schnell zu heftigenAuseinandersetzungen führen. Wie bereitserwähnt, sind Stämme keine homogenenEinheiten, sodass Bedrohungen der Sta-bilität auch von Substämmen, Clans odereinzelnen Familien zu befürchten sind.Hierbei muss die Balance zwischen klugerVerteilung der Wirtschafts- und Machtres-sourcen und demokratischer Repräsenta-tion und Transparenz gelingen, um einAbdriften in überwunden geglaubte Koop-tions- und Patronagemuster sowie Kor-ruption und intransparente Strukturen zuvermeiden.

Page 54: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut53

3. Der Aufbau von Rechtsstaatlichkeit:Hier betritt das Post-Gaddafi-Libyen fastvölliges Neuland. 42 Jahre gab es wedereine Verfassung noch Wahlen oder rechts-staatliche Institutionen, die unabhängigund ohne Willkür Recht sprachen. Somüssen effiziente und transparente Struk-turen aufgebaut werden, denen es gelingt,eine Verfassung auszuarbeiten, Wahlenzu organisieren und vor allem gegenüberal-Gaddafi, seinen ehemaligen Getreuenund evtl. Familienangehörigen eine Ge-richtsbarkeit zu etablieren. Hier wird sichzeigen, wie sehr die neue libysche Regie-rung darauf drängen wird, Gerichtsverfah-ren gegen Angeklagte desGaddafi-Systems auf eigenem Boden um-setzen zu wollen und dies auch zu kön-nen. So liegen bislang Strafanzeigen u. a.gegen al-Gaddafi selbst und seinen SohnSaif al-Islam vom Internationalen Strafge-richtshof in Den Haag vor. Hier bleibt ab-zuwarten, ob der NÜR im Falle einerFestnahme die Angeklagten überstellenwürde.

In den sechs Monaten des Konflikts wur-den erste Pläne und Visionen für den Auf-bau eines rechtsstaatlichen, demo-kratischen Libyens formuliert, die nun indie Tat umgesetzt werden sollen. In Ko-operation mit internationalen Partnern wieder EU, den UN, den USA, Kanada oderder Türkei wurde der Transformationspro-zess zu einer Demokratie skizziert. So sollin 18 bis 20 Monaten der Übergang abge-schlossen sein. In dieser Zeit soll die Zahlder Mitglieder des NÜR auf 65 erweitertwerden, um alle Landesteile, also auch Tri-politanien, zu integrieren. Nach acht Mo-naten soll der NÜR aufgelöst werden,nachdem er Wahlen für ein 200 Abgeord-nete umfassendes provisorisches Parla-ment vorbereitet hat. Dieses soll innerhalbvon 65 Tagen einen Ausschuss einberu-fen, der die neue Verfassung ausarbeitensoll, über welche dann durch ein Referen-dum abgestimmt werden wird. Erst dannsoll ein reguläres Parlament gewählt wer-den, aus dem sich die neue Regierung zu-sammensetzen soll. Erste Pläne für dieAusgestaltung des politischen Systemswurden bereits formuliert: Libyen soll einMehrparteiensystem erhalten, die Gewal-tenteilung soll implementiert und die Un-abhängigkeit der Justiz garantiert werden.Die Gleichberechtigung der Frau soll

ebenso gewährleistet werden wie die freieMeinungsäußerung. Weiterhin sollen eth-nische Minderheiten wie die Berber aner-kannt werden. Ziel ist es, einepluralistische Demokratie zu schaffen.Dass dies enorme Schwierigkeiten undviel Geduld verlangt, erscheint angesichtsder fehlenden Tradition, der mangelndenErfahrung und eines gewissen Zeitdrucksnicht überraschend: Parteien existierenebenso wenig wie Gewerkschaften. Zivil-gesellschaftliche Strukturen gab es bislangnicht, sodass es abzuwarten bleibt, wie alldiese neuen Akteure rechtlich, administra-tiv und politisch in das neue System inte-griert werden können.

4. Der wirtschaftliche Öffnungs- und Li-beralisierungsprozess: Libyens Wirt-schaft wurde durch den Konflikt starkbeeinträchtigt und befindet sich in einerschweren Krise: Die für das Land überle-benswichtige Ölproduktion liegt danieder,es kam vermehrt zu Lebensmittelengpäs-sen, Stromausfällen und vereinzeltenPlünderungen. Nach Ende der Kampf-handlungen werden Tausende Kämpferarbeitslos sein, brauchen eine Aufgabeund Perspektive. Diese akuten Problememüssen gelöst werden, um eine dauer-hafte Rezession zu vermeiden. Zusätzlichmüssen die langfristigen strukturellen Pro-bleme wie Jugendarbeitslosigkeit, Libera-lisierung und Diversifizierung derWirtschaft, Stärkung der Privatwirtschaft,Wohnungsmangel, Verbesserung der Bil-dungssituation und infrastrukturelle Män-gel behoben werden. Es wird darumgehen, die Öleinnahmen gerechter, trans-parenter und nachhaltiger zu verteilen, an-dere Industriezweige zu stärken undausländische Investoren anzulocken. Diesgilt vor allem für die Energiesicherung:Viele Kraftwerke sind marode, der Ener-giebedarf steigt jährlich um 10%. Sokönnte sich hier mittelfristig eine Öffnungdes Marktes für private Betreiber anbieten.Langfristig verfügt Libyen über enormewirtschaftliche Potenziale: Die Nähe zuEuropa, die geostrategisch günstige Lageund die Ressourcen schaffen gute Vor-aussetzungen für ausländische Investoren– wenn Geschäftsklima, rechtliche Rah-menbedingungen und wirtschaftlicheTransparenz bei Vergabeverfahren und Li-zenzvergaben gesichert werden können.In den letzten Jahrzehnten hat sich in vie-

Page 55: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut 54

len Bereichen der Verwaltung eine Beste-chungsmentalität etabliert, die es zudurchbrechen gilt. Dies wird nicht alleindurch den Sturz al-Gaddafis geschehen,sondern muss durch pro-aktive Maßnah-men, wie Seminare, Lehrgänge oder här-tere juristische Ahndung, schrittweisegeändert werden. Auch das wird Zeit kos-ten. Aber der effektive Kampf gegen dieKorruption könnte zu einem wesentlichenIndikator für die neue Rechtsstaatlichkeitwerden. Dies würden ausländische politi-sche und wirtschaftliche Partner honorie-ren. Neben dem Ölsektor könnte auch derDienstleistungs-, Tourismus- oder Ge-sundheitssektor in Zukunft zu den Triebfe-dern der libyschen Wirtschaft gehören.Allerdings muss es für die neue libyscheRegierung, ähnlich wie in den Transfor-mationsländern Ägypten und Tunesien,oberste Priorität sein, Arbeitsplätze zuschaffen, um damit wirtschaftlich gerech-tere Zustände und somit innenpolitischeStabilität herzustellen. Die Menschen wer-den eine „Revolutionsdividende“ erwarten– ähnliches kann man auch in Tunesienund Ägypten beobachten. Bleibt diesedauerhaft aus, wird das zu Unruhen undVerteilungskämpfen, zu Zwietracht undeventuell neuer Gewalt führen. Der NÜRmuss dafür Sorge leisten, dass einerseitsschrittweise der Weg in eine bessere wirt-schaftliche Zukunft für alle Libyer zu errei-chen ist, andererseits aufgrund derSchwere der Aufgabe darauf hinweisen,dass dies nicht sofort geschehen kann,sondern dafür Geduld und auch Leidens-fähigkeit vonnöten sein wird.

Hierzu dient die Freigabe von eingefrore-nen Geldern auf ehemaligen Gaddafi-Kon-ten in Europa oder den USA als wichtigeskurzfristiges Finanzierungsinstrumenta-rium. Insgesamt sollen etwa 150 Mrd.USD an Auslandsguthaben freigegebenwerden; allein Deutschland verwaltet dieSumme von 7,3 Mrd. EUR eingefrorenerGelder. Die EU möchte bis Ende 2013 7Mrd. EUR für Wirtschaftshilfe, den Aufbaueiner freien Presse, einer unabhängigenJustiz und einer Zivilgesellschaft zur Ver-fügung stellen. Aber: Libyen gilt keines-wegs als Entwicklungsland, verfügt esdoch aufgrund der Ölressourcen über

enormen finanziellen Spielraum. Um dieWirtschaft anzukurbeln, werden Verträgeehemaliger Partner al-Gaddafis aus demAusland in der Regel nicht annulliert, son-dern nach gleichen Konditionen weiterge-führt. Die Offshore-Ölproduktion könnte imMittelmeer ebenso schnell wieder aufge-nommen werden wie in der beschädigtenÖlraffinerie az-Zawiya. Analysten pro-gnostizieren eine Erholung der Ölproduk-tion auf 1,7 Mio. Barrel am Tag aber erstfür 2012. Pessimistische Prognosen rech-nen gar erst mit 2015. Allerdings könne dieÖlförderung bis zum Ende 2011 wieder auf600.000 Barrel am Tag steigen.21 Sicherist: Libyen wird auch in Zukunft auf diewirtschaftliche Unterstützung der interna-tionalen Gemeinschaft angewiesen sein.Dass diese sich ihrer Verantwortung nichtentziehen wird, deutete der Präsident desEuropäischen Rates, Herman Van Rom-puy, auf der internationalen „Konferenz derFreunde Libyens“ am 1. September 2011an: „As we subscribed to the ‘responsibilityto protect’, we should similarly subscribeto the ‘responsibility to assist’ Libya in bu-ilding itself. We were, we are and we willbe on your side in facing these tremen-dous challenges.“22 Dem Terminus “Unter-stützungsverantwortung” kommt des-wegen besondere Bedeutung zu, da alleBeteiligten betonen, die internationale Ge-meinschaft dürfe Libyen keine Vorgehens-weise aufoktroyieren oder bestimmteMaßnahmen vorschreiben. Der NÜR seiverantwortlich für die Zukunft des Landes;Einmischung von außen sei nicht vorge-sehen und im höchsten Maße kontrapro-duktiv. So werde man nur dann helfen,wenn man gefragt werde. Damit soll derEindruck vermieden werden, der Westenkönne sich als postkolonialer Invasor ge-rieren, der nach den Ölressourcen strebtund die nachhaltige, demokratische Ent-wicklung nur als Vorwand benütze, umseine eigenen Wirtschaftsinteressen zu si-chern. Auch hier zeigen sich Parallelen zuden Ereignissen im Irak, wo das Wohlwol-len gegenüber der amerikanischen Besat-zung schnell in Skepsis und offenen Hassumschlug. Der Generalverdacht: Die USAhätten nur einen Vorwand benötigt, umsich die Ölquellen des Landes anzueig-nen. Ähnliche Vorwürfe könnten auch in Li-

21 Zum Vergleich: Saudi-Arabien förderte im Juli 2011 9,75 Mio. Barrel am Tag, die Vereinigten ArabischenEmirate 2,54 Mio. Barrel am Tag und Algerien 1,25 Mio. Barrel am Tag.

22 Siehe European Council The President: Message by President Herman van Rompuy to the Paris Con-ference on Libya, 1. September 2011, www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/press-data/.../124490.pdf, abgerufen am 02.09.2011.

Page 56: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut55

byen von Seiten anderer islamischer Län-dern vorgebracht werden, wenn abzuse-hen ist, dass sich der Einfluss desWestens nicht allein auf vermittelnde oderunterstützende Maßnahmen beschränkt,sondern wirtschaftliche Eigeninteressenverfolgt werden. So führte das bislangnicht belegte Gerücht, Frankreich und Ver-treter des NÜR hätten im Frühjahr ein Ge-heimabkommen geschlossen, für harscheKritik. Darin soll der NÜR Frankreich an-geblich 35% der libyschen Ölförderungversprechen, wenn Sarkozy im Gegenzugden Übergangsrat als legitimen VertreterLibyens anerkenne. Diese Meldungenwurden umgehend dementiert, zeigenaber, wie sensibel und argwöhnisch dashumanitäre Engagement des Westens inLibyen auch zukünftig beobachtet werdenwird.

5. Die Akzeptanz regionaler Akteure:Während in Europa und bei den USA derNÜR längst als legitimer Vertreter des li-byschen Volkes gilt und als Transformatorakzeptiert wird, mittlerweile auch dasskeptische Russland ebenso wie die meis-ten arabischen Ländern den NÜR aner-kennt, bleibt die Haltung vielerafrikanischer Regierungen ausgesprochenkühl und skeptisch. Viele zögerten mit derAnerkennung des NÜR, darunter auch dieAfrikanische Union und Mitgliedsländerwie Südafrika. Insbesondere die südlichendirekten Nachbarn Niger und Tschad, aberauch andere subsaharische Länder wieNigeria, Burkina Faso oder Mali betrach-ten die Umsturzereignisse in Libyen deut-lich kritisch. Fast alle unterhielten engeBeziehungen zu al-Gaddafis Regime,immerhin erhielten sie von ihm langjährigefinanzielle Unterstützung. So lieferte esMilliardensummen und Militärausrüstungan Länder wie Niger, den Tschad oder Bur-kina Faso und unterstützte Separatisten

wie z. B. den nigerischen Tuareg Rissa agBoula, der zwischen 1990 und 199523

sowie 2007 und 2009 einen Sezessions-aufstand der Tuareg gegen die nigerischeRegierung geführt hatte.24 Die armen Län-der Subsaharas sind weitgehend abhän-gig von ausländischen Hilfsgeldern,sodass al-Gaddafis Leistungen vor allemvon den jeweiligen korrupten und autoritä-ren Regimes geschätzt wurden. BurkinaFaso hingegen gilt als mögliches Aufnah-meland für al-Gaddafi, immerhin wurdeihm durch die Regierung Burkina FasosAsyl angeboten. Libyen hatte unter al-Gaddafi viele Gastarbeiter aus den subsa-harischen Anrainerstaaten vor allem alsungelernte Arbeitskräfte im Bausektor be-schäftigt. Tausende von ihnen sind auf-grund der kriegerischen Auseinan-dersetzungen in ihre Heimatländer geflo-hen, sind arbeits- und perspektivlos, be-gehen Straftaten, um zu überleben undkönnen von den jeweiligen Regierungennicht versorgt werden, sodass sie als des-tabilisierender Faktor in den Heimatlän-dern angesehen werden.25 Ein Umstand,für den der Umsturz in Libyen und damitder NÜR verantwortlich gemacht wird. Al-Gaddafi hingegen hätte die Stabilität gar-antiert. Immerhin gewährleisteten dieGastarbeiter lebensnotwendige Rücküber-weisungen an ihre Familien und generier-ten damit eine wesentlicheEinnahmequelle der armen Heimatländer.So sollen nigerische Gastarbeiter jedeWoche 217.000 USD an ihre Familienüberwiesen haben.26 Außerdem sollenviele Nigerer auf Seiten al-Gaddafis alsSöldner gekämpft haben. Für den NÜRbedeuten die engen Verbindungen al-Gad-dafis zu den Nachbarländern eine enormeHerausforderung, muss er doch bestrebtsein, vertrauensvolle Beziehungen zuihnen aufzubauen, um zukünftig Grenzsi-cherheit, langfristige Stabilisierung und po-

23 So führte er die Rebellengruppe Front for the Liberation of Aïr and Azaouak. Zwischen 1996 und 2004 war er Nigers Tourismusminister.

24 Anfang September 2011 kamen Hinweise auf, nach denen ein Autokonvoi die libysch-nigerische Grenzeüberquert hatte. Die nigerische Regierung dementierte jedoch umgehend, dass sich al-Gaddafi in einemder Wagen befunden hätte. Rissa ag Boula soll hingegen den Konvoi begleitet haben.

25 Allein aus Niger sollen seit Beginn der Unruhen im Februar 2011 knapp 70.000 Gastarbeiter in ihr Hei-matland zurückgehrt sein. Zu Beginn der Aufstände sollen bis zu 1.200 nigerische Staatsbürger dieGrenze überquert haben.

26 Ihr Lohn soll in Libyen zwischen 108 und 216 USD pro Monat betragen haben. Das BIP pro Kopf in Ni-gerbeläuft sich auf 700 USD, 63% der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Mit einem Gini-Koeffizient von 43,9 hat Niger eine ungleiche Einkommensverteilung, das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei627 USD im Jahr. Damit gehört Niger zu den ärmsten Ländern der Welt. Der Tschad generiert ein Pro-Kopf-Einkommen von 1.500 USD im Jahr und belegt beim Human Development Index Rang 163 von169. Über 80% der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Ähnliches gilt für Burkina Faso: Das BIPpro Kopf liegt bei 1.200 USD, fast 80% der Bevölkerung sind Analphabeten. Die Lebenserwartung beträgtnur 53 Jahre. Das Land liegt beim Human Development Index auf dem vorletzten Rang.

Page 57: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut 56

litischen Verhandlungsspielraum zu erlan-gen. Dies erscheint momentan eherschwierig. Darüber hinaus hat sich dasVerhältnis zwischen Algerien und demNÜR dramatisch verschlechtert. KonkreterAuslöser war die Aufnahme von al-Gad-dafis Ehefrau, seiner Tochter und dreierSöhne aus „humanitären Gründen“ durchdie Regierung Bouteflikas. Bislang hat diealgerische Regierung den NÜR auch nichtals legitime Vertretung Libyens akzeptiert.Die Beziehungen zwischen al-Gaddafi undBouteflika waren traditionell eng, das al-gerische Regime verfolgt die Umwäl-zungsprozesse in den Nachbarländern mitgroßem Argwohn und versucht bislang,ähnliche Entwicklungen im eigenen Landzu unterbinden. In diesem Zusammen-hang könnte auch das zukünftige Verhält-nis zwischen Algerien und Libyen auf ehereisigem Niveau stagnieren. Dies hätte gra-vierende politische und wirtschaftliche Fol-gen und könnte die Stabilität des neuenLibyens gefährden.

6. Die Garantie von Sicherheit: Bislangscheint es, als sei der islamistische Ein-fluss im NÜR begrenzt, wenngleich ihmauch Repräsentanten der Muslimbrüderangehören. Eine starke islamistische Op-position hatte es unter al-Gaddafi nicht ge-geben, da er politisch wie militärischgegen sie vorgegangen war und viele Is-lamisten ins Exil getrieben hatte. Auch mi-litante Islamisten mit Verbindungen zumAl-Qaida-Netzwerk wurden von al-Gaddafivehement verfolgt. Viele von ihnen mus-sten Libyen verlassen, kämpften in Afgha-nistan oder dem Irak oder wurden in AbuSalim inhaftiert und gefoltert. Allerdingslässt sich bislang noch nicht absehen, obund inwieweit eine militant-islamistischeGefährdung für die neue libysche Regie-rung zu einer fundamentalen Bedrohung

werden könnte. Vieles hängt davon ab,wann und welche staatlichen Institutionenaufgebaut werden können, um Sicherheit,Kontrolle und Stabilität im gesamtenStaatsgebiet zu gewährleisten. Die Erfah-rungen im Irak oder Jemen zeigen, dassmangelnde oder fehlende staatliche Ge-walt zu Rückzugsgebieten für militantenichtstaatliche Gewaltakteure führen kann.So gilt Jemen mittlerweile als „sichererHafen“ für militante Islamisten der Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel(AQAP). Das Kontrollvakuum im Irak nachdem Sturz Saddam Husseins hatteebenso dazu geführt, das der Irak zumSammelbecken unzähliger militanter isla-mistischer Gruppen und Akteure wurde,was zu Anschlagsserien und vielen To-desopfern geführt hatte. Einer ähnlichenEntwicklung kann der NÜR vorbeugen,indem er schnell wirtschaftlich und poli-tisch geordnete Zustände sichert. Hierfürwird er auf die Unterstützung seiner inter-nationalen Partner angewiesen sein.Deutschland hat bereits betont, sich aufAnfrage u. a. bei der Unterstützung derPolizeiausbildung zu engagieren. Eineeventuelle militante Gefährdung hängtauch wesentlich vom zukünftigen Verhält-nis Libyens zu seinen Nachbarn ab: Dieunwirtlichen Grenzen zu den südlichenNachbarn können kaum gesichert werden,die Kontrollmöglichkeiten sind gering unddie Bereitschaft dieser Länder, den NÜRhierbei zu unterstützen, scheint bislangeher nicht vorhanden zu sein. Umso mehrwird es darauf ankommen, das Vertrauenzwischen neuer libyscher Regierung undden Nachbarn zu verbessern, sonst dro-hen nicht nur zwischenstaatliche Span-nungen sondern auch die Gefahr durchmilitante Islamisten.

Sebastian Sons

VII. Literaturangaben

ALAALDIN, RANJ: How Libya’s tribes will decide Gaddafi's fate, The Telegraph, 4. März 2011, http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/africaandindianocean/libya/8361279/Ho/, abgerufen am 19.07.2011.

AL-JAZEERA

AMTSBLATT DER EUROPÄISCHEN UNION: Beschluss 2011/137/ GASP des Rates vom 28. Februar 2011, 03.03.2011.

Page 58: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut57

AMTSBLATT DER EUROPÄISCHEN UNIOn: Durchführungsbeschluss 2011/156/GASP des Rates vom 10. März 2011, 11.03.2011.

AMTSBLATT DER EUROPÄISCHEN UNION: Durchführungsbeschluss 2011/175/GASP des Rates vom 21. März 2011, 22.03.2011.

AMTSBLATT DER EUROPÄISCHEN UNION: Durchführungsverordnung (EU) Nr. 272/2011 des Rates, 21. März 2011, 22.03.2011.

AMTSBLATT DER EUROPÄISCHEN UNION: Beschluss 2011/178/ GASP des Rates vom 23. März 2011,24.03.2011.

AMTSBLATT DER EUROPÄISCHEN UNION: Durchführungsverordnung (EU) Nr. 360/2011 des Rates, 12. April 2011, 14.04.2011.

AMTSBLATT DER EUROPÄISCHEN UNION: Beschluss 2011/332/ GASP des Rates vom 07. Juni 2011, 08.06.2011.

AMTSBLATT DER EUROPÄISCHEN UNION: Durchführungsverordnung (EU) Nr. 502/2011 des Rates, 23. Mai 2011, 24.05.2011.

AMTSBLATT DER EUROPÄISCHEN UNION: Durchführungsbeschluss 2011/137/GASP des Rates vom 16. Juni 2011, 17.06.2011.

AMTSBLATT DER EUROPÄISCHEN UNION: Durchführungsverordnung (EU) Nr. 573/2011 des Rates, 16. Juni 2011, 17.06.2011.

AMTSBLATT DER EUROPÄISCHEN UNION: Durchführungsbeschluss 2011/521/GASP des Rates vom 1. September 2011, 02.09.2011.

AYOUB, M. M.: Islam and the Third Universal Theory. The Religious Thought of Mu’ammar al-Gadhdhafi, London 1987.

BALDINETTI, ANNA: The origins of the Libyan nation: Colonial legacy, exile and the emergence of anew nation-state, London 2010.

BENDIEK, ANNEGRET, LACHER, WOLFRAM: Libyen nach Qaddafi: Wenig Einfluss für Externe, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, 29. Juni 2011.

BENDIEK, ANNEGRET: Wie effektiv ist die Europäische Nachbarschaftspolitik? 16 Länder im Vergleich, SWP-Studie, Berlin, September 2008.

CORDES, BONNIE: Qaddafi: Idealist and Revolutionary Philanthropist, RAND Cooperation, 1986.

DUNNE, MICHAEL: Libya: Security Is Not Enough, Policy Brief 32, Carnegie Endowment, Oktober 2004.

El-Kikhia, Mansour O.: Libya's Qaddafi: the politics of contradiction, Gainesville 1997.

EUROPEAN NEIGHBOURHOOD AND PARTNERSHIP INSTRUMENT: Libya. Strategy Paper & National Indicative Programme 2011-2013.

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

GULF TIMES

HENDERSON, SIMON, SCHENKER, DAVID: ‘The Last Bullet’: Qadhafi and the Future of Libya, Policy Watch #1761, Washington Institute for Near East Policy, 22. Februar 2011.

Page 59: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut 58

HERMEZ, SAMI: Libya & the Folly of International Intervention, 2. März 2011, http://www.muftah.org/?p=889, abgerufen am 28.04.2011.

INTERNATIONAL CRISIS GROUP: Popular Protest in North Africa and the Middle East (V): Making sense of Libya, Middle East/North Africa Report N°107, 6. Juni 2011.

KHALEEJ TIMES

KNIGHTS, MICHAEL: Beyond a No-Fly Zone: How to Protect Civilians in Libya, Washington Institute for Near East Policy, Policy Watch # 1783, 23. März 2011.

KOOIJ, C.: Islam in Qadhafi’s Libya. Religion and Politics in a Developing Country,Amsterdam 1980.

LACHER, WOLFRAM: Libya After Ghaddafi. State Formation or State Collapse? SWP Comments, Berlin, März 2011.

LE MONDE

LORENZ, STEPHAN: Libysche Stämme im Ungleichgewicht, in: Freie Presse, 24. Februar 2011, S. 4.

MAJOR, CLAUDIA, MÖLLING, CHRISTIAN: Nur ja kein Militäreinsatz in Libyen, in: Financial Times Deutschland, 28. Februar 2011, S. 24.

MATTES, HANSPETER: Arabische Revolten: Der Sonderfall Libyen, 11. April 2011, http://www.hss.de/download/110406_RM_Mattes.pdf, abgerufen am 15.05.2011.

DERS.: Bilanz der libyschen Revolution. Drei Dekaden politischer Herrschaft Mu’ammar al-Qaddafis, Wuquf-Kurzanalyse, Nr. 11-12, Hamburg, September 2001.

DERS.: Libyen, in: Ende, Werner, Steinbach, Udo (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart, München 2005, S.468-467.

DERS. Libyens ambivalente Nutzung der Erdöleinnahmen, Wuquf-Kurzanalyse, Nr. 17, Hamburg, 15. Dezember 2006.

NEW YORK TIMES

NIBLOCK, TIM: "Pariah states" and sanctions in the Middle East: Iraq, Libya, Sudan, Boulder 2001.

OBEIDI, AMEL: Elitenstruktur in Libyen: Neue Institutionen und aufstrebende Eliten, in: Perthes, Volker (Hrsg.): Elitenwandel in der arabischen Welt und Iran, SWP-Studie, Berlin 2002, S. 65-77.

RICHTER, CAROLA: Das Mediensystem in Libyen - Akteure und Entwicklungen, Hamburg 2004.

SCARCIAAMORETTI, B.: Libyan Loneliness in Facing the World: the Challenge of Islam? In: Dawisha, A. (Hrsg.): Islam in Foreign Policy, Cambridge 1983, S.54-67.

SOLIEMAN, ISHRA: Denied Existence: Libyan-Berbers under Gaddafi and Hope for the Current Revolution, 24. März 2011, http://www.muftah.org/?p=961, abgerufen am 28.04.2011.

ST. JOHN, RONALD BRUCE: Libya and the United States: two centuries of strife, Philadelphia 2002.

THEWASHINGTON POST

Page 60: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libyen

Deutsches Orient-Institut59

UNITED NATIONS SECURITY COUNCIL: Resolution 1973 (2011), 17. März 2011.

VIRA, VARUN, CORDESMAN, ANTHONY H.: The Libyan Uprising. An Uncertain Trajectory, Center for Strategic and International Studies, Washington, 20. Juni 2011.

WERENFELS, ISABEL: Contradictory Signals from Libya, in: Mediterranean Politics 2008, S. 190-193.

DIES.: Gaddafis Libyen. Endlos stabil und reformresistent? SWP-Studie, Berlin, März 2008.

DIES.: Wie umgehen mit dem “neuen Gaddafi“? SWP-Aktuell, Berlin, Oktober 2004.

WHITE, JEFFREY: Libya: The Battle for the West, Washington Institute for Near East Policy, Policy Watch # 1805, 5. Mai 2011.

DERS.: Libyan Revolution Faces Defeat without External Military Intervention, Policy Watch # 1779, The Washington Institute for Near East Policy, 17. März 2011.

DERS.: The Grinding War in Libya Favors Qadhafi, Policy Watch # 1801, The Washington Institute for Near East Policy, 21. April 2011.

DERS.: Toward the Endgame in Libya, Policy Watch # 1817, Washington Institute for Near East Policy, 17. Juni 2011.

VANDEWALLE, DIRK J.: A history of modern Libya, Cambridge 2006.

WINDFUHR, VOLKHARD, ZAND, BERNHARD: „Die Schweiz ist eine Mafia” – Interview mit Muammar Gaddafi, in: DER SPIEGEL 18/2010, S. 98-102.

ZIADEH, N. A.: Sanusiyah. A Study of Revivalist Movement in Islam, Leiden 1968.

Page 61: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Algerien

Deutsches Orient-Institut 60

1 CIA – The World Factbook.2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal:

generations of change, http://www.unfpa.org/swp.3 The World Bank, http://www.data.worldbank.org/indicator/EN.POP.DNST. 4 CIA – The World Factbook. 5 CIA – The World Factbook.6 CIA – The World Factbook.7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.8 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators,

http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles.10 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN.12 CIA – The World Factbook. 13 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.15 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG,

International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, S. 183, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf.

16 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html.

17 CIA – The World Factbook.18 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia,

http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf.19 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us.20 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,

http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 21 United Nations Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection:

Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/.

22 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf.

23 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://www.info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp.

24 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

Landesdaten Algerien

Fläche1 2011 2.381.741 km²

Bevölkerung2 2011 35.400.000

Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 12,3

Ethnische Gruppen4 2010 Araber-Berber 99%, andere 1%

Religionszugehörigkeit5 2010sunnitische Muslime 99%, Christen und Juden 1%

Durchschnittsalter6 2010 27,6 Jahre

Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 24,2%

Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 5,2%

Lebenserwartung9 2010 72,9 Jahre

Bevölkerungsprognose bis 205010 2011 49.600.000

Geburten pro Frau11 2009 2,3

Alphabetisierungsrate 2010 69,9%

Mobiltelefone12 2009 32.730.000

Nutzer Internet13 2009 4.700.000

Nutzer Facebook14 2011 2.293.560

Wachstum BIP15 2008 3,0%

BIP pro Kopf16 2010 8.477 USD

Arbeitslosigkeit17 2010 10,0%

Inflation18 2011 5,0%

S&P-Rating19 2011 k. A.

Human Development Index20 2010 Rang 84 (von 169)

Bildungsniveau21 2010 Rang 105 (von 177)

Bildungsniveau der Frauen (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)22 2010 36,3%

Politische Teilhabe23 2010 17,5%

Korruptionsindex24 2010 Rang 105 (von 178)

Page 62: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Algerien

Deutsches Orient-Institut61

Algerien

Anfang 2011 richtete sich die interna-

tionale Aufmerksamkeit auf Alge-

rien: Inspiriert durch die Proteste im

benachbarten Tunesien lieferten sich in

vielen größeren Städten Jugendliche und

Sicherheitskräfte tagelang Straßen-

schlachten. Auslöser war die allgemeine

soziale Unzufriedenheit aufgrund der

hohen Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und

Perspektivlosigkeit vor allem in der jungen

Bevölkerung. Doch Aufstände sind in Al-

gerien seit Jahren an der Tagesordnung.

Die in viele kleine Gruppen zersplitterte

Opposition konnte durch soziale Zuge-

ständnisse schnell zerschlagen werden.

Bis zum Sommer blieb es ruhig in Alge-

rien. Mit der Aufnahme eines Teils der Fa-

milie des verbündeten Gaddafi-Regimes

Ende August nahm der Unmut über das al-

gerische Regime nun wieder zu.1

I. Politisches System und gesellschaftli-

che Entwicklungen

Die Grundkonstanten des Machtgefüges sindin Algerien seit Erlangung der Unabhängigkeit1962 unverändert: Die politische Macht liegtweiterhin beim Militär. Die Machtelite, die engmit dem staatlichen Petro-Konzern Sonatrachverbunden ist, setzt sich aus regional verwur-zelten Clans zusammen, die zumeist aus demOstteil des Landes stammen. Die Teilnahmeam Befreiungskampf 1954 bis 1962 sowieeine militärische Laufbahn dienen zum Auf-bau von Beziehungsnetzwerken und als Le-gitimation für spätere Führungsansprüche.

Nach der Unabhängigkeit zeigte sich, dassdas Militär die stärkste Institution des Landeswar. Fortan herrschte in Algerien ein autoritä-res Regime, dass jegliche Opposition unter-drückte. Es kam immer wieder auch zuinternen Machtkämpfen zwischen den einzel-nen Clans und Rivalitäten sowie schwierigenAushandlungsprozessen zwischen der Armee

und dem amtierenden Präsidenten. So giltdas Regime in Algerien als multipolar und un-durchsichtig, der Parlamentarismus ver-schleiert die wahren Machtverhältnisse. DieMachteliten räumten sich selbst umfassendePrivilegien ein, bereicherten sich und hieltenihre Macht fest umklammert.

Der Großteil der Bevölkerung profitierte der-weil weder vom Wohlstand durch den Erdöl-und Erdgasexport, noch durch die eingeführ-ten marktwirtschaftlichen Reformen. ImGegenteil: Die wachsenden sozialen Unruhenin den 1980er Jahren, hervorgerufen durchsteigende Lebensmittelpreise, Wohnungsnot,Arbeitslosigkeit und soziale Ungleichheit,führten 1988 zu landesweiten Protesten. AlsAusweg aus der Krise beschloss der dama-lige Staatspräsident Bendjedid, eine politischeÖffnung einzuleiten. Die neue Verfassung öff-nete den Weg zu einem Mehrparteiensystem,es kam zur Gründung zahlreicher neuer Par-teien, die Medienlandschaft wuchs, die Zivil-gesellschaft trat stärker in den Vordergrund.

Als sich jedoch bei den Wahlen 1992 ein Siegder Islamistischen Nationalen Befreiungsfront(FIS) abzeichnete, wurden die Wahlen abge-brochen. Die FIS wurde verboten, Anhängerinhaftiert. 1992 gründete sich die sunnitischgeprägte Bewaffnete Islamische Gruppe(GIA) als ursprünglich militärischer Arm derFIS. Sie verfolgte den Sturz des algerischenStaatssystems und die vollständige Islamisie-rung der algerischen Gesellschaft. Mittler-weile hat die GIA deutlich an Bedeutungverloren und gilt manchen Beobachtern alszerschlagen. Die innere Struktur der GIA warstets sehr heterogen und intransparent: Be-reits kurz nach der Gründung agierten einigeMitglieder der GIA autonom und verfolgtenkonträre Zielsetzungen gegenüber der FIS.Ihre fehlende Dialogbereitschaft, ihre radikaleIdeologie und das gewaltbereite Vorgehengegen die eigene Bevölkerung führten in derFolge zu einem Legitimitätsverlust in weitenTeilen der Bevölkerung. Einzelne GIA-Mitglie-

1 Ende August verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Algerien und Libyen deutlich. Grund war dieEinreise einzelner Mitglieder des Gaddafi-Clans in das Nachbarland. Das algerische Regime betonte,dass diese Entscheidung aus rein humanitären Gründen getroffen worden war. Am Tag zuvor kam es inAlgerien zu einem Bombenanschlag auf eine Militärakademie. Al-Qaida im islamischen Maghreb (AQIM)hatte sich aus Strafe für die Unterstützung des Gaddafi-Regimes zu dem Anschlag bekannt. Das algeri-sche Regime hatte sich zuvor geweigert, die Übergangsregierung in Libyen anzuerkennen. Ebenso wurdeberichtet, dass Algerien noch vor wenigen Wochen Waffen und Söldner an Gaddafi geschickt hatte. DerSturz des Gaddafi-Regimes scheint Algerien überrascht zu haben. Algerien ist nun de facto das einzig ver-bliebene autokratische Regime in Nordafrika. Die Aufnahme der Gaddafi-Familie zeigt die ungebrocheneVerbundenheit mit Gaddafi und sendet eine klare Botschaft an alle Sympathisanten der Revolutionäre.Während ganz Nordafrika von politischen Umbrüchen erfasst wird, unterdrückt das algerische Regimeweiterhin mit allen Mitteln jegliche Demokratisierungsbewegung mit harter Hand. Damit isoliert sich Al-gerien zunehmend. Unter algerischen Oppositionellen hat die Aufnahme des Gaddafi-Clans für Empörunggesorgt, sie ist bis jetzt jedoch ohne Konsequenzen geblieben.

Page 63: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Algerien

Deutsches Orient-Institut 62

der wandten sich einer während des Bürger-krieges neu entstandenen Gruppierung zu.Die Salafistische Gruppe für Predigt undKampf (GSPC) wurde 1998 gegründet undnannte sich 2006/2007 in Al-Qaida im islami-schen Maghreb (AQIM) um.

Auch wenn sich die Sicherheitslage seit Endeder 1990er Jahre stabilisiert hat, werdenheute immer noch gewaltsame Übergriffe aufdie einheimische Bevölkerung und Touristen,insbesondere im Grenzgebiet zu Tunesienund in den peripheren Saharagebieten, ver-übt. Terroristische Aktionen der AQIM richtensich teilweise auch gegen Regierungs- undSicherheitsinstitutionen in den urbanen Zen-tren. Der zehnjährige Bürgerkrieg zwischenverschiedenen islamistischen Gruppen undden algerischen Sicherheitskräften fordertebis zu 200.000 Todesopfer und tausende Ver-schwundene. Dabei wurden von allen Seitenschwere Menschenrechtsverletzungen be-gangen.

Die Islamisten hatten in den 1980er Jahrenwachsenden Zuspruch aufgrund der allge-meinen sozialen Unzufriedenheit erlangt. DieUrsachen des Bürgerkrieges sind jedoch nichtideologischer Natur, sondern liegen in den po-litischen, ökonomischen und kulturellen Ver-hältnissen, darunter:

● die politische Unterdrückung der Op-position durch das autoritäre undselbstherrliche Regime;

● die kulturelle Unterdrückung der ber-berischen Bevölkerung und die Instru-mentalisierung des Araber- Berber-Konflikts2;

● das wirtschaftliche Versagen der Re-gierung, die Abhängigkeit vom Öl undGas zu lockern, die Wirtschaft zu di-versifizieren und genügend neue Ar-beitsplätze für die stetig wachsende

Bevölkerung zu schaffen3;● das Staatsmonopol;● der vorherrschende Klientelismus;● die Korruption4

Der Wahlabbruch 1992 lässt sich unter die-sem Gesichtspunkt als bewusste Blockadedes Demokratisierungsprozesses und alsMittel zur Machterhaltung der Elite verstehen.Die EU und insbesondere Frankreich, das Al-gerien über 130 Jahre lang kolonisiert hatte,unterstützten das algerische Regime gegendie islamistischen Gruppen aus geostrategi-schen und wirtschaftlichen Interessen. DerBürgerkrieg endete mit der Kapitulation derFIS 2002 und der „Charta für Frieden und na-tionale Versöhnung“ 2005, die eine Genera-lamnestie für alle Sicherheitskräfte, Milizenund bewaffnete Gruppen festlegte. DasTrauma des Bürgerkrieges, nach dem Unab-hängigkeitskrieg 1954-1962 der zweite blutigeKonflikt innerhalb weniger Jahrzehnte, prägtdie algerische Bevölkerung aufgrund einer ta-buisierten öffentlichen Vergangenheitsbewäl-tigung bis heute. So bleiben die Ursachen desBürgerkrieges bis heute ungelöst.

II. Voraussetzungen für den Willen nach

Wandel

In Algerien kommt es seit 2001 permanent zulokalen Aufständen. Wöchentlich stattfin-dende Demonstrationen setzen sich für sozi-ale Belange ein, vor allem wird gegen dieArbeitslosigkeit und den Wohnungsmangeldemonstriert. Für das Jahr 2010 wurden ins-gesamt etwa 10.000 lokale Aufstände gezählt,bei denen meistens öffentliche Gebäude be-setzt werden.

In der algerischen Gesellschaft herrschtweiterhin eine allgemeine soziale Unzufrie-denheit. Die Arbeitslosigkeit wird auf inoffiziell40% geschätzt. 70% der Algerier sind unter

2 Die Berber sind eine heterogene Volksgruppe, die in ganz Nordafrika zu finden ist. In Algerien sind etwa30% der Bevölkerung berberophon. Die Kabylen bilden die größte Gruppe unter ihnen, gefolgt von denChaouis. Die Kabylei zählt zu den ärmsten Gebieten in Algerien. Seit dem „Berber-Frühling" im Jahr 1980,als die Unruhen in der Kabylei von den algerischen Sicherheitskräften blutig niedergeschlagen wurden,kam es immer wieder zu Demonstrationen und Zusammenstößen zwischen der einheimischen Bevölke-rung und der Zentralregierung, vor allem wegen der Nichtanerkennung des Kabylischen als Amtssprache.

3 Die Unzufriedenheit über die deutliche Asymmetrie zwischen gesamtwirtschaftlicher wachstumszentrier-ter Entwicklung und mikroökonomischen menschlichen Entwicklungen war neben der Forderung nachgrößeren politischen Freiheiten der wesentlichste Konfliktpunkt der Protestbewegungen in den arabischenStaaten zu Beginn dieses Jahres. Denn Ressourcenreichtum und hohe Wachstumsraten aufgrund struk-tureller Anpassungsprogramme hatten keinen positiven Einfluss auf die Arbeitsmarktentwicklung. 60%der algerischen Bevölkerung soll im informellen Sektor beschäftigt sein. Die politische Elite bildet in Al-gerien gleichzeitig auch die Wirtschaftselite und bereicherte sich ungehindert an den vorhandenenRessourcen. Die wachsende soziale Ungleichheit zeigt sich auch an folgendem Widerspruch: AlgeriensBruttoinlandsprodukt pro Kopf betrug 2010 8.477 Dollar, damit liegt das Land vor China und Indien. Gleich-zeitig liegt der Anteil der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, seit Jahren auf einem konstanthohen Bereich, in Algerien zwischen 23 und 30%.

4 Der Korruptionsindex von 2010 listet Algerien auf Rang 105 von 178 Ländern weltweit.

Page 64: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Algerien

Deutsches Orient-Institut63

30 Jahre alt und die Hälfte von ihnen ist ar-beitslos. Es herrschen große Einkommens-disparitäten zwischen der Elite und derMehrheit der Bevölkerung. Die Bevölke-rungsverteilung Algeriens ist sehr ungleich:96% der Einwohner leben im Norden aufeinem Fünftel der Staatsfläche. Über dieHälfte, Tendenz steigend, wohnen bereits inStädten, die hauptsächlich im Küstenbereichliegen. Die hohe Auswanderungsquote isthauptsächlich auf die fehlenden Arbeitsmög-lichkeiten und den wachsenden Bevölke-rungsdruck zurück zu führen.Schätzungsweise 2,3 Mio. Algerier leben imAusland, davon über 1,5 Mio. in Frankreich.

Ein weiteres Problem ist die katastrophaleWohnsituation besonders in den Großstädten,die durch die stetig wachsende Bevölkerungzunimmt5. Dies beeinträchtigt vor allem diejunge Generation, der es kaum möglich ist, zuheiraten und eine Familie zu gründen. Auchdie kommunalen Dienstleistungen, insbeson-dere die Wasserversorgung, sind mehr alsmangelhaft.

Den Protesten fehlt die gesellschaftlicheMitte, die seit dem Bürgerkrieg geschwächtist. Durch den jahrelangen Krieg konnte sichauch keine funktionierende Zivilgesellschaftentwickeln. Aufgrund des in den 1980er Jah-ren gescheiterten Versuchs des Pluralismusherrscht heute ein tiefes Misstrauen gegenü-ber der Politik, die Jugendgeneration ist durchdie Korruption von politischem Desinteressegeprägt. Die politischen Parteien sind daherunbeliebt, aufgrund der Repressionen desRegimes sind die politischen Parteienschwach entwickelt und untereinander zer-splittert. Die Unzufriedenheit der Algerier mitder politischen Klasse äußert sich auch in äu-ßerst niedrigen Wahlbeteiligungen: Bei denParlamentswahlen 2002 lag diese bei 46%,im Jahr 2007 sogar nur bei 35,5%.

III. Akteure des Wandels und konkrete

Auslöser

Die lokalen Aufstände in den größeren Städ-ten Algeriens haben durch die Ereignisse inTunesien und Ägypten neuen Antrieb bekom-men. Die Selbstverbrennung des tunesischenGemüsehändlers Muhammad Bouazizi gilt alsInitialzündung für den großen Januaraufstandzum „Sturz des Systems“. Die Revolutionenin den Nachbarländern riefen weitgehendeBegeisterung in der algerischen Bevölkerung

hervor. Bereits im Mai 2010 erfasste eine all-gemeine Streikwelle das Land. Anfang De-zember versuchten über 200 Jugendliche, aufdem Seeweg nach Spanien überzusetzen.Ebenfalls im Dezember kam es zu Unruhenin der Bevölkerung, als die Polizei mit derRäumung der informellen Märkte, auf denen60% der Waren verkauft werden sollen, be-gann. Eine nahende Brotkrise wurde ange-kündigt. Anfang Januar stiegen die Preise fürGrundnahrungsmittel wie Zucker und Spei-seöl um 20% an. Nun erhoben sich große Be-völkerungsteile im Norden des Landes.Manche forderten die Entpolitisierung des Mi-litärs, andere beklagten die schlechten Le-bens- und Arbeitsbedingungen. Viele hattenihre Angst vor erneutem Blutvergießen verlo-ren. Es kam zu schweren Auseinanderset-zungen und Plünderungen. Die jungeGeneration mobilisierte sich über sozialeNetzwerke, Studentenproteste bildeten einetreibende Kraft. Seit Jahren sind die Studen-ten aufgebracht über die miserablen Studien-bedingungen, die fehlende beruflichePerspektive und die Bevorzugung der franko-phon ausgebildeten Absolventen auf dem Ar-beitsmarkt. Al-Qaida im islamischen Maghreb(AQIM) bot den Demonstranten per Video-botschaft ihre Unterstützung zum Sturz der al-gerischen Regierung an. AQIM-Führer AbuMusab Abdul Wadud stellte militärische Hilfeund Ausbildung in Aussicht.

IV. Auswirkungen des „Arabischen

Frühlings“

Im Januar bildete sich schließlich die CNCD(Coordination Nationale pour le Changementet la Démocratie), eine Koalition oppositionel-ler Gruppen und der Menschenrechtsliga.Streiks, Sit-Ins und Demonstrationen fandenseither in wöchentlichem Rhythmus statt: Ar-beiter demonstrierten gegen die Hunger-löhne, Arbeitslose fordern ihre sozialenRechte ein, Lehrer und Lehrerinnen beklag-ten die Unmenschlichkeit ihrer Arbeitsver-träge. Familien der Opfer des Terrorismus undehemalige Strafgefangene aus der Zeit desBürgerkrieges forderten Entschädigung. Meh-rere Fälle von Selbstverbrennungen wurdenberichtet. Diese fanden meist vor Regie-rungsgebäuden statt. Gemeindepolizistenprangerten den Tod tausender Kollegen an,die im Kampf gegen Islamisten ums Lebenkamen. Die Sicherheitskräfte versuchten mitGewalt, die Aufstände niederzuschlagen, Tau-sende wurden verhaftet.

5 Die Bevölkerung beträgt 2011 35,4 Mio. und wird bis 2030 voraussichtlich auf 49,6 Mio ansteigen.

Page 65: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Algerien

Deutsches Orient-Institut 64

Infolgedessen kam es zur Bildung zahlreicherneuer Vereinigungen von Interessensgrup-pen. Die große Schwäche der Protestbewe-gungen bleibt dennoch bislang, dass dieOppositionsgruppen nach wie vor getrenntvoneinander agieren, so dass sich keine ge-einte landesweite Protestbewegung etablie-ren konnte. Die Demonstranten eint weder dieZugehörigkeit zu einer einzelnen Partei, nochein gemeinsames Schlagwort. Vielmehr ist esdas Gefühl der Erniedrigung durch die wirt-schaftlichen Missstände und die beschränk-ten Partizipationsmöglichkeiten, das die jungeBevölkerung mobilisiert.

V. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure

Auf Druck der zahlreichen Proteste reagiertedas Regime mit einer Mischung aus Zuge-ständnissen und Repressionen, um den sozi-alen Frieden „zu erkaufen“. Zunächst wurdeam 24. Februar 2011 der Ausnahmezustand,der seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges1992 galt, überraschend aufgehoben. Den-noch blieben Demonstrationen und Ver-sammlungen weiterhin ausSicherheitsbedenken verboten, ein neuesAnti-Terror-Gesetz wurde proklamiert. Am 15.April kündigte Präsident Bouteflika6 eine Re-form der Verfassung und eine politische Öff-nung an. Er versprach die Schaffung neuerArbeitsplätze und die Zulassung aller politi-schen Parteien zum staatlichen Fernsehenund Radio. In seiner Rede schürte er bewusstdie Angst vor dem Ausbruch eines neuen blu-tigen Konflikts und beschwor die Einheit undStärke der algerischen Nation. Die geringfü-gigen Veränderungen im Verfassungstextmachten jedoch wenig Mut auf eine grundle-gende Veränderung des politischen Systems.

Um die Proteste zu mildern, wurde zeitweiligder Zugang zu Internetseiten wie Facebookund Twitter, auf denen zu landesweiten Pro-testen aufgerufen wurde, beschränkt. Esfolgte eine Offensive der sozialen Zugeständ-nisse: Die Regierung stellte im Januar und

Februar 20 Mrd. EUR für Sozialmaßnahmenzur Verfügung. Den Preissteigerungen bei Le-bensmitteln entgegnete man mit der Vergabevon gewaltigen Geldmitteln, im Jahr 2011 sol-len insgesamt 2,2 Mrd. EUR für Subventionenbereitgestellt werden. Dies bedeutet eine Stei-gerung im Budget um 25%. Das Maßnah-menpaket wird jedoch die Probleme nurkurzfristig mildern, nicht aber die Ursachender sozialen und wirtschaftlichen Missständelösen können.

VI. Zukunftsszenarien

Trotz wöchentlich stattfindender Kundgebun-gen ist es in Algerien bis jetzt nicht zu einerbreiten Mobilisierung gekommen. Zum einenhängt dies damit zusammen, dass die Oppo-sition in viele kleine Gruppen zersplittert ist.Bereits die Aufhebung des Notstands rief ge-teilte Reaktionen und unterschiedliche Vorge-hensweisen unter den Protestgruppen hervor.Die Arbeit der politischen Parteien wird vonder Bevölkerung mit Misstrauen beobachtet,sie bieten für viele keine Alternative zum be-stehenden System. Zu tief sitzen die Wundendes gescheiterten Demokratisierungsprozes-ses zu Beginn der 1990er Jahre und die Angstvor gewalttätigen Auseinandersetzungen. DieIslamisten haben ihre politische Legitimitätlängst verloren und an Mobilisierungskraft ein-gebüßt.

Doch der Bevölkerung liegt an einer grund-sätzlichen Veränderung des korrupten, auto-ritären und elitären Systems. In Algerien gibtes keine zentrale Machtfigur, die Absetzungdes Präsidenten Bouteflika würde das Macht-gefüge nicht verändern. Das Militär, dasfaktisch im Hintergrund die eigentlichen Ent-scheidungen trifft und den Präsidenten undalle Regierungsentscheidungen beeinflusst,würde vermutlich einen neuen Präsident-schaftskandidaten aus ihren Reihen vorstel-len. Einen generellen Systemwechsel inRichtung Demokratie, wie es die Oppositionfordert, wäre nur möglich, wenn das Militär

6 Abdelaziz Bouteflika, 1937 in Oujda/ Marokko geboren, schloss sich 1956 der algerischen Befreiungs-bewegung Front de Libération Nationale (FLN) an. 1962-1963 war er Minister für Jugend, Sport und Tou-rismus und von 1963-1979 Außenminister. In den 1980er Jahren lebte er zeitweise im Ausland; seit 1999ist er Staatspräsident Algeriens (2004 und 2009 wiedergewählt). Eine Verfassungsänderung von 2008ermöglichte dem Präsidenten eine umstrittene dritte Amtszeit. Seine Nationale Befreiungsfront (FLN) führtAlgeriens Regierung seit der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1962 ohne Unterbrechung an. An-fangs wurde Bouteflika vom Militär gestützt, später begann er sich zu distanzieren. Mit einem erfolgrei-chen Referendum zur nationalen Versöhnung 2005 wurde den Aufständischen im Gegenzug für eineNiederlegung der Waffen eine Amnestie gewährt. Auch den AQIM-Kämpfern, die immer wieder Anschlägeausführen, hat Bouteflika eine Amnestie angeboten. Der Sicherung der algerischen Unabhängigkeit be-gegnet er mit vorsichtigen Reformen und einer wirtschaftlichen Öffnung. Doch die Öleinnahmen kommenbei der breiten Masse nicht an.

Page 66: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Algerien

Deutsches Orient-Institut65

entpolitisiert würde.

Dies erscheint zum jetzigen Zeitpunkt un-wahrscheinlich, da Algerien aufgrund seinerhohen Ressourcenvorkommen und der Nähezu Europa international immer mehr an Be-deutung gewinnt. Die Wirtschaft verzeichnetweiterhin hohe Exportraten, 2011 wird dasBruttoinlandsprodukt voraussichtlich um 3,7%aufgrund der hohen Erdöl- und Erdgaspreisewachsen. Der Handel verzeichnete im erstenHalbjahr 2011 ein Plus von 25% im Vergleichzum Vorjahr. Bedeutendster Handelspartnerist und bleibt Frankreich, es folgen die USAund die Länder der Europäischen Union, diewie damals im Bürgerkrieg das algerische Re-gime aufgrund von wirtschaftlichen und geo-strategischen Interessen unterstützen. Dochder Einfluss dieser Staaten ist nicht zu unter-schätzen: Durch die Abhängigkeit der algeri-schen Wirtschaft vom Ausland wären sie amehesten in der Lage, Druck auszuüben undden politischen Liberalisierungsprozess zufördern. Das Regime hat es bis jetzt geschicktverstanden, die Bevölkerung mit einer Ba-lance aus Repression und Öffnung ruhig zustellen und den sozialen Frieden „zu erkau-fen“. Hierzu zählten auch in der Vergangen-heit die Integration einzelnerOppositionsmitglieder in die eigenen Reihensowie die Vereinnahmung der „RessourceIslam“ für das eigene politische Programm.Die weitere Entwicklung in Algerien und derErfolg der alltäglichen Proteste sind auch vonden Entwicklungen in den Nachbarländernabhängig. Eine erfolgreiche demokratische

Umwandlung in Tunesien oder ein Voran-schreiten demokratischer Reformen in Ma-rokko könnte, ähnlich wie nach derSelbstverbrennung von Bouazizi, große Sig-nalwirkung ausüben. Auch der Sturz Muam-mar al-Gaddafis wird Auswirkungen aufAlgerien haben. Sollte es gelingen, die Oppo-sition zu einen, könnte die Stärke dieser Pro-teste das Regime zum Handeln zwingen. Wiebereits erwähnt, ist zusätzlicher Druck aus derEU dringend notwendig. Ein Systemwandelund eine Entmachtung des Militärs scheintzum jetzigen Zeitpunkt mehr als unwahr-scheinlich, doch die Revolutionen in Tunesienund Ägypten, trotz unterschiedlicher Aus-gangslage, haben alle überrascht und gebenAnlass zur Hoffnung. So gibt es auch Positi-ves zu berichten: Der „Arabische Frühling“führte in Algerien dazu, dass der seit 1992geltende Notstand aufgehoben wurde. Diesallein ist als große Errungenschaft zu werten.Dazu bildete sich ein neues Netzwerk ausVereinigungen und Interessensgruppen, dieZivilgesellschaft entwickelt sich. Vor allem bie-ten auch in Algerien die sozialen Netzwerkeeine Plattform für den Austausch zwischender sehr jungen Bevölkerung. Politische The-men und Missstände werden offener disku-tiert, die Bevölkerung schien in den letztenMonaten nicht allzu sehr von Angst gezeich-net zu sein. Eine neue Dynamik hat sich ent-wickelt, auch wenn sie noch durch dieUnvereinbarkeit der zahlreichen Protestgrup-pen gebremst wird.

Samira Akrach

VII. Literaturangaben

BELAKHDAR, NAOUAL: Eine Analyse der gescheiterten Protestbewegung in Algerien 2011, in: Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients (Hrsg.): Proteste, Revolutionen, Transformatio-nen- die Arabische Welt im Umbruch, Berlin 2011, S. 82-91.

DIETRICH, HELMUT: Algerien. Nach dem Aufstand ist vor dem Aufstand, in: Nordhausen, Frank undThomas Schmid (Hrsg.): Die arabische Revolution, Berlin 2011, S. 63-77.

EL WATAN

EVANS, MARTIN: Algeria’s Place in the 2011 Arab Revolutions, http://globalconversation.org/2011/03/02/algerian-specificities-algerias-place-2011-arab-revolution-prof-martin-evans, abgerufen am 08.07.2011.

HASEL, THOMAS: Machtkonflikt in Algerien, Berlin 2002.

KNIPPERTS, ALEXANDER: Algerien. Im Schatten der Revolution, Friedrich-Naumann-Stiftung.

Page 67: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Algerien

Deutsches Orient-Institut 66

KONRAD-ADENAUER-STIFTUNG: Parlamentswahlen in Algerien: Die Bürger bleiben lieber zu Hause,http://www.kas.de/maghreb/de/publications/10976/, abgerufen am 25.07.2011.

LE MONDE

LE QUOTIDIEN D’ORAN

LEBOVICH, ANDREW: Will February 12 bring revolution to Algeria?,

http://www.mideast.foreignpolicy.com/posts/2011/02/09/will_february_12_mark_a_revolution _in_algeria, abgerufen am 08.07.2011.

LUDWIG, GEORG: Militär, Islamismus und Demokratie in Algerien (1978 bis 1995), Wiesbaden 1998.

MAKEDHI, MADJID: Réformes politiques de Bouteflika: une reproduction des expériences du passé,El Watan, http://www.politiquementautrement.wordpress.com/2011/06/27/reformes-politiques-de-bouteflika-une-reproduction-des-experiences-du-passe/, abgerufen am08.07.2011.

SCHUMACHER, TOBIAS: Wohlstand für wenige. Die arabische Welt fordert mehr Partizipation und soziale Gerechtigkeit, in: Internationale Politik, Nr. 2/2011, S. 30-35.

SIKA, NADINE: The Arab Uprisings & The Rise of Secularism, http://www.muftah.org/?p=938, abgerufen am 08.07.2011.

Page 68: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Marokko

Deutsches Orient-Institut 67

1 CIA – The World Factbook.2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.3 The World Bank, Population Density, http://www.data.worldbank.org/country/morocco. 4 CIA – The World Factbook.5 CIA – The World Factbook.6 CIA – The World Factbook.7 CIA – The World Factbook.8 CIA – The World Factbook.9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators,

http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles.10 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN.12 CIA – The World Factbook.13 CIA – The World Factbook. 14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.15 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.16 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG;

International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, S. 183, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf.

17 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html.

18 CIA – The World Factbook.19 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia,

http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf.20 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us.21 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,

http://hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 22 United Nations Development Programme (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection:

Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends.

23 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf.

24 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp.

25 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

Landesdaten MarokkoFläche1 2011 446.550 km²

Bevölkerung2 2010 32.400.000

Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 73

Ethnische Gruppen4 2010 Araber/ Berber 99,1%, andere 0,7%

Religionszugehörigkeit5 2010Muslime 98,7%, Christen 1,1%, Juden 0,2%

Durchschnittsalter6 2010 26,9 Jahre

Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 27,8%

Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 6,1%

Lebenserwartung9 2010 71,8 Jahre

Bevölkerungsprognose bis 205010 2010 42.600.000

Geburten pro Frau11 2009 2,3

Alphabetisierungsrate12 2010 52,3%

Nutzer Mobiltelefone13 2009 25.311.000

Nutzer Internet14 2009 13.213.000

Nutzer Facebook15 2011 3.596.320

Wachstum BIP16 2010 3,3%

BIP pro Kopf17 2010 4.638 USD

Arbeitslosigkeit in Prozent18 2010 9,1%

Inflation19 2011 2,9%

S&P-Rating20 2011 BBB-

Human Development Index21 2010 Rang 114 (von 169)

Bildungsniveau22 2010 Rang 139 (von 177)

Bildungsniveau der Frauen (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)23 2010 20,1%

Politische Teilhabe24 2009 26,5%

Korruptionsindex25 2010 Rang 85 (von 178)

Page 69: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Marokko

Deutsches Orient-Institut68

Marokko

An Marokko sind die politischen Um-brüche der Region nicht folgenlosvorüber gegangen. Dennoch ist der

so genannte „Dominoeffekt“ bisher nichteingetreten, das marokkanische Volk stehtfest hinter seinem König, obwohl in Ma-rokko ähnliche wirtschaftliche und politi-sche Defizite wie in denTransformationsländern Ägypten und Tu-nesien existieren: Hohe Jugendarbeitslo-sigkeit, Klientelismus sowieEinschränkungen bei Demokratie undMenschenrechten. Doch als sich im Fe-bruar 2011 Jugendliche, Menschenrechts-bewegungen und Islamisten zuProtestkundgebungen in den größerenStädten versammelten, reagierte derKönig sofort und kündigte eine Verfas-sungsreform an, die das Königreich ineine konstitutionelle Monarchie umwan-deln soll. Die Ernsthaftigkeit der demokra-tischen Öffnung muss jedoch bezweifeltwerden: Die Analyse soll zeigen, dass dieVerfassungsreform von 2011 den politi-schen Kurs der Monarchie als ein Wech-selspiel zwischen Liberalisierung undTotalitarismus weiter fortführt und an denzentralen Machtbefugnissen des Königsderweil wenig verändert.

I. Politisches System und gesellschaftli-che Entwicklungen

Seit dem 17. Jahrhundert wird Marokko vonder Dynastie der Alawiden regiert. 1912wurde Marokko zur französischen Kolonie er-klärt. Der Sultan fungierte als offizielles Ober-haupt des Landes, wenngleich die politischenEntscheidungen von der französischen Kolo-nialverwaltung getroffen wurden. 1956 wurdeMarokko von Frankreich in die Unabhängig-keit entlassen unter der Bedingung, den Staatin eine konstitutionelle Monarchie umzuwan-deln. Die Anfänge der nationalen Befreiungs-bewegung wurden durch Parteien undVereine gelegt, Sultan Muhammad V. unter-stützte die Unabhängigkeitsbewegung erst abden 1950er Jahren. Die Parteien und Vereineerkannten damals die Mobilisierungskraft inder Figur des Sultans. So inszenierte sich derSultan als Märtyrer für den Befreiungskampf

und wurde zur Leitfigur des Widerstands. DenNationalisten war es derweil nicht gelungen,ihre Macht zu festigen.

1957 nahm Muhammad V. den Königstitel an.Vier Jahre später bestieg Hassan II. nachdem Tod seines Vaters den Thron. Trotz desin der Verfassung verankerten konstitutionel-len Charakters der Monarchie regiert derKönig de facto absolut. Er ist das politischeund religiöse Oberhaupt des Landes und Be-fehlshaber über die Armee, fungiert als Iden-titätsstifter und gilt für die Mehrheit derBevölkerung als Garant für Stabilität und Ein-heit des Landes. Kritik an der Monarchie führtbis heute zu Verhaftungen, Repressionen undZensur. In Marokko gilt der Dreiklang „Gott-Vaterland-König“, d.h. diese drei Pfeiler desStaates sind unveränderbar und heilig. DieLegitimität der Herrschaft des Königs gilt alsnicht verhandelbar und stützt sich auf die tra-ditionelle Zeremonie der bay’a, eine Art frei-williger islamischer Treueid, der demRezipienten göttliche Autorität verleiht und ihnlebenslang an diesen Eid bindet. Neben dersakralen Rolle1 als Amir al-mu’minin („Fürstder Gläubigen“) stützt sich das marokkani-sche Herrschaftssystem noch auf weitere Le-gitimationsstrategien:

● Historisch: der Bezug zu Muhammad V.und seiner Bedeutung für den Unabhän-gigkeitskampf

● Demokratisch: die Schaffung „pseudo-demokratischer“ Institutionen, die die poli-tische Realität einer de facto absolutenMonarchie verschleiern

● Ökonomisch: der König gilt als größterUnternehmer des Landes, ist Teilhaber aneiner Vielzahl an Gesellschaften, Versi-cherungen, Banken und Medien

● Kulturell: die Arabisierungspolitik alsMittel zur innenpolitischen Legitimation,das Hocharabische als neue Identität inAbgrenzung zu ehemaligen kolonialen In-stitutionen

● Wohlfahrtspolitisch: symbolische Identi-fikation (Bau der zweitgrößten Moscheeder Welt in Casablanca), „Grüner Marsch“vom 06.11.1975 für die Zugehörigkeit der

1 Diese wird durch die Abstammung der seit 1664 herrschenden Alawiden-Dynastie mit der Prophetenfa-milie verstärkt. Die Alawiden führen ihre Abstammung auf Hassan ibn Ali, den Enkel des Propheten Mu-hammad, zurück und waren somit Scherifen. Sie kamen Ende des 13. Jahrhunderts aus dem HijaznachMarokko.

Page 70: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Marokko

Deutsches Orient-Institut 69

Westsahara zu Marokko wird zu nationa-lem Feiertag ernannt

● Sicherheitspolitisch: Repressalien durchGeheimdienst, Polizei und Militär

Der König ist von einem elitären regimetreuenNetzwerk umgeben, dem so genanntenmakhzen. Ursprünglich stand dieser Begrifffür den Ort, an dem eingetriebene Steuernaufbewahrt wurden. Heute umfasst der Begriffdie vertrauten Berater des Königs, Angehö-rige des Sicherheitsapparates, Teile der Wirt-schaftselite sowie weitere ausgesuchtePersönlichkeiten aus Organisationen undParteien. Die Nähe einzelner Mitglieder desNetzwerkes variiert, die Wirkungsweise desSystems hat bis auf die lokale Ebene Be-stand.

Die Herrschaft Hassan II. war von Autorita-rismus und einer selektiven Einstellunggegenüber westlicher Modernität geprägt. Sowollte er einerseits Marokko modernisierenund wirtschaftlich enger mit Europa und denUSA zusammen arbeiten. Auf der anderenSeite ließ er Regimegegner konsequent ver-folgen, viele gingen ins Exil. Die härteste Zeitder Regentschaft von Hassan II. wird deshalbmit dem Begriff Années de plomb („bleierneJahre“) bezeichnet. Demokratische Reformen– unter seiner Herrschaft 1961-1999 wurdeninsgesamt zehn Verfassungsänderungen ver-abschiedet – blieben aber immer Machtkalkül.In den 1970er Jahren kam es vermehrt zuökonomisch bedingten Unruhen, Anschlags-versuche auf den König scheiterten. Nach Kri-tik an seiner Unterstützung derAnti-Irak-Koalition im Zweiten Golfkrieg mus-

ste Hassan II. die Opposition nun verstärkt miteinbeziehen und entwickelte ein ausgefeiltesInstrumentarium zur Machtkonsolidierung.Zur Stabilisierung seiner Herrschaft nutzte erauch gezielt den Westsaharakonflikt2 von1975. Auch während der Unruhen in den1970er Jahren konnten sich die politischenParteien nicht als Träger eines sozialen Wan-dels etablieren, der politische Islam hat bisheute keinen zentralen Einfluss erlangen kön-nen3.

Hassans Sohn Muhammad VI. wurde 1999im Alter von nur 35 Jahren sein Nachfolger. Ererarbeitete sich rasch den Ruf eines Refor-mers4: So entließ er den engen Vertrautenseines Vaters und langjährigen InnenministerDriss Basri und gründete eine Kommissionzur Aufklärung von Menschenrechtsverlet-zungen unter dem vorherigen Regime. Fürviel Aufsehen sorgte die Reform des Famili-engesetzes, das den Frauen mehr Rechte imFalle einer Scheidung und beim Sorgerechteinräumte und die Polygamie erschwerte.Ebenso wurde die Kulturszene unter seinerHerrschaft lebendiger, die Presse vielfältigerund er schuf zahlreiche neue Sozialprojekteim Rahmen seines Entwicklungsplans Initia-tive Nationale de Développement. Beobach-ter sprechen von einer bewusstenInszenierung als „Bürgerkönig“. Doch alldiese Reformen täuschen nicht darüber hin-weg, dass immer noch Verhaftungen und Ver-folgungen politischer Gegner vorgenommen,Demonstrationen mit Gewalt niedergeschla-gen und die Medien willkürlich der Zensurunterworfen werden. Die Berichterstattung istweiterhin den drei heiligen Themen „Gott-Va-terland-König“ unterworfen.

2 Das Gebiet der Westsahara war zum Ende des Zweiten Weltkrieges eine spanische Kolonie. Marokko be-ansprucht die Westsahara als Teil seines Staatsgebietes, während die militärische und politische Orga-nisation der Westsahara, genannt Polisario, die Unabhängigkeit des gesamten Territoriums anstrebt. Siehat 1976 die Demokratische Arabische Republik Sahara ausgerufen, die heute von etwa 50 Staaten an-erkannt wird und Mitglied der Afrikanischen Union ist. Als Reaktion darauf trat Marokko aus selbiger wie-der aus und ist damit bis heute der einzige afrikanische Staat, der nicht Mitglied der Afrikanischen Unionist. Das Gebiet von Westsahara ist heute geteilt in einen größeren westlichen Bereich unter Kontrollevon Marokko und einen östlichen und südlichen Bereich unter Kontrolle der Polisario. Dem im Jahre 1991von den Vereinten Nationen vermittelten Waffenstillstand sollte eine Volksabstimmung über die Zukunftdes Landes folgen. Trotz existierender Vorbereitungen wurde sie bislang nicht durchgeführt. Unterstüt-zer der Unabhängigkeitsbewegung sind Algerien und Südafrika.

3 Die islamistische Bewegung Al-Adl wal-Ihsan wurde 1973 von Sheikh Abdsessalam Yassine gegründet.Die Bewegung widersetzt sich dem Artikel der Verfassung, der den König zum Amir al-mu’minin benennt.Ideologisches Ziel ist die Schaffung eines Kalifats. Die Bewegung ist vom Regime nicht legalisiert wor-den. Die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) ist seit 1997 im marokkanischen Parlament ver-treten und seit 2002 stärkste Oppositionspartei. Die PJD gilt als islamisch orientiert und weist teilweiseislamistische Züge auf. Seit den Bombenanschlägen 2003 in Casablanca distanziert sie sich zunehmendvon ihrer vorherigen Rhetorik. Sie hat ihre Ideologie säkularisiert, um sich im politischen Feld zu etablie-ren. Im Gegensatz zur Al-Adl wal-Ihsan gilt sie als königstreu.

4 Ein Zeichen dafür ist auch seine Heirat mit Lalla Salma, einer Informatikerin aus Fes. Sie präsentiert sichgern unverschleiert in der Öffentlichkeit, oft auch an der Seite ihres Mannes. Hassan II. dagegen besaßeinen Harem, seine Frauen lebten von der Öffentlichkeit abgeschirmt.

Page 71: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Marokko

Deutsches Orient-Institut70

So gestaltet sich der politische Kurs der Mon-archie als ein Wechselspiel zwischen Libera-lisierung und Totalitarismus. Trotz der weitreichenden Befugnisse des Königs lässt sicheine historische Kontinuität der Infragestel-lung marokkanischer Herrschaftsverhältnissefeststellen, das politische Feld war immerkomplexen Aushandlungsprozessen unterle-gen. Diese Aushandlungsprozesse erreichtenmit den Umbrüchen in der Region eine neue,bisher ungeahnte Dimension.

II. Voraussetzungen für den Willen nachWandel

Der Reformkurs unter Muhammad VI. kannjedoch nicht die bestehenden wirtschaftlichenund sozialen Probleme des Landes verde-cken. Marokko bildet das wirtschaftlicheSchlusslicht der Maghrebstaaten. Trotz einesjährlichen Wirtschaftswachstums von 3,3%(2010) liegt das durchschnittliche Einkommennur bei 300 EUR im Monat. Die Hälfte der Be-völkerung sind Analphabeten, die Armut istbesonders auf dem Land groß. Eine Dürre-periode hat die Entwicklung zusätzlich ge-hemmt, da 40% der Bevölkerung in derLandwirtschaft beschäftigt sind. Grundnah-rungsmittel werden vom Staat subventioniert,um Unruhen zu vermeiden. Der Unterschiedzwischen Arm und Reich wächst und wird be-sonders in Villenvierteln wie in Marrakeschsignifikant. Intransparenz, Korruption und De-fizite bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeitsind Hemmnisse für ausländische Investoren.Der Korruptionsindex von 2010 wies Marokkoden 85. Rang von 178 Ländern insgesamt zu.

Ein weiteres Problem ist der weit verbreiteteKlientelismus: Attraktive Posten werden inner-halb einzelner einflussreicher Familien ver-teilt. Viele junge Marokkaner versuchen oftauf illegale und gefährliche Weise nach Eu-ropa auszuwandern. Die junge Generation(65% der Bevölkerung sind unter 30 Jahre)leidet unter hoher Arbeitslosigkeit, viele wan-dern auf der Suche nach Arbeit in die größe-ren Städte ab. Dort soll die Arbeitslosenratebei den 25-34-Jährigen bei 26% liegen. DieArbeitslosigkeit bedingt auch, dass die jungenMenschen immer später heiraten und eineFamilie gründen können, Wohnraum ist kaumerschwinglich. Wie in anderen nordafrikani-schen Ländern sind besonders die Hochqua-lifizierten von hoher Arbeitslosigkeit betroffen.In den letzten zehn Jahren kam es wöchent-lich zu Demonstrationen von arbeitslosen

Hochschulabsolventen vor Parlamentsge-bäuden. Die Auswanderungsrate bleibt hoch,viele Familien finanzieren sich ausschließlichüber Geldzuweisungen ihrer Familienange-hörigen aus dem Ausland.

Der Frust über die sozialen Ungleichheitensitzt tief und hat bedingt durch die Ereignissein den Nachbarstaaten Tunesien und Ägyp-ten Auftrieb bekommen. Auch der politischenKlasse wird nicht getraut, viele junge Marok-kaner sind politisch desinteressiert. Das Ge-fühl herrscht vor, nach den Wahlen oftmalsvon den gewählten Politikern belogen wordenzu sein. Die Undurchsichtigkeit des elitärenregimetreuen Netzwerks des makhzen schürtweiteres Misstrauen.

III. Akteure des Wandels und konkreteAuslöser

Trotz des repressiven Klimas gibt es zahlrei-che Akteure, die Widerstand leisten. Die Me-dienlandschaft, die unter Muhammad VI.vielfältiger wurde, hat sich in den letzten Jah-ren immer wieder kritisch zur Monarchie unddem makhzen geäußert. Die Grenze des Er-laubten muss dabei stetig neu ausgetestetwerden. Besonders hervorzuheben ist die Be-richterstattung des Magazins TelQuel, dasseit 2002 erscheint und als kritisch und unab-hängig gilt.

Daneben spielte die Jugend auch bei frühe-ren Protestbewegungen eine tragende Rolle:Bereits in den 1990er Jahren bildeten sichzahlreiche Jugendkulturen heraus, die mitihrer Musik progressive Themen zur Diskus-sion stellten und unter den Jugendlichen po-pulär machten. Auch das Internet nimmt anBedeutung stetig zu5. In Marokko tauschtensich kritische Jugendliche in Blogs schon vorden Revolutionen in Tunesien und Ägyptenüber soziale Probleme aus. Einzelne Men-schenrechts- und Frauenrechtsorganisatio-nen protestierten schon vor den Ereignissendes 20. Februar regelmäßig für mehr Freihei-ten. Im Februar 2011 schließlich organisiertensich Jugendliche vermehrt im Internet. DieGeschehnisse in Tunesien wurden mit großerAufmerksamkeit beobachtet, die Hoffnungwuchs, auch die bestehenden Verhältnisse imeigenen Land ändern zu können. So wuchsauch in Marokko eine neue Bürgerrechtsbe-wegung heran. Die bedeutendste Kundge-bung fand am 20. Februar statt und setztesich größtenteils aus Jugendlichen zusam-

5 Die Zahl der Internetnutzer ist in den letzten Jahren stetig gestiegen und wird für das Jahr 2009 auf 13Mio. bei einer Gesamtbevölkerung von 32 Mio. geschätzt.

Page 72: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Marokko

Deutsches Orient-Institut 71

men, wobei ein Großteil von ihnen aus demlinken Milieu stammte. Aber auch arbeitsloseHochschulabgänger, Menschenrechtsbewe-gungen und Islamisten schlossen sich denProtesten an. Sowohl die PJD als auch Mit-glieder von Al-Adl wa-l-Ihsan waren in dieProteste involviert.

IV. Auswirkungen des „ArabischenFrühlings“

Sie forderten im Wesentlichen eine neue Ver-fassung, die Schaffung einer unabhängigenJustiz, neue Arbeitsplätze und die Bekämp-fung der Korruption. Die Mitglieder des Parla-ments wurden als makhzénises verunglimpft.Damit wurde ihnen unterstellt, staatstreu undnicht im Sinne der Bürger zu agieren. DerKönig selbst und die Institution der Monarchiewurden kaum angegriffen, vielmehr wandteman sich gegen die bestehende Regierung,insbesondere gegen Ministerpräsident AbbasEl Fassi. Der König indes galt nach wie vorals Identitätsstifter und Garant der nationalenStabilität.

In Anlehnung an den 20. Februar fanden inden darauf folgenden Monaten zunächst alsReaktion auf die Fernsehansprache des Kö-nigs vom 9. März 2011 erneut Demonstratio-nen statt. Nachdem diese blutigniedergeschlagen wurden, zeigten die De-monstranten bei einer erneuten Protestwelleam 20. März deutlich weniger Sympathie fürden König. Auch von einer kleineren Gruppevon Gegendemonstranten wurde in derPresse berichtet. Im Zuge des Referendumszum neuen Verfassungsentwurf versammel-ten sich wiederum Zehntausende vor allem inden Städten Casablanca und Rabat und kriti-sierten die undemokratische Zusammenset-zung der Versammlung, die die neueVerfassung ausarbeiten sollte.

V. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure

Der König wandte sich in einer seiner selte-nen Fernsehansprachen am 9. März an dasVolk und kündigte eine Verfassungsreform an,die das Königreich in eine konstitutionelleMonarchie umwandeln sollte. Dafür solltendie Rolle des Ministerpräsidenten und die derParteien gestärkt sowie Rechtsstaatlichkeit

und die Wahrung der Menschenrechte geför-dert werden. Im Ausland wurden die Reform-bemühungen des Königs hoch gelobt, dochviele Demonstranten sahen ihre sozialen undwirtschaftlichen Forderungen unbeachtet, mo-natliche Proteste in den Großstädten warendie Folge. Diese wurden durch Enthüllungenüber geheime Gefängnisse und Folterungenim April und Mai weiter aufgeheizt. Die Poli-zei ging zum Teil hart gegen die fortwähren-den Demonstrationen vor, am 2. Juni kam eszum ersten Todesfall durch Polizeigewalt.Nach dem Terroranschlag am 28. April in Mar-rakesch blieb ein hartes Vorgehen gegen Is-lamisten jedoch aus.

Zur Ausarbeitung des Verfassungsentwurfeswurde eine Kommission gebildet. Die Mitglie-der waren jedoch vom König ausgewählt wor-den und somit nicht demokratisch legitimiert.Vertreter der politischen Parteien durften denEntwurf nicht einsehen. Schnell wurde klar,dass die Grundpfeiler des Systems weiterhinunantastbar bleiben. Trotz vieler Zusprüchebehielt sich der König genügend Schlupflö-cher vor, um seine Vormachtstellung zu be-wahren. So ernennt er weiterhin denPremierminister (unter der Bedingung, dasser aus der stärksten Partei des Parlamentsstammt), die Minister auf Empfehlung desPremierministers, kann die Minister absetzenund sogar die komplette Regierung aushe-beln. Ebenso ist er Oberbefehlshaber derArmee, Vorsitzender der Exekutive, reguliertdie Ernennung von Richtern, kann das Parla-ment auflösen und den Notstand verkünden.

Damit zeigt sich, dass der König auch nachVerfassungsänderung in allen Belangen seineZustimmung geben muss und damit direktoder indirekt als Anführer der Regierungagiert. So bleibt das gleiche institutionelleSystem bestehen, der wichtigste Streitpunkt– die absolute Vorherrschaft des Königs –bleibt unverändert. Positiv zu werten ist dieAnerkennung der kulturellen Vielfalt der ma-rokkanischen Bevölkerung: Amazigh, dieSprache der Berber6, wird als offizielle Spra-che anerkannt. Auf die Bekämpfung derhohen Jugendarbeitslosigkeit reagierte er mitder Schaffung eines Consultative Council onYouth and Associative Action. Auch anderepersönliche Freiheiten, wie das Recht auf

6 Die Berber sind über ganz Nordafrika verteilt und unterteilen sich in verschiedene Ethnien. In Marokko sind50-65% der Bevölkerung berberischer Abstammung, ein großer Teil von ihnen ist heute arabisiert. Ca. 30-40% der Bevölkerung spricht noch einen der drei berberischen Dialekte: Tarifit im Norden, Tamazight inZentralmarokko und Tachelhit im Süden. Die kulturellen Rechte der Berber wurden lange unterdrückt,seit 1994 setzt sich die Anerkennung und Förderung der Berbersprachen in Schulen und ihre Reprä-sentanz in den Medien schrittweise fort.

Page 73: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Marokko

Deutsches Orient-Institut72

Leben und die freie Meinungsäußerung, sindin der Verfassungsänderung enthalten. Es istjedoch generell fraglich, ob diese Gesetzeauch in der Realität umgesetzt werden. Denndie Freiheiten werden nur unter der Voraus-setzung gewährt, dass sie nicht die Grund-pfeiler des Systems „Gott - Vaterland - König“berühren. In einer weiteren Fernsehanspra-che vom 17. Juni kündigte der König dieDurchführung eines Referendums für den 1.Juli 2011 an. An jenem Tag wurde die Verfas-sungsreform mit offiziell 98% angenommen.Stimmen aus der Opposition äußerten sichkritisch zum Ergebnis und kündigten weitereProteste an. Ende Juli wurden vorgezogeneParlamentswahlen für den 7. Oktober 2011angekündigt.

VI. Zukunftsszenarien

Die Regierungszeit Hassan II. hat gezeigt,dass der Monarch in Krisenzeiten gezwungenwar, Dialogbereitschaft zu zeigen. Dabei ließer zögerlich Reformen zu, um die Revolten zuberuhigen, die Grundkonstanten des Macht-gefüges blieben jedoch unverändert. SeinSohn Muhammad VI. setzt diesen Kurs in ge-mäßigter Form fort. So ermöglicht die Verfas-sungsreform eine demokratische Öffnung.Doch sind diese Reformen ernst gemeint undwill der König tatsächlich eine Monarchienach spanischem Vorbild erschaffen? Odersind diese Zugeständnisse nur dazu gedacht,das Volk zu beruhigen und international An-erkennung zu erfahren? Die Doppelstrategiedes Regimes zwischen demokratischen Zu-geständnissen und Repressionen sind seitJahrzehnten fester Bestandteil des politi-schen Alltags und ein fortlaufender, immerneu auszuhandelnder Prozess.

Eine Revolution hat es bis dato in Marokkonicht gegeben, die Proteste sind zum großenTeil friedlich geblieben. Beobachter sprechenvon einer quiet revolution, einem harmoni-schen Prozess, bei dem beide Seiten gene-relle Handlungsbereitschaft gezeigt haben.Das Beispiel Marokko zeigt, dass es aucheinen anderen Weg in Richtung Demokrati-sierung geben kann. Der König hat dieChance, gestärkt aus der Protestbewegunghervorzugehen, sollte es ihm gelingen, dieMonarchie mit demokratischen Regierungsin-stitutionen zu verbinden. Die Eliten im Umfelddes Königs wären von einer demokratischenUmwandlung viel mehr betroffen: Sie stehenhauptsächlich im Zentrum der Kritik und hät-

ten, wie in Ägypten geschehen, Aufklärungs-prozesse und Gerichtsverfahren wegen Amts-missbrauch zu fürchten. Trotz derEnttäuschung über den Verlauf der Verfas-sungsreform genießt der König weiterhin inder Mehrheit der Bevölkerung großen Rück-halt. Der König hat rechtzeitig reagiert undkonnte seinen Ruf als Reformer bekräftigen.Sein großer Vorteil liegt darin, dass er in Ma-rokko keine Konkurrenz zu anderen Füh-rungspersönlichkeiten zu fürchten hat. Diepolitischen Parteien genießen nicht genugRückhalt in der Bevölkerung. Ebenso wird derKönig nicht nur von der eigenen Bevölkerungaufgrund seiner historischen und religiösenLegitimität bestätigt, sondern ist auch in Eu-ropa und den USA hoch angesehen. Dem Re-gime ist sehr an seiner Außenwahrnehmunggelegen, ausländische Investoren machensich weiterhin rar, der Tourismus bleibt einewichtige Einnahmequelle.

Doch die Proteste seit Beginn diesen Jahreshaben, wenn nicht zu einer Revolution, sodoch zu einem entscheidenden Umbruch inder Gesellschaft geführt: Zum ersten Mal wirddie Rolle und der Einfluss der Monarchie öf-fentlich verhandelt und die Verknüpfung vonweltlicher und religiöser Macht in Frage ge-stellt. Die Unantastbarkeit des Königs wurdedurch Diskussionen in Internetforen und in kri-tischen Magazinen wie TelQuel, scheinbarohne strenge Zensur, durchbrochen. Dabeihaben sich die jugendlichen Internetnutzer dieTaktiken aus Tunesien und Ägypten zu Eigengemacht, um die Massen zu mobilisieren.

So ist heute eine stärkere Politisierung unterden Jugendlichen zu spüren. Die verschiede-nen oppositionellen Gruppen, darunter Linke,Studierende, Menschenrechtsbewegungenund Islamisten, treten weiterhin in zahlreichenDemonstrationen in den Großstädten Marok-kos vereint auf.

Die Verfassungsreform ist als ein wichtigerSchritt in Richtung Demokratie zu werten.Doch es wird noch einige Jahre dauern, umdie Wirkung der Verfassungsreform richtigeinschätzen zu können. Es wird wohl auchvom Druck der Straße abhängen, wie weit rei-chend die Reformen letztendlich umgesetztwerden. Der Ausgang der Parlamentswahlenim Oktober ist ebenfalls von einiger Aussage-kraft.

Samira Akrach

Page 74: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Marokko

Deutsches Orient-Institut 73

VII. Literaturangaben

DUGGE, MARC: Marokko. Königliche Reformen, in: Nordhausen, Frank und Thomas Schmid (Hg.):Die arabische Revolution, Berlin 2011, S. 78-91.

HEGASY, SONJA: Staat, Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft in Marokko, Hamburg 1997.

HIMEUR, CHIHAB MOHAMMED: Le paradoxe de l’islamisation et de la sécularisation dans le Maro contemporain. Essai sur le Parti de la Justice et du Développement, Paris 2008.

HOFFMANN, ANJA: Wem gehört der marokkanische Wandel? Eine Analyse des umkämpften politischen Felds in Marokko, in: Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients (Hrsg.): Proteste, Revolutionen, Transformationen – die Arabische Welt im Umbruch, Berlin 2011, S. 92-109.

KHALLOUK, MOHAMMED: Islamischer Fundamentalismus vor den Toren Europas – Marokko zwischen Rückfall ins Mittelalter und westlicher Modernität, Wiesbaden 2008.

LARBI: Why I reject Moroco’s new constitution, The Guardian, http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2011/jun/23/morocco-new-constitution, 23. Juni2011, abgerufen am 19.07.2011.

LE MATIN

LE MONDE

MICHAUX-BELLAIRE, E.: Makhzan, in: Encyclopedia of Islam², Band 6, S.133b-137b.

SILVERSTEIN, PAUL: Weighing Morocco’s New Constitution, Middle East Research and InformationProject, http://www.merip.org/mero/mero070511, 05. Juli 2011, abgerufen am 19.07.2011.

THE NATIONAL: A step forward with Morocco’s new constitution, http://www.thenational.ae/thenationalconversation/editorial/a-step-forward-with-moroccos-new-constitution, 19. Juni 2011, abgerufen am 19.07.2011.

TYAN, E.: Bay’a, in: Encyclopedia of Islam², Bd. 1, S.1113a-1114a.

Page 75: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Syrien

Deutsches Orient-Institut 74

1 CIA – The World Factbook.2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.3 CIA – The World Factbook. 4 CIA – The World Factbook. 5 CIA – The World Factbook.6 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.8 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators,

http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles.9 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.10 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN.11 CIA – The World Factbook.12 CIA – The World Factbook. 13 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.15 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG; In-

ternational Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010,http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf.

16 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Develop-ment Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html.

17 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm.18 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia, http://www.imf.org/exter-

nal/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf.19 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us.20 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,

http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 21 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection:

Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators,http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/.

22 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf.

23 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://www.info.worldbank.org/gover-nance/wgi/sc_chart.asp.

24 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_in-dices/cpi/2010.

Landesdaten SyrienFläche1 2011 185.180 km² Bevölkerung2 2010 22.500.000Bevölkerungsdichte (pro km²) 2010 117,71

Ethnische Gruppen3 2010Araber 90,3 %, Kurden, Armenier und andere 9,7 %

Religionszugehörigkeit4 2010Sunniten 74%, andere Muslime (Alawiten, Drusen), 16%, Christen 10%, Juden 1 % (vor allem in Damaskus, Al-Qamishli, Aleppo)

Durchschnittsalter5 2010 21,9 JahreBevölkerung unter 15 Jahren6 2011 37%Bevölkerung über 65 Jahren7 2011 4%Lebenserwartung8 2010 74,6 JahreBevölkerungsprognose bis 20509 2010 36.900.000Geburten pro Frau10 2009 3,1Alphabetisierungsrate11 2010 79,6%Nutzer Mobiltelefone12 2009 9.697.000Nutzer Internet13 2009 4.469.000Nutzer Facebook14 2011 k. A.Wachstum BIP15 2010 3,2%BIP pro Kopf16 2010 4.857 USDArbeitslosigkeit17 2010 8,3%Inflation18 2011 6,0%S&P-Rating19 2011 BBB+Human Development Index20 2010 Rang 111 (von 169)Bildungsniveau21 2010 Rang 149 (von 177)

Bildungsniveau der Frauen(mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)22 2010 24,7%

Politische Teilhabe23 2010 5,7%Korruptionsindex24 2010 Rang 127 (von 178)

Page 76: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Syrien

Deutsches Orient-Institut75

Syrien

Als Anfang 2010 die Revolutionen inTunesien und später in Ägyptenausbrachen und man überlegte, in

welchen Ländern der MENA-Region der re-volutionäre Funke als nächstes übersprin-gen könnte, wurde Syrien bei diesenPrognosen eher vernachlässigt. Zu sehrhatten die Geheimdienste die syrische Ge-sellschaft im Griff, zu brisant war SyriensLage innerhalb der Region, zu präsent wardas Massaker 1982 von Hama. Es wardeutlich, dass ein Aufbegehren des syri-schen Volkes einen besonders schwerenKonflikt nach sich ziehen würde. Währendwoanders die Regime drohen zu stürzen,konnte sich das syrische Baath-Regime inaller Ruhe auf einen potentiellen Ernstfallnicht nur militärisch, sondern auch miteiner Medienoffensive vorbereiten. Prä-ventiv äußerte sich Präsident Bashar al-Assad Ende Januar in einem Wall StreetJournal-Interview über seine Ansichten zuguter Staatsführung1, bevor vier Wochenspäter eine internationale Modezeitschriftein Porträt seiner Frau Asma veröffent-lichte2. Drei Wochen später wurden 15Schulkinder nach Wandschmierereien ver-haftet.

Im Zuge dessen weiteten sich die Auf-stände aus, woraufhin die syrischen Si-cherheitskräfte mit brutaler Gewaltreagierten. Bei Zusammenstößen in Deraa,Homs oder Hama kamen mehrere tausendMenschen ums Leben. Bashar al-Assadversäumte es, die ihm zu Beginn noch ent-gegengebrachten Sympathien zu erken-nen und zu nutzen, um sein System zustabilisieren. Mittlerweile hat er sich inter-national diskreditiert und seine innenpoli-tischen Unterstützer schwinden. Zwarhandelt es sich noch nicht um einen flä-chendeckenden Aufstand und die innerewie äußere Opposition agiert noch zuheterogen, allerdings wird es al-Assadnicht mehr gelingen, die Unruhen schnellund ohne direkte Auswirkungen auf seinRegime zu beenden. Stärker denn je istdas repressive syrische System unterDruck geraten und kämpft mittlerweile umseinen Einfluss im Land und damit um

seine Existenz. Solange sich allerdings dievom Regime profitierenden Akteure wiedie alawitische Minderheit oder die urbaneMittelschicht nicht von ihm abwendenoder der internationale Druck u. a. in Formvon Sanktionen zunimmt, scheint derzeitein Ende der Gewalt in Syrien nicht abzu-sehen.

I. Politisches System und gesellschaftli-che Entwicklungen

Der Verfassung nach ist Syrien eine sozialis-tische Volksrepublik in Form eines Präsidial-systems sowie einer Ein-Parteien-Regierungder Baath-Partei. Bis 1963 war die Baath-Par-tei von nationalistischen und sozialistischenIdeen durchzogen3, was u. a. 1958 zur politi-schen Union mit Ägypten führte. Diese hieltallerdings nur bis 1961. Im Jahre 1963putschte sich ein bis dahin geheimes baa-thistisches Militärkomitee an die Macht, andem sich vor allem Militärs aus ethnisch-reli-giösen Minderheiten beteiligten4. Die zuvordemokratisch, da sie sich an Wahlen betei-ligte, ausgerichtete Baath-Partei verlor fortanihre innere Parteistruktur. Im Jahre 1970wiederum übernahm Hafiz al-Assad, derVater des jetzigen Präsidenten Bashar al-Assad, in einem Staatsstreich die Macht undbaute das Staatssystem zum noch heute be-stehenden System um, in dem nach wie vordie Baath-Partei die einzig legale Partei ist.Da Syrien ein heterogenes Land mit einerVielzahl an religiösen Gruppierungen ist,baute Hafiz al-Assad die Basis seiner Machtauf den Mitgliedern seiner Sippe auf, die derReligionsgemeinschaft der Alawiten angehö-ren, einer muslimischen Minderheit, die mitden Schiiten verwandt ist. In Syrien gehörenetwa drei Viertel der rund 22,5 Mio. Einwoh-ner dem sunnitischen Islam an, ca. 10% sindChristen, ca. 6% Alawiten und 2% Drusen.

Ähnlich komplex wie die Bevölkerungsstruk-tur sind die Außenbeziehungen Syriens zuseinen Nachbarländern. Nicht nur aufgrundder regionalen Lage ist Syrien einer derHauptakteure im Nahost-Konflikt. Seit demSechstagekrieg 1967 besteht zwischen Sy-rien und dem von Syrien nicht anerkannten Is-rael lediglich ein Waffenstillstand an derGrenze zu den annektierten Golanhöhen.5

1 Wall Street Journal: Interview With Syrian President Bashar al-Assad, 31. Januar 2011, http://www.on-line.wsj.com/article/SB10001424052748703833204576114712441122894.html, abgerufen am 20. Au-gust 2011.

2 Buck, Joan Juliet: Asma al-Assad: A Rose in the Desert, in: Vogue, 25. Februar 2011.3 Batutu, Hanna: Syria´s Peasantry, the Decendants of Ist Lesser Rural Notables, and Their Politics, Prin-

ceton 1990, S. 133.4 George, Alan: Fortschritt oder Lähmung: Baschâr al-Assads Syrien, in: Hartmut Fähndrich (Hrsg.): Ver-

erbte Macht – Monarchien und Dynastien in der arabischen Welt, Frankfurt/Main 2005, S. 46.5 Gleichzeitig bedeutet das Assad-Regime Stabilität für die israelische Regierung.

Page 77: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Syrien

Deutsches Orient-Institut 76

Auch wenn die direkte Konfrontation zwi-schen beiden Ländern sich auf ein Minimumbeschränkt, ist die syrische Regierung maß-geblich an den Aktionen von dritter Seite be-teiligt, wie z. B. der militärischen undwirtschaftlichen Unterstützung der Hisbollahim Libanon. Zusammen mit der iranischenRegierung in Iran bilden Syrien und Hisbollaheine politisch brisante Achse, die unter ande-rem Irans Einfluss im Nahen Osten festigt undso eine potentielle unmittelbare Bedrohungfür den Staat Israel darstellt, was gleichzeitigeinen Spielraum für konspirative Spekulatio-nen offen lässt.6 Ebenso unklar ist der Ein-fluss des syrischen Geheimdienstes imZusammenhang mit der Ermordung des liba-nesischen Ministerpräsidenten Rafiq al-Haririim Jahr 2005, der im Zusammenhang mit denEmanzipationsbestrebungen des Libanonsvon Syrien steht.7 Die syrisch-iranische Ver-bindung hingegen wurde auf einer Presse-konferenz am 5. Mai 2009 offensichtlich, alsvon gemeinsamen Zielen und der gemeinsa-men Unterstützung der Palästinenser dieRede war. So unterhält die Hamas beispiels-weise ihr Hauptquartier in Damaskus. SyriensZiel dabei ist die Stabilität und Kontrolle derRegion. So nahm Syrien mit rund 1,5 Mio. Ira-kern die meisten Flüchtlinge nach dem SturzSaddam Husseins im Jahr 2003 auf.

Das heutige Syrien muss als Überwachungs-staat bezeichnet werden, in dem mindestensfünf unterschiedliche Geheimdienste die Be-völkerung kontrollieren. Der innere Führungs-zirkel sowie die Schlüsselstellen in der Armeesind mit Alawiten aus der Sippe des Präsi-denten besetzt. Der Staat steuert die Wirt-schaft überwiegend zentral. Aus denÖleinnahmen, die knapp die Hälfte desStaatshaushaltes ausmachen, sichert sichder Machtzirkel um Bashar al-Assad die Ge-folgschaft der syrischen Mittelschicht, in derjene vom Staat profitieren, die ihn unterstüt-zen. Die seit 1999 einsetzende Liberalisie-rung der Wirtschaft begünstigt vor allemPersonen, die dem politischen System nahestehen. So sind alle leitenden Personen dergroßen privaten Unternehmen finanziell andie Führungselite gebunden. Die öffentlicheMeinung wird rigide überwacht. Ein Infrage-stellen des Herrschaftsanspruches der Baath-Partei bzw. des Assad-Regimes wurde undwird auf das äußerste bekämpft. So wurde u

.a. ein Aufstand in der Stadt Hama im Jahre1982 unter Führung der Muslimbrüder brutalniedergeschlagen.

II. Voraussetzungen für den Willen nachWandel

Seit 1963 herrscht in Syrien der Ausnahme-zustand. Die Regierung duldet keine abwei-chende Meinung, so dass eine große Anzahlvon Regimekritikern ohne faire Prozesse ineinem der vielen Gefängnisse landen. Die sy-rischen Behörden verfügen über die Macht,Personen ohne Begründung festzunehmen8.In Syrien wird die Todesstrafe angewandt. DerWunsch nach politischer Freiheit in der syri-schen Bevölkerung konnte bis jetzt nichtquantifiziert werden, da keine objektivenUntersuchungen möglich sind. Wie auch fürdie anderen arabischen Staaten sprach manin Syrien von der „schweigenden Mehrheit derStraße“. Dass aber der Wille nach Wandelvorhanden war, zeigte schon der Machtwech-sel an der Staatsspitze im Jahr 2000, als nachdem Tod von Präsident Hafiz al-Assad seinSohn Bashar mit 34 Jahren zum neuen Prä-sidenten ernannt wurde. Bashar, der einewestliche Universitätsausbildung genossenhatte, und eigentlich nicht für die Nachfolgeseines Vaters vorgesehen war, da nur der Todseines älteren Bruders Basil im Jahr 1994 ihnin diese Position gebracht hatte, galt zu Be-ginn als Hoffnungsträger der jungen Genera-tion. Von ihm erwartete man eine politischeÖffnung des Landes sowie wirtschaftlichenAufschwung. Zu Beginn seiner Herrschaftschienen sich einige dieser Hoffnungen zubewahrheiten: In der ersten von ihm einge-setzten Regierung aus dem Jahre 2001 fandeine Verjüngung des Kabinetts statt, um dasvon Bashar angekündigte Ziel umzusetzen,wirtschaftspolitische und technologische Re-formen anzugehen9. Im Rahmen dieser wirt-schaftlichen Reformen sollte zu privatenInvestitionen ermutigt werden, die zugleichdem Wirtschaftswachstum dienen sollten. Pa-rallel wurden Verhandlungen über ein EU-As-soziierungsabkommen geführt, im Herbst2001 stellte Syrien den Antrag auf die Mit-gliedschaft in der WelthandelsorganisationWTO. Die Staatsunternehmen standen zwarnicht zur Privatisierung an, aber es wurden In-vestitionen in das Bildungs- und Ausbildungs-wesen getätigt, um u.a. auch privates

6 Wieland, Carsten: Syrian Scenarios and the Levant’s Insecure Future, in Orient III/2011, S. 41-45.7 Bekannt wurden diese Bestrebungen als „Zedernrevolution“.8 Amnesty International Report 2011, Frankfurt am Main 2011, S. 462.9 Perthes, Volker (Hg.): Elitenwandel in der arabischen Welt und Iran, Berlin 2002, S. 158.

Page 78: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Syrien

Deutsches Orient-Institut77

Engagement zu fördern. Nach der Amtsüber-nahme von Bashar al-Assad entstanden, denErwartungen an einen gesellschaftlichenWandel entsprechend, überall im Land politi-sche Diskussionszirkel, die sich mit der Mo-dernisierung der Gesellschaft beschäftigten.Es begann der so genannte „DamaszenerFrühling“: Bereits im Sommer 2000 hattensich Politiker und Intellektuelle dieser Zirkelund Gruppierungen im „Memorandum der 99“öffentlich an den neuen Präsidenten gewandtund ein Ende des Ausnahmezustandes sowiepolitische Reformen gefordert. Wenig späterfolgte das „Memorandum der 1.000“10. Bas-har selbst hatte in seiner Antrittsrede vor demParlament von Respekt vor anderen Meinun-gen gesprochen. Gleichzeitig entstandenneue Zeitungen, wie etwa die Satire-Zeitungad-Doumari mit dem bekannten Karikaturis-ten Ali Farzat als Chefredakteur11. Nachdemanfangs die Baath-Partei ihre Mitglieder er-mutigt hatte, an den Diskussionen teilzuneh-men, wurde spätestens nach dem Wunschnach Neugründungen von Parteien zurGegenbewegung seitens des Staates ausge-holt. Verhaftungen von Meinungsführern wur-den medienwirksam inszeniert und damitklargemacht, dass die Bewegung eineGrenze überschritten hatte, die der Staat nichtzu tolerieren bereit war.12 Auch wenn die Kon-flikte mit Israel weiterhin bestanden, wurdenmit Bashar al-Assads Amtsantritt erste Hoff-nungen auf eine dauerhafte Stabilisierungund eine vorsichtige Aussöhnung laut. Weiter-hin führte er kurz nach seinem Amtsantritt dasInternet in Syrien ein. Internet-Cafés entstan-den und Privatpersonen konnten Internetan-schlüsse beantragen, womit eine neueDiskussionskultur und mediale Öffentlichkeitin Syrien Einzug hielt und die jahrelange Iso-lation aufbrach. Darüber hinaus etabliertendie arabischsprachigen Fernsehsender al-Ja-

zeera und al-Arabija eine neue Nachrichten-kultur in Syrien, da die staatlichenFernsehsender somit ihr Monopol verloren.

Hinzu kommt ein stetig steigender demogra-phischer Druck: Syrien verfügt, ebenso wiedie anderen arabischen Länder, über eineausgesprochen junge Bevölkerung; so lagdas Durchschnittsalter im Jahr 2010 bei 21,9

Jahren. Das Bevölkerungswachstum ist mit2,24% sehr hoch, im Schnitt bekommt jedesyrische Frau 3,1 Kinder. So strömen jedesJahr 250.000-300.000 Arbeitssuchende aufden Arbeitsmarkt, was es dem Staat zuneh-mend erschwert, Beschäftigungsstellen zuschaffen und die Arbeitslosigkeit ansteigenlässt, die derzeit offiziell bei 8,3% liegt. AlsFolge des Irak-Krieges 2003 befinden sichmehr als eine Million Flüchtlinge im LandDiese zweifache Belastung führte zu einerVerschlechterung der wirtschaftlichen Lage imLand, auch weil die Ölförderung stagniert.Neben diesen langfristigen Faktoren, dem all-gemeinen Willen nach einer Öffnung der Ge-sellschaft sowie der angespanntenwirtschaftlichen Lage befindet sich die syri-sche Landwirtschaft, traditionell wichtigsterWirtschaftssektor, seit vier Jahren in einerDürrephase. Den Bauern fehlt es an Wasser,und die Prioritäten bei der Wasserverteilungliegen bei der Versorgung der großen Städte,allen voran Damaskus .13

III. Akteure des Wandels und konkreteAuslöser

Eine Ausweitung des „Arabischen Frühlings“wurde zum Jahreswechsel 2010/11 im Allge-meinen nicht erwartet. Zu sehr stand dasLand unter der Kontrolle der Sicherheitsdien-ste. Zudem genoss Präsident Bashar al-Assad im Vergleich zu seinen Amtskollegenin Tunis und Kairo ein ungleich höheres Re-nommee, da er sich sowohl Israel als auchden USA widersetzte und so als „Garant derinneren Souveränität“ gegen die externen Be-drohungen galt. Trotzdem kam es zu erstenDemonstrationen. Als Anfang Februar 2011die syrische Opposition zu einem „Tag desZorns“ aufgerufen hatte, verlief dieser ohnegroße öffentliche Beteiligung. In der Folgekam es erst nur zu kleineren Demonstratio-nen. Dies änderte sich Mitte März, als heftigeProteste begannen, welche ihren Anfang inder 100.000 Einwohner zählenden Grenz-stadt Deraa im Süden des Landes an derGrenze zu Jordanien nahmen. Die Stadt littbesonders unter der beschriebenen Dürrepe-riode, von der im ganzen Land ca. 1,3 Mio.Menschen betroffen sind; allein 800.000

10 Ebd., S. 165.11 Im Zuge der Protestbewegungen wurde Farzat im August 2011 von systemtreuen Akteuren schwer ver-

letzt. Ihm wurde die Hand gebrochen, da er sich in seinen Karikaturen und Cartoons immer wieder sehrkritisch gegenüber Bashar al-Assad geäußert hatte.

12 An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass im Herbst 2000 in Palästina die so genannte Zweite Inti-

fada bzw. al-Aqsa-Intifada ausbrach, ein Volksaufstand der Palästinenser gegen die israelische Besat-zung, ausgelöst durch den Besuch des damaligen israelischen Oppositionspolitikers Ariel Scharon aufdem Tempelberg, auf dem sich die al-Aqsa-Moschee befindet.

13 Armbruster, Jörg: Der arabische Frühling, Frankfurt/Main 2011, S. 100.

Page 79: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Syrien

Deutsches Orient-Institut 78

haben ihre Lebensgrundlage verloren14. VieleBauern mussten die Stadt verlassen, da dieDürre ihre Felder vernichtet hatte. Diese seitJahren angespannte Situation explodierte, alsam 18. März 2011 Schulkinder regierungs-feindliche Sprüche an Häuserwände gesprühthatten. Als die Polizei die Jugendlichen ver-haften wollte, gingen Bürger dazwischen undes entwickelte sich eine spontane Massende-monstration. In den folgenden Auseinander-setzungen erschoss die Polizei vier jungeMänner. Nach deren Beerdigung in den fol-genden Tagen kam es erneut zu Demonstra-tionen. Infolgedessen wurde die Zentrale derBaath-Partei in der Stadt angezündet15. DieBehörden reagierten mit äußerster Schärfe,die Stadt wurde vom Militär abgeriegelt unddie Stromversorgung abgeschaltet. Dieskonnte die Situation aber nicht mehr beruhi-gen. Im Gegenteil, der Funke griff auf weiteTeile des Landes über. Nach und nach de-monstrierten die Menschen in Latakia, Homs,Banias und weiteren Städten. In den Groß-städten Damaskus und Aleppo kam es jedochnur zu kleineren Demonstrationen in denRandbezirken. Fast überall verliefen die De-monstrationen nicht friedlich, da die Sicher-heitsbehörden mit Härte gegen dieDemonstranten vorgingen. Nach Schätzun-gen von Menschenrechtsaktivisten sind bis-her ca. 3.000 Menschen getötet worden.

Konkrete Protestgruppen sind nicht so klar zubenennen wie in Ägypten, da es dort in einemhöheren Ausmaß organisierte Gruppen gab,die auch klare Positionen vertreten haben. InSyrien konnten sich auf Grund des repressi-ven Sicherheitsapparates diese Vielzahl anOrganisationen nicht herausbilden und kon-solidieren. Dennoch lassen sich Akteure iden-tifizieren, die aber mit hoher Wahr-scheinlichkeit nicht die Mehrheit der protes-tierenden Menschen repräsentieren. Auffälligerscheint die extreme Heterogenität der op-positionellen Gruppen, die sich in Zielen, Vor-gehensweisen, Akteuren und Wirkungsgraddeutlich voneinander unterscheiden, teilweisein Konkurrenz stehen und denen es bislangnicht oder nur unzureichend gelungen ist,eine geeinte Anti-Assad-Front zu bilden. Sowurden zwar vielfältige Bestrebungen unter-nommen, eine Übergangsregierung unddamit eine Alternative des Wandels zu bilden,über breiten Zuspruch verfügen diese Initiati-ven jedoch bislang nicht. Hinzu kommen gra-vierende logistische und organisatorischeProbleme zwischen innersyrischer Opposition

und den Exilanten, persönliche und ideologi-sche Animositäten untereinander sowie einebreite Zersplitterung der Akteure, die kaumnoch zu überblicken ist.

Getragen wird die traditionelle innersyrischeOppositionsbewegung seit Jahrzehnten vonder Nationalen Demokratischen Sammlungs-bewegung. Sie ist eine seit den 1960er Jah-ren bestehende verbotene Oppositions-bewegung, die säkulare, pan-arabistische,nationalistische und sozialistische Strömun-gen in sich vereint. Prominente Oppositionellewie Riad al-Turk, Michel Kilo oder Riad as-Seif stammen aus diesen Reihen. Ihr Einflussauf die Aufstände kann allerdings als eher ge-ring eingeschätzt werden. Dies liegt auchdaran, dass sie in der Vergangenheit immerwieder den Ausgleich mit al-Assad gesuchthaben und so bei Oppositionellen der jünge-ren Generation nicht mehr über ausreichendAutorität verfügen. Sie zeigten nicht das not-wendige Rückgrat, sich gegen den Repres-sionsstaat zu stellen, weil sie, trotz ihrerjahrelangen Kritik, zu einem institutionell-sys-temimmanenten vom Staat instrumentalisier-ten und kooptierten und damit moderatenAkteur geworden seien. Riad as-Seif, promi-nenter Vertreter dieser Gruppierung, verwiesin diesem Zusammenhang auf seine Krebs-krankheit und die daraus resultierende Unfä-higkeit, der Protestbewegung nachhaltighelfen zu können. So mehren sich die Stim-men, die die traditionellen Kritiker des Regi-mes um die „alten Männer“16 als deutlichgeschwächt und resigniert einschätzen,denen es an Willen fehle, den Wandel mitaller Macht voranzutreiben und mit derStimme der Jugend zu sprechen.

So werden die Aufstände in den Provinzstäd-ten hauptsächlich durch lokale Führungsper-sönlichkeiten geprägt, die einen zwarräumlich begrenzten, dafür umso charismati-scheren Einfluss auf die Massen haben undeher zu einer jungen Generation zählen, dieder Tätigkeit der traditionellen Oppositionskeptisch gegenübersteht. Ihre Arbeit ist in-zwischen durch die Repressionen der staat-lichen Exekutiven maßgeblich eingeschränktworden. Den Aktivisten, die nicht in Gefäng-nissen sitzen, verbleibt die diskrete Arbeit imUntergrund. Auf der anderen Seite ist die Per-sonalfluktuation immens, sodass es für dasRegime nahezu unmöglich ist, diese Bewe-gungen unter Kontrolle zu bekommen. Immerwieder gründen sich neue „Koordinationsko-

14 Doering, Martina: Syrien: Vorwärtsbewegung des Assad-Clans, in: Frank Nordhausen, Thomas Schmid(Hrsg.): Die arabische Revolution, Berlin 2011, S. 117.

15 Jörg Armbruster: Der arabische Frühling, Frankfurt/Main, 2011, S. 100.16 Riad as-Seif ist 1946 geboren, Riad al-Turk 1930 und Michel Kilo 1940.

Page 80: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Syrien

Deutsches Orient-Institut79

mitees“, die die Demonstrationen interaktivüber das Internet organisieren, immer neueurbane Blogger bestimmen den oppositionel-len Diskurs und schaffen durch ihre Beiträgeim Internet internationale Aufmerksamkeit, diedurch vielfache YouTube-Videos ausgeweitetwird. Diese aktivistische „Straßenopposition“befindet sich also nicht allein im Kampf mitdem Regime, sondern konkurriert auch mitden traditionellen Oppositionellen, denen alssanfte „Teehausopposition“ nicht mehr dieRolle als change agent zugetraut wird.

Die abschließende Gruppe umfasst die Exil-opposition. Außerhalb Syriens sammeln, ana-lysieren und veröffentlichen Aktivisten dieInformationen, um den internationalen Druckauf das Assad-Regime zu steigern. Darüberhinaus übernehmen Exilsyrer die Rolle alsSprachrohr ihrer Landsleute im Ausland.17 Sohaben sich in den letzten Jahren vor allem inWashington, Paris und London Zentren syri-scher Exilopposition gebildet, die nun ver-stärkt den öffentlichen Diskurs bestimmen.18

Im Gegensatz zu den innersyrischen Opposi-tionellen können sie ihre Visionen und Zieleoffensiver und unzensiert äußern, indem sievehement auf einen Regimewechsel drängen.Mehrere Konferenzen der internationalen Op-position in der Türkei oder Brüssel zeigendeutlich das Engagement dieser unterschied-lichen Gruppen und Bewegungen. Dass bis-lang nur eine dieser Konferenzen inDamaskus stattfand, ist auch auf die Repres-sionsmaßnahmen des syrischen Regimes zu-rückzuführen, verdeutlicht allerdings auch dieSpaltung der inneren und äußeren Opposi-tion.

Um diese Spaltungstendenzen zu überwin-den, initiierte ein Teil der Exilopposition einenNationalen Übergangsrat, der sich am 30. Au-gust 2011 gründete und insgesamt 94 Mit-glieder (davon 42 aus Syrien) umfasst. Er solldas Gremium für die Transition werden. AlsPräsident wurde der einflussreiche und re-nommierte Dissident Burhan Ghalioun, Pari-ser Exilsyrer und Direktor des Centre

d'Etudes sur l'Orient Contemporain (CEOC)an der Universität Sorbonne, bestimmt. DerUmstand, dass der designierte VorsitzendeGhalioun zunächst darüber uninformiert warund sich später hiervon distanzierte, lässt je-doch nicht darauf schließen, dass dieses Pro-

jekt erfolgreich sein wird. Erschwert wird dieArbeit des Rates auch dadurch, da sichneben diesem Gremium noch andere ähnli-che Initiativen gebildet haben, die ähnlicheZiele anstreben und ähnliche Forderungenvertreten. So warben bereits im April US-ame-rikanische Exilsyrer für die „Nationale Initia-tive für Veränderung“. Es folgte die„Konferenz für Veränderung“ in Antalya sowiedie Konferenz unter der Ägide des NationalenRettungsrats. Daneben formierten sich in An-takya übergelaufene Militärs zur „Freien Offi-zier- Bewegung“, die ihre Aufgabe im Schutzder Aufständischen sieht. Allein durch diemangelnde Repräsentanz inländischer Syrerwaren die Ergebnisse eher unbefriedigend.

Hier besteht die Gefahr einer inneroppositio-nellen Konkurrenz, sodass von einer geein-ten, homogenen Protestbewegung im In- undAusland keineswegs gesprochen werdenkann. Dies ist kein neues Phänomen inner-halb der syrischen Opposition: So muss mandie bisherigen Versuche, offizielle Opposi-tionsorgane zu gründen, aufgrund mangeln-der Legitimation als gescheitert betrachten.Bereits 2005 hatten 250 Oppositionelle unter-schiedlichen Hintergrunds, sowohl säkularwie religiös, Kurden und Araber, die Damas-

cus Declaration ausgearbeitet. Sie beinhaltetedie Forderung eines demokratischen Wan-dels. Bereits hier wurde die Frage der Legiti-mation vorerst offen gelassen. Im Nordostendes Landes protestieren Menschen in denmehrheitlich von Kurden besiedelten Gebie-ten. Die Kurden stellen rund 10% der syri-schen Bevölkerung und sind damit die größteethnische Minderheit des Landes. Die Lageder Kurden in Syrien ist seit Jahrzehnten an-gespannt, da sie systematisch vom Regimebenachteiligt werden. Vielen Kurden wurdedie syrische Staatsbürgerschaft verweigert,immer wieder kam es in der Vergangenheit zuProtesten, zuletzt im März 2004 nach einemZwischenfall in einem Fußballstadion. Im Zu-sammenhang mit solchen Ereignissen kommtes regelmäßig zu Massenverhaftungen. DieKurden werden vom Regime als Sicherheits-risiko betrachtet. So begann die Regierung1973 die Einrichtung eines so genannten„Arabischen Gürtels“ entlang der türkischenGrenze. Arabische Beduinenstämme wurdenauf einer Länge von 300 Kilometern angesie-delt, die dort ansässigen Kurden wurden ent-eignet und zu Ausländern erklärt19. Die

17 Ziadeh, Radwan: Vielfalt des Aufstands – Syriens Oppositionsbewegung, http://de.qantara.de/Vielfalt-des-Aufstands/17084c17585i1p234/, abgerufen am 30.08.2011.

18 Dazu gehören u. a. die Dissidenten in Washington Radwan Ziadeh, Najib Ghadban oder Farid al-Ghadry,die syrischen Muslimbrüder in London oder Burhan Ghalioun und Abdul Khaddam in Paris.

19 Wanli, Ismet Serif: The Kurds in Syria and Lebanon, in: The Kurds: A Contemporary Overview, London1992, S. 157-161.

Page 81: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Syrien

Deutsches Orient-Institut 80

islamistische Opposition in Gestalt der syri-schen Muslimbrüder wurde nach dem Attentatvon Hama 198220 innerhalb Syriens von Hafizal-Assad und seinem Sohn marginalisiert undvehement verfolgt. So hat sich eine starkeExilopposition gebildet, die vor allem aus Lon-don agiert. Sie lehnen das Regime al-Assadauch aus religiösen Motiven ab: Viele Mus-limbrüder sehen in der Religionsgruppe derAlawiten, zu denen auch Präsident Bashar al-Assad sowie sein engerer Machtzirkel gehö-ren, islamische Häretiker. Sie stellen damit dieLegitimität des Regimes direkt in Frage. DieFacebook-Seite „The Syrian Revolution2011“, die aktuell rund 280.000 „Mitglieder“zählt, wird Berichten zufolge von einem inSchweden lebenden Exilsyrer betrieben, deraktiver Muslimbruder sein soll. Anders als inÄgypten spielt das Internet in Syrien jedocheine eher untergeordnete Rolle, da es vonden Sicherheitsapparaten kontrolliert wird undnoch nicht flächendeckend in Syrien etabliertist. So sind beispielsweise lediglich 30.000Syrer im sozialen Netzwerk Facebook ange-meldet.21

In der erwähnten Stadt Deraa, in der die Pro-teste ihren Anfang nahmen, handelt es sichbei den Protestierenden wiederum überwie-gend um sunnitische Araber, denen die Al-Omari-Moschee als Versammlungsort dient.Dass sich Oppositionelle im Schutze einerMoschee treffen, ist in der arabischen Weltnichts ungewöhnliches und muss nicht unbe-dingt auf eine extrem religiöse Einstellungschließen lassen. Die Al-Omari-Moscheewurde am 23. März 2011 von syrischen Si-cherheitskräften gestürmt. Dabei sollen mehrals 100 Menschen erschossen worden sein.

Neben diesen einzelnen Akteuren kam esauch an Universitäten zu Protesten, so etwaan der Universität von Damaskus. Von einerorganisierten Studierendenschaft gegen dieRegierung lässt sich aber nicht sprechen. Vordem Hintergrund, dass sich an den Protestenmehr Menschen beteiligen, als diese Akteurein der Lage wären jeweils zu mobilisieren,kann davon gesprochen werden, dass dieProtestbewegung quer durch die Bevölkerunggeht, wie es zuvor auch in Ägypten und Tu-nesien zu beobachten war.

Eine Entwicklung ähnlich in Libyen, wo sichschnell mit dem Nationalen Übergangsrat einSprachrohr des Aufstands entwickelte, kannfür Syrien bislang nicht konstatiert werden.Dies wird allerdings auch vom syrischen Mili-tär verhindert, indem durch massive Opera-tionen keine „befreiten Rebellenhochburgen“ähnlich dem libyschen Benghasi entstehenkönnen, was die Schlagkraft der Oppositionunterminiert. Ein weiteres wesentliches Pro-blem dieser dezentralisierten Opposition,neben der eingeschränkten Koordination aufnationaler Ebene, erwächst daraus, dass imFalle eines Eingreifens von Seiten der inter-nationalen Gemeinschaft der Ansprechpart-ner zur Abstimmung fehlt, ganz zu schweigenvon der Problematik des Machtanspruchesnach dem Fall des Assad-Regimes.

IV. Auswirkungen des „Arabischen Früh-lings“

Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind nochnicht exakt in Zahlen zu messen. Die Unru-hen haben dennoch schon jetzt Auswirkungenauf den Tourismus als wichtige Einnahme-quelle, der aufgrund der Krise praktisch zumErliegen gekommen ist. Auch der Handelsowie die Auslandsinvestitionen gingen starkzurück. Was allerdings die mittelfristigen Fol-gen angeht, so dürfte ein vollständiger Zu-sammenbruch der Wirtschaftunwahrscheinlich sein. Schon die internatio-nale Finanzkrise ging relativ glimpflich an Sy-rien vorbei, da das Land wirtschaftlich eherisoliert ist. Das Regime verfügt über hohe De-visenreserven, und da die großen Firmen instaatlicher Hand oder Vertrauten des Regi-mes sind, haben sie voraussichtlich kurzfristigkeine ernsten Probleme. Zwar haben die USAbis Ende August ihre Sanktionen noch einmalverschärft, so dass nun Geschäfte mit hoch-rangigen syrischen Staatsvertretern sowiederen Firmen verboten wurden. Ölimporte indie USA wurden ebenfalls untersagt, derenVolumen aber zu vernachlässigen ist. Einestärkere Auswirkung dürften mittelfristig dieSanktionen der EU haben. Syrien exportiertderzeit ca. 95% seiner Tagesproduktion von150.000 Barrel in die EU. Dies summierte sichim vergangenen Jahr auf Einnahmen in Höhevon rund 3,6 Mrd. EUR. Am 1. September hat

20 Der damalige Präsident ließ eine Revolte unter Führung der Muslimbrüder blutig und unter Einsatz vonPanzern zusammenschießen. Nach Schätzungen gab es mindestens 10.000 Tote. Noch heute habendie Muslimbrüder in Hama eines ihrer Zentren.

21 Davon ausgenommen sind bestimmte Ereignisse, die als Video auf dem Internetportal Youtube für inter-nationales Aufsehen gesorgt haben. Die Videodokumentierung des Leichnams des 13-jährigen Hamzaal-Khatib im Mai 2011 in Deraa sorgte für weltweite Aufmerksamkeit. Er gilt ähnlich wie Neda Agha-Sol-tan im Iran, Mohamed Bouazizi in Tunesien und Khaled Saeed in Ägypten als Märtyrer und Gesicht derAufstände.

Page 82: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Syrien

Deutsches Orient-Institut81

die EU nun den Import von syrischem Öl ver-boten. Allerdings tritt dieses Verbot auf Grundvon bestehenden Lieferverträgen mit Italienerst im November 2011 in Kraft. Sollte dasEmbargo längere Zeit andauern, könnte esalso zu großen wirtschaftlichen Problemenführen, da sich der Staatshaushalt zu großenTeilen auf diese Einnahmen stützt. Lohnkür-zungen könnten die Folge sein, was denUnmut in der Bevölkerung noch verstärkenwürde. Syrien hat zwar die Option, das Ölauch an Staaten wie China zu exportieren,könnte aber gezwungen sein, es unter Markt-preisen zu verkaufen. Neben den Öl-Sanktio-nen hat die EU die Konten von 54hochrangigen Vertretern des Regimes einge-froren. Kurzfristig dürfte es vor allem die Zivil-bevölkerung sein, die unter denwirtschaftlichen Auswirkungen zu leiden hat.So bekommt sie die Ausfälle aus dem Touris-musgeschäft direkt zu spüren. Weitere gra-vierende wirtschaftliche Auswirkungen könnteauch das dramatisch verschlechterte Verhält-nis zum nördlichen Nachbarn Türkei mit sichführen. Im Zuge der Proteste wandte sich dietürkische Regierung unter MinisterpräsidentRecep Tayyip Erdoğan, traditionell enger Ver-bündeter Syriens22, von Bashar al-Assad ab.Bis dahin war die Türkei einer der wichtigstenWirtschaftspartner Syriens; so wurde die Vi-sumspflicht zwischen beiden Ländern aufge-hoben. Der türkische Einfluss zeigt sichdeutlich in Aleppo, wo die Mehrzahl der zu er-werbenden Waren aus türkischer Produktionstammt. Mittlerweile könnte eine Schließungder Grenzen durch die Türkei den Druck aufSyrien erhöhen. International ist das syrischeRegime mittlerweile weitgehend isoliert undBashar al-Assad gilt als diskreditiert. Die Welt-gemeinschaft, allen voran die USA, die EU,aber auch die Arabische Liga riefen das Re-gime dazu auf, die Gewalt gegen die Zivilbe-völkerung einzustellen. Selbst bei einem derengsten Verbündeten Syriens, Iran, zeigt sichmittlerweile erste Skepsis gegenüber demVorgehen des Regimes. Eine militärischeIntervention von außen gilt aufgrund der sen-siblen geostrategischen Lage in Bezug aufsein ambivalentes Verhältnis zu Israel, Iranund zum Libanon zwar als unwahrscheinlich,dennoch hat das Regime kaum noch Rück-halt in der Region, auf die man zurückgreifenkönnte.

V. Bisherige Reaktionen staatlicher Ak-teure

Zu Beginn waren sich allerdings externe wieinterne Beobachter noch einig, dass Präsi-dent Bashar al-Assad nach den Vorfällen inDeraa die Lage wieder hätte in den Griff be-kommen können23. Seine Person war zu die-sem Zeitpunkt noch nicht in Frage gestellt.Man beklagte das System und erwartete vonihm klare Worte hin zu einem Wandel. Um dieProteste zu beruhigen, beschloss die Regie-rung am 27. März 2011 den Ausnahmezu-stand in Form des Notstandsgesetzesaufzuheben. Zwei Tage später, als die Pro-teste weiter andauerten, trat die Regierung inForm von Ministerpräsident Muhammad Najial-Utri sowie seinem Kabinett geschlossenzurück.

Am 30. März 2011 äußerte er sich in einerRede vor dem Parlament, die jedoch von vie-len als Enttäuschung empfunden wurde.Letztlich reduzierte er die Proteste auf aus-ländische Verschwörer und lehnte damit eininhaltliches Entgegenkommen an die De-monstranten ab. Sofern das Regime dachte,dass diese komprmisslose Politik die Protesteersticken würde, erreichte sie das Gegenteil.Al-Assad hatte durch sein rücksichtsloses undbrutales Vorgehen, seine desillusionierendeRede und seine vorgebrachten Verschwö-rungstheorien die Hoffnungen in einen schritt-weisen Wandel des Systems enttäuscht unddas Wohlwollen in seine Person schwand zu-sehends. Die Proteste, Demonstrationen undAuseinandersetzungen mit dem Staatsappa-rat intensivierten sich danach. Erst am 21.April 2011 erklärte Bashar al-Assad dann denAusnahmezustand für aufgehoben und setztedamit eine zentrale Forderung der Oppositionum. Darüber hinaus kündigte er die Auflösungder Staatssicherheitsgerichte an, durch diebisher Oppositionelle schnell und intranspa-rent verurteilt werden konnten. Er erhöhte dieSozialleistungen, kürzte Subventionen, redu-zierte die Dauer der Wehrpflicht und senktedie Tee- und Kaffeesteuern. Doch es war zuspät, al-Assad hatte den Zeitpunkt offenbarverpasst, dem Unmut weiter Teile der Gesell-schaft ernsthaft entgegenzutreten.24 Stärkerals zuvor warf man ihm und seiner EntourageKorruption, Nepotismus und Brutalität vor. So

22 Diese engen Beziehungen sind vor allem darauf zurückzuführen, dass die Türkei in Syrien einen stabi-len Nachbarn benötigte, um die syrischen Kurden kontrolliert zu wissen.

23 Doering, Martina: Syrien: Vorwärtsbewegung des Assad-Clans, in: Frank Nordhausen, Thomas Schmid(Hrsg.): Die arabische Revolution, Berlin 2011, S. 123.

24 Mittlerweile wandten sich auch zunehmend systemtreue Akteure von al-Assad ab: So traten in Deraazwei Parlamentsabgeordnete und im August der Generalsstaatsanwalt von Hama mit der Begründung zu-rück, dass sie die Zivilbevölkerung nicht vor den Übergriffen der Sicherheitskräfte schützen konnten.

Page 83: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Syrien

Deutsches Orient-Institut 82

richteten sich die Vorwürfe auch gegen engeAngehörige des Elitenzirkels. Zur Personifi-zierung des korrupten Assad-Regimes wurdeder in der Öffentlichkeit verhasste Cousin desPräsidenten und Freund aus KindertagenRami Makhlouf, einer der einflussreichstenWirtschaftsmagnaten des Landes. Der Multi-tycoon war bereits Gegenstand von US- undEU-Sanktionen gegen Korruption gewesen.Sabotage und Zerstörung von Seiten der De-monstranten richteten sich nun nicht mehr nurgegen staatliche Institutionen, sondern auchgegen mit Makhlouf verbundene Einrichtun-gen wie z. B. Mobilfunkgeschäfte der syri-schen Telefongesellschaft Syriatel. Mitte Juni2011 distanzierte sich Makhlouf öffentlich vomsyrischen Korruptionssystem und bekundete,dass er seine Erträge aus den Geschäften mitSyriatel den Hinterbliebenen der Protestopferzugute kommen lassen wollte.

Trotz der Aufhebung des Ausnahmezustan-des und anderen den Demonstranten ent-gegenkommenden Maßnahmen ebbten dieProteste nicht ab und weiteten sich dagegennoch aus. Die Sicherheitskräfte reagierten mitkalkulierter, aber brutaler Gewalt. Teilweiseerreichten die Auseinandersetzungen bürger-kriegsähnliche Zustände. So wurden etwa dieStädte Deraa, Banias, Hama und Homs vonStrom, Telekommunikation und der Wasser-versorgung abgeschnitten und von Panzerneingekreist. Während nach offizieller Wort-wahl darauf beharrt wurde, dass das Regimegegen Extremisten vorgehe, verkündete dersyrische Informationsminister im Mai 2011,dass man einen nationalen Dialog startenwerde, der Reformen erarbeiten solle. Im Junihielt Bashar al-Assad an der DamaszenerUniversität seine dritte Rede seit dem Aus-bruch der Proteste, in der er die Möglichkeitzu weiteren Reformen in Aussicht stellte,dafür aber einen Gewaltverzicht von den Pro-testierenden einforderte.

VI. Zukunftsszenarien

Trotz dieser Ankündigungen herrscht derzeiteine beunruhigende und hochexplosive Situ-ation in Syrien vor. In weiten Teilen des Lan-des begegnet die Staatsmacht den Protestenmit Härte, ohne diese zu unterbinden. Gleich-zeitig haben sich die Hoffnungen der Demon-stranten, während des FastenmonatsRamadan deutliche Fortschritte zu erreichen,nicht erfüllt. So sind allein im Monat August473 Aktivisten ums Leben gekommen. Die

Lage könnte jedoch eine weitere Eskalations-ebene erreichen, sollten die bislang friedlichagierenden Demonstranten auf die Staatsge-walt mit Gegengewalt reagieren. Dies könntedie Anzahl der Opfer drastisch erhöhen, diebrutale Vorgehensweise der Sicherheitskräftedadurch durch die Regierung legitimiert unddie Opposition zunehmend kriminalisiert wer-den.

Nach wie vor beteiligen sich keineswegs alleGesellschaftsteile an den Aufständen. Vorallem die Profiteure des Assad-Systems, diereligiösen Minderheiten, die sunnitischeMittelschicht und die Angehörigen des staat-lichen Repressionsapparates fürchten denVerlust ihres Einflussbereiches nach demSturz al-Assads. Der multikonfessionelle Viel-völkerstaat Syrien könnte nach al-Assad ineinem blutigen Bürgerkrieg versinken, der vonsunnitischen Rachefeldzügen gegen die ala-witischen oder christlichen Minderheiten ge-prägt wird, so die Annahme. Die Kurden undmilitanten Islamisten könnten stärkeren Ein-fluss erlangen, die wirtschaftlichen Eliten mar-ginalisiert und entmachtet werden. Auchdaraus erklärt sich das kompromisslose Vor-gehen des Regimes: Noch weiß es einigewichtige gesellschaftliche Akteure hinter sich,noch handelt es sich nicht um eine flächen-deckende Revolte. Davon zeugt auch die re-lative Ruhe in der Hauptstadt Damaskus undder Handelshochburg Aleppo: Hier haben vorallem Angehörige der urbanen Mittelschichtmehr zu verlieren, sollte al-Assad stürzen, so-dass sie zwar das derzeitige Vorgehen nichtgutheißen, aber tolerieren, um ihren eigenenStatus quo zu bewahren. Sie profitierten zu-mindest graduell von den vorsichtigen Wirt-schaftsreformen der letzten Jahre und wollenes nicht riskieren, diesen Fortschritt zu verlie-ren. Außerdem fehlt bislang durch die Zer-splitterung der Opposition eine attraktive undmehrheitsfähige Vision für die Zukunft nachal-Assad. Als abschreckendes Beispiel dientauch das Nachbarland Irak, das nach demSturz Saddam Husseins in einem jahrelangenblutigen Bürgerkrieg versank, indem dieunterschiedlichen ethnischen und konfessio-nellen Gruppen eine dauerhafte Stabilität ver-hinderten. Viele andere fürchten sich vor denbrutalen Gegenmaßnahmen des Regimes.Hinzu kommt die massive staatliche Propa-ganda, die Misstrauen auf externe Akteurewie die USA und Israel, Islamisten und„Feinde Syriens“ schürt, die Rezipienten ver-stört und dazu geführt hat, dass viele weder

Page 84: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Syrien

Deutsches Orient-Institut83

dem Staat noch den Demonstranten Glaubenschenken. So kreiert das Regime durch Pro-paganda und Gewalt ein Klima der Angst, dasnoch zu Passivität führt und erreicht damit, dieSituation noch kontrollieren zu können.Sollte sich diese Passivität der unentschlos-senen Mehrheit jedoch in offene Abneigunggegen das Regime wandeln, würde al-Assadschnell den letzten Rückhalt verlieren.

Demzufolge könnte eine Verschärfung derwirtschaftlichen Situation dazu führen, dasssich die einflussreiche Mittelschicht, die Händ-ler auf den Basaren, von ihrem einstigen För-derer al-Assad abwenden. Ebenso könntenBestrebungen der Opposition, den über- kon-fessionellen und -ethnischen Charakter derAufstände zu betonen, die nationale Einheitstärken und so die Angst der religiösen Min-derheiten reduzieren. So wiesen alawitische,christliche und sunnitische Oppositionelle be-reits gemeinsam auf diese innere Einheit trotzexistierender konfessioneller Heterogenitätenhin. Derzeit kann die Lage in Syrien als hoch-explosive Pattsituation beschrieben werden.Zwar erscheint ein Sturz des Assad-Regimesnicht ausgeschlossen, doch ist derzeit keineinnere Spaltung bei Militärelite, Sicherheits-einheiten oder Militärdiensten zu konstatieren.

Da die Führungspositionen fast durchgängigmit Alawiten und engen Vertrauten al-Assadsbesetzt sind, bedeutet ein Sturz des Regimesauch gleichzeitig ein Sturz des Systems. Diessoll mit aller Macht verhindert werden. Esscheint, als kämpfe das gesamte syrische Es-tablishment um sein Überleben. Dagegenscheint die Bevölkerung entschlossen zusein, die Proteste weiter durchzuführen. Vorallem die Ereignisse in Tunesien und Ägyp-ten, vielmehr aber noch in Libyen haben dieWiderstandsbewegungen ermutigt. Jedocherscheint ein internationales militärisches Ein-greifen in Syrien als äußerst unrealistisch, so-dass der Druck ausschließlich überdiplomatische Initiativen, Sanktionen undkompromisslose Rhetorik erhöht werdenkann. Zusätzlich sollte versucht werden, re-gionale Akteure und langjährige Partner Sy-riens wie Iran oder die Türkei zu gewinnen,den Druck auf al-Assad zu erhöhen. So exis-tieren unbestätigte Berichte, die auf erste Ge-spräche zwischen Katar und Iran verweisen,in denen über die Einflusssphären in Syriennach dem Sturz al-Assads diskutiert wordensein soll.

Alexander Rieper (mit Bearbeitung von Jo-

hannes Struck und Sebastian Sons)

VII. Literaturangaben

AMNESTY INTERNATIONAL REPORT 2011, Frankfurt am Main 2011.

ARMBRUSTER, JÖRG: Der arabische Frühling, Frankfurt/Main, 2011.

BATUTU, HANNA: Syria´s Peasantry, the Descendants of Its Lesser Rural Notables, and TheirPolitics; Princeton 1990.

BUCK, JOAN JULIET: Asma al-Assad: A Rose in the Desert, in: Vogue, 25. Februar 2011.

GEORGE, ALAN: Fortschritt oder Lähmung: Baschâr al-Assads Syrien, in: Hartmut Fähndrich (Hrsg.): Vererbte Macht – Monarchien und Dynastien in der arabischen Welt, Frankfurt/Main 2005.

MARTINA DOERING: Syrien: Vorwärtsbewegung des Assad-Clans, in: Frank Nordhausen, Thomas Schmid (Hrsg.): Die arabische Revolution, Berlin 2011.

MOUBAYED, SAMI: Steel & Silk: Men and Women Who Shaped Syria 1900-2000, Seattle 2006.

PERTHES, VOLKER (HRSG.): Elitenwandel in der arabischen Welt und Iran, Berlin 2002.

VAN DAM, NIKOLAOS: The Struggle for Power in Syria, London 1981.

WALL STREET JOURNAL

WANLI, ISMET SERIF: The Kurds in Syria and Lebanon, in: The Kurds: A Contemporary Overview, London 1992.

WIELAND, CARSTEN: Syrian Scenarios and the Levant’s Insecure Future, in Orient III/2011, S. 41-45.

Page 85: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libanon

Deutsches Orient-Institut 84

1 CIA – The World Factbook.2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.3 World Bank, Population Density, http://data.worldbank.org/country/Lebanon. 4 CIA – The World Factbook.5 CIA – The World Factbook: 17 anerkannte Religionsgemeinschaften insgesamt, Angaben zu den

Bevölkerungsgruppen sind lediglich Schätzungen, die letzte offizielle Volkszählung wurde 1932 durchgeführt6 CIA – The World Factbook.7 CIA – The World Factbook.8 CIA – The World Factbook.9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators,

http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles.10 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN.12 CIA – The World Factbook.13 CIA – The World Factbook. 14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.15 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.16 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG,

International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf.

17 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html.

18 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia, http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf.

19 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us.20 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,

http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf.21 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection:

Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://hdr.undp.org/en/data/trends.

22 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf.

23 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://www.info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp.

24 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

Landesdaten Libanon

Fläche1 2011 10.400 km²

Bevölkerung2 2010 4.300.000

Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 416

Ethnische Gruppen4 2010 Araber 95%, Armenier 4%, Andere 1%

Religionszugehörigkeit5 2010 Muslime 59,7%, Christen 39%, Andere 1,3%

Durchschnittsalter6 2010 29,8 Jahre

Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 23%

Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 9%

Lebenserwartung9 2010 72,4 Jahre

Bevölkerungsprognose bis 205010 2010 9.800.000

Geburten pro Frau11 2009 1,8

Alphabetisierungsrate12 2010 87,4%

Mobiltelefone13 2009 1.526.000

Nutzer Internet14 2009 1.201.820

Nutzer Facebook15 2011 1.201.820

Wachstum BIP16 2010 7,0%

BIP pro Kopf 17 2010 13.510 USD

Arbeitslosigkeit 2010 9,2%

Inflation18 2011 6,5%

S&P-Rating19 2011 B

Human Development Index Rang20 2009 Rang 83 (von 169)

Bildungsniveau21 2010 Rang 68 (von 177)

Bildungsniveau der Frauen (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)22 2010 k. A.

Politische Teilhabe23 2009 35,5%

Korruptionsindex24 2010 Rang 127 (von 178)

Page 86: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libanon

Deutsches Orient-Institut85

Libanon

Im kleinen Staat Libanon (Bevölkerungs-

zahl 4,3 Mio.) leben insgesamt 17 aner-

kannte Religionsgemeinschaften. Auf-

grund seiner multiethnischen Struktur

sowie seiner geostrategischen Lage ist

das Land der Einflussnahme verschiede-

ner interner und externer Machthaber

unterworfen. Anfang 2011 entwickelte sich

dagegen eine zaghafte Protestbewegung,

deren Mobilisierungskraft jedoch kaum

mit der Zedernrevolution von 2005 ver-

gleichbar ist. Die Zukunft Libanons hängt

in hohem Maße von den Entwicklungen im

Nachbarland Syrien ab. Da die Hauptforde-

rungen der jüngsten Demonstrationen

sich auf die Abschaffung des Proporzsys-

tems belaufen, soll auf die Merkmale und

Problemfelder des libanesischen politi-

schen Systems besonders eingegangen

werden.

I. Politisches System und gesellschaftli-

che Entwicklungen

Das politische System des Libanon basiertauf einer Konkordanzdemokratie, auch Pro-porzdemokratie oder Konfessionalismus ge-nannt. Konkordanzdemokratien zielen daraufab, eine möglichst große Zahl von Akteuren(Parteien, Verbände, Minderheiten, gesell-schaftliche Gruppen) in den politischen Pro-zess einzubeziehen und Entscheidungendurch Herbeiführung eines Konsenses zu tref-fen. Demzufolge spielt die Mehrheitsregel alsEntscheidungsmechanismus keine zentraleRolle im politischen System. In Europa geltenunter anderem die Schweiz und Luxemburgals konkordanzdemokratisch. Diese Form derVolksherrschaft bietet theoretisch Vorteile fürsehr heterogene Staaten, da auch die Inter-essen der Minderheiten vertreten werden undsomit soziale Unruhen verhindert werden kön-nen. Gleichzeitig wird vermieden, dass eineMinderheit an der Macht über die Mehrheit re-gieren kann.

Im Libanon sind die politischen Ämter nacheinem Proporzsystem unter den verschiede-nen religiösen Gruppen aufgeteilt. Die Vertei-lung der Ämter nach einem Proporz vonsechs Christen zu fünf Muslimen geht aufeine Volkszählung von 1932 zurück. Damalshatten die christlichen Maroniten mit 51,2%eine hauchdünne Mehrheit vor den Muslimen.Fortan war der Posten des Staatspräsidenten

einem Maroniten vorbehalten, der Minister-präsident musste aus den Reihen der Sunni-ten stammen und die Rolle des Sprechers derNationalversammlung war für die Schiitenvorgesehen. Mit der Erlangung der Unabhän-gigkeit 1943 von der Mandatsmacht Frank-reich war der Konfessionalismus zunächst alsÜbergangslösung angedacht, um zum einendie Verbündeten Frankreichs, die Maroniten,zu stärken und gleichzeitig die zahlreichenanderen religiösen Gruppen am politischenProzess zu beteiligen.

Doch der Fall Libanon zeigt, dass es mithilfeder Konkordanzdemokratie nur unzureichendgelungen ist, ein nationales Bewusstsein zuschaffen. Dies hängt damit zusammen, dassin einer Proporzdemokratie nicht die Mehrheitentscheidet, sondern der Konsens. PolitischeEntscheidungen werden oft behindert, dakeine Kompromisslösung gefunden wird, diealle politisch-konfessionellen Gruppen befrie-digt und mit der sich keine der Gruppen über-gangen fühlt. Zudem ist das System starr undunflexibel, was der Dynamik der libanesi-schen Gesellschaft widerspricht. So hat sichdie Bevölkerungsstruktur seit 1932 erheblichgewandelt: Bei Ausbruch des Bürgerkriegesim Jahr 1975 hatte sich das Verhältnis vonChristen zu Muslimen bereits stark zugunstender Muslime umgekehrt (40% Christen, 60%Muslime). Während des Bürgerkrieges sinddie Schiiten zur größten politisch-konfessio-nellen Gruppe geworden, schon 1988 mach-ten sie ein Drittel der Gesamtbevölkerungaus, während die Christen mit 30-35% längsteine Minderheit darstellten. Diese demogra-phische Entwicklung lässt sich auf Migrationund unterschiedlich hohe Geburtenraten zu-rückführen. Der politische Druck insbeson-dere der Schiiten reflektiert diedemographische Realität und ist Ausdruckihrer Forderung nach einer größeren politi-schen Beteiligung im Staat. Die offensichtli-che Bevorzugung der Maroniten durch dasSystem führte zur Frustration der benachtei-ligten Gruppen und verursachte zahlreicheKrisen und Konflikte, darunter den verheeren-den Bürgerkrieg von 1975 bis 1990.

Ein weiteres Problem der Anwendung desKonfessionalismus auf den Libanon ist, dasses die Entstehung von Eliten fördert. An denpolitischen Entscheidungen sind nur Reprä-sentanten beteiligt, die Partikularinteressenvertreten, um möglichst viele Vorteile für dieeigene Gruppe zu erzielen. Dies ist für die

Page 87: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libanon

Deutsches Orient-Institut 86

Entstehung eines Nationalgefühls eher hin-derlich. Die Überwindung des politischenKonfessionalismus, die sowohl im National-pakt von 1943 als auch im Abkommen vonTa’if 1989 als Ziel formuliert ist, scheiterte bisheute an dem Unwillen der Eliten, die durcheine demographische Anpassung des Pro-porzsystems einen Teil ihrer Macht verlierenkönnten.

Aufgrund der großen Heterogenität der liba-nesischen Gesellschaft, in der die religiösenGruppen auch gleichzeitig unterschiedlichesoziale Schichten repräsentieren1, war der Li-banon in seiner Geschichte mehrmals Schau-platz regionaler Konflikte, in denen Syrien,Israel und Iran ihre jeweiligen Interessendurchsetzen wollten. Hierzu unterstützten siedie untereinander konkurrierenden politisch-konfessionellen Gruppen und gingen zu ver-schiedenen Zeitpunkten wechselndeAllianzen ein. Dieses Zusammenspiel voninnenpolitischen Machtkämpfen zwischen denGruppen, Rivalitäten innerhalb der einzelnenpolitisch-konfessionellen Gruppen und exter-nen Einflüssen regionaler Nachbarstaatensowie überregionaler Staaten (USA, Frank-reich) bestimmt die Komplexität der libanesi-schen Problemlagen.

Anstatt die tief gespaltene Gesellschaft durchdie Anerkennung der Vielfalt zu einer staat-lichen Einheit zu formen, hat dieses politischeSystem im Libanon eher zu einer noch stär-keren Fragmentierung geführt. In Krisenzeitenhat sich immer wieder gezeigt, dass sich dieLibanesen in ihre eigene religiöse Gruppe zu-rückziehen. Dies hängt mit der Schwäche derpolitischen Parteien zusammen, überkonfes-sionell agierende Politiker gibt es kaum. DerKonfessionalismus durchdringt auch anderegesellschaftliche Bereiche, die Medien glie-dern sich größtenteils entlang konfessionellerLinien. Auch die libanesische Geschichts-schreibung ist zutiefst von Konfessionalismusgeprägt.

Das Beharren auf diesem politischen Konfes-sionalismus war wesentliche Ursache für denAusbruch des Bürgerkrieges, der von 1975

bis 1990 dauerte und insgesamt über 150.000Menschenleben forderte, 800.000 verließenzusätzlich das Land. In den Konflikt waren inwechselnden Allianzen und teils inneren Kon-flikten auch die Palästinenser, Israel, Syrienund die USA beteiligt. Hintergrund des Kon-flikts waren lange zuvor bestehende Ausein-andersetzungen hinsichtlich der Identität desLibanon, der Machtverteilung im Staat sowiesozioökonomische Spannungen. ReligiöseMotive spielten eher eine untergeordneteRolle. Diese Auseinandersetzungen wurdenkonfessionalisiert, um Eigeninteressen dereinzelnen Gruppen durchzusetzen. Aufgrunddes Mangels an staatlichen Institutionen undder Bedeutung klientelistischer Netzwerkekonnte der Konflikt nicht reguliert werden undwurde somit durch Gewalt ausgetragen.

Bereits seit den 1950er Jahren wuchsen dieSpannungen zwischen arabischen Nationalis-ten und prowestlichen Christen. Der Ausbruchoffener Kämpfe begann jedoch erst mit derAnkunft der 1970 aus Jordanien vertriebenenbewaffneten Kräfte der PLO (Palestine Libe-ration Organization). Zu Kriegsbeginn stan-den sich die Libanesische Nationalbewegung(LN; muslimisch-drusische2 Allianz aus linkenund teilweise traditionellen Kräften, die einBündnis mit der PLO eingingen) und die Liba-nesische Front (LF; christlich-maronitische Al-lianz rechter Parteien und Gruppen)gegenüber. Die LN forderte eine Reform despolitischen Systems, die LF beharrte auf denalten Machtverhältnissen und bestand aufeiner Vertreibung der Palästinensermilizen.1976 kam es zu einer Intervention syrischerTruppen, die sich zunächst auf die Seite derchristlichen Fraktion stellten. 1978 mar-schierte Israel in den Südlibanon ein, 1982zwangen die israelischen Truppen die PLOzum Rückzug aus dem Libanon. Israel be-setzte bis zum Sommer 2000 zusammen mitder Südlibanesischen Armee (SLA) einen Teildes Südlibanons.

Das Friedensabkommen von Ta’if führte 1989unter saudi-arabischer Vermittlung zum Endedes Bürgerkrieges. In ihm wurden weit rei-chende Reformen des politischen Systems

1 Die von den Schiiten bewohnten Gebiete der Beqaa-Ebene und des Süd-Libanons gehören historisch zuden unterentwickelten Regionen des Landes (schlechte Infrastruktur, mangelnde Bildungseinrichtungen). Die häufigen kriegerischen Auseinandersetzungen im Südlibanon schwächten ihre Entwicklung zusätz-lich. Die Maroniten hingegen, die über Jahrhunderte hinweg mit den Drusen die Politik des Landes be-stimmten, gehören finanziell und bildungsbedingt zur Oberschicht des Landes.

2 Die Drusen sind im frühen 11. Jahrhundert aus der ismailitischen Schia hervorgegangen. Sie bekennensich zu einer Geheimreligion, die auch Elemente des Platonismus und die Lehre der Seelenwanderung beinhaltet und aufgrund dessen von vielen Muslimen als Häresie abgelehnt wird. Die Drusen unterteilen sich religiös betrachtet in „Wissende“ (arabisch: uqqal) und „Unwissende“ (arabisch: juhhal). Im Libanon entspricht ihr Bevölkerungsanteil etwa 10%. Dank ihrer wechselnden politischen Bündnisse konnten sie bis heute politischen Einfluss wahren.

Page 88: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libanon

Deutsches Orient-Institut87

vereinbart: Die Ämter wurden fortan zu glei-chen Teilen unter Christen und Muslimen auf-geteilt, die Rolle des (sunnitischen)Ministerpräsidenten wurde gegenüber dem(maronitischen) Staatspräsidenten entschei-dend aufgewertet. Der Vertrag sprach sich füreine schrittweise Überwindung des Konfes-sionalismus aus. Des Weiteren legitimierteder Vertrag die syrische Militärpräsenz imLand. 1990 begann unter Aufsicht der syri-schen Armee die Demilitarisierung der Mili-zen. Einzig die Hizbullah durfte ihre Waffenmit der Begründung behalten, den Wider-stand gegen die israelischen Besatzungstrup-pen im Südlibanon aufrechtzuerhalten.

Die islamistische Hizbullah hatte sich 1982unter dem Eindruck des israelischen Eingrei-fens in den libanesischen Bürgerkrieg gegrün-det. Sie verfolgt auch sozialpolitische Ziele,etwa im Bereich Bildung und Gesundheitswe-sen. Die schiitische, von Iran und Syrienunterstützte Organisation verfügt über einenpolitischen und einen militärischen Arm undbildet heute de facto einen „Staat im Staate“.Im Libanon ist sie mittlerweile zu einer der be-deutendsten politischen Kräfte des Landesgeworden, stellt seit dem Juli 2005 zwei Mi-nister und unterhält soziale Einrichtungen wieKrankenhäuser, Schulen und Waisenhäuser.Generalsekretär der „Partei Gottes“ ist seit1992 Hassan Nasrallah. Die Hizbullah, diefaktisch das gesamte öffentliche Leben derschiitischen Bevölkerung im Südlibanon undin Süd-Beirut organisierte und finanzierte,sorgte dafür, dass die beiden HauptinteressenSyriens im Libanon – die Präsenz syrischerTruppen und die Aufrechterhaltung desDrucks auf Israel – verwirklicht wurden.

Die Ermordung des ehemaligen Ministerpräsi-denten Rafiq Hariri3 löste 2005 eine Reihe vonDemonstrationen hauptsächlich in Beirut aus.Diese Kette von Protesten wird als „Zedern-revolution“ bezeichnet4. AusschlaggebendeBeweise für einen Verantwortlichen des An-schlages auf Hariri gab es nicht, jedoch rich-tete sich der Verdacht hauptsächlich auf diesyrische Regierung aufgrund ihres umfangrei-chen Militär- und Geheimdiensteinflusses imLibanon sowie das zuletzt angespannte Ver-hältnis zwischen dem Ministerpräsidenten

und der syrischen Regierung. Aufgrund seinerpolitischen und militärischen Rolle währenddes Bürgerkrieges im Libanon übte Syrieneinen prägenden Einfluss auf das Land aus.Nach dem Anschlag gingen bürgerliche Grup-pen verschiedenster Konfessionen gemein-sam auf die Straßen und demonstrierten fürden Rückzug der syrischen Truppen und Si-cherheitsbeamten aus dem Libanon, für einEnde der syrischen Einflussnahme auf die li-banesische Politik und damit verbunden for-derten sie eine Organisation von freienparlamentarischen Wahlen. Als Folge der De-monstrationen und auf internationalen Druckdurch die USA und Frankreich zogen die sy-rischen Truppen 2005 vollständig ab und diepro-syrische Regierung trat zurück.

Seitdem haben sich zwei rivalisierende politi-sche Blöcke formiert: Die Bündnisse „8. März“und „14. März“. Die wichtigsten Parteien, diezum „14. März“ gehören, die der Sohn des Er-mordeten, Saad Hariri führt, sind die Zu-kunftsbewegung, die FortschrittlicheSozialistische Partei PSP (drusisch), die For-ces Libanaises und Kata’ib/ Phalange. Diewichtigsten Parteien in dem Bündnis „8.März“sind Hizbullah, die Amal-Bewegung und dieFreie Patriotische Bewegung FPM, diegegenwärtig die größte christliche Fraktion imParlament darstellt.

Die innenpolitische Situation ist seit 2010 ge-prägt durch die Debatte über das UN-Sonder-tribunal für den Libanon (STL), das den Mordan Rafiq Hariri aufklären soll. Die anhaltendenAuseinandersetzungen führten zur Auflösungdes Parlaments am 12. Januar 2011: DerRücktritt von elf Ministern brachte die Regie-rung Saad Hariris zu Fall. Hinzu kam, dassdie Fortschrittliche Sozialistische Partei (PSP)zum „8. März”-Block überwechselte und Haririsomit die Mehrheit der Parlamentssitze ent-zog. Neuer Ministerpräsident wurde der par-teiunabhängige Geschäftsmann Najib Miqati,der am 25. Januar 2011 den Posten aufnahmund sein Kabinett am 13. Juni 2011 dem Par-lament vorstellte. Anfang Juli wurde ihm dasVertrauen ausgesprochen. Doch auch dasbrachte keine innere Ruhe in das Land, denndie unterschiedlichen Meinungen über dasUN-Sondertribunal erhitzen weiterhin die Ge-

3 Rafiq Hariri, Bauunternehmer und Multimilliardär mit saudi-arabischer Staatsbürgerschaft, hatte massivin den Wiederaufbau des Libanon nach Ende des Bürgerkrieges investiert. Von 1992 bis 1998 sowie zwi-schen 2000 und 2004 war er Ministerpräsident. Beide Male legte er sein Amt aus Protest gegen die po-litische Einflussnahme Syriens nieder. Er starb durch einen Autobombenanschlag am 14. Februar 2005. Durch die riesige Sprengkraft wurden auch umliegende Häuser beschädigt, 23 Menschen starben, mehrals 100 wurden verletzt.

4 Die Zeder ist das nationale Wahrzeichen Libanons, der Baum, der ebenfalls auf der Flagge des Landesabgebildet ist.

Page 89: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libanon

Deutsches Orient-Institut 88

müter. Anfang Juli gab das STL bekannt, dassvier Hizbullah-Mitglieder am Mord beteiligt ge-wesen sein sollen und forderte deren Inhaftie-rung. Saad Hariri bezeichnete dies als einen„historischen Schritt“. Der Anführer der Hizbul-lah, Hassan Nasrallah, vertrat jedoch die Mei-nung, dass das Tribunal und der Mord einabgestimmter Plan der USA und Israelswären, um gegen die Hizbullah, die momen-tan die stärkste politische und militärischeMacht im Libanon ist, vorgehen zu können.Ferner würden sie eine nationale Kluft zwi-schen den schiitischen und sunnitischen Li-banesen beabsichtigen, um die innereSicherheit und Stabilität Libanons zu schwä-chen.

II. Voraussetzungen für den Willen nach

Wandel

Libanon unterscheidet sich von anderen Län-dern der Region durch sein vergleichsweiseoffenes System. Trotz des Bürgerkrieges ge-lang es dem Libanon, die Grundlagen seinesdemokratischen Systems am Leben zu erhal-ten: Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechtewerden in weit höherem Maße geachtet als inanderen Staaten der Region. Zivilgesell-schaftliche Strukturen sind vergleichsweisehoch entwickelt und die Medienlandschaft istweitgehend unabhängig und vielfältig.

Bürokratische Korruption ist ein präsentesProblem und ihre Eindämmung ständigesThema gesellschaftlicher Forderungen undpolitischer Absichtserklärungen. Entspre-chend unzureichend fällt häufig die rechtlicheund politische Ahndung von Amtsmissbrauchaus. Dies liegt auch daran, dass Korruptionzum Teil als unabwendbarer Bestandteil desKlientelismus betrachtet wird, was die Unter-scheidung zwischen beiden häufig unmöglichmacht.

Es existiert ein relativ stabiles und moderatesParteiensystem, welches jedoch fragmentiertist. Es ist durch stark personalistische undklientelistische Tendenzen sowie geringe pro-grammatische Kapazitäten gekennzeichnet.Konfessionelle Allianzen durchschneidenhäufig die Parteigrenzen. So trägt das amkonfessionellen Proporz orientierte Wahlsys-tem dazu bei, die Position der konfessionellenFührer zu stärken und verhindert die Entwick-lung einer Parteien- und Interessengruppen-landschaft, die regionale und konfessionelleGrenzen überwindet.

Die Zustimmung der libanesischen Bevölke-rung zur demokratischen Regierungsform istauf allen Seiten grundsätzlich sehr hoch. Dierelativ geringe Wahlbeteiligung zu Beginn derJahrtausendwende auf nationaler Ebene(40,5% bei den Wahlen 2000) wurde von vie-len mit dem Verdruss über die lähmende All-gegenwärtigkeit des Proporzes, desKlientelismus und der syrischen Einfluss-nahme begründet. Bei den Parlamentswahlen2009 fiel die Wahlbeteiligung wieder deutlichhöher aus (55%).

Die Zivilgesellschaft des Libanon ist ver-gleichsweise lebendig und weist einen rechthohen Organisationsgrad auf. Es existiert einrobustes Geflecht autonomer, selbstorgani-sierter Gruppen, Vereine und Organisationensowie ein solides Maß an Vertrauen innerhalbder Bevölkerung. Sehr häufig übernehmendie Organisationen staatliche Aufgaben, wieSoziales und Bildung, mit.

III. Akteure des Wandels und konkrete

Auslöser

Während Nordafrika und der Nahe und Mitt-lere Osten von historischen politischen Um-brüchen erfasst wurden, blieb die Lage inLibanon bislang verhältnismäßig ruhig. An-fang 2011 kam es zu einer zaghaften Protest-bewegung, die als Versuch, sich aus demEinflussbereich der verschiedenen internenund externen Machthaber zu befreien, zu wer-ten ist. Im Februar gingen zunächst nur einigeHundert Menschen auf die Straße, vor allemJugendliche, die sich über das Internet undsoziale Netzwerke mobilisiert hatten. Diekommunistische libanesische Jugendbewe-gung rief zu Protesten auf. Die Forderungenbeliefen sich auf die Abschaffung des konfes-sionellen politischen Systems. Im März gabes in Beirut wieder Demonstrationen. Diesmalnahmen einige Tausend daran teil. Am Jah-restag der „Zedernrevolution“ fand ebensoeine Demonstration gegen das Waffenprivilegder Hizbullah statt, zu der der bisherige Minis-terpräsident Saad Hariri aufgerufen hatte. Da-neben wurden auch sozioökonomischeThemen proklamiert, darunter Forderungennach geringeren Lebenskosten, mehr Arbeits-plätzen und sozialen Sicherheiten. Am 10.April kam es erneut zu Demonstrationen undForderungen nach Abschaffung des religiösenKonfessionalismus. Die Proteste verliefenfriedlich und fanden in der Berichterstattungkaum Beachtung. Die Demonstrationen konn-

Page 90: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libanon

Deutsches Orient-Institut89

ten sich jedoch nicht landesweit entfalten, daes keine einheitliche öffentliche Meinung gibt.Dies hat zum einen mit der Fragmentierungder libanesischen Gesellschaft und damit ein-hergehend unterschiedlichen Interessen zutun. Zum anderen existiert durch das Proporz-system keine einzelne zentrale Machtfigur,die es zu entmachten gilt. Vielmehr ist es daspolitische System an sich, welches damalsunter den Franzosen in den 1920er Jahreneingeführt wurde, das bis heute jegliche Re-formversuche erschwert. Diese Fragmentie-rung macht sich auch dadurch bemerkbar,dass die Demonstranten sich schnell uneinswaren, welche Richtung ihre Proteste neh-men sollten. Auch der sehr komplexe außen-politische Kontext behindert die Proteste, daregionale Konfliktfronten schnell aufeinanderstoßen und jederzeit zu erneuten Krisen undkriegerischen Konflikten führen können. DerLibanon durchlebt immer noch die Folgen desMordes an Rafiq Hariri, dessen Hintergründeweiterhin ungeklärt bleiben.

IV. Auswirkungen des „Arabischen

Frühlings“

Einige Sprecher der Kundgebungen äußertensich dann auch kritisch über den Erfolg ihrerProteste: So wurde die Debatte um eine Sä-kularisierung des Staates durch die Protesteweiter angestoßen. Die Revolutionen in Tune-sien und Ägypten wurden als positiv angese-hen, ohne dass für das eigene Land gleicheEffekte zu erwarten seien. Durch die innenpo-litischen Auseinandersetzungen fürchten vieleBeobachter derzeit eine Eskalation einesinnerislamischen Bürgerkrieges auf libanesi-schem Boden, diesmal zwischen Sunnitenund Schiiten. Auch die Schaffung eines säku-laren Staates erfüllt viele Libanesen noch mitMisstrauen: Viele Christen rechnen mit einerMachtübernahme durch die schiitische Hiz-bullah und eine damit verbundene Auswei-tung des iranischen Einflusses.

Trotz der zögerlichen Proteste zu Beginn die-ses Jahres erscheinen zum jetzigen Zeitpunktein Systemwechsel und eine Entmachtungder herrschenden Eliten unmöglich. Regie-rungswechsel dagegen sind an der Tagesord-nung, die politische Landschaft ist in stetigemFluss, autokratische Strukturen wie in ande-ren Staaten im Nahen und Mittleren Ostenexistieren also nicht. Die Parteienlandschaftist stärker ausgeprägt als in den Nachbarlän-dern, doch konfessionsübergreifend agie-

rende Politiker sind in der Minderheit. Die li-banesische Gesellschaft, die 2005 geeintgegen die syrische Besetzung protestierte, istin den letzten Jahren wieder deutlich ausein-ander gerückt und in alte konfessionelle Mus-ter verfallen. Nach dem Tod Hariris schieneine Vereinigung über konfessionelle Gren-zen hinweg unmöglich geworden zu sein. DieZukunft Libanons hängt in hohem Maße vondem Verlauf der Protestbewegung im Nach-barland Syrien ab. Vor allem in der nordliba-nesischen Stadt Tripoli, die an Syrien grenzt,leben viele syrische Flüchtlinge, die Anfangder 1980er Jahre flohen, als der ehemaligePräsident Hafiz al-Assad gegen die Aufständi-schen in Hama vorging. Neben den mehrheit-lich sunnitischen syrischen Flüchtlingen lebtauch eine größere alawitische5 Gemeinde inTripoli. Die syrische Herrscherelite gehörtebenfalls der alawitischen Glaubensrichtungan. Somit sorgen die andauernden Kämpfe inSyrien auch für zunehmende Spannungenzwischen diesen beiden syrischen Gruppenin Tripoli. Ein Regimewechsel in Syrien würdeebenso wie der Ausbruch eines Bürgerkriegesgravierende Folgen für den Libanon haben.So sprach sich Anfang August der libanesi-sche Außenminister gegen eine internationaleEinmischung in den Syrienkonflikt aus, da dieStabilität des eigenen Landes eng mit der Sta-bilität des Nachbarlandes verbunden sei. ImApril 2011 berichteten libanesische Zeitun-gen, dass eine neue Flüchtlingswelle aus Sy-rien Zuflucht im Libanon sucht. Ihre Zahlwurde auf 5.000 Menschen geschätzt. Um dieSituation für den Libanon zu entschärfen, rie-gelten libanesische Sicherheitskräfte darauf-hin die Grenze ab. Auch die Hizbullah soll aufden möglichen Sturz des syrischen Regimesbereits reagiert haben: Seit Ende Juni verla-gere sie ihr Waffenarsenal schrittweise ausSyrien in den Libanon.

Da Syrien nach dem Bürgerkrieg die politi-sche und militärische Kontrolle im Libanonübernahm, kamen darüber hinaus eine Millionsyrische Gastarbeiter in den Libanon. Damiterlitten die etwa 400.000 Palästinenser einegravierende wirtschaftliche Marginalisierung.Seit dem Bürgerkriegsende sind die Palästi-nenser von dem politischen, sozialen undwirtschaftlichen Leben des Landes ausge-schlossen. Das weitgehende Arbeitsverbotaußerhalb der Flüchtlingslager zwang vieleaus Existenznöten zurück in die zum Teil zer-störten Lager. Die ungelöste Flüchtlingsfrageund die angespannte Lage in den Flüchtlings-

5 Alawiten, auch Nusairier genannt, sind eine Strömung des Islam, die sich aus dem Schiitentum entwickelthat. Die Nusairier leben hauptsächlich in Syrien, der Türkei und im Libanon.

Page 91: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libanon

Deutsches Orient-Institut 90

lagern belasten den Libanon zusätzlich. Dieüberwiegend sunnitischen Palästinenser ma-chen mittlerweile 11% der Bevölkerung ausund würden im Falle einer Anerkennung dasmühsam ausgehandelte politische Gleichge-wicht zwischen den verschiedenen Religions-gruppen weiter zugunsten der Muslimeverschieben.

V. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure

Mit der Mobilisierungskraft der „Zedernrevo-lution“ von 2005 lässt sich die jetzige Situationfolglich nicht vergleichen. Saad Hariri sprachgar davon, dass die Zedernrevolution im Li-banon ein Vorgänger der derzeitigen demo-kratischen Erhebungen in der arabischenWelt gewesen sei. Nabih Berri, Sprecher desParlaments und Führer der Schia-ParteiAmal, rief im Februar zu einer Beteiligung anden Protesten auf. Die Hizbullah reagierte inder Protestbewegung gehemmt und konntesich zunächst nicht positionieren. Noch zu Be-ginn des Jahres hatte sich Hassan Nasrallahenthusiastisch über die Aufstände in Tunesienund Ägypten geäußert. Auch die Proteste inLibyen stießen auf seine Zustimmung. Im Ja-nuar drohte er mit „tunesischen Verhältnis-sen“, sollte die nächste libanesischeRegierung das Hariri-Sondertribunal weiterunterstützen. Dem Assad-Regime in Syrienbekundete er jedoch seine uneingeschränkteSolidarität mit der Begründung, dass Assaddurchaus für Reformen bereit und somit keininternationales Eingreifen nötig sei. Die Hiz-bullah steht unter großem Druck, denn solltedas Regime in Syrien fallen, wäre ihr strategi-scher Vorteil Vergangenheit und die Organi-sation müsste sich vollkommen neuorientieren. Auch Iran würde seinen einzigenarabischen Verbündeten verlieren. Die meis-ten Syrer sind Sunniten, eine neue Führungkonnte folglich eher feindselig gegenüber derschiitischen Hizbullah eingestellt sein, so dieBefürchtungen.

VI. Zukunftsszenarien

Die innenpolitischen Entwicklungen seit demAbkommen von Ta’if haben verdeutlicht, wielimitiert der Handlungsspielraum der libanesi-schen Regierungen ist. Jeder Schritt mussunter Berücksichtigung aller internen und ex-ternen Interessen abgewogen werden, zeit-weilig kam es zur völligen Blockade desSystems, zu militärischen Angriffen und politi-schen Morden. Der politische Alltag Libanons

ist geprägt von den sicherheitspolitischenInteressen Syriens und Israels, den strategi-schen Interessen Irans und den Machtinter-essen der verschiedenen konfessionellenGruppen im Land. Alle diese Faktoren unter-liegen einem stetigen Bedeutungswandel undwechselnden Bündnisverhältnissen. Der Aus-gleich aller Interessen erscheint unmöglich,daher sind politische Konflikte im Libanon un-vermeidbar, solange das politische Systembestehen bleibt. Die Debatte um die Abschaf-fung des konfessionellen Systems bestimmtedann auch die zaghaften Protestbewegungenim Libanon zu Beginn dieses Jahres. Das Mo-dell der Konkordanzdemokratie scheint fürden Libanon nicht geeignet, weil es von inter-nen und externen Gruppen immer wieder in-strumentalisiert wurde. Ebenso zeigt diemoderne libanesische Geschichte, dass dasBeharren auf dem Konfessionalismus zahlrei-che blutige Konflikte mit sich brachte, die dieBevölkerung bis heute traumatisieren und deneinstigen Ruf des Libanon als „Schweiz desOrient“ zerstört hat. Bis heute entziehen sichdie Eliten ihrer Verantwortung, die schritt-weise Überwindung des politischen Konfes-sionalismus voranzutreiben, so wie es imNationalpakt von 1943 und erneut im Abkom-men von Ta’if 1989 vorgesehen wurde. Solltees irgendwann gelingen, den Libanon in einenstarken säkularen Staat zu formen und sichdie Libanesen als überkonfessionelle Nationetablieren, wäre die ständige Einflussnahmeexterner Mächte erschwert und die gesamteRegion stabilisiert. Es bedarf allerdings einerstarken Protestbewegung wie während der„Zedernrevolution“ 2005, um diese Forderunganstoßen zu können.

Durch die geringe Größe des Landes und dergeringen Bevölkerungszahl ist es jedoch dasSchicksal Libanons, Spielball der größerenund einflussreicheren Nachbarländer zu blei-ben. Zu einer Befriedung der Lage ist – wennauch ein Systemwechsel unmöglich erscheint– wenigstens die Anpassung der Verteilungder politischen Ämter an die demographi-schen Realitäten erforderlich. Doch eine Ver-änderung des Wahlrechts muss vomParlament verabschiedet werden, durch ebenjene Politiker, die an ihren Machtansprüchenungehindert festhalten und an ihren eigenenInteressen und denen ihrer konfessionellenGruppe interessiert sind. Das libanesischeVolk hat bereits mit der Zedernrevolution 2005bewiesen, dass es bereit ist, sich für politi-schen Wandel zu mobilisieren. Die jüngsten

Page 92: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Libanon

Deutsches Orient-Institut91

Proteste, die sich gegen das politische Sys-tem richten, haben bis jetzt keine Breitenwir-kung erzielt, weil viele Bürger das System alszu komplex und nicht wandelbar ansehen. Inseiner Geschichte hat die Unfähigkeit der po-litischen Führung, nationale Interessen vorPartikularinteressen zu stellen, mehrmals zurInstabilität des Landes geführt. Im Zuge des„Arabischen Frühlings” ist es nun genau dieseUneinigkeit, die in Libanon bis dato landes-weite Protestbewegungen verhindert hat.

Worst-Case Szenario:

Nach dem Ausbruch eines Bürgerkriegesin Syrien mit anschließendem Regime-wechsel bricht im Libanon ein neuer Bür-gerkrieg zwischen sunnitischen undschiitischen Gruppen unter EinbeziehungIrans aus. Der Konflikt erhält eine interna-tionale Dimension durch die Angst um denEinsatz von Atomwaffen.

Best-Case Szenario:

Der politische Konfessionalismus wird

schrittweise überwunden. Zunächst erfolgteine neue Volkszählung, begleitet voneiner Anpassung der Wahlkreise. Das an-fängliche Misstrauen gegenüber der Hiz-bullah, die die ersten Wahlen dominieren,legt sich. Innerhalb der nächsten zehnJahre etablieren sich dann zunehmendüberkonfessionelle Parteien.

Trend-Szenario:

Die libanesische Politik hat weiterhin Pro-bleme, eine stabile Regierung zu bilden.Hinzu kommen interne Machtkämpfe, wo-durch es externen Akteuren leicht fällt,weiterhin ihre Partikularinteressen einzu-bringen. Das Regime in Syrien hält sich,die Spannungen zwischen dem pro-syri-schen und anti-syrischen Lager wachsen.Politische Morde bleiben an der Tagesord-nung.

Samira Akrach und Tutku Güleryüz

VII. Literaturangaben

ABRAHAM, A. J.: Lebanon in Modern Times, 2008.

AUSWÄRTIGES AMT

BERTELSMANN TRANSFORMATION INDEX: http://www.bti2003.bertelsmann-transformation-index.de/143.0.html, abgerufen am 05.09.2011.

BICKEL, MARKUS: Libanon. Aufstieg und Fall der Zedernrevolution, in: Frank Nordhausen, ThomasSchmid (Hg.): Die arabische Revolution, Berlin 2011, S. 127-138.

DAILY STAR LEBANON

FOLLATH, ELIAS: Hariri oder Harakiri, in: Der Spiegel 28/2011.

HAVEMANN, AXEL: Libanon, in: Werner Ende und Udo Steinbach (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart, Bonn 2005, S. 525-537.

HILAL, KHASHAN: The view from Syria and Lebanon, in: Middle Eastern Upheavals, S. 25-30.

LIJPHART, AREND: Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries, New Haven 1999.

MIDDLE EAST ONLINE

NESEMANN, KATRIN: Medienpolitik im Libanon. Regulationstendenzen nach dem Bürgerkrieg, Hamburg 2001.

PFETSCH, FRANK R.: Die Arabisch- Islamische Welt. Konflikte seit 1945, Würzburg 1991.

VON ANGERN, WOLF-HAGEN: Geschichtskonstrukt und Konfession im Libanon, Berlin 2010.

WOOD, JOSH: In Lebanon, a More Patient Protest, The New York Times, 13. April 2011, http://www.nytimes.com/2011/04/14/world/middleeast/14iht-m14-anti-sectarianism.html, abgerufen am 27.07.2011.

ZEIN AL DIN, MAYSSOUN: Religion als politischer Faktor?. Eine Untersuchung am Beispiel der Frage des politischen Konfessionalismus in Libanon, Baden-Baden 2010.

Page 93: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Jordanien

Deutsches Orient-Institut 92

1 CIA – The World Factbook.2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.3 http://www.tradingeconomics.com/jordan/population-density-people-per-sq-km-wb-data.html. 4 CIA – The World Factbook.5 CIA – The World Factbook.6 CIA – The World Factbook.7 United Nation: Arab Human Development Report: Challenges to Human Security in the Arab countries, S. 232.8 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators,

http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles.10 http://www.tradingeconomics.com/jordan/population-imf-data.html.11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN.12 United Nation: Arab Human Development Report: Challenges to Human Security in the Arab countries, S. 239.13 CIA – The World Factbook. 14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.15 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.16 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG,

International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, S. 183, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf.

17 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html.

18 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm.19 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia,

http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf.20 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us.21 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,

http://hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 22 United Nations Development Programme (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection:

Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends.

23 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf.

24 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp.

25 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

Landesdaten Jordanien

Fläche1 2011 89,342 m²Bevölkerung2 2010 6.500.000 Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 69,05

Ethnische Gruppen4 2010 Araber 98%, Tscherkessen 1%, Armenier 1%

Religionszugehörigkeit5 2010sunnitische Muslime 92%, Christen 6% (vor allem griechisch-orthodox), andere 2% (vor allem schiitische Muslime und Drusen)

Durchschnittsalter6 2010 22,1 Jahre Bevölkerung unter 15 Jahren7 2005 37,2% Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 3% Lebenserwartung9 2010 80,05 Jahre Bevölkerungsprognose bis 201510 2010 6.900.000 Geburten pro Frau11 2009 3,4 Alphabetisierungsrate12 2010 91,1% Mobiltelefone13 2009 6.014.000Nutzer Internet14 2009 1.741.900Nutzer Facebook15 2011 1.675.780 Wachstum BIP16 2010 3,1% BIP pro Kopf17 2010 5.700 USD Arbeitslosigkeit18 2010 12,5%Inflation19 2011 6,1% S&P-Rating20 2011 BBB- Human Development Index21 2010 Rang 82 (von 169)Bildungsniveau22 2010 Rang 67 (von 177)

Bildungsniveau der Frauen (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)23

2010 57,6%

Politische Teilhabe24 2010 24,6%Korruptionsindex25 2010 Rang 50 (von 178)

Page 94: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Jordanien

Deutsches Orient-Institut93

Jordanien

Auch das Haschemitische Königreich

Jordanien sah sich im Zuge des

„Arabischen Frühlings“ mit Protes-

ten konfrontiert. Sowohl die wirtschaftli-

che als auch die demographische

Ausgangslage sind schwierig. Dem Kö-

nigshaus gelingt es jedoch bislang erfolg-

reich, sich aus der Schusslinie zu

manövrieren: Die Demonstranten fordern

keinen Regime- oder Systemwechsel.

I. Politisches System und gesellschaftli-

che Entwicklungen

Das Haschemitische Königreich Jordanienwurde am 25. Mai 1946 von Großbritannienaus der Mandatsherrschaft in die Unabhän-gigkeit entlassen. Das erste Staatsoberhauptwar König Abdullah I. Dieser regierte bis zuseinem Tod am 20. Juli 1951, war jedochzuvor bereits seit 1921 Emir von Transjorda-nien, als dieses noch unter britischer Man-datsherrschaft stand. Nach seinem Todübernahm sein Sohn Hussein I. die Machtund regierte bis zu seinem Tod am 7. Februar1999. Seit seiner Unabhängigkeit beteiligtesich Jordanien an den Kriegen gegen Israelund besetzte 1948 das Westjordanland. Die-ses verlor es jedoch im Krieg von 1967 wiederan Israel. Die durch diese beiden Kriege ver-ursachten Flüchtlingswellen von jeweils rund400.000 Menschen stellten das Königreichvor eine enorme Herausforderung. Die paläs-tinensische Befreiungsorganisation (PLO)1

drohte zunehmend zum „Staat im Staate“ zuwerden. Diese Bedrohungsperzeption führtedann 1970/71 zu einem militärischen Konflikt,der als „Schwarzer September“2 bekanntwurde. An dem erneuten Krieg gegen Israel1973 beteiligte sich Jordanien kaum. Fernerschloss es mit seinem Nachbarstaat im Jahr1994 einen Friedensvertrag ab und war damitnach Ägypten erst der zweite arabische Staat,der Frieden mit Israel schloss.

Jordanien hat heute circa 6,5 Mio. Einwohner,davon sind über 90% Muslime. Im Zuge desNahostkonflikts mit Israel lebt im haschemiti-schen Königreich auch ein großer palästinen-sischer Bevölkerungsanteil, deren Anteil aufüber 50% geschätzt wird. Hinzukommen biszu einer Million Flüchtlinge, die auf Grund desIrak-Krieges im Jahr 2003 ins Land kamen.Allgemein hat Jordanien seit 1975 ein enor-mes Bevölkerungswachstum zu bewältigen:einen Anstieg von 1,9 Mio.1975 zu 5,9 Mio.2005 (3,5%) und zu erwartenden 6,9 Millionenbis 2015 (2,2%).3 Der Anteil der unter 15-Jäh-rigen lag 2005 bei 37,2%.4 Dennoch liegt dieAlphabethisierungsrate bei 91,1% für über 15-Jährige. Bei unter 15-Jährigen erreicht siesogar 99%.5 Jordanien ist im regionalen Ver-gleich arm an Rohstoffen, so verfügt es bei-spielsweise über keine erwähnenswertenErdöl- oder Erdgasreserven.

Das Land ist eine konstitutionelle Monarchieund König Abdullah II. bin al-Hussein ist zu-gleich auch Oberbefehlshaber der Streit-kräfte. Die Legislative bildet das Parlamentseit 2010 mit 120 frei auf vier Jahre gewähltenAbgeordneten im Unterhaus sowie 60 vomKönig auf acht Jahre ernannte Abgeordnetedes Oberhauses. Zudem bestehen einigeProporzregeln: So sind sechs der Mandatedes Unterhauses für Frauen, neun für Chris-ten und drei für Tscherkessen reserviert. Diewichtigsten Machtbefugnisse liegen jedochbeim König: So ernennt und erlässt er die Re-gierung. Ferner kann er das Parlament auflö-sen und entscheidet über dessen Zusammen-treffen. In der Übergangsphase regiert er perDekret. Das politische System Jordanienswird demnach trotz demokratischer Elementeals „gemäßigte Autokratie“6 bezeichnet. In derFolge ist auch die Parteienlandschaft erst imAufbau begriffen.

Jordaniens Rechtssystem greift allerdings aufeine im Vergleich zu anderen Staaten der ara-bischen Welt gut ausgebildete Rechtstaatlich-

1 Die PLO (Palestine Liberation Organization, arabisch: Munazzamat at-Tahrir al-FilasÔiniya) ist der Dach-verband verschiedener nationalistischer Organisationen zur Befreiung Palästinas. Die stärkste unter ihnenist die Fatah. Die PLO wurde am 28. Mai 1964 auf Initiative des damaligen ägyptischen PräsidentenGamal Abd al-Nasser gegründet. Jassir Arafat war zwischen 1969 und 2004 ihr Vorsitzender und seit sei-nem Tod hat Mahmud Abbas dieses Amt inne.

2 Der „Schwarze September” bezeichnet eine militärische Auseinandersetzung zwischen dem jordanischenStaat und der PLO. Letztere bildete einen „Staat im Staate“ und verübte am 1. September 1970 einen At-tentatsversuch auf König Hussein I., welches jedoch scheiterte. In der Folge kam es zu mehreren Flug-zeugentführungen und die jordanische Armee schlug den Aufstand am 17. September 1970 nieder. UnterVermittlung Nassers kam es dann zu einem Waffenstillstand am 27. September 1970.

3 Vgl. United Nation: Arab Human Development Report: Challenges to Human Security in the Arab coun-tries, S. 232.

4 Ebd.5 Ebd. S. 239.6 Vgl. Brummer, Klaus: Deutschland, Europa und die arabisch-islamische Welt. Interessen und Handlungs-schwerpunkte, S. 9.

Page 95: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Jordanien

Deutsches Orient-Institut 94

keit zurück. Sie operiert weitgehend unabhän-gig, sofern sie sich jedoch mit Belangen derEliten befasst, ist sie massiver Einflussnahmeausgesetzt. Vor allem haben die Terroran-schläge im November 2005 auf drei Hotels inAmman zu einer Ausweitung der Kompeten-zen der Sicherheitsbehörden geführt. Daswiederum beschneidet zunehmend dieRechte von Inhaftierten. Menschenrechtsor-ganisationen kritisieren deshalb den restrikti-ven Umgang jordanischer Polizeibehördenmit Gefangenen.

II. Voraussetzungen für den Willen nach

Wandel

Der vor Jahren mit dem Beginn der Herrschaftvon Abdullah II. begonnene Reformprozesshin zu mehr Demokratie und freier Marktwirt-schaft ist mittlerweile ins Stocken geraten. Dieanfangs gehegten Hoffnungen, der junge undan westlichen Elitehochschulen ausgebildeteThronfolger würde sowohl die ökonomischeals auch die politische Realität in Jordanienverbessern, blieben unerfüllt. Der wesentlicheTeil zur Verbesserung der Lage fand überdiesim Bereich der Wirtschaft statt,7 es erfolgteeine zunehmende Orientierung am Westen.Dennoch ist der privatwirtschaftliche Sektorunterentwickelt, während der staatliche Sek-tor noch immer den größten Arbeitsbereichdes Landes darstellt, wenngleich der Anteilvon 49,5% im Jahr 1990 auf 39% im Jahr2003 reduziert werden konnte.8 Die grundle-genden politischen Neuerungen sind hinge-gen noch nicht oder erst unzureichend inAngriff genommen worden. So ist beispiels-weise die gesetzmäßige Gleichstellung derFrau nicht durchgesetzt, denn ihr werdengrundlegende politische und staatsbürgerli-che Rechte vorenthalten. Das beinhaltetbeispielsweise den Fakt, dass eine jordani-sche Frau nicht die Möglichkeit der Weiter-gabe der Staatsangehörigkeit an ihre Kinderim Falle einer Ehe mit einem Nicht-Jordanierbesitzt.In Jordanien bestehen – wie bereits erwähnt

– ähnliche demographische Verhältnisseunter anderen Herausforderungen wie in dergesamten arabischen Welt. Dies betrifft bei-spielsweise die Arbeitslosenquote, welche mitüber 12,5% im Jahr 2010 relativ hoch ist.Doch auch hier fällt die Ungleichverteilungentlang der Geschlechter ins Auge. Zwar stel-len Frauen 48% der Bevölkerung, jedoch nur12% der Erwerbstätigen9, obwohl diese meisthöher qualifizierte Jobs haben.10 Auch diehohe Jugendarbeitslosigkeit ist signifikant:Zwischen 15 und 19 Jahren lag sie im Jahr2003 bei 37% sowie zwischen 20 und 24 Jah-ren bei 28,2%.11 Daraus entsteht eine derinnenpolitischen Kernherausforderungen derkommenden Jahre und Jahrzehnte für dasKönigreich, da es sich als äußerst schwieriggestalten dürfte, die junge Generation erfolg-reich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dasgleiche Problem stellt sich darüber hinaus beieiner weiterhin verstetigten Heranführung derweiblichen Bevölkerung an den Arbeitsmarkt.

Allgemein ist die wirtschaftliche Situation Jor-daniens schwierig. Das haschemitische Kö-nigreich hat ein prognostiziertes Brutto-inlandsprodukt von 27,5 Mrd. USD im Jahr2010 bei einem Wachstum von 3,1%. Zudemweist es 2010 ein Haushaltsdefizit von 5,4%auf.12 Das Land verfügt kaum über natürlicheRessourcen – vor allem im regionalen Ver-gleich besitzt das Königreich keine erwäh-nenswerten Öl- oder Gasvorkommen. EinGroßteil der benötigten Waren muss impor-tiert werden. Zudem ist das Königreich vonexternen Zuwendungen – vor allem in Formvon Entwicklungshilfe und Schuldenerlässenseitens der USA und der EU – abhängig. DieHerkunft ist allerdings primär nicht im direktenUmfeld Jordaniens zu verorten, da Jordanienauf Grund seiner Lage zwischen den nach re-gionaler Hegemonie strebenden Staaten Sy-rien, Saudi-Arabien, Irak und Israel eineausgeglichene Nachbarschaftspolitik verfolgt.Ferner nimmt der Anteil der ausländischenZahlungen am jordanischen Staatshaushalt inden letzten Jahren stetig ab – mit Ausnahme

7 Vgl. Bertelsmann Stiftung: Transformation Index 2010, http://www.bertelsmann-transformation-index.de/fileadmin/pdf/Anlagen_BTI_2010/BTI_2010__Rankingtabelle_D_web.pdf, abgerufen am03.08.2011.

8 Vgl. The European Training Foundation (ETF): Unemployment in Jordan, S. 21.9 Vgl. Ebd.10 Ebd. S. 23f.11 Ebd. S. 28.12 Daten nach http://www.gtai.de/ext/anlagen/PubAnlage_7785.pdf?show=true, abgerufen am 25.08.2011.Die deutschen Werte 2010 zum Vergleich: BIP 3,34 Bio. USD, Wachstum 3,5%, Daten nachhttp://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2011/01/weodata/weorept.aspx?pr.x=108&pr.y=15&sy=2009&ey=2016&scsm=1&ssd=1&sort=country&ds=.&br=1&c=134&s=NGDP_R%2CNGDP_RPCH%2CNGDP%2CNGDPD%2CNGDP_D%2CNGDPRPC%2CNGDPPC%2CNGDPDPC%2CPPPGDP%2CPPPPC%2CPCPI%2CPCPIPCH%2CPCPIE%2CPCPIEPCH&grp=0&a=, abgerufen am 25.08.2011.

Page 96: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Jordanien

Deutsches Orient-Institut95

eines Anstiegs nach dem 11. September200113, was vor allem mit erhöhten Zuwen-dungen der USA für den Kampf gegen denTerror zu erklären ist.

Auf politischer Ebene gilt vor allem das Wahl-recht als reformbedürftig. Das darin enthal-tene Prinzip des „one man, one vote“ wird alsBegünstigung und gleichermaßen Festigungtribaler Herrschaftsstrukturen angesehen,denn wenn jeder Jordanier lediglich eine,nicht zu übertragende Stimme hat, genießentribale Verbindungen14 Priorität. Zudem ist inJordanien eine extreme Ungleichbehandlungder Bürger zu beobachten, denn die Wahl-kreise sind nicht an der demographischen Re-alität orientiert, sodass einige bis zusiebenmal stärker repräsentiert werden alsandere.15 Das trifft vor allem auf die Städte miteinem hohen palästinensischen Bevölke-rungsanteil, wie zum Beispiel Amman oderZarqa, zu. Dies legt nahe, dass es sich umeine gezielte Benachteiligung handelt. Auchdie Vereinten Nationen attestieren Jordanienvergleichsweise niedrige Zugangsmöglichkei-ten von zugewanderten Bevölkerungsteilen.16

Hinzukommend ist eine Tendenz zum Stimm-kauf zu beobachten und die Wahlen unterlie-gen nicht der Kontrolle einer objektiven undunabhängigen Instanz. Das jordanische Par-teiengesetz hält indes einige Schwierigkeitenaufrecht, welche auch dazu beitragen, dassdie circa 30 Parteien des Landes in Wahlennur eine marginale Rolle neben den bereitsbestehenden traditionellen Strukturen spielen.Hierfür liegt der Grund vor allem darin, dassdie islamistischen Parteien, allen voran dieMuslimbrüder, im Jahr 1989 beinahe dieHälfte der Sitze des Unterhauses erlangtenund somit als eine ernstzunehmende Bedro-hung der Vorherrschaft der regimetreuen Ver-treter angesehen wurden.

Generell ist es aber auch die Position des Kö-nigs, die das autoritäre System ausmacht, daer weder der Legislative noch der Judikativerechenschaftspflichtig ist und von diesen auchnicht belangt werden kann. Somit wird dasbestehende System der Patronage von triba-len Strukturen gefördert, sodass es für neue

politische Akteure äußerst schwierig ist, poli-tisches Mitspracherecht zu erlangen. DieseLoyalität lässt sich der jordanische Staat aucheiniges kosten: Mehr als 80% des Staats-haushalts soll für den öffentlichen Sektor aus-gegeben werden. Hinzu kommt unteranderem, dass das Parlament bis zu einemgewissen Grad von den Mitgliedern und Kan-didaten weniger als demokratische Partizipa-tionsmöglichkeit, sondern viel mehr alsZugang zum staatlichen Patronagenetzwerkangesehen wird. Daraus erklärt sich auch derFakt, dass die Legislative in den allermeistenFällen von der Exekutive eingebrachte Geset-zesentwürfe „abnickt“ und sie nur in seltenenFällen tief greifend überarbeitet oder gar ab-lehnt. Ein Beispiel hierfür ist die Auflösung desUnterhauses 2009 nach nur zwei der eigent-lich vier Jahre dauernden Legislaturperiode.Begründet wurde dieser Schritt von König Ab-dullah II. damit, dass das Parlament notwen-dige ökonomische Reformen nurunzureichend unterstützt und zu langsamagiert.

König Abdullah II. konzentrierte sich jedochnach dem Tod seines Vaters 1999 zunächsteinmal auf die eigene Herrschaftssicherungund deren Legitimation. Die Anerkennung desKönigshauses war jedoch zu diesem Zeit-punkt bereits gegeben. Dennoch versuchteder neue König, eventuell aufkommende Kri-tik von seiner Person abzuleiten – hin zu Mi-nisterpräsident und Parlament. Prinzipiellsetzte er dabei andere Prioritäten undSchwerpunkte als Hussein I. Zwar behielt erRepression und einen starken Polizei- und Si-cherheitssektor vor allem seit den Anschlägenvom 11. September 2001 bei – obwohl dieHoffnungen von Seiten des Volkes, vor allemder Jugend, auf dem jungen Herrscher lagen,eine liberalere Politik zu verfolgen. Diesenhatte er auch anfänglich entsprochen und ver-schiedene, vor allem ökonomische Neuaus-richtungen forciert. Dieser progressiveWandel sollte sowohl good governance alsauch Wirtschaftswachstum und nationale Ent-wicklung beinhalten. Teil seines Projekts „Jor-danien zuerst“, das er 2003 vorgestellt hatte,war unter anderem die Ausweitung politischer

13 Vgl. für die Jahre 1964-2005 Peters, Anne Mariel, Moore, Pete W.: Beyond Boom and Bust: ExternalRents, Durable Authoritarianism, and Institutional Adaption in the Hashemite Kingdom of Jordan, in: Stu-dies in Comparative International Development, Vol. 44 (2009) No. 3, S. 256-285 (269) sowie für die Jahre2006-2010 http://www.cbj.gov.jo/uploads/si_17.xls, abgerufen am 10.08.2011, eigene Berechnungen.

14 Diese besitzen im Land eine erhebliche Bedeutung, die sich in erster Linie aus der jordanischen Ge-schichte ableitet: Das Gebiet besaß lange Zeit kein urbanes Zentrum wie beispielsweise Damaskus in Sy-rien. Deshalb blieb die tribale Verbindung enorm wichtig. Die Beziehungen der einzelnen Stämmeuntereinander waren vornehmlich von Handel geprägt.

15 Vgl. Ostry, Hardy, Haschke, Franziska: Jordaniens Parlamentswahlen und der stagnierende Reformpro-zess, S. 3, http://www.kas.de/wf/doc/kas_12366-1522-1-30.pdf?080729151230, abgerufen am 03.08.2011.

16 Vgl. United Nations Development Programme: Human Development Report 2009, New York 2009,http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2009_EN_Complete.pdf, abgerufen am 23.08.2011.

Page 97: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Jordanien

Deutsches Orient-Institut 96

Partizipation (vor allem von Frauen und jun-gen Jordaniern), einen demokratischen Dia-log zu fördern sowie eine verantwortungsvollePresse zu etablieren. Diese Pläne sollen je-doch von Jordanien selbst und nicht unterDruck oder Einmischung anderer regionaleroder internationaler Akteure vorangetriebenwerden.

Dennoch lag der Fokus von Abdullah II. vieleher auf den innenpolitischen Herausforde-rungen vor allem im wirtschaftlichen Bereich,während sein Vater sich noch primär aufaußenpolitische Belange – wie beispielsweiseden in Jordanien unpopulären Friedensver-trag mit Israel 1994 – konzentriert hatte. Sorief er zum Beispiel den Economic Consulta-tive Council ins Leben, der ökonomische Fra-gen erörtern sollte und in der Mehrheit durchPrivatwirtschaftsvertreter aus der Generationdes Königs gestellt wird. Diese Gründung giltauch als Sinnbild seiner Fokussierung auf denprivatwirtschaftlichen Sektor. Außerdem tratdas Königreich 2000 der Welthandelsorgani-sation (WTO) bei. Schließlich ist ein Bemühenzu erkennen, für die Entscheidungsfindungeinen Elitenkonsens herzustellen. Zu dendarin enthaltenen Eliten zählen unter ande-rem die Leiter der Geheim- und Sicherheits-dienste, hohe Militärkreise und derMinisterpräsident. Es gibt jedoch auch in die-sem Bereich einige Grundzüge jordanischerPolitik, die sich bereits unter den Vorgängernvon Abdullah II. bewährt haben. Hierzu gehörtvor allem eine häufige Rotation hoher Posteninnerhalb des Staatsapparats, um die Heraus-bildung eigener Netzwerke und konkurrieren-der Machtzentren innerhalb des Systems zuvermeiden.

Dennoch ist es dem Königshaus gelungen,die im Zuge einiger Liberalisierungen ermög-lichte Bildung von sozialen Vereinen und dieverstärkte Zivilgesellschaft an sich zu bindenund maßgeblich zu beeinflussen. Hierbei wirddas Verlangen des Volkes nach sozialem undgesellschaftlichem Engagement – neben denvon der staatlichen Bürokratie bestehendenStrukturen – bedient. Doch obwohl die Erlaub-nis zu solchen Gemeinschaften de jure eineLiberalisierung darstellt, ist sie de facto alsverschärfte Kontrolle des Staates in gesell-schaftlichen Bereichen zu werten. Denn diebestehenden und neu gegründeten Vereini-gungen werden überwacht und sind sowohl in

ihrer Konzeption als auch in ihrer Zielsetzungso eingerichtet, dass sie keine Bedrohung fürdie Herrschaft, beispielsweise durch revolu-tionistische Tendenzen, darstellen können.Diese Praxis erstreckt sich auch auf die Pres-selandschaft. Die politische Realität in Jorda-nien enttäuschte weite Teile der Bevölkerung.Vor allem die ländlicheren Gebiete in der Pe-ripherie wurden wirtschaftlich benachteiligt.Mit den Revolutionen in Tunesien und Ägyp-ten wurde diese Enttäuschung dann kanali-siert und führte zu einem Aufbegehren gegendas Regime, wie es das Königreich zuvornoch nicht gesehen hatte.

III. Akteure des Wandels und konkrete

Auslöser

Den größten Teil der Demonstranten stellte,wie in der arabischen Welt allgemein, die Ju-gend. Diese zeigte sich bereits zuvor von an-gestoßenen Reformen enttäuscht und sahihre Belange nicht ausreichend beachtet.Schon im Vorfeld der Parlamentswahlen 2007hatten verschiedene Projekte dazu beigetra-gen, diesen Ansichten eine Plattform zu bie-ten. Von Seiten dieser Projekte durchgeführteWettbewerbe und Umfragen ergaben, dassdie Jugendlichen vor allem auf einige Charak-tereigenschaften bei Politikern besondersachten und Wert legen, wie zum Beispiel Ehr-lichkeit, Transparenz oder Glaubwürdigkeit.All diese Eigenschaften schienen jedoch nichtoder nur in zu geringem Maße vorhanden zusein. Vielmehr sei die Korruption weit verbrei-tet, so die allgemeine Wahrnehmung. Die jor-danische Jugend sieht sich auch gemäß ihresenormen Anteils an der Gesamtbevölkerungunterrepräsentiert. In ihren Sichtweisen befür-wortete sie indes auch die Religiösität politi-scher Repräsentanten. Dass diese eineexplizite Wahlempfehlung abgeben, wird je-doch abgelehnt.17 Es gelang den Islamisten inJordanien jedoch nicht, ähnlich wie in ande-ren arabischen Staaten, sich an die Spitze derProtestbewegung zu stellen und von ihr inhohem Maße zu profitieren.

Das Augenmerk der Protestierenden in Jor-danien lag viel mehr auf der Verbesserungder Lebensverhältnisse (denn sowohl Le-bensmittel- als auch Benzinpreise sind starkangestiegen, die Inflation erreichte 2008 mit14,9% einen Höchststand), der bereits er-wähnten Bekämpfung der Korruption18 sowie

17 Vgl. Tessler, Mark: Do Islamic orientations influence attitudes towards democracy in the Arab world? Evi-dence from Egypt, Jordan, Morocco, and Algeria, in: International Journal of comparative Sociology, Vol.43 (2002) No. 3-5, S. 229-249 (240).

18 Transperancy International gibt Jordanien den Wert 4,7 im Corruption Perceptions Index 2010. Damit ran-giert das Land auf dem 50. Platz weltweit (nach Korruption, aufsteigend), vgl.http://www.transparency.de/uploads/media/Pressemappe_CPI_2010.pdf, S. 8, abgerufen am 25.08.2011.

Page 98: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Jordanien

Deutsches Orient-Institut97

die Einführung einer parlamentarischenMonarchie. Diese soll mit einer effektiven Ge-waltenteilung im Stile der checks and balan-ces gepaart sein sowie der Möglichkeit, dassder Ministerpräsident direkt vom Volk gewähltwird. Zudem gab es seit der Inauguration Ab-dullahs II. zwar wirtschaftliche Öffnung, undPrivatisierung. Davon hat jedoch nur einekleine, selektive Elite profitiert. Außerdemkam es zu vielen Entlassungen und im staat-lichen Sektor bestehen Arbeitsverhältnissenoch immer auf Tagesbasis ohne Kranken-oder Sozialversicherung. Es ist viel eher dieengere Elite um den König, die vom Wohl-stand und Fortschritt profitierte.19 Die Demon-stranten fordern nach den ökonomischenReformen und Anpassungen nun auch einennachhaltigen Reformprozess im politischenBereich.

Obwohl sie bislang im Rahmen der Protestekaum in Erscheinung getreten ist, gibt es inJordanien eine traditionell starke Fraktion derMuslimbruderschaft. Diese tritt seit 1992 alsIslamisches Aktionsbündnis auf und ist gleich-ermaßen die stärkste oppositionelle Kraft imLand. Dennoch wird dieses Bündnis aufGrund von staatlicher Kooptation und der sys-tematischen Bürokratisierung der Religion er-heblich eingeschränkt: Auf der einen Seitedient das bestehende Wahl- und Parteienge-setz den regimetreuen Repräsentanten. Fer-ner besteht bei einer Parlamentswahl inJordanien eher das Ziel, bestehende Herr-schaftsstrukturen und ihre Verteilungs- undPatronagenetzwerke zu festigen. Dadurchsoll die Macht des Königshauses gesichertund gleichermaßen demokratisch legitimiertwerden, wenngleich es sich de facto um einautoritäres System handelt. Die wichtigsteOppositionspartei war dann jedoch zwischen1997 und 2003 nicht im Parlament vertretenund konnte somit nicht mehr von den erwähn-ten Verteilungskanälen profitieren. Dennocherfuhr sie gesellschaftlich nach wie vor großeBeachtung und Zustimmung. Sie tat sich vorallem durch ihre Regierungskritik und die Kri-tik der Annäherung zu Israel hervor.

Doch auch ihr soziales und karitatives Enga-gement war ungebrochen und dadurchebenso wie durch die Dominanz in diversenBerufsverbänden gelang es weiterhin, eineangemessene Repräsentanz in der Gesell-schaft zu gewährleisten. Besonders nachdem Sieg der Hamas im Gazastreifen 2006

verschärfte der jordanische Staat die Eindäm-mungspolitik gegenüber der Muslimbruder-schaft beziehungsweise des IslamischenAktionsbündnisses und veranlasste die Fest-nahme einiger Abgeordneter und die Über-nahme einer der größtenWohlfahrtsorganisationen des Landes durchden Staat.

Als Folge aus dieser Verschärfung der Politikgegenüber der islamistischen Opposition tra-ten auch Konflikte zwischen liberalen undkonservativen Flügeln innerhalb der Organi-sationen offen zu Tage. Diese Entwicklungenführten zum bisher schlechtesten Ergebnisbei Wahlen zum Unterhaus mit lediglich sechsSitzen 2007 (zum Vergleich: 1989 wurdenüber 50% erreicht). Zu beobachten ist seit derEinführung des „one man, one vote“-Prinzips1993 ein zunehmender Einfluss der Hardlinerinnerhalb der Islamischen Aktionsfront. Zwarwurde das bereits erwähnte Wahlrecht imVorfeld der Parlamentswahl 2010 erneutüberarbeitet und es wurden erstmals interna-tionale Beobachter zugelassen, doch dieseReform war eher kosmetischer Natur und ließdie Hauptdefizite unberührt.

Im Zuge dessen wurde die Frauenquote vonsechs auf zwölf und die Zahl der Sitze imUnterhaus von 110 auf 120 erhöht sowie diebis dahin geltende Wahlkreisunterteilung auf-geteilt, sodass sich insgesamt 108 Wahlzo-nen ergaben. Diese sind jedoch willkürlichfestgelegt und folgen weder geographischennoch demographischen Grenzen. Die eigent-liche Wahl erfolgt dann in den ursprünglichenWahlkreisen, während die Kandidaten in denWahlzonen antreten.

Aus dieser Aufteilung und der Regelung, dasssich die Kandidaten die Wahlzone, in der sieregistriert sind, nicht öffentlich machen dürfen,ergibt sich erneut die Möglichkeit, oppositio-nelle Parteien zu benachteiligen. In der Folgeboykottierte die Islamische Aktionsfront dieParlamentswahlen 2010, was zu einer weite-ren Marginalisierung oppositioneller Parteienund Kandidaten führte und somit gleicherma-ßen die autoritären Strukturen stärkte. Das Er-gebnis dieser Wahl bestätigt dann auch dieAnnahme, dass die vorgenommenen Ände-rungen des Wahlrechts vor allem den tribalenStrukturen zu Gute kommen: Mehr als zweiDrittel der Abgeordneten haben einen klarenBezug zu diesen.

19 Die Verteilung des Einkommens in Jordanien ist gemäß des Gini-Koeffizienten im internationalen Vergleichungerecht. Vgl. hierzu: United Nations University: World Income Inequality Database,http://www.wider.unu.edu/research/Database/en_GB/wiid/_files/79789834673192984/default/WIID2C.xls,abgerufen am 11.08.2011.

Page 99: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Jordanien

Deutsches Orient-Institut 98

IV. Auswirkungen des „Arabischen Früh-

lings“

Auf Grund der bereits beschriebenen Defizitein Wahl- und Parteienrecht, Gewaltenteilungund Rechtsstaatlichkeit, kam es auch in Jor-danien im Zuge des „Arabischen Frühlings“ zuProtesten. Seit Januar versammelten sich vorallem in Amman jeweils nach dem Freitags-gebet einige tausend Jordanier, um zu de-monstrieren. Diese Zahl ist zwar im Vergleichzu Tunesien oder Ägypten gering, für jordani-sche Verhältnisse jedoch immens. Doch ob-wohl diese Kundgebungen bestehen bliebenund sich wöchentlich wiederholten, gab es zu-sätzlich auch einige sowohl das Königshausals auch die Regierung unterstützenden Pro-teste (wobei ersteres ja ohnehin nicht in Fragegestellt wurde).

Die Proteste begannen am 14. Januar 2011in Amman und anderen Städten des Landes.Die Forderungen der Demonstranten bezo-gen sich vor allem auf die hohe Inflation sowiedie steigende Arbeitslosigkeit und hattensomit eher wirtschaftliche denn politische Ur-sachen. Die Demonstrationen setzten sich anden folgenden Freitagen jeweils nach demGebet fort. Am 9. Februar 2011 entließ KönigAbdullah II. dann die Regierung und setztedie neue unter Ma’ruf al-Bakhit ein. Dieserhatte die Regierung bereits von 2005 bis 2007geleitet und war nicht gerade als Reformerbekannt und gilt eher als königstreuer „Erfül-lungsgehilfe“. Vor allem das Islamische Ak-tionsbündnis rief daraufhin zu weiterenKundgebungen auf. Dennoch zielen die Pro-teste auf eine gesellschaftliche und politischeÖffnung ab und nicht auf eine islamische Lö-sung der Probleme. In Jordanien griff die Po-lizei zu Beginn der Demonstrationen nicht ein– vermutlich auch, weil sie mit der Situationüberfordert war, denn öffentlichen Widerstandhatte es zuvor in der Form nicht gegeben.Aber auch von tribaler Seite wurde im König-reich eine gemeinsame Erklärung formuliert,in der Abdullah II. vor einer Revolution ge-warnt und Korruption sowie eine Krise derAutorität angeprangert wurde.

Mit Hilfe sozialer Medien wie Facebook oderTwitter formierte sich darauf hin die „Bewe-gung 24. März“. Diese verfügt jedoch bislang– wie in vielen anderen Ländern der Regionauch – kaum über charismatische Führungs-figuren. Dennoch rief sie zu Protesten unter

anderem im Stadtzentrum von Amman aufund einigte sich auf sieben Kernforderungen.Diese beinhalteten unter anderem eine vomVolk gewählte Regierung, eine Reform desSteuersystems sowie eine Beendigung derÜberwachung des politischen Lebens durchSicherheitskräfte und Geheimdienste. Dortsammelten sich allerdings „loyale“ Kräfte, umfür die Regierung und vor allem für das Kö-nigshaus zu demonstrieren. Bei den folgen-den Zusammenstößen griff schließlich diePolizei gewaltsam ein. Am 25. März 2011 gabes beispielsweise mehr als 130 Verletzte.Auch am 12. Juli 2011 sowie in der Folgewo-che kam es in Amman zur Niederschlagungeiner Kundgebung durch die jordanischen Si-cherheitsbehörden. Die Anzahl der Demon-strationen verringerte sich ebenso wie dieAnzahl der Teilnehmer, nachdem König Ab-dullah II. einige Reformen und den Wechselder Regierung angekündigt hatte. Zudem ver-lagerten sie sich in den Süden des Landes.Ab Mitte Mai 2011 formierten sich dann dieeinzelnen Akteure der Proteste – IslamischesAktionsbündnis, linke Gruppen sowie Ge-werkschaften – zur „Nationalen Front für dieReform“ als ein gemeinsamer Dachverbandzur Durchsetzung der eigenen Interessen. Inder Folgezeit richtete sich die Gewalt amRande von Demonstrationen vor allem auchgegen Journalisten – so wurden am 15. Juli2011 zehn Reporter angegriffen.

Im regionalen Kontext sticht vor allem die sichankündigende Entwicklung des Golf-Koope-rations-Rates (GKR) hervor. Diese findet voneiner auf die Monarchien am Golf beschränk-ten Organisation hin zu einer Gemeinschaftder Monarchien und der konservativen Re-gime im Allgemeinen statt. Das beinhalteteine Verschiebung der Blockgrenzen inner-halb des Nahen und Mittleren Ostens hin zuden Regimes, die von einer Revolution erfasstwurden und denjenigen, die erfolgreich denStatus quo sichern konnten. Jordanien hat imMai 2011 auf eine Einladung hin – gemein-sam mit dem Königreich Marokko – den An-trag auf Aufnahme in den GKR gestellt. Vorallem Saudi-Arabien nimmt hierbei eine Füh-rungsrolle der Monarchien ein.

V. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure

König Abdullah II. hat als Reaktion auf dieProteste im Januar und Februar 2011 die Re-gierung unter Ministerpräsident Samir ar-Rifa’ientlassen und Ma’ruf al-Bakhit ernannt. Des

Page 100: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Jordanien

Deutsches Orient-Institut99

Weiteren forderte der König echte Reformenvor allem auch des Wahlrechts und bot fernerauch den Islamisten Sitze im Parlament an.Hierbei verstand es Abdullah II. jedoch, seineeigene Person aus der Schusslinie zu manöv-rieren, denn schließlich besitzt er sämtlicheKompetenzen, um solche Reformen durchzu-führen. Als direkte Reaktion wurden eine Er-höhung der Löhne im öffentlichen Sektor undeine Senkung der Lebensmittelpreise ange-kündigt sowie zwei Notfallpakete im Gesamt-wert von 425 Mio. USD auf den Weggebracht. Zu deren Inhalt gehörte auch dieSchaffung von 21.000 neuen Arbeitsstellen imöffentlichen Sektor, davon 6.000 bei Polizeiund Sicherheitskräften. Ebenso sollen Ent-wicklungsprojekte in den ärmeren Landestei-len energischer unterstützt werden. Aufpolitischer Seite richtete Abdullah II. ein Ko-mitee ein, welches einige der geforderten Re-formen erarbeiten soll. Jegliche Form vonGewalt, zu der es während der Demonstratio-nen kam, wurde von offizieller Seite den Isla-misten angelastet. Doch vor allem dieEinsetzung von Ma’ruf al-Bakhit wird auch aufSeiten der Demonstranten äußerst kritischgesehen, da er als konservativ und reformun-willig gilt und bereits mutmaßlich in einen Kor-ruptionsskandal verwickelt war. Auf dieEtablierung einer parlamentarischen Monar-chie mit einer effektiven Gewaltenteilung solllaut König Abdullah II. hingearbeitet werden –er sprach von „echten politischen Reformen“und einem „Dialog zwischen allen Kräften“.Dennoch vermochten die angekündigten Re-formen und die durchgeführten personellenÄnderungen die Protestierenden nicht zuüberzeugen und scheinen mehr der Bewah-rung des Status quo als wirklicher Liberalisie-rung zu dienen. Die Demonstrationenverlagerten sich in periphere Gebiete.

König Abdullah II. führt den unter seinemVater bereits begonnenen Wechsel vom oldauthoritarian bargain hin zum new liberal bar-gain20 fort. Dieser beinhaltet vor allem diekompetitive Ausrichtung des politischen Sys-tems. Erklärend wirkt dieses Phänomen auchauf die in Jordanien häufig aufeinander fol-genden Phasen von Liberalisierung und an-schließender Deliberalisierung. Hierbei wirddas Verhalten des Königs als eine Überle-bensstrategie durch Abwägen zwischenBudgetsicherheit und Regimesicherheit ver-standen. Die Budgetsicherheit wird hierbei als

Streben eines Staates beziehungsweiseeines Regimes verstanden, die zum eigenenÜberleben notwendigen finanziellen Mittel zuakquirieren. Diese ist unentbehrlich, um dasbestehende System der Patronage durch diegezielte Vergabe von Arbeitsplätzen und Pos-ten im staatlichen Sektor am Leben zu erhal-ten. Damit ist die Budgetsicherheit vonelementarer Wichtigkeit für Regimesicherheit,denn diese bedeutet, dass das bestehendeHerrschaftssystem bewahrt und in der Folgeversucht wird, das Entstehen parallelerMachtzentren zu verhindern. Das Zusammen-spiel dieser beiden Hauptstrategien zeichnetdas jordanische Königshaus seit König Hus-sein I. aus.

VI. Zukunftsszenarien

Eine verlässliche Prognose scheint zum ge-gebenen Zeitpunkt kaum möglich. Die Ent-wicklungen in Jordanien selbst werden abersicherlich auch von denen in Tunesien undÄgypten, aber auch in Libyen oder Syrien be-einflusst werden. Auch eine erneute Verschär-fung des Nahostkonflikts würde dieinnenpolitischen Entwicklungen im haschemi-tischen Königreich als direkter Nachbar be-einflussen. Es wird ferner auch daraufankommen, wie erfolgreich das Könighausdie Forderungen der Demonstranten erfüllenoder bedienen wird. In Jordanien existiert aufGrund seiner ethnischen Zusammensetzung– mehr als die Hälfte der Einwohner sindkeine ethnischen Jordanier, sondern palästi-nensischer Abstammung – stets das Worst-

Case-Szenario der aktuellen politischenEntwicklung im benach- barten Irak. Dem-nach würden sich sozioökonomische Fakto-ren und Probleme verschärfen und sich auchauf ethnische cleavages verlagern. Ebensobürgerkriegsähnliche Zustände wie in Libyenoder anhaltende gewaltsame Auseinanderset-zungen wie in Syrien schrecken innerhalb derjordanischen Bevölkerung ab. Ferner ist auchdie Wirtschaft des Landes gefährdet, da siesich wie bereits erwähnt nicht auf Rohstoffvor-kommen konzentrieren kann, sondern viel-mehr von einem stabilen politischen Umfeldabhängig ist.21 Eine Aufnahme Jordaniens inden Golfkooperationsrat würde sich indes sta-bilisierend und herrschaftssichernd auswir-ken, da sich dieser – wie am BeispielBahrains zu erkennen ist – auch militärischerMittel als ultima ratio22 bedient. Ferner würde

20 Vgl. Greenwood, Scott: Jordan’s „New Bargain:“ The Political Economy of Regime Security, in: MiddleEast Journal, Vol. 57 (Spring, 2003), No. 2, S. 248-268.

21 Vgl. http://www.arabianbusiness.com/jordan-economy-may-flatline-amid-arab-spring-revolts-401448.html,abgerufen am 11.08.2011.

22 Wenngleich hierbei der Unterschied zwischen Jordanien und Bahrain sowohl in der geographischen Nähe(vor allem auch seine direkte Nachbarschaft zu Israel) als auch in der Größe sowie Bevölkerungszahl einsolches Eingreifen äußerst unwahrscheinlich macht, so schafft es doch einen Präzedenzfall.

Page 101: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Jordanien

Deutsches Orient-Institut 100

sich dadurch die Konzeption dieser Organisa-tion grundlegend verändern: Aus einem regio-nalen Zusammenschluss entstünde eine aufWerten – namentlich der Monarchie unddamit verbunden auch dem Schutz vor Revo-lution – basierender Zusammenschluss. ImFalle Jordaniens wird ein Hauptaugenmerkauch auf dem Nahostkonflikt liegen. Der 1994geschlossene Friedensvertrag ist ein kalterFrieden – geschlossen auf Regierungsebene,während er von der Bevölkerung kritisch ge-sehen wird. Vor allem aber auch der hohe An-teil an palästinensisch-stämmigen Ein-wohnern könnte zu einer Zerreißprobe führen.Eine jordanische Führung, die sich – wenn dieForderungen der Demonstranten erfüllt wer-den – vermehrt nach der öffentlichen Meinungrichten muss, dürfte bestehende Beziehun-gen zu Israel abkühlen lassen. Dennoch ist,wie auch im Falle Ägyptens, ein Aufkündigendes Vertrages unwahrscheinlich, da dies eineKürzung oder gar Streichung westlicher Zu-wendungen zur Folge hätte.

Innenpolitisch wird es wohl kurzfristig zu eini-gen ernsthafteren Reformen kommen. EineAnpassung des Wahlrechts ebenso wie dasEingehen auf einige der Hauptforderungender Demonstranten scheint sehr wahrschein-lich. Ob diese jedoch Bestand haben werdenoder ob auf die Liberalisierungsphase erneuteine Deliberalisierungsphase folgt, bleibt ab-zuwarten. Ferner ist es auch durchaus vor-stellbar, dass es den Versuch geben wird,beispielsweise neue Oppositionsparteien sozu beeinflussen, dass sie tendenziell eherloyal sind und keine ernst zunehmende Be-drohung der Herrschaft darstellen. Sie wür-den somit zwar auf den ersten Blick derForderung nach einer Möglichkeit der freienzivilgesellschaftlichen Beteiligung nachkom-men, es de facto aber verhindern, dass paral-lele Machtzentren entstünden. Reformen,welche die Basis der Herrschaftslegitimation– nämlich den tribalen Strukturen des Landessowie die (zum großen Teil palästinensische)Wirtschaftselite – berühren, sind jedoch un-wahrscheinlich. Hiermit geriete das Gefügeder Herrschaft König Abdullahs II. aus denFugen und das etablierte System der Patro-nage würde obsolet. Dennoch stellt das jungeDurchschnittsalter der Bevölkerung AbdullahII. vor Probleme, denn diese Situation wirdsich in den kommenden Jahren noch zuspit-zen. Eine aktive Politik um der auf den Ar-beitsmarkt strömenden Generation Jobsbieten zu können, scheint unabdingbar.

Diese Problematik wird sich wohl kaum durchaltbewährte Methoden wie der Expansion desStaatsapparats bewältigen lassen, sondernmuss viel mehr durch eine wirtschaftliche Öff-nung hin zu einem größeren und freieren Pri-vatsektor erfolgen. Das IslamischeAktionsbündnis hingegen versucht, sich andie Spitze der Proteste und vor allem auchder Forderungen nach Reformen des Wahl-und Parteiengesetzes zu stellen.23 Dies ge-schah allerdings nicht direkt zu Beginn derKundgebungen, da dem Staatsapparat keineHandhabe gegen die aufkommenden Demon-strationen gegeben werden sollte.

Dennoch hat es bislang keine definitive politi-sche Zielsetzung bekannt gegeben und ver-sucht wohl tendenziell eher, von der jetzigenSituation zu profitieren und die eigene Macht-stellung auszubauen. So beteiligten sichderen Anführer an den Protesten nach demFreitagsgebet und beschrieben das Aufbe-gehren der Bevölkerungen der arabischenStaaten als Streben, tyrannische Herrscherzu beseitigen. Diese Haltung wird von Seitendes Königshauses und der inneren Zirkel derMacht kritisch gesehen. Es ist durchaus wahr-scheinlich, dass das Islamische Aktionsbünd-nis weiterhin eingedämmt wird und vonetwaigen Reformen kaum profitieren wird.

Es ist jedoch zu beobachten, dass die arabi-schen Monarchien gemeinhin beständigersind als ihre republikanischen Gegenstücke.Somit ist in Jordanien die dynastische Thron-folge gesellschaftlich anerkannt und aus derTradition heraus legitimiert. Dies ist vor allemein Verdienst des vorherigen Königs HusseinI. Er hat die Wahrnehmung des haschemiti-schen Königreichs als eigentlich historisch imHijaz verwurzelt, hinzukommend nur durchbritische Imperialpolitik nach Jordanien ver-setzt zu sein, grundlegend verändert. Hinzu-kommend generiert Jordanien auch einenerheblichen Teil seiner Herrschaftslegitimationdurch die religiöse Abstammung des Königs-hauses von der Familie des Propheten Mo-hammeds. Auch hat der König dieMöglichkeit, die Regierung zu entlassen odersogar das gesamte Parlament aufzulösen. Ergerät selbst weniger in den Fokus und dieForderung nach seinem Machtabtritt ist kaumzu vernehmen. Gefordert wird weitgehend einRegierungswechsel, ein Regimewechsel hin-gegen gehört nicht zur Agenda der Demon-strierenden, denn König Abdullah II. verstehtes, sich als einzige Alternative darzustellen.

23 Vgl. http://www.jordantimes.com/?news=40119, abgerufen am 11.08.2011.

Page 102: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Jordanien

Deutsches Orient-Institut101

VII. Literaturangaben

AL-RANTAWI, ORAIB: Jordan and the GCC: few opportunities, many challenges, in: Middle East Round Table, Vol. 9 (2011), No. 18, http://www.bitterlemons-international.org/previous.php?opt=1&id=342, abgerufen am 19.08.2011.

ANTOUN, RICHARD T.: Fundamentalism, Bureaucratization, and the State’s Co-Optation of Religion:A Jordanian Case Study, in: International Journal of Middle East Studies, Vol. 38 (2006),No. 3, S. 369-393.

ASSEBURG, MURIEL: Der Arabische Frühling. Herausforderung und Chance für die deutsche und europäische Politik, SWP-Studie, Berlin Juli 2011.

BANK, ANDRÉ, SCHLUMBERGER, OLIVER: Jordan: Between Regime Survival and Economic Reform, in: Perthes, Volker (Hrsg.): Arab Elites “Negotiating the Politics of Change”, Boulder, CO2004, S. 35-60.

BAYLOUNY, ANNE MARIE: Jordan's New “Political Development” Strategy, in: Middle East Report, No. 236 (2005), S. 40-43.

BEN SALHA, EDWIGE: Das Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft in Jordanien unter besonderer Berücksichtigung der Berufsverbände, Münster u.a. 2003.

BOUZIANE, MALIKA, LENNER, KATHARINA: Protests in Jordan: Rumblings in the Kingdom of Dialogue,in: Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients (Hrsg.): Proteste, Revolutionen, Transformationen – die arabische Welt im Umbruch, Juli 2011, S. 148-161, http://www.polsoz.fu-berlin.de/polwiss/forschung/international/vorderer-orient/publikation/Working_Paper_Series/wp_1.pdf, abgerufen am 08.08.2011.

BRUMMER, KLAUS: Deutschland, Europa und die arabisch-islamische Welt „Interessen und Handlungsschwerpunkte“, Gütersloh Mai 2006.

GREENWOOD, SCOTT: Jordan’s „New Bargain:“ The Political Economy of Regime Security, in: MiddleEast Journal, Vol. 57 (2003), No. 2, S. 248-268.

KING ABDULLAH II.: The Road to Reform, in: Foreign Policy, No. 145 (Nov.-Dec., 2004), S. 72-73.

MILTON-EDWARDS, BEVERLY, HINCHCLIFFE, PETER: Abdullah’s Jordan: New King, Old Problems, in: Middle East Report, No. 213 (1999), S. 28-31.

NEMATT, SALAMEH: Change in Egypt casts dark shadow over Jordan, in: Middle East Round Table,Vol. 9 (2011), No. 4, http://www.bitterlemons-international.org/previous.php?opt=1&id=327, abgerufen am 19.08.2011.

OSTRY, HARDY, HASCHKE, FRANZISKA: Jordaniens Parlamentswahlen und der stagnierende Reformprozess, Länderbericht Konrad-Adenauer-Stiftung, o.O. 2007.

PETERS, ANNE MARIEL, MOORE, PETEW.: Beyond Boom and Bust: External Rents, Durable Authoritarianism, and Institutional Adaption in the Hashemite Kingdom of Jordan, in: Studies in Comparative International Development, Vol. 44 (2009) No. 3, S. 256-285.

SCHLUMBERGER, OLIVER: Autoritarismus in der arabischen Welt. Ursachen, Trends und internationale Demokratieförderung, Baden-Baden 2007.

TESSLER, MARK: Do Islamic orientations influence attitudes towards democracy in the Arab world?Evidence from Egypt, Jordan, Morocco, and Algeria, in: International Journal of comparative Sociology, Vol. 43 (2002), No. 3-5, S. 229-249.

The European Training Foundation (ETF): Unemployment in Jordan, Torino 2005.

UNITED NATIONS: Arab Human Development Report. Challenges to Human Security in the Arab Countries, New York 2009.

UNITED NATIONS DEVELOPMENT PROGRAMME: Human Development Report 2009, New York 2009, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2009_EN_Complete.pdf, abgerufen am 23.08.2011.

WIKTOROWICZ, QUINTAN: Civil Society as Social Control: State Power in Jordan, in: Comparative Politics, Vol. 33 (2000), No. 1, S. 43-61.

WIKTOROWICZ, QUINTAN: The Limits of Democracy in the Middle East: The Case of Jordan, in: Middle East Journal, Vol. 53 (1999), No. 4, S. 606-620.

Page 103: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Irak

Deutsches Orient-Institut 102

1 CIA – The World Factbook.2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.3 CIA – The World Factbook.4 CIA – The World Factbook.5 CIA – The World Factbook.6 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.8 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators,

http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles.9 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.10 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.11 CIA – The World Factbook.12 CIA – The World Factbook. 13 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.15 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG,

International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, S. 183, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf.

16 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006html.

17 CIA – The World Factbook.18 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm.19 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia,

http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf.20 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us.21 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,

http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 22 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection:

Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/.

23 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf.

24 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp.

25 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

Landesdaten IrakFläche1 2011 438.317 km²

Bevölkerung2 2010 31.500.000

Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 69,4

Ethnische Gruppen4 2010Araber 75-80%, Kurden 15-20%, 3% Turkmenen, Assyrer, Armenier

Religionszugehörigkeit5 2010Muslime 97% (Schiiten 60-65%, Sunniten 32-37%), Christen und andere 3%

Durchschnittsalter6 2010 20,9 Jahre Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 43% Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 3%Lebenserwartung9 2010 70,55 Jahre Bevölkerungsprognose bis 205010 2010 64.000.000Geburten pro Frau11 2009 3,9 Alphabetisierungsrate12 2010 74,1% Mobiltelefone13 2009 19.722.000Nutzer Internet14 2009 860.400Nutzer Facebook15 2011 860.400Wachstum BIP16 2010 0,8%BIP pro Kopf 17 2010 3.800 USD Arbeitslosigkeit18 2009 15,3% Inflation19 2011 5,0%S&P-Rating20 2011 k. AHuman Development Index Rang21 2010 k. A. Bildungsniveau22 2010 Rang 144 (von 177)

Bildungsniveau der Frauen (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)23

2010 22,0 %

Politische Teilhabe24 2010 13,7 %Korruptionsindex25 2010 Rang 175 (von 178)

Page 104: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Irak

Deutsches Orient-Institut103

Irak

Der Irak leidet noch immer unter den

Konsequenzen des Sturzes von

Saddam Hussein vor elf Jahren und

dem anschließenden Bürgerkrieg. Die wirt-

schaftliche Situation bleibt angespannt,

die Sicherheitslage stabilisiert sich nur

langsam und die Perspektiven des Lands

entwickeln sich sehr indifferent: Während

der Nordirak, Kurdistan, in den letzten Jah-

ren einen wirtschaftlichen Boom erlebt,

wird vor allem der Zentralirak um die

Hauptstadt Bagdad immer wieder von An-

schlägen erschüttert. Ethnische und kon-

fessionelle Konflikte zwischen Kurden

und Arabern, Schiiten und Sunniten be-

lasten die innere Einheit. Externe Akteure

wie Iran nehmen ebenso Einfluss wie radi-

kale Gruppierungen und militante Islamis-

ten. Hinzu herrscht eine hohe

Arbeitslosigkeit, die Regierung um Nuri al-

Maliki wird zunehmend als korrupt und un-

fähig angesehen, die inneren Probleme zu

lösen. Der nahende Abzug der US-ameri-

kanischen Truppen könnte zwar die politi-

sche Lage verbessern, doch die

unzureichenden irakischen Kapazitäten,

die Sicherheit zu garantieren, könnten mi-

litante Islamisten und andere staatsfeind-

liche Gewaltakteure ausnutzen, um das

Land weiter zu destabilisieren. Dennoch

kann die demokratische Entwicklung im

Irak in Form von Wahlen und gesellschaft-

licher Partizipation auch Fortschritte ver-

zeichnen. Allerdings fordern die Menschen

zunehmend weitere Positiventwicklungen,

sodass der „Arabische Frühling” auch im

Irak seine Auswirkungen zeigt.

I Politisches System und gesellschaftliche

Entwicklungen

Der Irak ist gemäß der aktuellen Verfas-sung eine parlamentarische Demokra-tie, dessen Parlament alle vier Jahre

gewählt wird. Nuri Al-Maliki ist seit 2006 deramtierende Ministerpräsident. Der Irak, der anKuwait, Saudi-Arabien, Jordanien, Syrien,Türkei, Iran und den Golf grenzt, besitzt ca.31,5 Mio. Einwohner. Die Araber bilden mit ca.75-80% den größten Anteil der Bevölkerung.15-20% der Bevölkerung sind Kurden und ca.3% Turkomanen, Assyrer oder Armenier. 97%der Bevölkerung sind Muslime. Über 60-65%von ihnen sind Schiiten, zwischen 32 und37% Sunniten. Die muslimischen Kurden sind

ebenfalls überwiegend sunnitischer Konfes-sion. Christen und andere Religionen sind miteinem Anteil von 3% deutlich in der Minder-heit. Die kulturellen, politischen und wirt-schaftlichen Zentren des Landes befindensich in der sunnitisch geprägten HauptstadtBagdad, dem überwiegend schiitischenBasra, den kurdisch und turkmenisch ge-prägten Städten Erbil und Sulaimaniya sowieim Norden Iraks, der stärker von assyrischenEinflüssen geprägt ist.

Die neueste Geschichte des Irak ist maßgeb-lich geprägt durch die repressive HerrschaftSaddam Husseins in den Jahren 1979 bis2003, die Golf-Kriege sowie die UN-Sanktio-nen zwischen 1991 und 2003. Die dank derErdölindustrie florierende Wirtschaft sowie dieEntwicklungs- und Bildungspolitik der Regie-rung ermöglichte vielen Irakern in den 1970erJahren einen verhältnismäßig hohen Lebens-standard. Zahlreiche Schulen wurden ge-gründet. Die Alphabetisierungsrate derFrauen lag 1987 bei 75%; die weibliche Be-schäftigungsquote 1991 bei über 23% unddamit weit über dem regionalen Durchschnitt.Der Irak galt zu dieser Zeit als Vorbild für einmodernisiertes Bildungssystem, säkulare Po-litik und die Implementierung von Frauen-rechten. Dies verstärkte sich nochmals nachder Islamischen Revolution 1979 in Iran unddem damit verbundenen Gefühl der Bedro-hung durch einen islamistischen Iran. Die„Wiederentdeckung der Religion“ schuf in Eu-ropa und den USA weitgehend Misstrauen.Der verheerende Erste Golfkrieg zwischenIran und Irak (1980-1988) wurde von weitenTeilen des Westens denn auch als Versuchgesehen, den von Ayatollah Khomeini gefor-derten „Export der islamischen Revolution“ zuunterbinden, weshalb Saddam Husseins Irakmit Finanz- und Militärlieferungen unterstütztwurde. Dies änderte sich nach dem Ende desKonflikts und dem Einmarsch des Iraks insbenachbarte Kuwait. Unter dem damaligenUS-Präsidenten George Bush sen. beganndie Operation Desert Storm, an deren Endeder Rückzug des Iraks aus Kuwait stand.Saddam Hussein war nun zur internationalenpersona non grata mutiert. Die daraufhin ver-hängten UN-Sanktionen gegen das Regimein Bagdad wirkten sich wirtschaftlich wie auchgesellschaftlich dramatisch auf das Land aus.Saddam Hussein änderte zu der Zeit seineinnenpolitische Strategie radikal, indem erversuchte, durch eine islamisch betonte Aus-richtung wieder Anhänger für seine Politik zu

Page 105: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Irak

Deutsches Orient-Institut 104

gewinnen. Ein Beleg für die islamische Neu-ausrichtung ist auch die Änderung der iraki-schen Nationalflagge 1991, die seit diesemZeitpunkt die arabische Inschrift „Gott ist amgrößten“ (arabisch: Allahu Akbar) enthält. Vondieser Politik negativ betroffen waren insbe-sondere Frauen, die während dieser Zeit ausihren Berufen gedrängt und aufgrund der stär-ker religiös dominierten Politik starke rechtli-che Einschränkungen hinnehmen mussten,sowie politische Oppositionelle.

Die starken Belastungen, an denen die Zivil-bevölkerung während dieser Zeit litt, wurdenauch durch den Sturz Husseins und die an-schließende Besatzung der US-amerikani-schen Truppen nicht maßgeblich gelindert.Nach dem Sturz des diktatorischen Regimesam 7. April 2003 wurden eine Übergangsver-waltung und eine Übergangsregierung mit be-schränkter Souveränität geschaffen, die diedemokratische Neuausrichtung des Landesgestalten sollten. Diverse sunnitisch geprägtemilitante Gruppierungen und Akteure wieAl-Qaida im Irak und die Islamische Armee imIrak rebellierten jedoch gegen die Besat-zungsmacht und die Neuformierung iraki-scher Sicherheitskräfte. Insbesondereal-Qaida1 unter der Führung von Abu Musabaz-Zarqawi, deren erklärtes Ziel war, den völ-ligen Zusammenbruch des Staates zu erwir-ken, verübte zahlreiche Anschläge aufschiitische Ziele. Im Jahr 2005 rief az-Zarqawizu einem „totalen Krieg“ gegen die irakischenSchiiten auf, um schiitische Gegenanschlägeund einen konfessionellen Bürgerkrieg zuevozieren. Insbesondere mit schiitischen Mili-zen der Mahdi-Armee (jaysh al-mahdi) unter

der Führung des schiitisch islamistischenGeistlichen Muqtada as-Sadr fanden in dendarauf folgenden Jahren blutige Gefechtestatt. Als Folge davon brachen in weiten Tei-len des Landes bürgerkriegsähnliche Zu-stände aus. Die irakische Bevölkerung wurdevon Terroranschlägen, kriegerischen Konflik-ten und gewalttätiger Kriminalität heimge-sucht, was als maßgeblicher Grund dafür gilt,dass die US-amerikanische Besatzung vonder irakischen Mehrheit konsequent abge-lehnt wurde. Solche Angriffe nehmen jedochseit 2006 ab2, weshalb die Legitimation desStaates aus Sicht der Bevölkerung seitdemstärker gegeben ist. Auch das Gewaltmono-pol kann von den irakischen Sicherheitstrup-pen inzwischen wieder weitgehend aufrechterhalten werden. Im Juni 2009 wurde dieüberwiegende Zahl an US-amerikanischenMilitärtruppen aus den irakischen Städten ab-gezogen, im August 2010 dann auch die biszu dem Zeitpunkt noch verbliebenen Truppen.Seit diesem offiziellen Ende des Irak-Kriegsbefinden sich nur noch 56.000 Ausbildungs-kräfte sowie militärische Berater im Land,deren Abzug spätestens nächstes Jahr be-ginnen soll.3

Im Januar 2005 fanden im Irak unter der US-amerikanischen Besatzung erste freie, faireund geheime Wahlen für ein Interimsparla-ment zur Ausarbeitung einer neuen Verfas-sung statt. Die Wahl wurde überschattet vonder Angst vor Terrorangriffen sowie den Boy-kottaufrufen vieler sunnitischer Araber. Diesunnitische Minderheit, die seit der Übertra-gung des Völkerbundmandats an Großbritan-nien 1921 das Staatsoberhaupt stellte,

1 Die irakische Al-Qaida wurde von az-Zarqawi ursprünglich als „Gruppe des Monotheismus und des Hei-ligen Krieges“ (arab: Jama’at at-Tawhid wa-l-Jihad) gegründet. Grund des Namenswechsels zu Al-Qaidaim Irak war vermutlich die Annahme, mit dem „Markennamen“ Al-Qaida weitere Popularität zu erlangenund als Teil des Al-Qaida-Netzwerks über größere und medienwirksamere Aktionsmöglichkeiten zu ver-fügen. Az-Zarqawi wurde durch einen US-amerikanischen Angriff im Jahr 2006 getötet.

2 Als Ursache hierfür gilt u.a. die Kooperation der US-amerikanischen Sicherheitskräfte mit der Anti-Wider-standsbewegung „Wiedererweckung“ (arab. sahwa), die zwischen 2005 und 2006 aus dem Zusammen-schluss mehrerer sunnitisch geprägter Stämme aus dem Gouvernement al-Anbar entstand. DieseStämme und deren Führer, die die Region dominierten, lehnten die US-amerikanische Besatzung zu-nächst ab und begrüßten das Vordringen sunnitischer Militanten. Die Wahrnehmung änderte sich jedoch,als sie feststellten, dass die militanten Aufständischen mit einer übertriebenen Gewaltbereitschaft undBrutalität gegen die Bevölkerung vorgingen, um das bestehende System auf Grundlage ihrer Islaminter-pretation zu verändern. Seitdem agieren die Sahwat-Gruppierungen als lokale Kontrolleure gegen auf-ständische Elemente und unterstützen so die irakischen Sicherheitskräfte.

3 Bisher ist noch nicht abschließend darüber entschieden worden, ob trotz der Vereinbarung zwischen denbeiden Regierungen, die US-Truppen vollständig abzuziehen, eine kleine Anzahl an US-Militärs weiter-hin im Land stationiert bleiben soll. Hierbei könnte es sich zum einen um weitere Unterstützung bei derSicherheitsgarantie, zum anderen um Ausbildungspersonal für die irakischen Streitkräfte handeln. Wäh-rend der Erstellung dieser Publikation fand im Irak eine rege und kontroverse innerirakische Diskussionstatt. Während sich Premierminister Nuri al-Maliki weitgehend positiv dazu äußerte, lehnen vor allem dieradikalen politischen Kräfte um den Prediger Muqtada as-Sadr eine längere Stationierung ausländischerTruppen im Irak strikt ab. Ähnlich scheint auch die Stimmung innerhalb der Bevölkerung zu sein, die seitlangem die US-amerikanische Präsenz kritisiert und auf einen dauerhaften und vollständigen Abzugdrängt.

Page 106: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Irak

Deutsches Orient-Institut105

befürchtete an Einfluss und Macht zu verlie-ren und zur unterdrückten Minderheit zu wer-den. Die Folge war, dass Sunniten an derGestaltung des Transformationsprozessesund der Ausarbeitung der neuen irakischenVerfassung nur marginal beteiligt waren.

Die Spaltung zwischen den Religionen undKonfessionen ist seit der Staatsgründung imJahr 1921 ein zentrales Problem. Vom Völ-kerbund geschaffen, wurde der Irak im glei-chen Jahr unter britisches Mandat gestellt.Sowohl Schiiten als auch Sunniten standender Okkupation negativ gegenüber und rebel-lierten. Dies bewegte die britische Besat-zungsmacht zu einem Strategiewechsel undkrönte im Jahr 1921, ohne dabei die religiö-sen Gegebenheiten des Landes zu berück-sichtigen, den sunnitischen HaschemitenFaisal Ibn Hussein, Sohn des ehemaligenScherifen von Mekka Hussein Ibn Ali, zumKönig. Hinzu kam die umstrittene Zu-sammenführung der drei ehemaligen Provin-zen (vilayets) Mosul, Bagdad und Basra zueinem Staatsgebiet. Dabei wurde bewusstoder unbewusst die ethnische Heterogenitätder drei Provinzen von den Briten vernach-lässigt. Der somit künstlich von ausländischenMächten geschaffene kurdische, sunnitischeund schiitische Vielvölkerstaat blieb überJahre hinweg fragil, instabil und auf der Suchenach einer nationalen Identität. All dieseinnergesellschaftlichen Konfliktlinien dominie-ren das Land noch heute und prägen in fun-damentaler Weise die nationale Identität. DieSchiiten erfuhren während der sunnitischenRegierung bis zum Jahr 2003 starke Benach-teiligungen. Bemühte Saddam Hussein zu-nächst zumindest eine oberflächlicheMiteinbeziehung der schiitischen Iraker bei-spielsweise in die Armee, obere Parteifunk-tionen und auch in das Erziehungssystem, sospitzten sich die Konflikte zwischen Schiitenund Sunniten jedoch zwangsläufig mit der zu-nehmenden Islamisierung des Landes in den1990er Jahren zu. Ein schiitischer Aufstandim Jahr 1991 wurde von Saddam HusseinsRegime brutal niedergeschlagen. Der Sturzdes Regimes in 2003 eröffnete für die Schiitendie Hoffnung, ihren Einfluss stärker zur Gel-tung zu bringen.

Die neue Verfassung, die hauptsächlich alsdas Ergebnis eines Kompromisses zwischenSchiiten und Kurden gilt, wurde durch ein Re-ferendum im Oktober 2005 trotz Protesten derSunniten angenommen, die das Referendum

als Farce kritisierten. Von Experten wurde dieWahl aber durchgängig positiv wahrgenom-men. Gemäß der Verfassung ist der Irak eindemokratisches, islamisches, stark föderalgeprägtes Land. Das neue Wahlrecht siehtdie Wahl eines Parlaments durch die Bevöl-kerung vor, das wiederum das Staatsober-haupt, also den Präsidenten, sowie zweiVizepräsidenten wählt. Die Etablierung derWahl zweier Vizepräsidenten geht auf denWunsch der Kurden zurück, eine ethnischeBalance sicherzustellen. So soll es beispiels-weise einen schiitischen Premierministersowie einen kurdischen und sunnitischen Vi-zepremierminister geben, um die ethnisch-konfessionelle Parität zu garantieren. DerPräsident ernennt im Folgenden den Pre-mierminister, der zuständig für die Bildungeines Kabinetts ist und die Funktion der Exe-kutive wahrnimmt. Das Parlament bestehtaus zwei Kammern, einem sogenanntenUnterhaus mit 325 Sitzen (Rat der Repräsen-tanten) und einem Oberhaus (föderaler Rat),das, ähnlich wie in Deutschland der Bundes-rat, die Interessen der einzelnen Provinzenrepräsentiert. Die Bildung der zweiten Kam-mer, des Oberhauses, hat bis zum jetzigenZeitpunkt jedoch nicht stattgefunden.

Auf der Basis dieses Wahlrechts fanden imDezember 2005 die Wahlen zur Bildung eineskonstitutionellen Parlaments statt, die über-wiegend frei, fair und ohne große gewalttätigeAusschreitungen stattfanden. Das erst am 19.Januar 2006 veröffentlichte Ergebnis zeigteden Sieg der Vereinigten Irakischen Allianz,die 41,2% der Stimmen (5,02 Mio.) auf sichvereinigen konnte. Die Allianz entstand vorden ersten Wahlen im Januar aus einem Zu-sammenschluss von mehreren politischenParteien und Gruppen mit überwiegend schi-itischer Prägung, in der Hoffnung, so einewirksame Übermacht gegen die Sunniten bil-den zu können. Die Demokratische Patrioti-sche Allianz Kurdistans wurde zweitstärksteKraft und erreichte 21,7% der Stimmen (2,64Mio.). Nuri al-Maliki, Spitzenkandidat der schi-itischen Dawa-Partei (Erweckungspartei)wurde für das Amt des Premierministers aus-gewählt.

Im Jahr 2009 fanden die ersten Regional-wahlen statt. Sie verliefen ebenfalls größten-teils friedlich und wurden von Experten alszumindest annähernd transparent beschrie-ben. Ein offenerer Zugang der Parteien zurWahl wurde durch den weiteren Aufbau von

Page 107: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Irak

Deutsches Orient-Institut 106

Sicherheitskontrollen und -kräften weitgehendsichergestellt. Die Stimmbeteiligung in deneinzelnen Provinzen lag bei 50-75%. Bei die-ser Wahl wurden erstmals Wahlgesetze ausdem Jahr 2008 angewendet, die die Einfüh-rung einer 25%-Frauenquote vorsehen sowiedie Verwendung von religiösen Symbolen ver-bieten. Der Minderheitenschutz wurde weit-aus weniger beachtet. Nur sechs derinsgesamt 440 Sitze der Provinzräte wurdenfür Minderheiten reserviert. Bei den Wahlenging die Partei des Premierministers al-Malikierneut als Sieger hervor, musste jedochwegen der Verfehlung von Mehrheiten in eini-gen Provinzen Koalitionen bilden, um die Re-gierungsgeschäfte ausführen zu können.

Die drei kurdischen Provinzen Dohuk, Erbilund Sulaimaniya sowie Kirkuk beteiligten sichnicht an den Regionalwahlen. Das irakischeKurdistan, welches ca. 4 Mio. Einwohner undein von der Zentralregierung in Bagdad un-abhängiges regionales Parlament besitzt,führte im Juli 2009 separate Wahlen für dasRegionalparlament durch. Die kurdische Re-gierung versuchte auf diese Weise, unabhän-gig von der Zentralregierung, ihre eigenenInteressen stärker hervorzuheben und durch-zusetzen. Bis heute bestehen Konflikte mitder Zentralregierung in Bagdad um umstrit-tene Territorien wie z.B. Kirkuk undRessourcen wie Öl und Gas. Jedoch kanndas kurdische Autonomiegebiet, welchesnach dem Kuwait-Krieg im Jahr 1991 errichtetwurde, insgesamt eine verhältnismäßig gutewirtschaftliche und Sicherheitslage vorwei-sen. Die implementierung von rechtlichenRahmenbedingungen zum Investitions- undHandelsschutz führte dazu, dass viele aus-ländische Unternehmen Handelsbüros in Kur-distan angesiedelt haben. Dies ist auch dasErgebnis US-amerikanischer Initiativen seitBeginn ihrer Besatzung. Sie bemühten sichum eine Aussöhnung der beiden verfeindetenkurdischen Parteien Kurdistan Democratic

Party (KDP, kurdisch: Partîya Demokrata Kur-

distanê) und Patriotic Union of Kurdistan

(PUK, kurdisch: Yaketi Niştimanî Kurdistân)und stärkten in der neuen irakischen Verfas-sung von 2005 den Föderalismus zugunstender Kurden. Seit der Bildung einer gemeinsa-men kurdischen Regierung im Mai 2006 do-minieren die beiden Parteien KDP und PUKüber das Parlament und bilden seitdem zu-sammen quasi ein Machtduopol. Eine Be-grenzung ihrer Macht könnte in denkommenden Jahren höchstens von der Re-

formbewegung Goran („Wandel”) erreichtwerden. Im Jahr 2006 gegründet, konnte siebei den Regionalwahlen im Jahr 2009 auf An-hieb fast ein Viertel aller Parlamentssitze aufsich vereinen.

Im März 2010 fanden die zweiten landeswei-ten Parlamentswahlen statt, die von terroristi-schen Anschlägen in Bagdad und inProvinzen des Zentralirak begleitet wurden.Nach Angaben des irakischen Innenministe-riums kamen dabei mindestens 38 Personenums Leben und mehr als 100 Personen wur-den verletzt. Die Wahlen endeten in einempolitischen Patt. Weder die von der Dawa-Partei neu gegründete Rechtsstaat-Koalitionunter der Führung von Nuri al-Maliki noch dieüberkonfessionelle Irakische Nationalbewe-gung des ehemaligen MinisterpräsidentenIyad Allawi konnte eine Mehrheit auf sich ver-einigen. Erst im November desselben Jahres,demnach acht Monate nach den Wahlen,konnte ein Konsens der rivalisierenden politi-schen Parteien zur Bildung einer mehrheits-fähigen Koalition erzielt und im Dezembereine neue Regierung gebildet werden. Dasneu zusammengesetzte Parlament bestätigtedann sowohl den schiitischen Premierminis-ter Nuri al-Maliki als auch den kurdischen Prä-sidenten Jalal Talabani in seinem Amt. Dievon al-Maliki betitelte „Regierung der natio-nalen Partnerschaft“ umfasst insgesamt 293der 325 Abgeordneten und beteiligt sowohldie schiitische als auch die sunnitische unddie kurdische Bevölkerungsgruppe.

II. Voraussetzungen für den Willen nach

Wandel

Trotz der Errichtung eines demokratischenRegimes bestehen immer noch große Zwei-fel, inwieweit es sich um eine umgesetzteDemokratie handelt. Freedom House bei-spielsweise bewertet den Irak immer noch alsunfrei. Auf einer Skala von 1-7 liegt der Wertfür politische Rechte bei 5, für Civil Liberties

bei 6, wobei 1 als bester Wert gilt. Die Unzu-friedenheit mit der Regierung findet Ausdruckin wiederkehrenden Demonstrationen undeinem stetigen Wechsel bei der Besetzungvon politischen Positionen. Auch die Parla-mentswahlen im Jahr 2010 sind ein Belegdafür: Nur 62 der ursprünglich 275 im Jahr2005 gewählten Parlamentarier wurden wie-der in das Parlament gewählt.

Die Rechtsstaatlichkeit und justizielle Unab-

Page 108: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Irak

Deutsches Orient-Institut107

hängigkeit sind in der Verfassung garantiert.Die parteilichen Kontrollen der Ministerien undder Sicherheitskräfte stellen die Gewaltentei-lung überwiegend sicher. Die Judikative ist je-doch, wenn auch einige Richter nach demSturz des Regimes den Irak verlassen habenoder hingerichtet wurden, immer noch weit-gehend die selbe, die unter Saddam Husseintätig war. Insbesondere in Bezug auf profes-sionelle Standards, Praktiken und rechtlicheRahmenbedingungen sind dort keine maß-geblichen Verbesserungen festzustellen.Weiterhin stehen viele Richter unter Druckund werden von politischen oder sektiereri-schen Gruppierungen bedroht, was es ihnenteilweise trotz eindeutiger Beweislage un-möglich macht, militärische Aktivitäten oderGewaltverbrechen ordnungsgemäß zu verfol-gen. Weiterhin sind in einigen Provinzen Infil-trationen durch Aufständische festzustellen,sodass es nur schwerlich gelingt, terroristi-sche oder kriminelle Taten zu verurteilen.Diese Ineffizienz des Systems führt dazu,dass viele Bürger sich eher an lokale religiöseGruppen oder Milizen wenden, um Gerech-tigkeit zu üben, wodurch das System weitergeschwächt wird.

Die Verfassung schützt weiterhin Meinungs-freiheit und Pressefreiheit. Diese wird auchgenerell gewährleistet. Viele arabische Nach-richtensender sind einfach zugänglich und esexistieren über ein Dutzend private TV-Ka-näle. Aus finanziellen Gründen etablieren sichjedoch meistens Sender, die von Parteien fi-nanziell unterstützt werden. Seit 2003 wurdenmehr als 150 Zeitungen und Zeitschriften eta-bliert und der Internetzugang ist nicht einge-schränkt. Dennoch werden viele gewalttätigeÜbergriffe gegen Journalisten verübt. DasCommittee to Protect Journalists (CPJ)schätzt, dass seit Beginn des Krieges im Jahr2003 mehr als 140 Journalisten getötet wur-den. „Journalisten ohne Grenzen“ geht sogarvon bis zu 230 Journalisten aus. Da die Pres-sezentren dem Staat eine Liste mit Namender Angestellten aushändigen müssen, befin-den sich Journalisten beständig in großer Ge-fahr.

In der Verfassung werden weitgehend gleicheRechte für Frauen und Männer garantiert. SeitBeginn der US-amerikanischen Besatzungbestehen Bestrebungen, die Rechte und dieStellung der Frauen zu verbessern, nachdemsich diese um die Jahrtausendwende radikalverschlechtert hatte. Ab dem Jahr 1990 wurde

Männern, die Ehrenmorde begingen, Immu-nität verliehen. Im Jahr 1997 fiel die Frauen-beschäftigungsrate auf etwa 10% und im Jahr2000 konnten nur noch 25% der Mädchenund Frauen lesen und schreiben. Inzwischensind 25% der Parlamentssitze für Frauen re-serviert. Die weibliche Alphabetisierungsrateund auch die Anzahl der studierenden und be-rufstätigen Frauen nehmen seit einigenJahren wieder zu. So lag die Alphabetisie-rungsrate von Frauen ab einem Alter von 15Jahren bei über 69%. Dennoch erfahrenFrauen immer noch häufig soziale und recht-liche Diskriminierung. So kam es besondersnach dem Sturz des Regimes wegen derschlechten Sicherheitslage und dem nahezurechtsfreien Raum zu vielen Übergriffen aufFrauen, die allerdings auch heute wegen deranhaltenden schlechten Sicherheitslage inmanchen Regionen noch nicht Vergangenheitsind. Das aktuelle Strafgesetzbuch erlaubt esinnerhalb gewisser Grenzen außerdem, dasislamische Recht, die Scharia, anzuwenden,weshalb häusliche Gewalt kaum verfolgt wird.

Die Religionsfreiheit ist laut Verfassunggarantiert, dennoch finden häufig Bedrohun-gen und Übergriffe auf religiöse Einrichtungenstatt, wovon insbesondere Minderheiten be-troffen sind. Es wird davon ausgegangen,dass zwischen 250.000 und 500.000 Christenseit Beginn des Krieges den Irak aus Sicher-heitsgründen verlassen haben. In Kurdistanfinden gehäuft Angriffe, Anschuldigungen undBedrohungen gegen Minderheiten wie Chris-ten, aber auch gegen Turkmenen und Araberstatt. Auch in den umstrittenen Gebieten undinsbesondere in Kirkuk sind Auseinanderset-zungen zwischen den Ethnien zu beobachten,die häufig in gewalttätige Ausschreitungenmünden.

Die Konflikte zwischen, aber auch innerhalbder Ethnien, Religionen und Konfessionen fin-den insbesondere auch auf politischer Ebenestarken Ausdruck. So kam es beispielsweisezwischen den Parlamentswahlen in 2005 undden Regionalwahlen in 2009 zu heftigen Aus-einandersetzungen innerhalb des schiitischenBündnisses Vereinigte Irakische Allianz. DieZwistigkeiten der Parteien Oberster Islami-scher Rat im Irak und der Muqtada as-Sadr-Gruppe führten dazu, dass al-Maliki imFrühjahr 2008 die irakische Armee gegen diesadristische Mahdi-Armee vorgehen unddiese, mit amerikanischer und britischerUnterstützung, niederschlagen ließ. Bis heute

Page 109: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Irak

Deutsches Orient-Institut 108

ist as-Sadr im iranischen Exil und der inner-schiitische Konflikt längst nicht vergessen. DieSunniten, die sozusagen als Verlierer derneuen Ordnung gelten, streben nach einerAusweitung ihrer Repräsentanz in der Regie-rung, die sowohl die Schiiten als auch die Kur-den einzudämmen versuchen. Ein Sieggelang den Sunniten dennoch bereits bei denParlamentswahlen im Jahr 2010 durch einetaktisch kluge Ausnutzung des innerschiiti-schen Konflikts. Durch die Abspaltung derRechtsstaat-Koalition von der Vereinigten Ira-kischen Allianz gab es nun zwei wesentlichweniger gewichtige schiitische Bündnisse, diejeweils keine Mehrheit der Stimmen auf sichvereinigen konnten. Zusätzlich schlossensich, wohl hauptsächlich aus strategischenGründen, viele gemäßigte Sunniten der über-konfessionellen Irakischen Nationalbewegungan. Es ist zu vermuten, dass die Sunnitendavon ausgingen, mit einer gemäßigten über-konfessionellen Partei bessere Wahlergeb-nisse als mit einer ausschließlich sunnitischenerzielen zu können. Tatsächlich konnte dieIrakische Nationalbewegung mit den Stimmender Sunniten ihren Stimmenanteil mehr alsverdreifachen und ging mit 28,2% als stärksteKraft aus den Wahlen hervor. Insgesamt kames in den Monaten während dieser Regie-rungsbildung zu gewalttätigen Protesten undAttacken auf nationale Institutionen und Si-cherheitskräfte, die viele Tote forderten. VieleAufständische erhofften dadurch eine Ein-flussnahme auf die Regierungsbildung zu ei-genen Gunsten zu erzielen. Allein im Juli 2010wurden, laut offiziellen irakischen Angaben,mehr als 535 Zivilisten getötet und über 1.000verletzt.

Weiterhin bestehen aufgrund der Autonomie-bestrebungen des irakischen KurdistansSpannungen zwischen der Zentralregierungin Bagdad und der kurdischen Regionalregie-rung in Erbil, was häufig zu Diskussionen umdie Legalität und Legitimität der kurdischenRegionalregierung führt. Die Kurden erhebenVorwürfe gegen das zentrale System inBagdad und fordern mehr Autonomie. Insbe-sondere zwei Konflikte stehen im Vorder-grund: die Aufteilung Kirkuks und derumstrittenen Gebiete sowie die Verteilung vonRessourcen. Der Artikel 140 der neuen iraki-schen Verfassung von 2005 sieht eine Volks-zählung sowie ein Referendum über denStatus quo in Kirkuk, eine der umstrittenstenProvinzen, vor. Aufgrund der Zwistigkeitenunter den Konfliktparteien ist dieses Referen-

dum bis heute jedoch stets verschobenwurden. Die umstrittenen Gebiete, die Ira-kisch-Kurdistan für sich beansprucht, befin-den sich südlich und westlich angrenzend andie kurdische Autonomieregion und beheima-ten heutzutage zahlreiche Kurden, jedochauch Turkmenen und Araber. Nach der Argu-mentation der Kurden besitzt zumindestKirkuk einen ursprünglich kurdischen Hinter-grund. Die Kurden berufen sich dabei einer-seits auf das Ergebnis eines Zensus im Jahr1957 sowie darauf, dass die heutige Mi-schung der Ethnien auf eine Arabisierungs-kampagne in den 1980er Jahren unterSaddam Hussein zurückgehe. Neben den his-torischen Gegebenheiten spielen jedoch auchstrategische Interessen der Kurden eine we-sentliche Rolle: Kirkuk ist einer der ölreichstenRegionen Iraks und besitzt das drittgrößte Öl-feld des Landes, welches allein 10% der ira-kischen Ölreserven ausmacht. Für dieZentralregierung, die auch in Kurdistan eineweitgehende Kontrolle über deren Öl- undGasreserven anstrebt, ist diese Region des-halb von hoher Bedeutung. Die kurdische Re-gionalregierung ihrerseits strebt jedoch dortund auch in ihrem eigenen Gebiet eine weit-gehend autonome Energiepolitik an undmöchte außerdem an den gesamten Öl- undGaseinnahmen des Staates beteiligt werden.Probleme bestehen jedoch nicht nur zwischenBagdad und Erbil, sondern auch innerhalbKurdistans, dessen Regierungsparteien, dieKDP und die PUK, sowie Goran und die kur-dische Bevölkerung uneinig sind über ihrenUmgang mit und ihren Forderungen an dieRegierung in Bagdad.

Ein zentrales Problem, über das Konsens inder Bevölkerung besteht, ist die Korruption.Transparency International bewertete im Jahr2010 die Korruption auf einer Skala von 0 bis10 mit einem Wert von 1,5 – wobei 10 sehrunkorrupt und 0 hochgradig korrupt bedeutet.Damit liegt der Irak auf dem 175. Platz voninsgesamt 178 Plätzen. Am 21. Februar 2011beispielsweise verkündete der Parlaments-sprecher al-Nujaifi im Parlament, dass 40Mrd. USD nicht aufzufinden seien. Das Geldstammte aus einem Fonds, der für denWiederaufbau Iraks bestimmt ist. (“It mayhave been spent somewhere, but it does notappear in our accounts.”)

Ein weiteres Problem betrifft die Versor-gungslage: Die Lebensmittelpreise sind starkgestiegen. Knapp eine Million Haushalte lei-

Page 110: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Irak

Deutsches Orient-Institut109

den unter Ernährungsunsicherheit. Weitereknapp drei Millionen Bürger sind stark abhän-gig vom Lebensmittel-Rationierungssystemder Regierung. Es bestehen Versorgungs-engpässe bei zentralen Gütern wie Öl undGas zum Heizen und bei Benzin. Es existiertkeine Müllentsorgung. Der Irak hat zudem mitkatastrophalen infrastrukturellen Bedingun-gen als Spätfolge der beiden Kriege, den UN-Sanktionen während der Herrschaft Husseinsund fast acht Jahren US-amerikanischer Be-satzung zu kämpfen. So besteht in vielenStädten nur etwa vier bis sechs Stunden amTag eine elektronische Versorgung, obwohldie Regierung bereits mehrere Milliarden fürdie Stromnetze ausgab.

Weiterhin besteht eine hohe Arbeitslosigkeit,die auf die wirtschaftliche Lage Iraks zurück-zuführen ist und von der im Besonderen diejungen Irakerinnen und Iraker betroffen sind.Circa 28% der jungen Iraker im Alter von 15bis 29 Jahren sind arbeitslos. Durch die Golf-kriege, die UN-Sanktionen und die zentral ge-steuerte Wirtschaft sank in fast allenWirtschaftssektoren die Wirtschaftsleistung.Seit dem Beginn der Besatzung im Jahr 2003konnten die Wirtschaftsstrukturen zwar ver-bessert, die Liberalisierung der Märkte voran-getrieben und der Wettbewerb gefördertwerden, die Entwicklung befindet sich aberdennoch weiterhin am Anfang und die Wirt-schaft ist nur marginal diversifiziert. Der Irakist aufgrund seiner riesigen Erdölvorkommenfast ausschließlich auf den Erdölexport aus-gerichtet. Zur Zeit bestehen mehr als 90% derStaatseinkünfte und mehr als 80% der Ex-porteinnahmen aus dem Ölsektor. NachSchätzungen von Experten könnte das ge-samte Öl- und Gasvorkommen bei bis zu 250Mrd. Barrel liegen und davon bis zu 45 Mrd.Barrel im Norden in der Autonomen RegionKurdistan. Die zuletzt abgeschlossenen Ver-träge mit großen Öl-Unternehmen könntendazu führen, dass der Irak seine Einkünftedurch Ölexporte weiter steigert. Problema-tisch ist jedoch, dass diese Branche nur we-nige Arbeitsplätze bietet und der Irakindustriell kaum entwickelt ist. Die fehlende In-dustrie gilt als eine der Hauptursachen für dieArbeitslosigkeit, deren Folge wiederum einewachsende generelle Unzufriedenheit, insbe-sondere unter den Jugendlichen, mit demSystem in Bagdad ist. Dass die Regierungund das Parlament hauptsächlich aus Män-

nern und aus den oberen Altersschichten zu-sammengesetzt sind, stärkt den Unmut derJugend. Die Jugendlichen fordern die Be-kämpfung der Arbeitslosigkeit sowie eine grö-ßere Teilhabe und Mitsprache in dempolitischen Wiederaufbauprozess.

III. Akteure des Wandels und konkrete

Auslöser

Bereits seit Ende 2010 sind vereinzelteProteste aufgrund des langen Übergangspro-zesses zur Bildung einer neuen Regierungund der Machtanhäufung des Premierminis-ters al-Malikis zu beobachten. So erstarkenseit 2007/2008 die nationalistischen Kräfte,und die Befürworter einer starken Zentralre-gierung in Bagdad nehmen zu, was von vielenIrakern, vorrangig aber von den Kurden,kritisch beäugt wird. Insbesondere werdenauch die allgemeinen Lebensbedingungenwie Arbeitslosigkeit, Armut, Mangel anelektrischer Versorgung und Korruptionangeprangert.

Durch die Aufstände in der arabischen Weltzu Beginn des Jahres 2011 und insbesonderedurch die Revolutionen in Tunesien und inÄgypten erhielten die Proteste im Irak starkenAuftrieb. Am 13. Februar 2011, zwei Tagenach dem Sturz der Regierung von Hosni Mu-barak, berichtete die israelische Zeitung Haa-

retz, dass ein 31-jähriger FamilienvaterSelbstmord beging, indem er, vermutlich vonder Selbstverbrennung des tunesischen Mu-hammad Bouazizi4 inspiriert, sich selbst ver-brannte, nachdem er keine Arbeit findenkonnte. Bereits seit Ende Dezember wird imIrak von Versuchen zur Selbstverbrennungberichtet. Am 25. Februar wurde der „Tag desZorns“ ausgerufen, an dem nach den Frei-tagsgebeten landesweite Demonstrationenstattfanden. Mindestens elf Menschen kamendabei ums Leben. Auslöser waren auch hiervor allem die Wut über soziale Ungerechtig-keit, Korruption und hohe Arbeitslosigkeit. Diegrößten Demonstrationen fanden in Kurdistansowie den arabisch-sunnitisch geprägtenStädten Mosul und Falluja sowie den ara-bisch-schiitisch geprägten Städten Bagdadund Basra statt. Allein in Mosul wurden dabeimehr als fünf Personen getötet. In Bagdaddemonstrierten Tausende. Einige unter ihnenversuchten, die sogenannte „Grüne Zone“5

anzugreifen. Die Sicherheitskräfte gingen mit

4 Die Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Muhammad Bouazizi gilt als Initialzünder dertunesischen Revolution und den Aufständen in der arabischen Welt.

5 Die „Grüne Zone“ ist das Zentrum internationaler Präsenz, Sitz des irakischen Parlaments und der ame-rikanischen Botschaft.

Page 111: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Irak

Deutsches Orient-Institut 110

Tränengas, Knüppeln und Wasserwerfengegen die Demonstranten vor.Kurdische Proteste drücken den Zorn gegendie autoritäre Autonomieregierung im iraki-schen Kurdistan aus. Am 21. Februar 2011eskalierten dort in Sulaimaniya die Proteste,nachdem ein Jugendlicher von Sicherheits-kräften getötet wurde. Weitere 48 Personenwurden an diesem Tag verletzt. Der wach-sende Unmut über die unabhängige Regio-nalregierung in Kurdistan und deren äußerststarke Macht in allen Politik- und Wirtschafts-fragen führten zwei Tage später im ganzenNordirak zu weiteren Demonstrationen. DieReformbewegung Goran versuchte sich mitbegrenztem Erfolg als Oppositionsführer zuetablieren. Bereits seit dem Aufkommen derGoran-Bewegung ist in Kurdistan ein latenterKonflikt zwischen den RegierungsparteienKDP und PUK sowie der Goran-Bewegungfestzustellen, deren Erfolge bei den Regio-nalwahlen im Jahr 2009 den Konflikt weiterverschärften.6Während der Demonstrationenwurden Forderungen nach politischen Refor-men und einer genauen Untersuchung derTötungen von Demonstranten durch denStaat laut. Allein in Sulaimaniya demonstrier-ten mehr als 5.000 Iraker. Ähnlich große De-monstrationen und Aufstände fanden an demTag in Erbil statt, die durch Sicherheitstruppendes Staates niedergeschlagen wurden. DieProteste dort richteten sich hauptsächlichgegen Masoud Barzani, den Führer der KDP,der in den kurdischen Provinzen Dohuk undErbil regiert.

Anfang März 2011 wurden erneut Proteste inder Hauptstadt Bagdad, Basra und anderensüdirakischen Städten beobachtet. Am 16.März 2011 fanden in der gleichen Gegendschiitische Demonstrationen statt. Diese gal-ten dem Einmarsch Saudi-Arabiens in Bah-rain und der Solidarisierung mit derschiitischen Opposition in Bahrain. Auch amfolgenden Tag demonstrierten etwa 3.000Schiiten in Kerbela gegen das VorgehenSaudi-Arabiens. Die Demonstrationen fandennach Aufrufen von Muqtada as-Sadr und desGroßayatollah Mohammed Taki al-Mudarrisistatt. Auch der schiitische PremierministerNuri al-Maliki unterstützte die Demonstranten.

Abgesehen von letzteren genannten Demon-strationen spielten die Konflikte zwischen denEthnien, beispielsweise zwischen arabischen

Schiiten und Sunniten oder zwischen Arabernund Kurden, bei den Protesten dieses Jahreseher eine untergeordnete Rolle. Im Vorder-grund standen Probleme, die unabhängig vonReligion oder Ethnie die Bevölkerung betref-fen: Arbeitslosigkeit, Korruption und mangel-hafte Infrastruktur in Bildung, Gesundheit undVersorgung. In Kurdistan, dessen wirtschaftli-che Lage insgesamt besser als die gesamti-rakische einzustufen ist, demonstrierte dieBevölkerung hauptsächlich wegen der star-ken autoritären Herrschaft der Regierung.

IV. Auswirkungen des „Arabischen Früh-

lings“

Noch vor dem Beginn der Proteste im eige-nen Land, aber mit Blick auf die wachsendenUnruhen in der arabischen Welt, kündigte dieRegierung Zugeständnisse an die Bevölke-rung an. Am Freitag, den 1. Februar 2011,versprach al-Maliki im Parlament Gehaltskür-zungen. Diese sehen eine Kürzung des Ge-halts des Premierministers um mehr als 50%der monatlichen 35 Mio. Irakischen Dinars vor(entspricht ca. 38.000 USD). Ähnliche Ein-schnitte wurden bei Abgeordneten, Gesetz-gebern, Ministern und hochrangigen Beamtengefordert. Ob diese jedoch tatsächlich in derRealität umgesetzt werden, ist noch unklar.Des Weiteren bot die Regierung freie Elektri-zität an und importierte Zucker zur Unterstüt-zung des von der Regierung etabliertenLebensmittel-Rationierungssystems. Insge-samt wurden dem Essensrationierungspro-gramm 900 Mio. USD zugeführt, dieursprünglich für den Ankauf von Kampfjetseingeplant waren. Weitere 400 Mio. USD wur-den reserviert für die Betreibung von Genera-toren, die im Sommer Klimaanlagen mitEnergie versorgen sollen. Weitere Infrastruk-turprojekte und die Sanierung von Kanalisa-tionsanlagen sind in Planung.

V. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure

Die Demonstrationen und Aufstände der ira-kischen Bürger wurden von dem Premiermi-nister al-Maliki jedoch heftig verurteilt undauch brutal zerschlagen. Demonstranten wur-den immer wieder bedroht. Bei dem hartenDurchgreifen der Sicherheitstruppen wurdenbei Protesten allein am 25. Februar 2011,dem irakischen „Tag des Zorns“, 16 Men-schen getötet. Al-Maliki behauptete, Anhän-

6 Goran spaltete sich im Jahr 2006 von der PUK ab und obliegt seitdem der Herrschaft des namhaften Po-litikers Naushirwan Mustafa. Letzterer war bis zu jenem Zeitpunkt der stellvertretende Führer der PUK.Die Bewegung fordert eine stärkere Bekämpfung der wuchernden Korruption in Kurdistan, demokrati-sche Reformen sowie Rechtsstaatlichkeit. Gleichzeitig agiert sie weniger radikal in ihren Ansprüchengegenüber der Zentralregierung in Bagdad und konzentriert sich, sehr zum Ärger der Regionalregierung,eher auf demokratische Reformen als auf die Ausweitung des kurdischen Territoriums.

Page 112: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Irak

Deutsches Orient-Institut111

ger des ehemaligen Diktators Saddam Hus-sein hätten mit Hintergedanken die Unruhenprovoziert: “Change is something importantbut it should not be based on sabotage, arsonand rioting".7 Die Iraker seien ein einfachesVolk („simple people“) und sollten deshalbnicht den religiösen Führern überlassen wer-den, die das Volk zu politisieren und manipu-lieren versuchen. Die Demonstrationen derirakischen Schiiten, die der Solidarisierung mitder Opposition in Bahrain galten, wurden vondem Premierminister jedoch nicht verurteilt.Er unterstützte diese und kritisierte das Vor-gehen Saudi-Arabiens scharf.

Die Demonstrationen in der autonomen Re-gion Kurdistan im Februar 2011, bei denenebenfalls Menschen getötet wurden, wurdenmit hartem Durchgreifen beantwortet. Daskurdische Regionalparlament in Erbil erließaußerdem einen Plan, der die kurdische Be-völkerung beruhigen sollte.

In der südirakischen Stadt Basra trat nachmassiven Protesten der als äußerst korruptgeltende Gouverneur Sheltak Abbud zurück.

IV. Zukunftsszenarien

Best Case Szenario:

Trotz der hohen politischen Gewalt und dervielen Anschläge und Angriffe wurden in denletzten sieben Jahren immerhin drei demo-kratische Wahlen durchgeführt, die von Ex-perten als überwiegend frei und faireingeschätzt wurden. Damit unterscheidetsich der Irak von den meisten seiner Nach-barn. In der aktuellen Regierung sind alle gro-ßen Ethnien und Konfessionen vertreten.Bestenfalls würde sich diese positive Ent-wicklung fortführen. Eine offene und kon-struktive Kooperation der einzelnenRegierungsparteien würde den extremisti-schen Kräften den Nährboden nehmen. Dievom Ministerpräsidenten al-Maliki angekün-digten Gehaltskürzungen sowie die dringendbenötigten Infrastrukturprojekte würden um-gesetzt, was die Glaubwürdigkeit der Regie-renden und ihr Ansehen in der Bevölkerungstark verbessern würde. Durch weiterhin guteZusammenarbeit zwischen amerikanischenAusbildungstruppen und der IrakischenArmee könnte die Sicherheitslage außerdemweiter verbessert werden. Zusätzlich könntesich der Tod Usama bin Ladins positiv auf die

Sicherheitslage im Irak auswirken, weil dieideologische Strahlkraft al-Qaidas dadurchebenso geschwächt wurde wie durch die de-mokratisch-zivilgesellschaftlichen Aufstands-bewegungen in Tunesien oder Ägypten.

Zwar bestehen kurdische Sezessionsbestre-bungen. Die wirtschaftliche Abhängigkeit vonder gesamtirakischen Wirtschaft hielte dieKurden jedoch davon ab, diese Intentionen innächster Zeit zu realisieren. So könntenKonflikte mit der Zentralregierung und mit denNachbarstaaten wie Iran und der Türkeivermieden werden, die ebenfalls kurdischeMinderheiten besitzen und die Sezessions-bestrebungen Irakisch-Kurdistans kritisch be-obachten.8 Insbesondere bei weiterenWahlerfolgen und einem Aufschwung derGoran-Partei ist von einer solchen Entwick-lung auszugehen, da diese eine wenigervehemente Politik gegenüber der Zentralre-gierung verfolgt. So würden auch Konfliktebezüglich den umstrittenen Regionen starkabgeschwächt, da eine Annexion dieser Ge-biete laut eigenen Aussagen keine hohe Prio-rität für die Partei besitzt. Vielmehr würde dieBekämpfung von Korruption und Misswirt-schaft in den Vordergrund treten

Worst Case Szenario

Andererseits wäre im schlechtesten Falldavon auszugehen, dass die Konflikte undAuseinandersetzungen der einzelnen Koali-tionsparteien die Regierungsarbeiten starkbehindern. Im Vordergrund stünden nicht diedringliche Verbesserung der Lebensbedin-gungen der Bevölkerung, sondern persönli-che Konflikte der Regierungsmitglieder,beispielsweise zwischen dem Radikalen as-Sadr und dem Premierminister al-Maliki. Dieextremistischen Kräfte im Land, sowohl schi-itische, sunnitische oder kurdische, könntendie Situation zu ihren Gunsten ausnutzen undverstärkt terroristische Attacken verüben, umihren Einfluss auszubauen und das Land zudestabilisieren. Durch einen vorschnellenAbzug der letzten verbleibenden US-ameri-kanischen Truppen, die für die Ausbildung derirakischen Armee zuständig sind, würde dieSicherheitslage zusätzlich drastisch ver-schlechtert. Zusätzlich könnte der schiitischgeprägte Iran den Abzug der US-amerikani-schen Truppen nutzen, um seinen Einflussauf die irakischen Schiiten auszuweiten, waseine weitere politische Konfrontation zur

7 Quelle: Hemdei, Salah: Double barrel anger, Al-Ahram weekly online (24.02.-01.03.2011), http://weekly.ahram.org.eg/2011/1036/re151.htm, abgerufen am 29.06.2011.

8 Abzuwarten bleibt hier allerdings die zukünftige Situation der syrischen Kurden, die im Verlauf der syri-schen Protestbewegungen vielfach zum Ziel der staatlichen Repressionsmaßnahmen wurden.

Page 113: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Irak

Deutsches Orient-Institut 112

Folge hätte und Bedrohungsgefühle iraki-scher Alliierter, insbesondere der USA, her-vorrufen könnte. Weiterhin könnte dieFöderalismusdebatte zu einer Zuspitzungoder sogar zu einer Eskalation des Konfliktszwischen Kurden und Arabern über Irakisch-Kurdistan und den Verbleib Kirkuks führen.Premierminister al-Maliki wie auch Allawi, derVorsitzende der Irakischen Nationalbewe-gung, sind starke Befürworter einer mächti-gen Zentralregierung, die bereits in denletzten Jahren wesentlich ausgebaut wurde.Beide könnten darauf drängen, die Macht inBagdad noch weiter zu stärken und diesdurch eine militärische Einnahme der umstrit-tenen Gebiete demonstrieren. Die 12. Divi-sion der irakischen Armee drang bereits imHerbst 2008 zu einer angeblichen Schützungder Ölinfrastruktur nach Kirkuk vor. Seitdemstehen sich dort kurdische und irakische Trup-pen gegenüber. Zur Zeit verfügen die kurdi-schen Truppen über die besserenRessourcen. Sollte sich die Präsenz der zen-tralirakischen Militärs jedoch erhöhen, könntedie Situation eskalieren, sich vielleicht sogarauf weitere Städte wie Mosul ausdehnen undim Nordirak schlimmstenfalls in bürgerkriegs-ähnliche Zustände übergehen. Instabilität undwirtschaftliche Missstände könnten auchdurch Flüchtlingsströme syrischer Kurdennach Irakisch-Kurdistan entstehen.

Trendszenario

Wenn auch Spaltungen zwischen sunniti-schen und schiitischen Parteien bestehen,könnten die Neuausrichtungen insgesamt aufgemeinsamen Interessen gründen wie bei-spielsweise der Verbesserung der Infrastruk-tur. Die Probleme und Konflikte wie Korruptionoder Misswirtschaft würden öffentlich disku-tiert und zumindest teilweise eingedämmt. DieKonflikte zwischen Kurden und Arabern blie-ben bestehen. Das Referendum bezüglichdes Verbleibs der Provinz Kirkuk würde auf-grund anhaltender Differenzen zwischen deneinzelnen Parteien weiterhin verschoben.Auch bezüglich der Energiepolitik fänden sichkeine konkreten Lösungen. Weder gelänge esder Zentralregierung, diese komplett zu ihrenGunsten zu kontrollieren, noch Erbil, diese inihrem Autonomiegebiet gänzlich unabhängigauszurichten.

Da die Kurden an der Regierung beteiligt sind,und ein Austritt ihrerseits den Zusammen-bruch der gesamten Regierung nach sichzöge, besitzen sie ein wirksames Druckmittel.Dies könnte eingesetzt werden, wenn Pre-mierminister al-Maliki seine Kompetenzenweiter ausbauen wollte und somit verhindertwerden, dass die Zentralmacht in Bagdad zuweitreichende Kompetenzen erhält. Die seitletztem Jahr stark konsensual geprägte Re-gierungszusammensetzung könnte auch ins-gesamt dazu beitragen, dass Gesprächezwischen den Parteien aufgenommen undweitere Konflikte entschärft werden. Das imVorfeld der letzten Parlamentswahlen, wennauch eher aus strategischen Gründen, statt-gefundene Gespräch zwischen al-Maliki undas-Sadr könnte ein Indiz für die stärkere Kom-promissbereitschaft der Parteien sein.

Von entscheidender Bedeutung bleibt auchdie wirtschaftliche Entwicklung. InsbesondereKurdistan hat sich wirtschaftlich gut entwi-ckelt. Aber auch im Süden Iraks findet einvorsichtiger, aber stetiger wirtschaftlicher Auf-schwung statt. Dieser könnte sich bei unter-stützenden politischen Maßnahmen undweiter steigendem Interesse seitens derausländischen Unternehmer fortsetzen. Aberauch wenn sich die wirtschaftliche Situation inweiten Teilen des Landes verbessert hat,bleibt dieser Fortschritt von mindestens zweiEntwicklungen abhängig: Zum einen müssendie rechtlichen Rahmenbedingungen kontinu-ierlich verbessert und die Konflikte um die Öl-förderung in Kurdistan beigelegt werden, umfür ausländische Unternehmer langfristig at-traktiv zu bleiben. Zum anderen bleibt auchdie weitere Entwicklung der Sicherheitslageabzuwarten: Wenn politische Zwistigkeiten,militante Islamisten und die brisante Situationin Nachbarländern zunehmen, könnte sichdies negativ auf die Wirtschaftsentwicklungauswirken. Dies gilt insbesondere für die nachwie vor strukturschwache und fragile Regionum die Hauptstadt Bagdad, die bis jetzt voninternationalen Investoren aufgrund derUnsicherheit gemieden wird. Hinzu muss dieWirtschaft weiterhin ölunabhängiger diversifi-ziert werden, das Ausbildungsniveau verbes-sert und die Kaufkraft erhöht werden.

Katharina Schmoll

Page 114: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Irak

Deutsches Orient-Institut113

VII. Literaturangaben

AL-ALI, NADJE: Iraqi Women: Historical and Contemporary Perspectives, in: Orient II/2011, S.32-38.

AL-ALAK, MEHDI: Analytical Report of the National Youth Survey. Towards A National Strategy for Iraqi Youth, Inter agency Information and Analysis Unit (IAU) UN, http://www.iauiraq.org/documents/1451/analytical%20report-executive%20summary.pdf,abgerufen am 19.07.2011.

AL-ANSARY, KHALID: Iraq criticises Bahrain intervention: Sadrists march, Reuters, http://www.reuters.com/article/2011/03/16/us-bahrain-iraq-idUSTRE72F6RJ20110316, abgerufen am 01.07.2011.

AL-ANSARY, KHALID: Iraq’s Sadr followers march against Bahrain crackdown, Reuters,http://www.us.mobile.reuters.com/article/topNews/, abgerufen am 01.07.2011.

ARANGO, TIM: Iraqi Youths’ Political Rise Is Stunted by Elites, New York Times, http://www.nytimes.com/2011/04/14/world/middleeast/14iraq.html, abgerufen am 01.07.2011.

ARATO, ANDREW: Constitution making under Occupation. The politics of imposed revolution in Iraq,New York 2009.

BARAM, AMATZIA: Iraq Past, Present and Future: Arabic Speaking Iraqis between the Tribes, the Sunnah and the Shi’ah, Middle East Report, Middle East Institute Singapore 2010.

BBC NEWS: Iraq voters back new constitution, http://news.bbc.co.uk/2/hi/middle_east/4374822.stm, abgerufen am 01.07.2011.

BERTELSMANN STIFTUNG: BTI 2010 – Iraq Country Report, http://www.bertelsmann-transformation-index.de/fileadmin/pdf/Gutachten_BTI2010/MENA/Iraq.pdf, abgerufen am 29.06.2011.

CORDESMAN, ANTHONY H.: Iraq’s Fracture Lines: Recidivism or Reassertion, CSIS Studie 2011.

DIE ZEIT: Hohe Wahlbeteiligung trotz vieler Anschläge, Zeit online, http://www.zeit.de/politik/ausland/2010-03/irak-parlamentswahl-gewalt-2/seite-1, abgerufen am 29.07.2011.

EICKENFONDER, SUSANNE: Machtvakuum im Irak ist beendet, Deutsche Welle, http://www.dw-world.de/dw/article/0,,6221559,00.html, abgerufen am 22.07.2011.

EL MOUSSAOUI, NAIMA: Tote bei Protesten im Irak, Deutsche Welle, http://www.dw-world.de/dw/article/0,,14874966,00.html, abgerufen am 01.07.2011.

FREEDOMHOUSE: Countryreport. Freedom in the World - Iraq (2011), http://www.freedomhouse.org/template.cfm?page=22&country=8058&year=2011, abgerufen am 29.06.2011.

HANISH, SHAK: The Kirkuk Problem in Iraq: Is there a Solution? in: Orient II/2011, S.25-31.

HAREETZ: Iraq man dies of self-immolation to protest rising unemployment, hareetz.com, http://www.haaretz.com/news/international/iraq-man-dies-of-self-immolation-to-protest-rising-unemployment-1.343162, abgerufen am 21.07.2011.

HEMDEI, SALAH: Double barrel anger, Al-Ahram weekly online (24.02.-01.03.2011), http://weekly.ahram.org.eg/2011/1036/re151.htm, abgerufen am 29.06.2011.

JENSEN, STERLING: Iraq weathers the political Storm, in: Middle East Quarterly 18 (2011) 3, S.31- 34.

Page 115: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Irak

Deutsches Orient-Institut 114

KURDISTAN REGIONAL GOVERNMENT: A Look at the Final Changes in Iraq's Constitution, http://web.krg.org/articles/detail.asp?rnr=24&lngnr=12&anr=6040&smap=, abgerufen am01.07.2011.

LEIDHOLDT, ULRICH: Keine Revolution, sondern Verbesserungen, ARD Tagesschau, http://www.tagesschau.de/ausland/irakdemo100.html, abgerufen am 01.07.2011.

MARCINKOWSKI, CHRISTOPH: Shi’ite Identities. Community and Culture in Changing Social Contexts,Münster 2010.

MIDDLE EAST REPORT: In their own words: Reading the Iraqi Insurgency, International Crisis GroupStudie 2006.

N24: Anschlag auf größte Ölraffinerie im Irak, N24 online, http://www.n24.de/news/newsitem_6688160.html, abgerufen am 01.07.2011.

NZZ: Proteste von Jordanien bis Jemen, NZZ online, http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/international/proteste_von_jordanien_bis_jemen_1.9685925.html, abgerufen am 01.07.2011.

OBERNDORFER, LILLI: 100 Tage Angst, Wirtschaftsplattform Irak, http://www.wp-irak.de/index.php/meinung-a-analyse/61-staat/514-100-tage-angst, abgerufen am 01.07.2011.

PRESS TV: Kurds rally for change in north Iraq, http://www.presstv.ir/detail/166617.html, abgerufen am 01.07.2011.

STROHMEIER, MARTIN, YALÇIN-HECKMANN, LALE: Die Kurden. Geschichte, Politik, Kultur, München, 3. Aufl. 2010.

SCHMIDT, MICHAEL, ALI, KHALID D.: Iraqi Leader, With Eye on Discontent, Says He’ll Cut His Salaryin Half, New York Times, http://www.nytimes.com/2011/02/05/world/middleeast/ 05iraq.html, abgerufen am 01.07.2011.

SINA, RALPH: US-Kampftruppen verlassen den Irak, Tagesschau.de, http://www.tagesschau.de/ausland/irakusa100.html, abgerufen am 19.07.2011.

SPRINGBORG, ROBERT: Democratic Beacon in Iraq: A dim light indeed, in: Orient II/2011, S.6-11.

STEELE, JONATHAN: Iraq's own Arab spring, Guardian, http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2011/apr/25/united-states-troop-presence-iraq-long-term, abgerufen am 01.07.2011.

STEINBERG, GUIDO: Die irakische Aufstandsbewegung. Akteure, Strategien, Strukturen, SWP-Studie 2006.

STEINBERG, GUIDO: Talabani und Barzani unter Druck, SWP-Studie 2010.

STEINBERG, GUIDO: Die neue Kurdenfrage. Irakisch-Kurdistan und seine Nachbarn. In Irakisch-Kurdistan fordert die Goran-Bewegung die etablierten Parteien heraus, SWP-STUDIE 2011.

TRADINGECONOMICS: Literacy rate; adult female (% of females ages 15 and above) in Iraq, http://www.tradingeconomics.com/iraq/literacy-rate-adult-female-percent-of-females-ages-15-and-above-wb-data.html, abgerufen am 29.07.2011.

TRANSPARENCY INTERNATIONAL: Corruption Perceptions Index Results, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010/results, abgerufenam 18.07.2011.

Page 116: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Palästinensische Gebiete

Deutsches Orient-Institut 115

1 CIA – The World Factbook.2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.3 CIA – The World Factbook. 4 CIA – The World Factbook.5 CIA – The World Factbook.6 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.8 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators,

http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles.9 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.10 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN.11 CIA – The World Factbook. 12 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.13 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.14 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG,

International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf.

15 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html.

16 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm.17 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia,

http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf.18 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us.19 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,

http://hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 20 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection:

Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/.

21 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf, abgerufen am 29.08.2011.

22 The World Bank “Voice and Accountability”, Worldwide Governance Indicators, http://www.info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp.

23 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

Landesdaten Palästinensische GebieteFläche1 2011 5.860 km² (Westjordanland), 360 km² (Gazastreifen)

Bevölkerung2 2010 4.400.000 (Westjordanland und Gazastreifen)

Bevölkerungsdichte (pro km²) 2010 k. A.

Ethnische Gruppen3 2010Palästinensische Araber 83%, Juden 17%(Westjordanland), Palästinensische Araber 100%(Gaza Streifen)

Religionszugehörigkeit4 2010Muslime 98, 7%, Christen 0,7%, Juden 0,6% (Gaza Streifen); Muslime 75%, Juden 17%, Christen 8% (Westjordanland)

Durchschnittsalter5 2010 17,7 Jahre

Bevölkerung unter 15 Jahren6 2011 43%

Bevölkerung über 65 Jahren7 2011 3%

Lebenserwartung8 2010 75,01 Jahre

Bevölkerungsprognose bis 20509 2010 10.300.000

Geburten pro Frau10 2009 4,9

Alphabetisierungsrate 2010 92,4%

Mobiltelefone11 2009 2.405.000

Nutzer Internet12 2009 1.379.000

Nutzer Facebook13 2011 599.520

Wachstum BIP14 2010 k. A.

BIP pro Kopf 15 2010 k. A.

Arbeitslosigkeit16 2010 16,5% (Westjordanland); 40% (Gazastreifen)

Inflation17 2011 k. A.

S&P-Rating18 2011 k. A.

Human Development Index Rang19 2010 k. A.

Bildungsniveau20 2010 k. A.

Bildungsniveau der Frauen (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)21

2010 k. A.

Politische Teilhabe22 2010 20,4%

Korruptionsindex23 2010 k. A.

Page 117: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Palästinensische Gebiete

Deutsches Orient-Institut116

Palästinensische Gebiete

Der Konflikt zwischen Palästinensernund Israelis bestimmt mittlerweileseit Jahrzehnten einen großen Teil

der Berichterstattung über den NahenOsten. Die Verhandlungen zwischen bei-den Konfliktparteien sind nun seit Mona-ten nicht vorangeschritten, wodurch derUnmut in der Bevölkerung weiter zunimmt.Dennoch sind sowohl der Gaza-Streifenals auch das Westjordanland von Massen-protesten, deren Zeugen wir derzeit inNordafrika und einigen anderen arabi-schen Staaten werden können, ausgeblie-ben. Diese Entwicklung ist zum Teil einResultat der Politik vor allem Salam Fayy-ads, Premierminister der Palästinensi-schen Autonomiegebiete, der dieEtablierung quasi-staatlicher Strukturenals Grundlage für einen lebensfähigen pa-lästinensischen Staat favorisiert. Auf deranderen Seite genießen die Palästinenserbereits einige, auf Grund interner Konfliktejedoch eingeschränkte, demokratischeFreiheiten, sodass das Bestreben, die ei-gene Führung abzulösen, aktuell nochnicht so groß ist, wie in anderen Staatender Region. Diese Situation kann sich je-doch schlagartig ändern, wenn die eigenepolitische Führung keine Erfolge im Rah-men der Beilegung interner Konflikte vor-weisen kann und die Verhandlungen mitIsrael sowie die Abstimmung in den Ver-einten Nationen nicht den gewünschtenErfolg bringen.

Obwohl die palästinensischen Gebiete vonMassendemonstrationen bisher weitge-hend verschont blieben, bleibt die Dyna-mik der Region nicht ohne Auswirkungenauf die Palästinenser selbst. SowohlHamas als auch Fatah sind durch die Er-eignisse, vor allem in Ägypten und Syrien,stark unter Druck geraten und müssenihre Politik neu ausrichten. Das Versöh-nungsabkommen zwischen Fatah undHamas ist ein wesentliches Resultat derregionalen Entwicklungen und des zuneh-menden öffentlichen Drucks. Ob und wiedieses Abkommen umgesetzt wird, wer-den die nächsten Monate zeigen müssen.Eine zusätzliche Ungewissheit bringt dieAbstimmung in den Vereinten NationenEnde September 2011 mit sich. GrößereDemonstrationen mit teils gewaltsamen

Ausschreitungen werden sowohl von is-raelischer als auch palästinensischerSeite nicht ausgeschlossen, sodass diekurz- und mittelfristige Entwicklung be-reits ein großes Spannungspotenzial auf-weist.

I. Politisches System und gesellschaftli-che Entwicklung

Bereits in den 1960er Jahren wurde mit demAufbau politischer Strukturen auf Seiten derPalästinenser begonnen, obwohl die Grün-dung eines eigenen Staates nicht absehbarwar. Entscheidend war vielmehr die Heraus-bildung einer eigenen Interessenvertretung,um die politischen Ansprüche geltend machenzu können. Obwohl es bis zum heutigen Tagekeinen eigenen palästinensischen Staat gibt,hat sich der Prozess der politischen Institutio-nenbildung weiter fortgesetzt und führte z. T.zu Doppelstrukturen oder gar Dreifachstruk-turen, wenn der Gaza-Streifen separat be-trachtet wird. Diese sind zumindest teilweisedemokratisch legitimiert. Die drei dominieren-den Organisationen bzw. Institutionen sind diePalästinensische Befreiungsorganisation(PLO), die Palästinensische Autonomiebe-hörde (PNA oder PA) und die IslamischeWiderstandsbewegung in Palästina (Hamas),die seit den Wahlen 2006 die politische Ent-wicklung im Gaza-Streifen bestimmt. DerenEinfluss und Zuständigkeiten haben sich überdie Jahre jedoch teils deutlich verändert.

Die Palästinensische Befreiungsorganisationwurde im Jahre 1964 auf dem Gipfel der Ara-bischen Liga als nationale Einigungsbewe-gung mit dem Ziel gegründet, die Schaffungeines eigenständigen Staates zu erreichen.Im Allgemeinen ist die PLO eine Dachorgani-sation für verschiedene palästinensischeGruppierungen, die bestimmte Bevölkerungs-gruppen repräsentieren und deren Vertretun-gen. Momentan sind elf palästinensischeParteien unter dem Dach der PLO vereinigt,deren wichtigste bzw. dominierende die Fatahist. Das wichtigste Organ der Palästinensi-schen Befreiungsorganisation ist das 18-köp-fige Exekutivkomitee, dessen Vorsitz derzeitMahmoud Abbas einnimmt. Die Mitglieder desExekutivkomitees werden vom Palästinensi-schen Nationalrat gewählt. Zusätzlich stehtdem Komitee seit 1991 der Zentralrat als be-ratendes Gremium zur Seite. Die Hauptauf-gabe des Exekutivkomitees besteht vor allemin der internationalen Repräsentation aller Pa-

Page 118: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Palästinensische Gebiete

Deutsches Orient-Institut 117

lästinenser unabhängig von deren Wohnortsowie die internationalen Friedensverhand-lungen. Insofern kann nur die PLO tatsächli-che Verhandlungen mit Israel oder anderenexternen Akteuren durchführen. Zum Zweckeder internationalen Repräsentation hat diePLO im Laufe der Jahre zahlreiche Vertretun-gen in verschiedenen Ländern eingerichtetund stellt seit 1974 einen Vertreter in den Ver-einten Nationen. In dem Vertretungsanspruchaller weltweit lebenden Palästinenser bestehtdas Alleinstellungsmerkmal der PLO gegenü-ber der PNA.

Das zweitwichtigste Organ der PLO ist derPalästinensische Nationalrat, der die legisla-tiven Aufgaben übernimmt, indem er Leitli-nien, Agenden und die rechtlichenRahmenbedingungen festlegt. Derzeit um-fasst der Nationalrat 740 Mitglieder und setztsich aus den 132 Abgeordneten des Palästi-nensischen Legislativrates der PNA, den Ver-tretern aller Untergruppierungen und Parteiensowie Vertretern der Diaspora zusammen.Obwohl die Hamas der PLO offiziell nie bei-getreten ist, kann diese 74 Vertreter in denNationalrat entsenden, die nach den Wahlenim Jahre 2006 dem Palästinensischen Legis-lativrat angehören. In der Praxis entzieht sichdie Hamas allerdings der direkten Mitarbeit inden Institutionen der PLO weitgehend. DerNationalrat wird in der Theorie von allen inden palästinensischen Gebieten sowie aller inder Diaspora lebenden Palästinenser ge-wählt; in der Praxis werden diese allerdings –auch auf Grund der schwierigen Umsetzungeiner solchen Wahl – von den einzelnen Par-teien und Untergruppierungen ernannt. In ein-zelnen Fällen ist es dem Vorsitzenden desExekutivkomitees möglich, selbst Abgeord-nete des Nationalrates zu ernennen. Theore-tisch ist es vorgesehen, dass der Nationalrateinmal im Jahr zusammenkommt. Das ge-schieht in der Praxis allerdings deutlich selte-ner und meist nur im Zusammenhang mitwichtigen Entscheidungen wie der Änderungder Palästinensischen Nationalcharta. Diewichtigsten Zusammenkünfte des Nationalra-tes waren zweifelsfrei 1993 zur Gründung derPalästinensischen Autonomiebehörde sowiedie Änderung der palästinensischen Natio-nalcharta im Jahre 1996, die die Passagenhinsichtlich des bewaffneten Kampfes gegenIsrael für ungültig erklärte und den bewaffne-ten Kampf zumindest in theoretischer Hinsichtoffiziell beendete sowie das Existenzrecht Is-raels formal anerkannte.

Neben der PLO spielt im politischen SystemPalästinas die 1994 im Rahmen der Verträgevon Oslo gegründete PNA eine zunehmendbedeutende Rolle. Im Gegensatz zur PLOkonzentriert sich die Reichweite der Machtder PNA auf die von den Palästinensern kon-trollierten Bereiche innerhalb der Palästinen-sischen Autonomiegebiete desWestjordanlandes und des Gaza-Streifens.Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass dieAutonomiebehörde nur einen Teil des West-jordanlandes kontrolliert. Dieses ist in dreiZonen A, B und C untergliedert, wobei nur dieZone A sowohl der zivilen als auch ihrer si-cherheitspolitischen Kontrolle unterliegt. Inder Zone B hat die PNA die zivile Aufsicht,während die israelischen Behörden allerdingsfür die sicherheitsrelevanten Bereiche verant-wortlich sind und die Zone C deren vollstän-diger Kontrolle unterliegt. Die internationaleBedeutung der PNA war bislang auf Grundder begrenzten Machtbefugnisse beschränkt,wobei aber vor allem die Bemühungen despalästinensischen Premierministers SalamFayyad quasi staatliche Strukturen zu schaf-fen, internationale Anerkennung fanden.Weite Bereiche der Außenpolitik und somitauch die Friedensverhandlungen blieben bis-her allerdings der PLO vorbehalten, die imAuftrag der PNA verhandelte und somit derenEinflussbereich begrenzte. Allerdings beste-hen seit einiger Zeit Bestrebungen, die Rolleder PNA zu stärken, welche im Zuge der fest-gefahrenen Verhandlungen zunehmend inFrage gestellt wird. In bestimmten Punkten,wie beispielsweise der Flüchtlingsfrage, wirdder PNA auf Grund der Beschränkung ihrerMachtbefugnisse auf das Westjordanland undGaza eine pragmatischere Rolle unterstellt,die aber bei weitem nicht als gegeben ange-nommen werden kann.

Die Struktur der Palästinensischen Autono-miebehörde weist eine gewisse Gewaltentei-lung in Exekutive, Legislative und Judikativeauf, wobei letztere noch einer weiteren For-malisierung unterliegt. Die Exekutive setztsich aus dem Präsidenten der PNA, der vonden im Westjordanland bzw. Gaza lebendenPalästinensern in allgemeiner, freier und di-rekter Wahl gewählt wird, dem Premierminis-ter und dem Ministerrat zusammen. DerPremierminister, dessen Posten seit 2007 derehemalige Vertreter des Internationalen Wäh-rungsfonds in Palästina Salam Fayyad inne-hat, wird vom Präsidenten der PNA ernannt.Dieser selbst wird anschließend mit der Re-

Page 119: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Palästinensische Gebiete

Deutsches Orient-Institut118

gierungsbildung beauftragt. Sowohl der Mi-nisterrat als auch der Premierminister sindvom Vertrauen des Palästinensischen Legis-lativrates (PLC) abhängig. Die Größe desPLC wurde im Jahre 2005 von 88 auf 132 Ab-geordnete angehoben, wobei die Abgeordne-ten entsprechend dem aktuellen Wahlgesetzdirekt von den Palästinensern gewählt wer-den. Die letzten Wahlen fanden am 25. Ja-nuar 2006 unter hoher Wahlbeteiligung stattund endeten mit einem deutlichen Sieg derHamas, die 74 Sitze gegenüber 45 Sitzen fürdie Fatah im Legislativrat gewinnen konnte.Die in mühseligen Verhandlungen im Februar2007 konstituierte und am 15. März einge-setzte Einheitsregierung aus Hamas undFatah zerbrach jedoch alsbald an internenSpannungen und internationalen Sanktionen,die in Folge der Regierungsbeteiligung derHamas und deren Ablehnung des Existenz-rechtes Israels verhängt wurden und denSpielraum der Regierung deutlich beschnittenhaben. In der Folgezeit kam es zu bewaffne-ten Kämpfen zwischen Anhängern der Hamasund der Fatah um die Kontrolle in den paläs-tinensischen Gebieten, die zu schweren bür-gerkriegsähnlichen Auseinandersetzungenvor allem in Gaza und auch im Westjordan-land führten. Im Juni 2007 konnte die Hamasschließlich die alleinige Kontrolle im Gaza-Streifen übernehmen und eine eigene Regie-rung etablieren, sodass man in derZwischenzeit mit einigem Recht von Drei-fachstrukturen hinsichtlich des palästinensi-schen politischen Systems sprechen kann.Die seitdem bestehende Spaltung im We-sentlichen zwischen Hamas und Fatah isteiner der Hauptgründe für die Unzufriedenheitder Palästinenser mit ihrer politischen Füh-rung. Der hieraus resultierende öffentlicheDruck, der durch die Entwicklungen inter aliain Tunesien und Ägypten noch verstärktwurde, veranlasste die beide Gruppierungenzur Unterzeichnung eines Versöhnungsab-kommens am 4. Mai 2011 in Kairo. Die Um-setzung der ohnehin wagen Beschlüsse istaber bisher keineswegs garantiert.

Obwohl die Organe der PalästinensischenAutonomiebehörde in der Theorie bereits einedemokratische Legitimation aufweisen, ge-staltet sich die Praxis erheblich schwieriger.Sowohl die Wahlen zum Legislativrat als auchkommunale Wahlen und nicht zuletzt die Prä-sidentschaftswahlen sind in jüngerer Vergan-genheit immer wieder verschoben odergänzlich abgesagt worden. Seitdem regieren

Präsident Abbas und Premierminister Fayyadper Dekret und auf umstrittener rechtlicherGrundlage. Das neuerlich unterzeichnete Ver-söhnungsabkommen zwischen Fatah undHamas soll nun den Weg für kommende Prä-sidentschaftswahlen sowie Wahlen zum Le-gislativrat frei machen, wobei dieSpannungen zwischen beiden Gruppierungennach wie vor schwer wiegen. Allerdings isteine weitere Annäherung zwischen Fatah undHamas notwendig, wenn die Entwicklung imWestjordanland und im Gaza-Streifen nichtweiter auseinander gehen soll. Um sich derinternationalen Unterstützung, vor allem sei-tens des Westens, zu versichern, wird es un-abdingbar sein, dass auch die Hamas dasExistenzrecht Israels anerkennt.

Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung inden palästinensischen Gebieten ist und warimmer sehr von der aktuellen politischen Lageabhängig gewesen. Die Gründe für das Aus-brechen der Ersten und Zweiten Intifada sindvielfältig und lassen sich nicht auf eine Ursa-che reduzieren. Allen voran stand das Haupt-ziel, den vollständigen Besatzungszustand inFolge des Sechs-Tage-Krieges im Jahre 1967zu beenden und einen eigenen palästinensi-schen Staat zu gründen. Von militärischen Ak-tionen und den gewaltsamen Entwicklungenüberschattet, wurden die zivilen Aktionen desWiderstandes gegen die Besatzung in denHintergrund gedrängt. Bis zu den Revolutio-nen in Nordafrika und verschiedenen arabi-schen Staaten, beginnend im Dezember2010, stellten die palästinensischen Volks-aufstände in den Jahren 1987 bis 1993 und inden Jahren von 2000 bis 2005 eine gewissesinguläre Erscheinung dar, die von den arabi-schen Staaten zwar verfolgt, aber seit demSechs-Tage-Krieg 1967 und dem Jom-Kippur-Krieg 1973 mehrheitlich passiv begleitet wur-den. Die Bewertung vor allem der ZweitenIntifada fällt unter den Palästinensern aberletztlich eher gemischt aus, da die militäri-schen Auseinandersetzungen zum einennicht zur Beendigung des Besatzungszustan-des führten und auf der anderen Seite füreinen beachtlichen Teil der Palästinenser, diezuvor u.a. in israelischen Siedlungen arbeite-ten oder von unternehmungslustigen Israelisprofitierten, die in Ramallah u.a. Städten desWestjordanlandes ausgingen, eine Ver-schlechterung der sozioökonomischen Situa-tion mit sich brachte. Dank der Stabilisierungder Lage in den palästinensischen Gebietenund der auf Gewaltverzicht ausgelegten Poli-

Page 120: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Palästinensische Gebiete

Deutsches Orient-Institut 119

tik von Palästinenserpräsident Abbas undPremierminister Salam Fayyad, dessen ober-stes Ziel seines Ende August 2009 vorge-stellten Planes die Etablierungquasi-staatlicher Strukturen ist, hat sich dieSituation in den letzten Jahren vor allem imWestjordanland positiv entwickelt, wobei ge-rade in den letzten Monaten verschiedeneZwischenfälle das Bild trübten.

Während die wirtschaftliche Entwicklung inGaza seit 2007 auf Grund der israelisch-ägyp-tischen Blockade1 und der militärischen Aus-einandersetzungen mit Israel stagniert odergar rückläufig ist, verzeichnet das Westjord-anland ein beachtliches wirtschaftlichesWachstum von etwa 8% im Jahre 2010. Vorallem in der Region in und um Ramallah istder Aufschwung deutlich sichtbar, indemHochhäuser gebaut und zahlreiche Cafés er-öffnet wurden, die bei westlichen Gästenguten Anklang finden. Ende des letzten Jah-res hat zudem das erste Fünf-Sterne-Hotelder Mövenpick-Gruppe in Ramallah eröffnet,das in gewisser Weise ein Zeichen setzenund weitere internationale Gäste und Inve-storen anlocken soll. Zusätzliche Investitionenin die öffentliche Infrastruktur und Ordnungsollen die positive Entwicklung absichern,allerdings ist die Wirtschaft im Westjordanlandnach wie vor sehr stark von internationalenHilfsgeldern und Investitionen abhängig. In-sofern kann trotz der positiven Entwicklungder letzten Jahre noch nicht von einem sichselbst tragenden Wirtschaftswachstum ge-sprochen werden, dessen Entwicklung durchisraelische Einfuhrrestriktionen erschwertwird. Ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachs-tum ist allerdings dringend erforderlich, umdas Problem der Arbeitslosigkeit vor allemunter den Jugendlichen in den Griff zu be-kommen. Vor allem im Gaza-Streifen sind dieZukunftsaussichten für junge Menschen nichtallzu positiv. Die allgemeine Arbeitslosigkeitsank im Zeitraum 2008 bis 2010 leicht von 41auf 38%, wobei die Jugendarbeitslosigkeitweiterhin jeden zweiten Jugendlichen (53%)betraf. Im Westjordanland zeichnet sich miteiner Verringerung der Arbeitslosenquote von19 auf 17% ein etwas positiveres Bild. Aller-dings ist die Jugendarbeitslosigkeit mit 26%

auch hier sehr hoch, zumal die inoffiziellenZahlen wohl noch höher sein dürften, da eingewichtiger Teil sozialer Lasten innerhalb derFamilien und nicht wie in Westeuropa ge-wöhnlich über das staatliche Wohlfahrtssys-tem getragen werden.2 Die Herausforderungder Jugendarbeitslosigkeit wird nochmalsdeutlich, wenn ein Blick auf den allgemeinenBevölkerungsaufbau geworfen wird. Das Me-dianalter liegt im Westjordanland bei 21,3Jahren3 und im Gaza-Streifen bei 17,7 Jah-ren4; d.h. dass 50% der gesamten Bevölke-rung jünger als 21,3 beziehungsweise 17,7Jahren sind, wodurch ein beträchtlicher de-mographischer Druck über die nächstenJahre entsteht, der das Potenzial für weitereProteste in sich trägt.

Neben sozioökonomischen und demographi-schen Faktoren sind es vor allem die Ver-handlungen im Rahmen desisraelisch-palästinensischen Friedensprozes-ses und der Antrag auf Anerkennung des pa-lästinensischen Staates in den Grenzen von1967 bei den Vereinten Nationen, die die wei-tere Entwicklung maßgeblich beeinflussenwerden.

II. Voraussetzungen für den Willen nachWandel

Die Voraussetzungen für den Willen nachWandel sind in den Palästinensischen Gebie-ten, wie in anderen Ländern auch, recht viel-fältig, wobei das Streben nach Demokratieund Freiheit nicht die oberste Priorität hat, dadiese vor allem im regionalen Vergleich be-reits vorhanden sind.

Eine Meinungsumfrage des Palestinian Cen-ter for Policy and Survey Research, die MitteMärz 2011 durchgeführt wurde, ergab, dass45% der Palästinenser als wichtigstes Ziel dieGründung eines eigenen Staates in denGrenzen von 1967 und damit die Beendigungdes israelischen Besatzungszustandes be-trachteten. Dem nachfolgend wurde als daszweitwichtigste Ziel die Lösung der Flücht-lingsfrage und deren Rückkehr in die Städteund Dörfer benannt, aus denen sie im Jahre1948 vertrieben worden waren. Damit wurden

1 Der Grenzübergang in Rafah wurde allerdings Ende Mai 2011 für den eingeschränkten Personenverkehrwieder geöffnet.

2 International Monetary Fund: Macroeconomic and Fiscal Framework for the West Bank and Gaza: Se-venth Review of Progress, Staff Report for the Meeting of the Ad Hoc Liaison Committee,http://www.imf.org/external/country/WBG/RR/2011/041311.pdf, abgerufen am 07.07.2011, S. 3ff.

3 Central Intelligence Agency: The World Factbook, Gaza Strip, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/gz.html, abgerufen am 15.08.2011.

4 Central Intelligence Agency: The World Factbook, Gaza Strip, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/gz.html, abgerufen am 15.08.2011.

Page 121: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Palästinensische Gebiete

Deutsches Orient-Institut120

gleich zwei Herausforderungen benannt, diezentrale Punkte des Nahost-Konflikts zwi-schen Palästinensern und Israelis bilden.Innenpolitische Faktoren wurden von einerMehrheit der Befragten erst an dritter Stelleals wichtige Probleme genannt. Hierbei wur-den vor allem die hohe Arbeitslosigkeit unddie Verbreitung von Armut als zentrale Punkteherausgestellt. Trotz zahlreicher innenpoliti-scher Herausforderungen ist es nicht dasvordergründige Ziel des palästinensischenVolkes, sowohl im Westjordanland als auch inGaza ihre eigene politische Führung abzulö-sen, sondern es erwartet vielmehr eine kon-krete Veränderung der Situation durch diepolitischen Repräsentanten.

Eine zentrale Voraussetzung für eine positivepolitische Entwicklung wird zudem in derpragmatischen Lösung des Konfliktes zwi-schen der im Gaza-Streifen regierendenHamas und der im Westjordanland dominie-renden Fatah gesehen. Die Spaltung beiderpalästinensischer Gebiete hatte sich im Nach-gang der Wahlen zum Palästinensischen Le-gislativrat im Januar 2006 vollzogen, die dieHamas mit deutlichem Vorsprung (74 zu 45Sitzen für die Fatah) gewann. Bereits im März2006 wurde die Hamas-Regierung eingesetztnachdem die Fatah ihre Beteiligung versagte.Daraufhin intensivierten sich die Spannungenzwischen beiden Gruppierungen, die in derFolgezeit zu verschiedenen gewaltsamenZwischenfällen führten. Nach mehr als ein-jährigen Verhandlungen konnte schließlicham 8. Februar 2007 eine Vereinbarung zurBildung einer Einheitsregierung unter Pre-mierminister Ismail Haniyeh (Hamas) verkün-det werden. Demnach sollte die Hamas in derneuen Regierung neun und die Fatah sechsMinister stellen. Die Bildung der Einheitsre-gierung unter Führung der Hamas wurde je-doch nicht nur von Israel, sondern auch vonden USA und den Staaten der EuropäischenUnion scharf kritisiert und abgelehnt. Als Re-aktionen darauf folgten die Einstellung derZahlungen von Hilfs- und Entwicklungsgel-dern sowie internationale Finanzsanktionen,wodurch die wirtschaftliche Lage deutlich ver-schärft wurde.

Eine längerfristige Existenz war der Einheits-regierung jedoch ohnehin nicht beschieden.Die Regierung wurde bereits am 14. Juni2007 aufgelöst. Palästinenserpräsident Mah-moud Abbas hob in der Folge am 17. Juni2007 eine Notstandsregierung unter Führung

von Premierminister Salam Fayyad ohne vor-herige Wahlen und auf umstrittener recht-licher Grundlage ins Amt. Dies bedeutete dieWiederaufnahme der Weiterleitung von Steu-ereinnahmen an die Palästinensische Auto-nomiebehörde von israelischer Seit sowie dieAufhebung von Sanktionen seitens der Euro-päischen Union und USA, aber auch die Tei-lung der palästinensischen Gebiete in denvon der Hamas kontrollierten Gaza-Streifen,während die Fatah die Kontrolle über dasWestjordanland sichern konnte. Seitdem hältdie Spaltung zwischen Fatah und Hamas an,obwohl mit dem Einheitsabkommen vom Mai2011 ein erneuter Schritt hin zur Bildung einerneuen Einheitsregierung und Neuwahlenunter dem Eindruck innenpolitischer und äu-ßerer Einflüsse im Rahmen des „ArabischenFrühlings“ unternommen worden ist.

Zweifelsfrei stehen die Palästinenser vor gro-ßen Herausforderungen, die sowohl aus demKonflikt mit Israel, der Spaltung zwischenFatah und Hamas sowie sozialen Problemla-gen herrühren und mit Sicherheit das Poten-zial einer Massenbewegung in sich tragen.Allerdings ist eine gemeinsame Stoßrichtungder palästinensischen Aktivitäten, die zu grö-ßeren Veränderungen führen könnte, im Mo-ment nicht auszumachen.

„Khaled Abu Toameh, ein palästinensi-

scher Journalist (...) erklärt das Pro-

blem wie folgt: ‘Falls und wenn die

Palästinenser zu revoltieren beginnen,

werden sie in alle Richtungen feuern:

gegen Fatah und Hamas, gegen Israel,

gegen die UN, die USA und andere

westliche Mächte sowie gegen die ara-

bischen Regime, denen sie vorhalten,

dass sie die Palästinenser in all den

Jahren alleingelassen haben.”5

Für die nahe Zukunft wird vor allem die Ab-stimmung im Sicherheitsrat und in der Gene-ralversammlung eine wichtige Rolle spielenund könnte die Protestbewegungen deutlichanfachen.

III. Akteure des Wandels und konkreteAuslöser

Bis zum Beginn der Massendemonstrationenin Tunesien waren es bis auf wenige Ausnah-men die Palästinenser, die vor allem in der Er-sten und Zweiten Intifada durch gewaltfreienund später auch massiven gewaltsamen Pro-

5 Cook, Jonathan: Palästina: Revolte zur Aussöhnung, Le Monde diplomatique, http://www.monde-diplo-matique.de/pm/2011/05/13.mondeText.artikel,a0010.idx,1, abgerufen am 21.08.2011.

Page 122: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Palästinensische Gebiete

Deutsches Orient-Institut 121

test ihren Willen nach einem Wandel zumAusdruck brachten. Während des „Arabi-schen Frühlings“ sind die Palästinenser er-staunlicher Weise nur sehr kurzzeitig in denFokus des Geschehnisse geraten und konn-ten die Dynamik der regionalen Entwicklun-gen bisher nicht für ihre Interessen nutzen.

Dennoch gab es sowohl im Westjordanlandund Gaza Demonstrationen, an denen sichHunderte und mitunter Tausende Palästinen-ser beteiligten. Am 15. März 2011 rief eineGruppe von jungen palästinensischen Stu-denten zu Massenprotesten auf und brachtemehrere Tausend Jugendliche auf die Straße,um ein Ende der Spaltung von Hamas undFatah, die die palästinensische Politik lähmt,zu fordern. Aus diesen Protesten ist die Be-wegung des 15. März hervorgegangen, diemit friedlichen Mitteln die eigene Situation zuverändern sucht. Größere Demonstration fan-den zudem am 15. Mai, dem so genannten„Nakba-Tag“6 und am 5. Juni, dem Beginn desSechs-Tage-Krieges (dem so genannten„Naksa-Tag“), statt. Vor allem in den Abend-stunden eskalierte die Lage in einigen Sei-tenstraßen nahe des israelischenKontrollpunkts in dem Flüchtlingslager Qal-andiya. Auch in anderen Städten des West-jordanlandes, wie Bethlehem, Nablus undHebron gingen einige Hundert Menschen aufdie Straße. Der Protest zielte allerdings weni-ger auf die Ablösung der amtierenden Regie-rung ab, obwohl diese auf umstrittenerrechtlicher Basis und eingeschränkter demo-kratischer Legitimation fußt, sondern vielmehrauf die Überwindung der Spaltung der paläs-tinensischen Parteien und ein Ende des Be-satzungszustandes.

Während in den größeren Städten im West-jordanland meist nur ein paar Tausend De-monstranten ihren Unmut öffentlich zumAusdruck brachten, sind in Gaza immerhin biszu 15.000 Menschen auf die Straße gegan-gen, um das Ende der Spaltung zwischenHamas und Fatah sowie ein Ende der Gaza-Blockade zu fordern. Weiterhin standen Soli-daritätsbekundungen mit den Protesten inÄgypten sowie der Protest gegen das Vorge-hen des syrischen Regimes gegen die De-monstranten auf der Agenda. Die meist überInternetplattformen wie Facebook oder Twit-ter arrangierten Kundgebungen wurden je-doch von den Sicherheitskräften zügigeingeschränkt oder gänzlich aufgelöst. DerProtest konzentrierte sich jedoch nicht nur auf

das Territorium der palästinensischen Gebieteselbst. Auch die palästinensischen Flüchtlingemachten vor allem durch mehrheitlich friedli-che Protestmärsche an den Grenzen des Li-banon und Syriens zu Israel auf ihre Situationaufmerksam und erinnerten an die Besetzungdes Westjordanlandes, Gazas und Ostjerusa-lems durch Israel im Zuge des Sechs-Tage-Krieges im Jahre 1967. Sowohl am 15. Maials auch am 5. Juni versammelten sich pa-lästinensische Demonstranten nahe derGrenze zu Israel. Bei dem teilweise geglück-ten Versuch, die Grenze zu überwinden,kamen mehrere Palästinenser ums Leben, alsisraelische Soldaten das Feuer eröffneten.Zudem wurden zahlreiche Palästinenser ver-letzt. Entgegen israelischer Stellungnahmenhandelt es sich im Besonderen bei derGrenze zu Syrien nicht um eine stark be-wachte Verteidigungslinie, sondern lediglichum eine lose Befestigung. Die Opfer desGrenzübertritts waren somit auch eine Folgeder israelischen Überforderung, mit dem fried-lichen Protest im Grenzgebiet umzugehen.Erst in der Folgezeit der ersten über das Inter-net arrangierten Demonstrationen wurde dieisraelische Armee auch an den Grenzen mitTränengas und Gummigeschossen ausge-rüstet. Insgesamt forderten die Proteste etwa15 Todesopfer.

Entgegen der Demonstrationen in Nordafrikasowie anderen arabischen Staaten richtetensich die Forderungen der palästinensischenFlüchtlinge nur indirekt an die eigene politi-sche Führung in Form der PLO, PNA undHamas, sondern in erster Linie auf die Lösungder palästinensischen Frage und die Beendi-gung des Besatzungszustandes. Allerdingsverspüren die Palästinenser auch eine stei-gende Unzufriedenheit mit ihrer eigenen Füh-rung, da diese in der Frage der Lösung desKonflikts mit Israel keine Erfolge vorzuweisenhat.

IV. Auswirkungen des „Arabischen Früh-lings“

Wie bereits kurz ausgeführt wurde, konntendie Palästinenser die Dynamik des „Arabi-schen Frühlings“ bisher nicht für ihre Interes-sen nutzen. Vielmehr scheint es, als wenn derFokus der Weltöffentlichkeit weiter von demeigentlichen Kernkonflikt des Nahen Ostensabgerückt ist. Dies mag zum einen mit dermehrheitlich auf friedlichen Protest ausge-richteten Politik sowie den politischen Prio-

6 Hierbei wurden mehrere Hunderttausend Palästinenser am Tag nach der Gründung des Staates Israel ausihren Dörfern vertrieben. Die Flüchtlingsfrage ist auch heute noch ein wichtiges Thema im Rahmen derSuche nach einer Lösung des Konfliktes mit Israel.

Page 123: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Palästinensische Gebiete

Deutsches Orient-Institut122

ritäten, die Palästinenserpräsident Abbas undPremierminister Fayyad selbst gesetzt haben,auf der anderen Seite aber auch mit der feh-lenden Geschlossenheit der Palästinenser,zusammenhängen.

Allerdings wirkt sich die Dynamik der aktuel-len Entwicklungen in der Region auch auf diepalästinensische Öffentlichkeit und deren po-litische Repräsentanten aus. Der Sturz desfrüheren ägyptischen Präsidenten Hosni Mu-barak sowie die Proteste in Syrien setzen diepalästinensische Führung sowohl im West-jordanland als auch im Gaza-Streifen unterDruck, da wichtige politische Verbündetestraucheln bzw. – wie im Falle Mubaraks – be-reits zum Rücktritt gezwungen wurden. LangeJahre konnte Palästinenserpräsident Abbasauf die politische Unterstützung Mubaraks,u.a. in der Auseinandersetzung mit derHamas zählen. Während der Sturz Mubaraksin Gaza gefeiert wurde, reagierte man imWestjordanland verständlicherweise mit ge-mischten Gefühlen. In der Bevölkerung domi-nierte die Freude mit dem ägyptischen Volk, inder Hoffnung, dass der Erfolg auf die palästi-nensischen Gebiete ausstrahlen könnte, wäh-rend auf politischer Seite ein wichtigerVerbündeter verloren ging und langfristig eineStärkung der Muslimbruderschaft befürchtetwird.

In Gaza verhält sich die Situation mit Blick aufdie syrischen Proteste ähnlich, schließlich ge-hört das Regime Assads zu einem der wich-tigsten Unterstützer der Hamas. Diekonkreten bisherigen Auswirkungen sind nochsehr schwer abzuschätzen, allerdings scheintdie Hamas, deren Exilführung mit Chaled Me-schal in Damaskus sitzt, von der Stabilität derLage nicht überzeugt zu sein und erwägt be-reits neue Optionen hinsichtlich der künftigenpolitischen Zusammenarbeit. In diesem Zu-sammenhang wird der Wechsel in der politi-schen Führung Ägyptens von Seiten derHamas begrüßt. Zudem setzt die Hamas aufeine Stärkung der Muslimbruderschaft, derenAbleger sie ist und in der sie einen potentiellmächtigen Verbündeten in Ägypten hat. Deröffentliche Druck im Nachbarland, die palästi-nensische Frage entschiedener zu unterstüt-zen, spielt zudem eine zunehmend wichtigeRolle. In der palästinensischen Bevölkerungin Gaza (und auch dem Westjordanland) regtsich der Unmut gegenüber dem gewaltsamenVorgehen des syrischen Regimes gegen die

eigene Bevölkerung. In mehreren Demon-strationen forderten Palästinenser ein Endeder Gewalt in Syrien, die jedoch von den Si-cherheitskräften der Hamas teils gewaltsambeendet worden sind.

Während die Situation in Syrien weiterhin un-klar bleibt, hat der Sturz des früheren ägypti-schen Präsidenten Mubarak für diePalästinenser in Gaza durchaus weitere posi-tive Auswirkungen, wenngleich die Langzeit-folgen noch nicht gänzlich abzuschätzen sind.Am 29. Mai 2011 verkündete die neue Über-gangsregierung in Kairo die Öffnung desGrenzübergangs in Rafah für bestimmte Per-sonengruppen. Die Schließung des Grenz-übergangs zum Gaza-Streifen inÜbereinstimmung mit der israelischen Blo-ckade des von der Hamas kontrollierten pa-lästinensischen Gebietes war in Ägyptenbereits unter Mubarak sehr unpopulär gewe-sen. Nach dem Sturz des früheren Präsiden-ten nahm der öffentliche Druck, denGrenzübergang zu öffnen und den Warenver-kehr für bestimmte Güter wieder aufzuneh-men, um die Lebenssituation derPalästinenser zu verbessern, deutlich zu. DieÖffnung gilt jedoch nur für den Personenver-kehr und in erster Linie für Frauen sowie Kin-dern unter 18 Jahren. Männer im Alter von 18bis 40 Jahren benötigen hingegen ein Visumfür die Einreise nach Ägypten. Auf dieseWeise soll der Grenzübertritt von militantenPalästinensern unter allen Umständen ver-hindert werden, wie die Übergangsregierungin Kairo verkündete. Der Warenverkehr ver-läuft hingegen weiter über die israelischenKontrollpunkte. Gerade die israelische Regie-rung befürchtet im Zuge der Öffnung eine Zu-nahme des Waffenschmuggels, der zu einererneuten Intensivierung des Konflikts imSüden Israels führen könne. Für die Hamasselbst dürfte die Bilanz der Öffnung desGrenzübergangs gemischt ausfallen, da diesemit dem Warenschmuggel durch die unter derGrenze verlaufenden Tunnel eine wichtigeEinnahmequelle besitzt, die nun an Bedeu-tung verlieren dürfte.

Obwohl der „Arabische Frühling“ bisher keineallzu weit reichenden Veränderungen in denpalästinensischen Gebieten auszulösen ver-mochte, zeichneten sich recht frühzeitig indi-rekte Folgen ab, die in dasVersöhnungsabkommen zwischen Fatah undHamas, das am 4. Mai 2011 in Kairo unter-

Page 124: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Palästinensische Gebiete

Deutsches Orient-Institut 123

zeichnet wurde, mündeten. Dieses Abkom-men stellt eine Reaktion der quasi-staatlichenAkteure in Reaktion auf die regionalen Ereig-nisse und die Demonstrationen in den paläs-tinensischen Gebieten selbst dar. DerGegenstand und die Hintergründe des Ab-kommens werden im folgenden Kapitel näherbeleuchtet.

V. Reaktion staatlicher Akteure

Sowohl Hamas als auch Fatah waren darumbemüht, die Demonstrationen im Gaza-Strei-fen und Westjordanland sowohl räumlich alsauch zeitlich zu begrenzen, wenngleich diemeisten Proteste nicht von vornherein unter-drückt worden sind. Allerdings zeigten sichbeide Gruppierungen sehr skeptisch gegenü-ber Ankündigungen von Demonstrationen ander israelischen Grenze am 5. Juni 2011, dadie Beziehungen zu Israel nicht weiter belas-tet werden sollten. Vor allem in den Abend-stunden, wenn internationale Journalistennicht mehr anwesend waren, kam es zu Ver-haftungen, und Demonstrationen wurden auf-gelöst.

Einer der wichtigsten Forderungen der paläs-tinensischen Bevölkerung sind Hamas undFatah bisher zumindest formal nachgekom-men. Am 4. Mai 2011 wurde in Kairo das Ver-söhnungsabkommen zwischen denrivalisierenden palästinensischen Gruppie-rungen unterzeichnet und beendete damitden seit 2006/2007 teils gewaltsamen Konfliktzwischen Fatah und Hamas. Das Abkommenwar im Wesentlichen eine Reaktion auf densteigenden öffentlichen Druck und die regio-nalen Ereignisse. Zudem bedeutet dieserSchritt einen ersten wichtigen außenpoliti-schen Erfolg für die neue Übergangsregie-rung in Ägypten. Die internationalenReaktionen waren sehr verhalten, wenngleichdas Abkommen nicht wie im Falle der Bildungder Einheitsregierung von Hamas und Fatahim Jahre 2007 sofort zurückgewiesen wurde.Vielmehr zeigten sich die internationalen Ak-teure vorsichtig und zurückhaltend. Diese Zu-rückhaltung ist mit Blick auf das Vereinbarteauch vollkommen angemessen, da die kon-krete Ausgestaltung und Umsetzung des Ab-kommens noch ungewiss sind.

Die Vereinbarungen beinhalteten vor allemAbsichtserklärungen hinsichtlich der Vorge-hensweise zur Bildung einer nationalen Ein-

heitsregierung und der Vorbereitung zurDurchführung von Präsidentschaftswahlensowie Wahlen zum Palästinensischen Legis-lativrat und dem Palästinensischen National-rat. Entgegen früherer Überlegungen sollendie Mitglieder der Wahlkommission, die Rich-ter des Wahlgerichtshofes und des Hohen Si-cherheitsausschusses in beiderseitigemEinverständnis gewählt werden. KonkreteVereinbarungen, wie die neue Übergangsre-gierung gebildet werden soll, wurden über dieAussage hinaus, dass diese sowohl aus un-abhängigen Politikern und Technokraten be-stehen solle, nicht getroffen. Dieangekündigten Wahlen sollen nun innerhalbeines Jahres durchgeführt werden, wobei einwesentlicher Teil der Beobachter diesen Zeit-plan als schwer realisierbar einschätzt. ErsteDiskussionen rief bereits die Frage nach demkünftigen palästinensischen Ministerpräsi-denten hervor. Während die Fatah unbeirrt anSalam Fayyad festhält, drängt die Hamas aufdessen Ablösung, wohl auch um bei der Ver-gabe weiterer wesentlicher Ministerien Zuge-ständnisse erlangen zu können. Fayyadgenießt international eine hohe Reputationund seine Ablösung hätte sicherlich nicht zuunterschätzende Auswirkungen auf die Ver-gabe internationaler Hilfsgelder und die Über-weisung von Steuergeldern von israelischerSeite an die Palästinensische Autonomiebe-hörde, die derzeit ohnehin große finanzielleHerausforderungen zu bewältigen hat. Ein ge-nereller Wandel in der Wahrnehmung der je-weils anderen Partei hat dabei nichtstattgefunden.

„Neither Fatah nor Hamas changed its

views of the other, and their mutual

mistrust did not somehow evaporate.

Rather, the accord was yet another un-

predictable manifestation of the Arab

Spring. To an extent, it sensitised the

two movements to the importance of

public opinion which, among Palestini-

ans, firmly favoured unity. Instead, what

made the difference were the strategic

shifts produced by the Arab uprisings.”7

Obwohl es sich bei der Einigung von Hamasund Fatah nicht um eine „Liebesheirat“ han-delt, bietet diese jedoch eine Grundlage fürweitere Gespräche. Die kommenden Monatewerden dabei zeigen, wie ernst beide Grup-pierungen an einer Versöhnung interessiertsind und ob es regionalen und internationa-

7 International Crisis Group: Palestinian Reconciliation: Plus Ça Change…, S. 1.

Page 125: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Palästinensische Gebiete

Deutsches Orient-Institut124

len Akteuren gelingt, diesen Prozess positivzu begleiten.

VI. Zukunftsszenarien

Ein Szenario für die kurz- bis mittelfristige Ent-wicklung in den palästinensischen Gebietenzu zeichnen, hängt von mehreren entschei-denden Faktoren ab. Einen wesentlichen Ein-fluss wird dabei der Ausgang der Abstimmungüber die Anerkennung Palästinas als Staat inden Vereinten Nationen haben. Die Erwar-tungen der Palästinenser hinsichtlich dieserAbstimmung sind sehr hoch, da die direktenVerhandlungen mit Israel, denen zumindesttheoretisch immer noch die Priorität einge-räumt wird, mittlerweile seit Monaten stillste-hen. Mit der Entscheidung, die Frage eineskünftigen palästinensischen Staates in denVereinten Nationen zu diskutieren, strebenAbbas und Fayyad eine Internationalisierungdes Konfliktes an. Der Ausgang der Abstim-mung ist bisher noch offen, da bis zum jetzi-gen Zeitpunkt nicht klar ist, welchen Statusdie Palästinenser tatsächlich erreichen wol-len. Einem Antrag auf Vollmitgliedschaft wer-den derzeit aber nicht allzu große Chancenauf Erfolg eingeräumt, da ein solcher an denUN-Sicherheitsrat weitergeleitet werden müs-ste. In einem solchen Falle haben die USAbereits angekündigt, ihr Veto einzulegen unddarüber hinaus mit der Kürzung von Hilfsgel-dern gedroht. Die Europäische Union ist der-zeit noch uneins über die gemeinsamePosition, die gerade noch abgestimmt wird.Neben einem Antrag auf Vollmitgliedschaftsteht den Palästinensern noch ein andererWeg offen, der zumindest eine Aufwertungdes bisherigen Status und die Möglichkeit desAntrages auf Aufnahme in weitere internatio-nale Organisationen ermöglichen würde. Die-sen Status als non-member state hat bisheute auch der Vatikan und bis zum Jahre2002 die Schweiz inne. Ein solcher Antragwürde auch eine Entscheidung des UN-Si-cherheitsrates obsolet machen, da eine De-facto-Anerkennung in der General-versammlung ausreicht.

Insgesamt sind die Erwartungen der Palästi-nenser an diese Abstimmung sehr hoch, nachdem führende Politiker im Westjordanlandden Gang vor die Vereinten Nationen als Aus-weg aus dem Stillstand der direkten Ver-handlungen mit Israel anpriesen. Insofern istein Rückzug von dieser Entscheidung fürAbbas keine wirkliche Option mehr, da er

massive Demonstrationen der eigenen Be-völkerung fürchten müsste. Selbst wenn derAntrag auf Vollmitgliedschaft die Zustimmungdes UN-Sicherheitsrates und der Generalver-sammlung erfahren würde, so stellt sich dieFrage, welche konkreten Veränderungen diesfür die palästinensischen Gebiete mit sichbringen würde. In erster Linie würde wohl derinternationale Druck auf Israel zunehmen:

„Dann nämlich, so würden wohl viele

argumentieren, würden die israelischen

Streitkräfte illegal einen ganzen souve-

ränen Staat besetzen – nicht nur einen

Teil eines Staates, wie im Fall der

Golan-Höhen.“8

Die Grundkonstanten des Konfliktes bliebenaber vorhanden, wobei weitere Verhandlun-gen zur Lösung dieser noch schwieriger zuwerden drohen. Ein anhaltender Stillstandtrotz der Anerkennung als Staat dürfte zudemin der palästinensischen Bevölkerung zurSteigerung des Unmutes führen, wodurch einRückschritt hin zu gewaltsamen Maßnahmennicht auszuschließen ist, um den Besat-zungszustand zu beenden. Der Schritt vor dieVereinten Nationen setzt vor allem Israel, dieVereinigten Staaten und die EU stark unterDruck, führt aber im Ganzen gesehen unab-hängig vom Ausgang der Abstimmung in denjeweiligen Gremien, die abhängig von derFormulierung des Antrages zu entscheidenhaben, nicht automatisch zur Lösung desKonfliktes und der Etablierung einer funktio-nierenden Zwei-Staaten-Lösung. Insofern bil-det die Abstimmung eine zusätzlicheUnbekannte für die kommenden Monate, daweitere Demonstrationen bis hin zu gewalt-samen Ausschreitungen als nicht unwahr-scheinlich angesehen werden.

Die künftige Entwicklung in den palästinensi-schen Gebieten sollte aber nicht einseitig vonder Entscheidung in den Gremien der Verein-ten Nationen abhängig gemacht werden. Wei-tere wichtige Einflussfaktoren sind vor allemdie weiteren Schritte zur Aussöhnung zwi-schen Fatah und Hamas sowie die erfolgrei-che Durchführung von Wahlen binnenJahresfrist, um eine weitere divergente Ent-wicklung zwischen Gaza-Streifen und West-jordanland zu verhindern. Insofern liegt dieHauptverantwortung weiter bei den politi-schen Führern von Fatah und Hamas auf dereinen sowie Israels und der internationalenGemeinschaft auf der anderen Seite. Die Ab-

8 Rid, Thomas: Palästina, und was dann? Internationale Politik, http://www.internationalepolitik.de/wp-con-tent/uploads/2011/05/5_2011_Rid-Palaestina.pdf , abgerufen am 26.07.2011, S. 2.

Page 126: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Palästinensische Gebiete

Deutsches Orient-Institut 125

stimmung in den Vereinten Nationen kannden Palästinensern helfen, den Druck auf Is-rael zu erhöhen und einen höheren Status inder UN zu erreichen. Verhandlungen und dieSuche nach einer für alle Seiten akzeptablenKonfliktlösung kann diese nicht ersetzen.Zentral wird dabei sein, ob es den politischenFührungspersonen gelingt, das palästinensi-sche Volk in ihre Überlegungen und Vor-schläge einzubeziehen. Sollte dies nicht

passieren, so sind weitere Demonstrationen,die sich dann verstärkt auch gegen die eige-nen Repräsentanten richten, wohl nicht zuvermeiden. Die Palästinenser spüren natür-lich die Dynamik der Region und es wäre wohlnur eine Frage der Zeit, bis sie diese auch fürdie eigenen Interessen zu nutzen beginnen.

Matthias Canzler

VII. Literaturangaben

ALPHER, YOSSI: Palästina? Ja bitte! Warum eine UN-Anerkennung Israel nutzen könnte, Internationale Politik, http://www.internationalepolitik.de/2011/06/24/palastina-ja-bitte/, abgerufen am 26.07.2011.

BRÖNING, MICHAEL: The Politics of Change in Palestine. State-Building and Non-Violent Resistance, New York 2011.

DANE, FELIX, KNOCHA, JÖRG: Palestine 194, Konrad-Adenauer-Stiftung, http://www.kas.de/wf/doc/kas_28697-1522-1-30.pdf?110906173435, abgerufen am 09.09.2011.

DIES.: Zwischen UNO und INTIFADA: Ein unruhiger September in den Palästinensischen Gebieten? Konrad-Adenauer-Stiftung, http://www.kas.de/wf/doc/kas_23257-1522-1-30.pdf?110705140430, abgerufen am 25.07.2011.

DANE, FELIX, STETTNER, ILONA-MARGARITA: Ein Staat Palästina in den Vereinten Nationen? Voraussetzungen, Positionen und Erwartungen vor der VN-Generalversammlung, in: KAS Auslandsinformationen 8/2011, S. 53-72.

GRESH, ALAIN: Israel-Palästina. Hintergründe eines Konflikts, Zürich 2007.

INTERNATIONAL CRISIS GROUP: Palestinian Reconciliation: Plus Ça Change…, http://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/Full_Report_1777.pdf, abgerufen am 12.08.2011.

DIES.: Curb Your Enthusiasm: Israel and Palestine After the UN, Middle East Report N°112, 12. September 2011 ,

KONRAD-ADENAUER-STIFTUNG: Palestine Liberation Organization (PLO), http://www.kas.de/wf/doc/kas_2041-1442-1-30.pdf?101018163243, abgerufen am 07.07.2011.

DIES.: Palestinian National Authority (PNA), http://www.kas.de/wf/doc/kas_2042-1442-1-30.pdf?101018163504, abgerufen am 07.07.2011.

MÜTZENICH, ROLF: Palästinensischer Frühling oder Politische Totgeburt? http://www.rolfmuetzenich.de/_pdf/Infodienst2011.pdf, abgerufen am 12.07.2011.

O.A.: Text Of The Agreement Between Fatah And Hamas, http://www.fmep.org/analysis/analy-sis/text-of-the-agreement-between-fatah-and-hamas, abgerufen am 07.07.2011.

RID, THOMAS: Palästina, und was dann? Internationale Politik, http://www.internationalepolitik.de/wp-content/uploads/2011/05/5_2011_Rid-Palaestina.pdf , abgerufen am 26.07.2011.

TAMIMI, AZZAM: Hamas. Unwritten Chapters, New and Updated Edition, London 2009.

Page 127: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Saudi-Arabien

Deutsches Orient-Institut 126

1 CIA – The World Factbook.2 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.3 CIA – The World Factbook.4 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.5 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.6 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators,

http://www..hdr.undp.org/en/data/profiles/7 World Bank, Population Growth Rate, Middle East and North Africa, http://www.worldbank.org/depweb/english/mod-

ules/social/pgr/datamide.html.8 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN.9 CIA – The World Factbook.10 CIA – The World Factbook. 11 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.12 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.13 The World Bank GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG; In-

ternational Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, S. 183,http://www..imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf.

14 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Develop-ment Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html.

15 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm.16 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia, http://www.imf.org/exter-

nal/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf.17 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/sovereigns/ratings-

list/en/us?sectorName=null&subSectorCode=39&filter=S.18 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,

http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 19 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection:

Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators,http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/.

20 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf.

21 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://www.info.worldbank.org/gover-nance/wgi/sc_chart.asp.

22 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_in-dices/cpi/2010.

Landesdaten Saudi-Arabien

Fläche1 2011 2.149.690 km²

Bevölkerung2 2011 27,89 Mio.

Bevölkerungsdichte (pro km²) 2010 12,3

Ethnische Gruppen 2010 90% Araber, 10% Asiaten und Afrikaner

Religionszugehörigkeit 201073% wahhabitisch-sunnitischer Islam, 12% sunnitischer Islam, 10-15% schiitischer Islam

Durchschnittsalter3 2010 25,3

Bevölkerung unter 15 Jahren4 2011 31%

Bevölkerung über 65 Jahren5 2011 3%

Lebenserwartung6 2010 73,3

Bevölkerungsprognose bis 20507 2011 43.700.000

Geburten pro Frau8 2009 3,0

Alphabetisierungsrate9 2010 85%

Mobiltelefone10 2009 44,86 Mio.

Nutzer Internet11 2009 11,40 Mio.

Nutzer Facebook12 2011 4,034 Mio.

Wachstum BIP13 2011 7,5%

BIP pro Kopf 14 2010 24.208 USD

Arbeitslosigkeit15 2010 10,8%

Inflation16 2011 6,0%

S&P-Rating17 2011 AA-

Human Development Index18 2010 Rang 55 (von 169)

Bildungsniveau19 2010 Rang 78 (von 177)

Bildungsniveau der Frauen (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)20

2010 50,3%

Politische Teilhabe21 2010 3,8%

Korruptionsindex22 2010 Rang 50 (von 178)

Page 128: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Saudi-Arabien

Deutsches Orient-Institut127

Saudi-Arabien

Saudi-Arabien gilt als weitgehend sta-

bil, aber auch im ressourcenreichen

Königreich existieren Spannungen

und innere Konfliktlinien, die das Königs-

haus vor Herausforderungen stellen. Der-

zeit geriert sich Saudi-Arabien als Vorreiter

der islamisch-konservativen, anti-revolu-

tionären Strömung.

I. Politisches System und gesellschaftli-

che Entwicklungen

Saudi-Arabien wird bis heute geprägt durchdas quasi-symbiotische Bündnis zwischendem saudischen Königshaus, der Al Saud,und den ulama, den wahhabitischen Reli-gionsgelehrten. Diese Allianz geht zurück aufden Pakt zweier Männer aus dem Jahr1744/45 in einer abgelegenen Oase der heu-tigen saudischen Provinz Najd. Einer dieserMänner, Muhammad Ibn Abd al-Wahhab warseinerzeit ein puristischer, streng konservati-ver aber eher unbedeutender Pre-diger, derdie Gesellschaft, in der er lebte, als unisla-misch, verdorben, sündhaft und unmoralischwahrnahm. Er predigte einen orthodoxen,konservativen und überaus exklusiven Islam,der sich nicht nur gegen Nichtmuslime ab-grenzte, sondern alle als „ungläubig“ denun-zierte, die der strengen Auslegung derWahhabiya, wie die Islamauslegung nach Abdal-Wahhab genannt wird, nicht folgten, siemissachteten oder ablehnten. Seine strengenLehren verboten Musik und Tanz ebenso wiedie Verehrung islamischer Heiliger an Grä-bern oder Gedenkstätten. Stattdessen for-derte er die vollkommene Hinwendung zuGott, proklamierte die Frühzeit des Islams unddas Leben des Propheten Muhammads alsnachahmungspflichtig und lehnte die Lebens-weise seiner Umgebung als „apostatisch“,„unmoralisch“ und „verdorben“ ab. Ziel seinerMission war es, die Abtrünnigen auf den rech-ten Weg zurückzuführen, sie von ihren Sün-den zu reinigen.

Die „Einheit Gottes“ (arabisch: tawhid) wurdezu seinem ideologischen Dogma, die radikaleAblehnung von polytheistischen Tendenzen(arabisch: shirk) folgte als Konsequenz. SeineLehre griff vor allem die Schiiten an, die seinerMeinung nach vom rechten Glauben abgefal-

len waren. All dies ließ Ibn Abd al-Wahhabschnell zum Außenseiter in einer tribal und fa-miliär geprägten Beduinengesellschaft wer-den. Seine Lehren wurden beargwöhnt, ergalt als Radikaler, der grundlos den Statusquo ändern wollte. Er benötigte Unterstützerund fand mit dem Herrscher einer kleinenOase, Muhammad Ibn Saud, einen strategi-schen Partner, der ihn politisch und militärischunterstützte. Gleichzeitig erhielt Ibn Saud re-ligiöse und ideologische Legitimation für seineEroberungszüge, sodass eine religiös-weltli-che Win-Win-Situation entstand: Innerhalbweniger Jahre wurden der Najd und der Hijazerobert und 1805 fielen die beiden HeiligenStätten Mekka und Medina in die Hände derwahhabitisch-saudischen Eroberer. Dies er-höhte sprunghaft ihren politischen sowie reli-giösen Einfluss.

Trotzdem geriet die Allianz immer wiederunter enormen Druck: In- und externe Rivalenbedrohten die Herrschaft der Familie Al Saud,sodass sie ihren Machtbereich mehrmals auf-geben mussten. Der erste saudische Staat(1744/45-1818) wurde ebenso zerschlagenwie dessen Nachfolger (1824-1891). Dochobwohl es schien, als bliebe die saudisch-wahhabitische Allianz nur eine Randnotiz derarabischen Geschichte, gelang es einemNachkommen Muhammads, Abdulaziz binSaud, Anfang des 20. Jahrhunderts mit weni-gen Mitstreitern Riad zu erobern. Es folgtender Hijaz, 1925 auch Mekka und Medina.Doch im Gegensatz zu seinen Vorgängernkonnte der neue Herrscher diesmal seinenEinflussbereich konsolidieren: Anstatt die Ex-pansion zu überdehnen ging er schrittweisevor, knüpfte Interessensnetzwerke mit den lo-kalen Händlern und stützte sich weiterhin aufdie religiöse Legitimationsbasis der Wahhabi-ten. Gleichzeitig versuchte er, die mächtigenBeduinenstämme zu kontrollieren und in dieSesshaftigkeit zu zwingen.1

Die Macht lag bei den Beduinen; die unter-warf Ibn Saud, indem er sie in seine Allianz in-tegrierte, ihnen militärische Befugnisseerteilte und sie so zur schlagkräftigsten Er-oberungstruppe Ibn Sauds aufstiegen. DieseBeduinenverbände, Ikhwan genannt (ara-bisch für: „Brüder im Geiste“), siedelten sich inso genannten hujar (Singular: hijra) an.2 Vondiesen hujar operierten die Ikhwan als militä-

1 Die arabische Halbinsel zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dominiert von einflussreichen tribalenVerbänden, die als Nomaden Land- und Viehwirtschaft sowie Ackerbau betrieben. Urbane Zentren exis-tierten kaum, das heutige Saudi-Arabien lag damals an der verlassenen Peripherie des OsmanischenReiches. Während Städte wie Kairo oder Istanbul zu modernen Metropolen heranwuchsen, blieb Riad bisweit in die 1950er Jahre hinein ein eher verschlafenes Wüstendorf.

2 Die Namensgebung dieser Siedlungen erinnerte bewusst an den Auszug des Propheten Muhammadsvon Mekka nach Medina im Jahr 622, welches den Beginn der islamischen Zeitrechnung markiert.

Page 129: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Saudi-Arabien

Deutsches Orient-Institut 128

rische „Sondereinheiten“ und unterstandendem direkten Befehl Ibn Sauds. Ihre brutaleVehemenz wurde legendär, sie galten als fa-natische Gotteskrieger, die im Namen desWahhabismus „Ungläubige“ verfolgten. Danndrangen die Ikhwan jedoch auf transjordani-sches und damit britisches Mandatsgebiet vor– eine Situation, die die fragile innere Stabi-lität des jungen saudischen Staates bedrohte.Ibn Saud musste aus realpolitischen Gründenden Ikhwan Einhalt gebieten, obwohl er ihreMotive bis zu einem gewissen Grad nachvoll-ziehen konnte. Als politischer Akteur stellte erdie Sicherheit und Stabilität seiner Territorienaber über die ideologisch-religiöse Erobe-rung. In der Schlacht von Sabila 1929 ließ erdie Ikhwan daraufhin zerschlagen; sie hattenihren Zweck erfüllt und wurden nicht längergebraucht.

Dieses historische Beispiel zeigt deutlich, wiefunktional das saudisch-wahhabitische Bünd-nis handelt und wie transformations- undüberlebensfähig es sich geriert: Religion wirdfür die Al Saud dann zum Mittel zum Zweck,wenn sie sich für politische, oftmals pragma-tische Absichten einsetzen lässt. DieInstrumentalisierung der Ikhwan, ihre wahha-bitische Indoktrinierung und die abschlie-ßende Zerschlagung können als Muster, alseine Art Blaupause gelten, wie eng, aber auchambivalent wahhabitischer Glauben und sau-dische Politik miteinander koalieren oder kol-lidieren. Exemplarisch für die Geschichte desmodernen Saudi-Arabiens ist auch das Er-gebnis dieses Konflikts: Ibn Saud setzte seineInteressen durch, obsiegte über den religiö-sen Eifer und die ideologischen Motive.

Wie damals, kam es in den letzten 80 Jahrender saudischen Geschichte immer wieder zuSpannungen, sogar zu existenziellen Ausein-andersetzungen zwischen der religiösen Eliteund dem Königshaus, sodass diese Allianzkeineswegs als harmonische Einheit gesehenwerden kann. Allerdings: Am Ende jedes Kon-flikts wurde ein Kompromiss gefunden, dereinerseits die religiöse Autorität der ulama

weitgehend bewahrte, bei dem andererseitsaber das Königshaus seine politischen Zieledurchsetzte. Dies galt vor allem für die innen-politisch äußerst brisante und kontrovers dis-kutierte Stationierung von US-Truppen aufsaudi-arabischem Territorium während der In-vasion Kuwaits durch den von Saddam Hus-sein regierten Irak 1990. Sicherheitskalkül,das Bedrohungsszenario durch den das Kö-

nigreich bedrohenden Irak und das Miss-trauen in das eigene Militär führten zu dieserEntscheidung, die für viele religiöse Gelehrteinakzeptabel war. Saudi-Arabien als „Füh-rungsmacht“ der weltweiten sunnitisch-musli-mischen Gemeinde, als „Hüter der beidenHeiligen Stätten“ Mekka und Medina dürfekeine „ungläubigen Fremden“ zum Schutzstationieren, so die Kritik. Was folgte, war einMusterbeispiel für die gegenseitige Abhängig-keit des Königshauses und der hochrangigenwahhabitischen Gelehrten: Der engste Zirkelder wahhabitischen ulama verfasste eineFatwa, die die Anwesenheit von US-amerika-nischen Truppen legitimierte. Erneut hattesich realpolitisches Kalkül gegenüber religiö-sen Argumenten durchgesetzt.

Während so die Bedeutung des Königshau-ses in den letzten Jahrzehnten deutlich an-stieg, verringerte sich gleichzeitig der Einflussder Religionsgelehrten, sodass sie oftmals alswillfährige Erfüllungsgehilfen der Al Saudbezeichnet werden. Gleichzeitig ist das Kö-nigshaus weiterhin auf die religiöse Rücken-deckung angewiesen, sodass sich einspezielles, verworrenes und intransparentesBeziehungsgeflecht entwickelt hat, das daraufberuht, ohne einander die eigene Machtposi-tion nicht behaupten zu können.

Und so hat die Allianz aus Al Saud und ulamabis heute als Bollwerk gegen äußere und in-nere, religiöse und weltliche, radikale und ge-mäßigte Kritik und Opposition überdauert undsich immer wieder neu erfunden. Die Flexibi-lität bei realpolitischen Erwägungen und dasWissen um die gegenseitige Abhängigkeithaben zu einer Stabilität des politischen Sys-tems geführt, dass auch in Zeiten des „Arabi-schen Frühlings” bislang nur marginal unterDruck geraten ist.

Saudi-Arabien ist eine absolute Monarchie,und die Königsfamilie, bestehend aus 5.000-8.000 Mitgliedern, kontrolliert die politischenund wirtschaftlichen Geschicke. Ihr Einflussreicht in jede entlegene Region des Landes,die wichtigsten Positionen in Staatsverwal-tung, Erziehungs- und Bildungswesen, Si-cherheitsapparat, Wirtschaft und Kulturwerden durch Prinzen der Al Saud besetzt.Kurz: Der saudische Staat wird als Familien-unternehmen geführt. Der König, seit 2005Abdullah bin Abd al-Aziz Al Saud, ist die wich-tigste und höchste Autorität des Staates undder Patriarch. Legislative, Exekutive und Judi-

Page 130: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Saudi-Arabien

Deutsches Orient-Institut129

kative liegen im Verantwortungsbereich desMonarchen. Seine Aufgabe ist es, innerenFrieden zu sichern, die nationale Einheitanzustreben, Konflikte zu lösen und zuvermeiden.

Zwar wurden einige Versuche unternommen,die personalisierte Hierarchie zu institutionali-sieren, was zur Einrichtung des Ministerrates(arabisch: Majlis al-Wuzara’) bereits im Jahr19533 und des Konsultativrates (arabisch:Majlis ash-Shura) 1993 führte4. Aber die reineBeratungsfunktion dieser Gremien verändertdas Machtgefüge im politischen System nurmarginal, da dem König auch weiterhin dieEntscheidungsgewalt zufällt. Doch immerhinöffnete sich das Königshaus vor allem durchdie Gründung des Konsultativrates und ließandere soziale Akteure am politischen Ent-scheidungsprozess zumindest pro forma

partizipieren. Hierbei bleibt der Beratungs-charakter evident: „Beratung“ (arabisch:shura) gehört als klassisch-islamisches Prin-zip zu den religiösen und gesellschaftlichenTraditionen des Landes und spiegelt sich inder partiellen Integration verschiedener Inter-essensgruppen in den politischen Gremienwider. Trotzdem findet hier zwar nicht selteneine lebhafte Debatte statt, demokratischeMehrheitsbeschlüsse jedoch nicht. Die end-gültige Entscheidungsgewalt kommt dem Kö-nig und seinem nahen Umfeld, dem „innerenKreis“ zu, der allein engsten Familienangehö-rigen vorbehalten bleibt. Der Aufstieg in diehöchsten Positionen des Staates als Nichtmit-glied der saudischen Königsfamilie ist alsonur möglich, wenn man Teil der engen elitärenEntourage und des Patronagenetzwerks ist,das sich die Al Saud aufgebaut haben. Diesefunktionale Kohärenz kombiniert mit der Alli-anz mit der religiösen Elite waren bisher zweiwesentliche Voraussetzungen für die Stabilitätdes Systems.

Dritter wesentlicher Aspekt sind die enormenwirtschaftlichen und finanziellen Ressourcen,über die Saudi-Arabien verfügt. Das Land be-sitzt etwa ein Viertel der weltweiten Rohölre-serven, insgesamt etwa 264 Mrd. Barrel. Diesgarantiert seit Jahrzehnten Staatseinnahmenin Milliardenhöhe. Allein 2010 wurden durchdas Öl Einnahmen in Höhe von 165 Mrd. USD

erzielt. 70% der gesamten Staatsteinnahmengenerieren sich durch das Erdöl. Als Folgekonnte der saudische Staat seinen Unterta-nen kostenlos weit reichende Sozialleistun-gen zur Verfügung stellen. Als „Rentierstaat“klassischer Prägung vermittelte der Staatjahrzehntelang den Eindruck, diese „Vollkas-koversorgung“ erfolge quasi selbstverständ-lich. Allein zwischen 2001 und 2005 erhöhtesich das BIP pro Kopf von 8.682 USD auf13.603 USD und damit fast um das Doppelte.Im Jahr 2010 liegt es bei 24.208 USD. Hinzukamen Steuerbefreiung, freie Wasser- undStromnutzung, die weitgehende Bereitstel-lung von Dienstleistungen im Gesundheits-oder Bildungsbereich sowie üppige Staatssa-läre. Durch das Öl gelang es Saudi-Arabien,sich von einem unbedeutenden Wüstenlandzu einer prosperierenden, wohlhabenden,modernen Regionalmacht zu transformieren.Gleichzeitig erkaufte sich die Al Saud die Zu-friedenheit der Bevölkerung, indem wirtschaft-liche Ressourcen verteilt wurden und derWohlstand des Einzelnen kontinuierlich stieg.

Neben diesen segenreichen Auswirkungendes Ölreichtums zeigte sich jedoch in der Ver-gangenheit immer stärker auch der Fluch desÖls: Immerhin ist Saudi-Arabien wie kein an-deres Land der Welt abhängig von den Ölein-nahmen und damit auch vom internationalenÖlpreis und dessen zyklischer Entwicklung.Sinkt der internationale Ölpreis wie in politi-schen oder wirtschaftlichen Krisen, sinkenauch die Einnahmen für das Königshaus, wassich gleichzeitig direkt auf die Versorgungs-mentalität des Staates und damit auf dieBevölkerung auswirkt. Dies kann zu Negativ-spiralen führen, die Saudi-Arabiens sozioöko-nomische Stabilität mit voller Wucht treffenkönnen. Darum versucht das saudische Kö-nigshaus, in den letzten Jahren seineWirtschaft zu diversifizieren. Milliardeninvesti-tionen in den Bildungssektor, eine umfassendangelegte „Saudisierungskampagne“, derAusbau der ölunabhängigen Industrien, einevorsichtige Annäherung an ErneuerbareEnergien und Aufklärungskampagnen hin-sichtlich Energieeffizienz sind nur einige Bei-spiele für diese Wirtschaftsreformen. DerErfolg steht jedoch noch aus: Das Land bleibtauch in Zukunft auf das Öl angewiesen. Das

3 Der Ministerrat wurde von König Abdulaziz gegründet und soll den König beraten sowie politische Richt-linien festlegen. In seiner Eigenschaft als Premierminister sitzt der jeweilige König dem Gremium vor, dasaus dem Kronprinzen, dem stellvertretenden Kronprinzen, 22 Fachministern und sieben Staatsministernbesteht. Legislative Befugnisse darf der Ministerrat nicht ausüben, er fungiert allein als beratendes Gre-mium.

4 Auch der Konsultativrat darf nur beraten. Er soll dem König mit „gutem Rat“ (arabisch: nasiha) beiseitestehen. Ursprünglich mit 60 Mitgliedern gegründet, umfasst er heute 150. Zu ihnen gehören auch sozialeAkteure, die nicht der Königsfamilie angehören, z.B. aus der Regionalverwaltung, der Wirtschaft, Geist-lichkeit und der Administration.

Page 131: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Saudi-Arabien

Deutsches Orient-Institut 130

liegt auch daran, dass weite Teile der Gesell-schaft und der politischen Elite die Endlichkeitdes Öls schlichtweg negieren. Immerhingehen Prognosen davon aus, dass sich dieRessourcen in 30 Jahren erschöpft habenkönnten, doch das scheint in Saudi-Arabieneine Minderheitenmeinung zu sein: Mindes-tens 100 Jahre reiche das Öl noch, so der all-gemeingültige Tenor. Bis dahin könne alsoalles so bleiben wie bisher.

Die Gesellschaft Saudi-Arabiens wird dem-nach durch diese drei Faktoren bestimmt:Zum ersten durch die starke Allianz zwischenKönigshaus und Religionsgelehrten. Zumzweiten durch die überragende Bedeutungder Al Saud als omnipräsenter gesellschaft-licher Akteur in Politik, Kultur und Wirtschaftund zum dritten durch die Abhängigkeit vomÖl. All diese Faktoren dominieren öffentlichesund privates Leben in vielerlei Aspekten, re-geln den Alltag und sind Form der nationalenIdentität.

II. Voraussetzungen für den Willen nach

Wandel

Durch die überragende Bedeutung des Kö-nigshauses erscheint Saudi-Arabiens Gesell-schaft von außen als monolithischer Block,der widerspruchslos die Herrschaft der AlSaud akzeptiert. Politische Diskussionskultur,lebendige Kontroversen oder Fundamental-kritik an herrschenden politischen wiewirtschaftlichen Zuständen scheinen in Saudi-Arabien nicht zu existieren. Es mutet so an,als fänden Opposition gegen oder Legitima-tionsdruck auf das Königshaus und die beste-henden Umstände genauso wenig statt.Stattdessen wird die saudi-arabische Gesell-schaft als demokratieunfähig, starr, undyna-misch und träge wahrgenommen. DieBevölkerung fordere weder Mitspracherechte,politische Partizipation noch gesellschaft-lichen Wandel und geistigen Fortschritt.

Jedoch werden diese pauschalisierendenPerzeptionen dem vielschichtigen und oftmalsambivalenten Transformationsprozess inner-halb der saudi-arabischen Gesellschaft nichtgerecht. So ist Opposition in Saudi-Arabienseit Jahrzehnten integraler Bestandteil der po-litischen Kultur – trotz des Parteienverbots,trotz fehlender demokratischer Strukturen,trotz der überragenden Bedeutung des Kö-nigshauses. Traumatischer Ausbruch dieseroppositionellen Kräfte war die Besetzung der

Großen Moschee in Mekka zur Zeit der Pil-gerfahrt 1979 durch eine Gruppe um Juhay-man al-Utaibi, Nachfahre der bereitserwähnten Ikhwan. Mit Waffengewalt ver-schanzte er sich in einer der heiligsten Stättendes Islams, forderte die Rückbesinnung aufden „wahren Islam“, prangerte über Lautspre-cher die moralische Verderbtheit, Dekadenzund Abhängigkeit vom Westen an und be-schuldigte den damaligen König Khalid (reg.1975-1982) der Korruption. Damit rekurrierteer auf die 1929 zerschlagenen Ikhwan-Ver-bände und proklamierte die Niederkunft desMahdis, des endzeitlichen Erlösers, derSaudi-Arabien von allem Übel befreienwerde.5Mit Hilfe französischer Spezialeinhei-ten wurde die Besetzung aufgelöst, diemeisten Geiselnehmer starben beim Verteidi-gungskampf in den unterirdischen Gewölbender Moschee oder wurden im Nachhinein hin-gerichtet. Auch wenn es bei einer historischenEpisode blieb – für das Königshaus wurdedieses Ereignis zu einem identitätsbedrohen-den Trauma. Immerhin wurde das sich strengreligiös gerierende Königshaus zum erstenMal mit islamistischer Opposition konfrontiert– und das in dem Jahr der Islamischen Revo-lution in Iran. Was folgte, war die Ausweitungdes wahhabitischen Einflusses auf die Ge-sellschaft, die finanzielle, ideologische und lo-gistische Unterstützung von islamistischenGruppierungen im Ausland (wie z. B. in Afgha-nistan gegen die Invasion der Sowjetunion)sowie intensivere Verteilungspolitik. Saudi-Arabien stellte sich als „Leuchtturm des sun-nitischen Islams“ dar. So wurden 1986 allein16.000 aller 100.000 Studierenden in Saudi-Arabien in islamischen Studien ausgebildet,viele zogen nach Afghanistan, um im jihadgegen die „ungläubigen“ Sowjets zu kämpfenund schlossen sich dort u. a. Usama bin La-dins Al-Qaida an, was für Saudi-Arabien einewillkommene Möglichkeit war, die aufstre-bende islamistische Opposition im eigenenLand loszuwerden.

Dies schlug allerdings langfristig fehl, dennAnfang der 1990er Jahre, nach dem Fall derSowjetunion und dem Kriegsende in Afghani-stan, kehrten viele der „arabischen Afghanen“in ihr Heimatland zurück und begehrtengegen das bestehende System auf. Ihre Kritikäußerte sich viel radikaler und offener als je-mals zuvor. Vor allem die bereits erwähnteStationierung US-amerikanischer Truppen aufsaudischem Boden während der Kuwaitkriseerregte den Unmut der islamistischen Opposi-

5 Das Konzept des Mahdi-Glaubens ist vor allem im schiitischen Glauben populär und provozierte die wah-habitischen, anti-schiitischen Herrscher.

Page 132: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Saudi-Arabien

Deutsches Orient-Institut131

tion. Der pro-westliche Kurs müsse unterbun-den werden, die Ungläubigen das Land ver-lassen. Ihre Kritik richtete sich nicht nur gegendas Königshaus, sondern auch gegen daswahhabitische Establishment. Ihrer Meinungnach hätten sich die alten Kleriker vom Staatkorrumpieren und instrumentalisieren lassen.Zu den Kritikern gehörte auch Usama binLadin. Doch die Reaktion der ulama orien-tierte sich am klassischen Muster: Sie kündig-ten die Allianz mit der Al Saud keineswegsauf, wie es gefordert worden war, sondern le-gitimierten durch ihre Fatwa die Stationierungvon US-Truppen auf saudi-arabischemBoden. Bin Ladin, längst eine persona nongrata für die saudischen Herrscher, wurdedaraufhin ausgewiesen. 1994 entzog manihm die saudi-arabische Staatsbürgerschaft.

Was folgte, war eine Phase der relativenRuhe, die allerdings nach den Anschlägenvom 11. September 2001 in eine ernsthafteBedrohung durch militante Islamisten um-schlug. Der islamistische Jihadismus Al-Qai-das richtete sich auch gegen die Al Saud.Argumentiert wurde ähnlich wie ein Jahrzehntzuvor: Die Al Saud seien Marionetten derAmerikaner, Handlanger des Westens, be-stechlich, verdorben und unislamisch. Vorallem in der Zeit zwischen 2003 und 2005 ent-wickelte sich Saudi-Arabien zum Aufmarsch-gebiet militanter Islamisten. In diesemZeitraum kam es zu insgesamt 221 Todesop-fern bei Terroranschlägen – vor allem gegenwestliche Ausländer. Der saudische Sicher-heitsapparat reagierte unerbittlich und vertriebdie militanten Islamisten weitgehend ausSaudi-Arabien. Viele fanden neue Rückzugs-gebiete im benachbarten Jemen. Andere wur-den in Hochsicherheitsgefängnissen interniertoder mussten sich Umerziehungsprogram-men unterziehen. Bis heute blieb Saudi-Ara-bien von weiteren größeren Terroranschlägenverschont.

Daneben entwickelten sich auch andere, ge-mäßigte Formen der Kritik, die Einfluss aufpolitische Entscheidungen und Entwicklungennehmen. Dazu zählte vor allem die so ge-nannte „Erweckungsbewegung“ (arabisch: Al-Sahwa Al-Islamiya). Seit den 1980er Jahrenforderte sie politische Reformen, eine Institu-tionalisierung der Entscheidungsprozesseund gesellschaftliche Öffnung, eine Verfas-sung, Geschlechtergleichheit und Gewalten-teilung. Angeführt von den beiden ange-

sehenen Klerikern Salman al-Awdha undSafar al-Hawali verlangten sie auch eine Auf-lösung des starren Bündnisses zwischen derAl Saud und den ulama. Ohne Gewalt brach-ten sie ihre Kritik in Form von Petitionen anden König zum Ausdruck, in denen sie ihreForderungen respektvoll aber deutlich formu-lierten.6 Ihnen gelang es, mit ihren Anliegeneine breite Front von Geistlichen, Konservati-ven, Liberalen und gemäßigten Islamisten zumobilisieren, was dazu führte, dass es demKönigshaus nicht mehr möglich war, die Kritikzu ignorieren oder die Kritiker zu marginalisie-ren. Zwar ließ der König drei der Petitions-unterzeichner von 2003 verhaften, doch dieWucht der innergesellschaftlichen Kritik warzu stark geworden. Immerhin waren die Op-positionellen keine Außenseiter der Gesell-schaft, sondern Teil des geistigen undintellektuellen Establishments und damit ernstzu nehmen. Hinzu kam der internationaleDruck auf das Königshaus, endlich politischeReformen anzuregen. 15 der 19 Attentäterdes 11. Septembers 2001 waren saudischeStaatsangehörige, Usama bin Ladin in Saudi-Arabien geboren. Dies erzeugte ebenso Miss-trauen gegen den „Partner“ Saudi-Arabien,wie die langjährige Unterstützung von islamis-tischen Gruppierungen auf der ganzen Weltund die intensivierten internationalen Missio-nierungsmaßnahmen wahhabitischer Predi-ger. Insbesondere die USA erhöhten denDruck. Saudi-Arabien galt nun als Unterstüt-zer des internationalen Terrorismus,innenpolitisch forderte eine starke Opposi-tionsbewegung das Königshaus heraus undeine Reihe von Anschlägen erschütterte dieStabilität des Landes.

König Abdullah reagierte seit seiner Inthroni-sierung 2005 auf die Kritik mit vorsichtigen po-litischen Reformen, die er neben einerwirtschaftlichen Liberalisierung und Öffnungumsetzen ließ. Ausdruck dieser Reformbemü-hungen war die Einrichtung des „NationalenDialogforums“ (arabisch: liqa’ al-hiwar al-wat-ani), das seit 2003 in bislang acht SitzungenVertreter unterschiedlicher sozialer Gruppenzur offenen Diskussion zusammenbrachte.Ein Forum dieser Art, unter Einbeziehung dermarginalisierten Schiiten und anderen opposi-tionellen Gruppen sowie Frauen, war für diekonservativ-exklusivistische GesellschaftSaudi-Arabiens und das reformunwillige Kö-nigshaus revolutionär. Zum ersten Mal konn-ten sozial Benachteiligte ihrer Kritik in einem

6 Darunter die Vision for the Present and Future of the Nation im Januar 2003 unterzeichnet von 104 Akade-mikern, Geschäftsleuten und Religionsgelehrten, die Petition In Defense for the Nation aus September2003 unterzeichnet von 306 Akademikern, Autoren und Geschäftsleuten, darunter 50 Frauen sowie diePetition Partners for One Nation vom 30. April 2004, in der 450 schiitische Unterzeichner das Ende dersaudischen Diskriminierungspolitik forderten.

Page 133: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Saudi-Arabien

Deutsches Orient-Institut 132

institutionalisiertem Rahmen Gehör verschaf-fen. Die einzelnen Sitzungen beschäftigtensich mit kontroversen Themen wie der Einfüh-rung von Wahlen, radikalem Islamismus,Emanzipation der Frau, Jugendarbeitslosig-keit, die soziale Stellung der Gastarbeiter,Gleichbehandlung verschiedener Konfessio-nen, Mängel im Gesundheitssystem oder Ge-walt an Schulen. Doch auch wenn dieEinführung des Nationalen Dialogs vor allemvon Seiten der Opposition frenetisch begrüßtworden war, die bisherigen Ergebnisse sindkaum der Rede wert. Rechtliche Reformenoder soziale Liberalisierung erfolgten nicht.So bleibt der Nationale Dialog ein „zahnloserDebattierclub“ ohne Befugnisse. Nach wie vorwerden Schiiten auf dem Arbeitsmarkt und imAlltag diskriminiert, Frauen leiden unter denpatriarchalischen Ungleichbehandlungen unddie regelmäßige Einführung von Wahlen er-folgte bislang auch nicht – abgesehen vonKommunalwahlen.7 Diese Wahlen als klaresIndiz für eine wachsende Demokratisierungzu sehen, wäre jedoch zu einfach. Immerhinhandelt es sich einerseits nur um Kommunal-wahlen, andererseits besitzen die Wahlgewin-ner kaum politische Macht. Viele arrivierteKandidaten können stattdessen ihre Positionkonsolidieren. Der Reformwille bleibt in Saudi-Arabien abhängig von externen Faktoren, dieden Druck auf das Königshaus erhöhen.Ohne die islamistische Bedrohung, die vehe-mente Kritik seitens der USA und die innen-politische Opposition wären die vorsichtigenReformschritte unter Abdullah vermutlich nichtrealisiert worden.

III. Akteure des Wandels und konkrete

Auslöser

In Saudi-Arabien ist der direkte Einfluss des„Arabischen Frühlings” bisher überschaubargeblieben. Allerdings deuten die oben darge-stellten innergesellschaftlichen Konflikte undRisse darauf hin, dass sich das Druckpoten-zial für das Königshaus durch die Unruhen inder arabischen Welt erhöht hat. So sprechendie soziökonomischen Faktoren wie hohe Ju-gendarbeitslosigkeit und zunehmende Armutdafür, dass sich das einheimische Frustpoten-zial erhöhen könnte. In Kombination mit demrigiden und autokratischen politischen Sys-tem, den streng limitierten Freiheitsrechtenund dem religiösen Dogma könnte sich die

bisherige Stabilität mittelfristig in eine Chi-märe verwandeln. Bisher blieben öffentlicheDemonstrationen jedoch die Ausnahme: Sokam es am 11. März 2011 zu landesweitenProtesten bei dem so genannten „Tag desZorns“. Weiterhin demonstrierten immer wie-der Schiiten in der Ostprovinz. Vor allem dieSchiiten stellen aufgrund ihrer benachteiligtensozialen Stellung ein permanentes Risiko fürdie Stabilität dar. Zwar erfolgte unter Abdal-lahs Regentschaft eine vorsichtige Integrationin das soziale Gefüge, das antischiitischewahhabitische Dogma sowie der traditionellesunnitisch-schiitische Konflikt dominieren je-doch weiterhin die schiitische Außenseiterpo-sition. Etwa 10-15% der Bevölkerung sindschiitischer Konfession, die überragendeMehrheit lebt in der Ostprovinz um al-Hasa.Dies ist deshalb von Interesse, da sich in die-ser Region die wichtigsten Ölfelder befinden.Dort arbeiten auch die meisten Schiiten. Tra-ditionell wurde das saudische Königshaus oft-mals mit schiitischer Kritik konfrontiert. Bereitsseit den 1970er Jahren konstituierte sich eineschiitische Opposition unter dem Rechtsge-lehrten Scheich Hassan al-Saffar. Im An-schluss an die Besetzung der GroßenMoschee in Mekka und inspiriert durch die Is-lamische Revolution im schiitischen Iran kames zu Massendemonstrati-onen und General-streiks, die von der Regierung niedergeschla-gen wurden.

Mittlerweile konnte sich die schiitischeMinderheit Gehör verschaffen, fordert die Ein-haltung der Menschenrechte, die Implemen-tierung demokratischer Instrumente und dieVerbesserung ihrer wirtschaftlichen und sozi-alen Lage. Im Frühjahr 2011 wurden gemein-sam von Schiiten und Sunniten Petitionenunterzeichnet, die die Einführung einer kon-stitutionellen Monarchie und die Zulassungvon Nichtregierungsinstitutionen verlangen.Es kam zu Demonstrationen in der ProvinzQatif in der Ostprovinz8, über Facebook oderdas schiitische Oppositionsportal Rasid rufenschiitische Bewegungen immer wieder zuProtest auf.

Neben den Schiiten könnten die Frauen zumwichtigsten Akteur des möglichen Wandelswerden: Noch immer sind sie vollständig ab-hängig von ihren männlichen Verwandtenoder Ehemännern. Sie dürfen kein Auto fah-

7 Die letzten Wahlen auf kommunaler Ebene erfolgten 2005. Frauen blieben vom Wahlrecht ausgeschlos-sen. Am 22. September 2011 sollen ebenfalls Kommunalwahlen abgehalten werden, die Registrierung derWähler begann am 23. April 2011. Eigentlich sollten die Wahlen turnusmäßig bereits 2009 stattfinden,wurden aber verschoben.

8 So wurden bei Protesten im März 26 Demonstranten verhaftet, die die Freilassung des inhaftierten schi-itischen Geistlichen Sheikh Tawfiq al-Amer forderten. Im Zuge dessen wurde al-Amer freigelassen.

Page 134: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Saudi-Arabien

Deutsches Orient-Institut133

ren, nicht selbstständig Verträge abschließenoder allein ins Ausland reisen. Ihnen bleibenviele Berufe vorenthalten, obwohl sie in die-sen ausgebildet wurden. Die saudische Ge-sellschaft ist vollkommen männerdominiert.Frauen in Führungspositionen, in den Medien,in einflussreichen Managementfunktionenoder leitenden Positionen in Politik und Ver-waltung gelten als verpönt. Das traditionelleGeschlechterbild schließt die Frau weitge-hend vom Arbeitsleben aus und reduziert ihreTätigkeitsfelder auf Berufe im Erziehungs-,Ausbildungs- oder Gesundheitsbereich. Nur15% der saudischen Arbeiterschaft sindFrauen. Die Arbeitslosenquote bei Frauenstieg zwischen 2001 und 2008 von 17,3% auf26,9%. Bei Männern lag sie im gleichen Zei-traum bei konstant etwa 7%. Sollten sichFrauen dagegen auflehnen, droht ihnen derBruch mit der Familie, die soziale Isolationund Heiratsunfähigkeit. Sie gelten dann alsAußenseiterinnen, als Zerstörer traditionellerWerte und Unruhestifterinnen. Hier wächstdas Frustpotenzial der Frauen, zumal sieimmer stärker in leitende Positionen drängen,im Privatsektor deutlich mehr Verantwortungübernehmen als früher und sich intensiv in diegesellschaftlichen Debatten einschalten.Deutlich wird dies an der zunehmenden Ab-lehnung des Fahrverbots, die sich mittlerweileauch öffentlich äußert.9 Frauen dürfen auchweiterhin nicht an den Kommunalwahlen teil-nehmen. Das Verbot, das bis 2015 gelten soll,wird mit der saudi-arabischen Tradition be-gründet, außerdem seien Frauen noch nichtso weit, ihrer Verantwortung genüge zu tun.Allerdings engagierten sich mehrere einfluss-reiche Aktivistinnen für die Einführung desWahlrechts, organisierten sich in Facebook-Kampagnen und Initiativen10, äußerten sich inder Öffentlichkeit und präsentierten sich so alsstarke Stimmen des Strebens nach Wandel.Einige von ihnen ließen sich während ihresVersuchs fotografieren, sich trotz des Verbotsfür die Kommunalwahlen zu registrieren. ImFebruar demonstrierten 53 Frauen für dieFreilassung politischer Gefangener. Sie wur-den inhaftiert.

Neben diesen möglichen Akteuren des Wan-dels wächst das gesamtgesellschaftliche Ex-plosionspotenzial in Saudi-Arabien. Trotz desÖlreichtums beträgt die Arbeitslosigkeit offi-ziell 10,8%. Dies berücksichtigt allerdingsnicht die Frauen, sodass inoffizielle Statistikenvon etwa 25-30% ausgehen. Die Bevölkerung

ist sehr jung: 75% sind jünger als 30 Jahre,31% 15 oder jünger, 65% sind jünger als 64.Das Bevölkerungswachstum beträgt 2,2% imJahr. Im Durchschnitt gebärt eine saudischeFrau ca. drei Kinder. So wird ein Anstieg derBevölkerung auf 43,7 Mio. im Jahr 2050 pro-gnostiziert. Die Auswirkungen für die sozioö-konomische Situation des Einzelnen sindgravierend: Die Verteilungspolitik wird wahr-scheinlich mittelfristig an ihre Grenzen sto-ßen, Steuerbefreiung und kostenloseGesundheitsversorgung könnten kippen.Hinzu kommen die geringer ausfallendenÖleinnahmen bei sinkenden Ressourcen, diediametral der nachdrängenden Bevölkerungentgegenstehen. Während Milliarden in Bil-dung und Ausbildung investiert werden, bleibtder Übergang auf den Arbeitsmarkt für vielejunge Absolventen schwierig. Die Kluft zwi-schen Arm und Reich wächst beständig. Vielestreben nach einer Stellung im öffentlichenDienst, nur wenige sind bereit, im Privatsektorzu arbeiten. Da die saudische Mehrheitsge-sellschaft an die Allokationsmechanismen desStaates gewöhnt ist, äußert sich das in einemMangel an Motivation und übertriebenen Er-wartungen hinsichtlich des Gehalts, der Posi-tion und des sozialen Status.

Profitiert von dieser „anerzogenen Trägheit“haben die ausländischen Gastarbeiter ausder ganzen Welt. Mittlerweile befinden sichsechs bis acht Millionen im Land, was etwaeinem Drittel der Gesamtbevölkerung ent-spricht. Vor allem die asiatischen Gastarbeiteraus Pakistan, Indien, Bangladesch oder Indo-nesien leiden unter schweren sozialen Diskri-minierungen, werden teilweise wie Sklavenbehandelt und verfügen über keinerlei indivi-duelle Rechte. Diese Ungleichbehandlung istweitgehend Konsens in der saudischen Ge-sellschaft. Pläne, eine Krankenversicherungs-pflicht für asiatische Hausangestellte, Gärtneroder Chauffeure einzuführen, stoßen daherauf massiven Widerstand. Die Vorstellung,den sozialen Status der verachteten Gastar-beiter anzuheben, passt nicht in das Denkenvieler Saudis. Sie fürchten eine Überfrem-dung, die sich in einer diffusen xenophobenAngst gegenüber fremden Einflüssen äußert.

Der Gedanke, den asiatischen Gastarbeiterngeistig, ethnisch und moralisch überlegen zusein, rührt auch daher, dass die saudischeGesellschaft äußere Einflüsse erst seit eini-gen Jahrzehnten erlebt, da das Land nie ko-

9 So erregten zwei junge Frauen Aufsehen, als sie ein Video im Internet platzierten, das sie beim Autofahrenzeigt. Schnell wurden sie Vorbilder und Ikonen der Emanzipationsbewegung im Königreich.

10 Die wichtigsten sind die al-Baladi-Initiative (arabisch für: „mein Land“) sowie die Saudi Women’s Revolu-

tion-Bewegung. Sie verfolgten Pläne, einen eigenen Kommunalrat einzurichten, konnten sich bislang je-doch nicht mit ihren Absichten durchsetzen.

Page 135: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Saudi-Arabien

Deutsches Orient-Institut 134

lonialisiert war. Die Politik reagiert auf dieüberragende Bedeutung der Gastarbeiter alsRückgrat des saudischen Fortschritts und denzeitgleichen Anstieg der Arbeitslosigkeit beiInländern mit einer „Saudisierungskam-pagne“, die saudische Arbeitnehmer bevorzu-gen und den Anteil ausländischer Fachkräftereglementieren und reduzieren soll. Bislangsind die Erfolge jedoch marginal.

Hinzu kommt die innere Heterogenität undFragmentierung der saudischen Gesellschaft.Ibn Sauds Eroberungen führten zur Dominanzder Stammregion Najd auf Kosten andererRegionen wie dem Hijaz. So gelten heutenoch die Einwohner des Najds in Augen derHijazis als erzkonservative Beduinensöhne,während umgekehrt die lockerere Lebens-weise im küstennahen Hijaz für Najdis Aus-druck von Dekadenz und Unmoral ist. Diesführt zu einer nationalen Identität, die sichkaum über eine gleiche Herkunft oder ähnli-che Wurzeln definiert, sondern vielmehr in derLoyalität zum König und der Zugehörigkeitzum eigenen Stamm, Clan oder Familie. Vorallem die Bewohner des Hijaz fühlen sichdurch die Najdis benachteiligt. Der unzurei-chende Katastrophenschutz bei den verhee-renden Hochwassern in Jidda gilt ihnen alsdeutlicher Indikator dafür. Demnach bestehtdie nationale Identität eher aus vielen einzel-nen lokalen Identitäten, die durch dieKohäsion von Al Saud und ulama zusammen-gehalten wurden. Insbesondere gilt dies fürdie Schiiten in der Ostprovinz des Landes.

IV. Auswirkungen des „Arabischen Früh-

lings“

Bisher gilt Saudi-Arabien trotz der vielfältigenKonfliktlinien im Inneren als „Sturm in derBrandung“ und revolutionsresistent. Haupt-gründe dafür sind die nach wie vor existenzsi-chernde Symbiose von Al Saud undwahhabitischer Geistlichkeit sowie das wirt-schaftliche Potenzial durch den Ölreichtum.Gesellschaftlicher Grundkonsens ist undbleibt die Loyalität zum König. Kritik erfolgtalso nur innerhalb des institutionalisiertenRahmens, Forderungen nach einem Umsturzoder dem Rücktritt des Königs sind derzeit un-vorstellbar und würden auch von Seiten derMehrheitsgesellschaft strikt abgelehnt. Den-noch entfalten die Umbrüche in der arabi-schen Welt indirekt ihre Wirkung inSaudi-Arabien. Dies gilt vor allem für dieAngst des saudischen Königshauses vor

einer langfristigen Instabilität in der Region,die dem Erzfeind Iran nutzen könnte. Derschiitische Nachbar konkurriert spätestensseit dem Ende Saddam Husseins mit seinemsunnitisch-wahhabitischen Gegenspieler umdie hegemoniale Vormachtstellung am Golf.Saudi-Arabien befürchtet, Iran könne den po-litischen Einfluss im Libanon, Bahrain, Irakoder Syrien ausweiten und so einen „schiiti-schen Halbmond“ fördern. Die angeblichenBestrebungen Teherans zum Bau von Nukle-arwaffen werden in Riad mit ansteigender Hy-bris beobachtet.11 Immerhin bewerten 79%der saudischen Bevölkerung den EinflussIrans in der Region als negativ, 69% lehnendie Politik von Irans Präsidenten Mahmud Ah-madinejad ab.

Hinzu kommt die Angst des Königshauses vorder militanten islamistischen Bedrohung.Zwar konnten Al-Qaida-nahe Gruppierungenbis 2005 weitgehend zerschlagen werden,doch die instabile Situation im südlichenNachbarn Jemen könnte die terroristische Be-drohung im Inland wieder entfachen. DerJemen gilt seit Jahren als „sicherer Hafen“ fürmilitante Islamisten. Die Aufstände im armenNachbarland beunruhigen daher das saudi-sche Königshaus. An der fast 1.500 Kilometerlangen gemeinsamen Grenze kam es in derVergangenheit immer wieder zu Gefechtenzwischen saudischen Sicherheitstruppen,Schmugglern sowie Mitgliedern von Al-Qaidaauf der arabischen Halbinsel (AQAP). Je-mens Noch-Präsident Ali Abdallah Salih galtals enger Verbündeter Saudi-Arabiens. Seineschwere Verletzung und die medizinische Be-handlung in einem saudischen Krankenhauserhöhen das Risiko für die Al Saud, derJemen könne ins Chaos stürzen. ÄhnlicheFurcht besteht im Fall Bahrain. Die dortigeschiitische Opposition und die Protestbewe-gung werden mit viel Argwohn beobachtet.Das Königshaus fürchtet, dass ein erfolgrei-ches Aufbegehren der bahrainischen SchiitenVorbildcharakter für die saudischen Schiitenhaben könnte. Beide Gruppen stehen sichsehr nahe; sie sind über historische, religiöseund familiäre Bande miteinander verbunden.Hinzu ist Saudi-Arabien besorgt über den an-geblich wachsenden Einfluss Irans auf dieSchiiten Bahrains. Der Einmarsch von 1.000saudischen Nationalgardesoldaten in Bahrainim März 2011 zur Unterstützung des KönigsScheich Hamad ibn Isa Al Khalifa gegen dieAufstände im Rahmen einer konzertierten Ak-tion des Golfkooperationsrates (GCC) wurde

11 So äußerte sich der ehemalige Geheimdienstchef und Botschafter in Washington Turki al-Faisal bereits,dass sich Saudi-Arabien ebenfalls um Atomwaffen bemühen werde, wenn Iran zur Atommacht aufsteige.

Page 136: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Saudi-Arabien

Deutsches Orient-Institut135

denn auch in der saudischen Öffentlichkeit alsFriedensmission und Akt der brüderlichenUnterstützung bewertet. Allerdings dientediese Aktion den eigenen Sicherheitsinteres-sen und der reaktionären Niederschlagungeines mehr wirtschaftlichen denn religiösenProtests und wurde demnach auch internatio-nal verurteilt.

Dementsprechend kann die derzeitige Stabi-lität in Saudi-Arabien als Ruhe vor dem Sturmgesehen werden. Die Diskriminierung derSchiiten, die Ungleichbehandlung der Frauen,das komplizierte Verhältnis zwischen saudi-scher Mehrheit und den ausländischenGastarbeitern verbunden mit den sozioökono-mischen und demographischen Faktoren for-dern das saudische Königshaus und diewahhabitische Geistlichkeit bereits jetzt her-aus. Die Unruhen in den Nachbarstaaten unddie Strahlkraft der freiheitlichen Bewegungenin Tunesien und Ägypten hinterlassen vorallem bei den marginalisierten Akteuren Ein-druck. Sie könnten in Zukunft mutiger ihreZiele verfolgen und die Missstände anpran-gern. Während bisher das System der Mon-archie und die Person Abdallah vonFundamentalkritik verschont blieben, könntesich dies mittelfristig ändern. Je langsamerdas Königshaus auf die Hoffnung nach Öff-nung reagiert und je schneller sich ökonomi-scher Abschwung bemerkbar macht, destohöher wird der innergesellschaftliche Druck.

V. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure

Das saudische Königshaus nimmt den „Arabi-schen Frühling” als Bedrohung wahr. Es be-fürchtet, dass sich die Protestbewegungengegen autoritäre Herrscher auch im Inlandmassiv auswirken könnten und versucht, dementgegenzusteuern. Hierbei verfolgt KönigAbdallah eine Politik von Zuckerbrot und Peit-sche. Er stellte bereits im April 2011zusätzliche 35 Mrd. USD für Wohlfahrtsleis-tungen an die Bevölkerung bereit, erhöhte dieGehälter von Staatsangestellten im Februarum 15% und ließ dem saudischen Entwick-lungsfonds 11 Mrd. USD zugute kommen, umkleine Kredite zu fördern. Hinzu kommen dieInvestitionspakete in den letzten Jahren, diedie Infrastruktur in Bildung und Gesundheitmassiv ausbauten und gleichzeitig für diewachsende Bevölkerung Wohnraum schufen.Abdallah beugte also bereits vor dem Aus-bruch der „Arabischen Revolution” vor, ver-folgte einen behutsamen wirtschaftlichen

Reformkurs, um möglicher Unzufriedenheitentgegenzuwirken. Das kommt ihm nun ent-gegen. Der Leidensdruck der Bevölkerungs-mehrheit scheint bislang noch zu klein, alsdass sich die Perspektivlosigkeit einiger Min-derheiten zu einem breiten Protest ausweitenkönnte. Doch allein auf wirtschaftliche Vertei-lungsmechanismen kann sich das Königs-haus nicht mehr verlassen, sodass auchwieder die ideologisch-religiöse Karte gespieltwird. Im Schatten von Demokratisierungsbe-strebungen, dem Ruf nach Freiheit und libera-ler Öffnung geriert sich Saudi-Arabien alsVorreiter des konservativ-islamischen Estab-lishments. Die Überwachung der Bevölkerungdurch den mächtigen Geheimdienst nahmebenso zu wie die Proklamation moralischerTugendhaftigkeit durch die wahhabitischeGeistlichkeit. Die Aufstände in Ägypten undTunesien wurden als „Feinde des Islams“ unddie Aufständischen als „Chaoten“ gebrand-markt. Das Königshaus befürchtet, seineideologische Autorität verlieren zu können,wenn die attraktive Ausstrahlung von gesell-schaftlicher Freiheit aus anderen arabischenLändern in die saudische Mentalität dringenkönnte. Demzufolge verfolgt Saudi-Arabienauch eine restriktive, restaurative Außenpoli-tik, die auf Stabilitätsbewahrung ausgelegt ist.In diesem Zusammenhang steht die militäri-sche Aktion in Bahrain, die Behandlung vonAli Abdallah Salih sowie die Exilgewährung fürBen Ali, was Abdallah heftige Kritik mit seinemengsten Verbündeten USA einbrachte. DieUS-amerikanisch-saudischen Beziehungenscheinen dadurch nachhaltig belastet wordenzu sein. Gleichzeitig sucht man trotz der mas-siven Vorbehalte gegen Iran den diplomati-schen Kontakt. Es kam zu Treffen beiderAußenminister, um über ihre Verantwortungin der Region zu diskutieren. In diesem Zu-sammenhang können auch die BemühungenSaudi-Arabiens gesehen werden, mit Ma-rokko und Jordanien zwei weitere Monarchienals neue Mitglieder für den Golfkooperations-rat zu gewinnen. Beobachter sehenSaudi-Arabien als Führungsmacht der stabili-tätsorientierten Regionalmächte, der konser-vativen Monarchien, die weder ein Interessean zunehmender Demokratisierung nochdamit einhergehender Unsicherheit haben.Für sie sind das sensible Konstrukt in der ara-bischen Welt und die fragile Ruhe der letztenJahre durch den „Arabischen Frühling” be-droht. Sie fürchten Machtverlust, den Anstiegislamistischer Gewaltakteure, staatliche Fra-gilität und einen massiven Einflussgewinn

Page 137: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Saudi-Arabien

Deutsches Orient-Institut 136

Irans. Schneller Wandel gehört traditionellnicht zum politischen Repertoire der Al Saud,die schrittweise Reformen bevorzugen unddie Revolutionen als Chaos und Anarchie be-werten. Ob sie damit allerdings die Meinungder saudischen Mehrheit repräsentieren,muss bezweifelt werden. Immerhin bewerten40% der saudi-arabischen Bevölkerung den„Arabischen Frühling” als positiv, nur 9% ver-muten negative Auswirkungen für die Region.

VI. Zukunftsszenarien

Best Case Szenario:

Auch im besten Fall wird es keinen Demokra-tisierungsschub in Saudi-Arabien geben. Daspolitische System beruht auf der Omniprä-senz und der unumstößlichen Autorität der AlSaud, die durch die wahhabitischen Rechts-gelehrten legitimiert wird. Diese Allianz bietetallerdings auch Raum für eine schrittweise Li-beralisierung der gesellschaftlichen Schran-ken, solange der bestehende Allein-vertretungsanspruch des Königshauses nichtin Frage gestellt wird. Die Entwicklung einerlimitierten Oppositions- und Diskussionskulturwird durch den König Abdullah bislang gedul-det, teilweise sogar gefördert. Steigt der ex-terne und interne Druck aufgrund vonpolitischen Öffnungsprozessen im Auslandsowie soziökonomischen Schwierigkeiten imInland, könnte Abdullah gezwungen sein, sichin restriktiven Fragen zu öffnen. Das könntesich in einer Wahlgenehmigung für Frauenniederschlagen, die soziale und rechtliche Si-tuation der asiatischen Gastarbeiter und derSchiiten verbessern und so zu einer besserennationalen Integration beitragen. Während inTunesien, Ägypten oder Jemen die jeweiligenRegimes den Zeitpunkt für mögliche syste-mimmanente Reformen verpassten, wird Ab-dullah von der überragenden Mehrheit seinerBevölkerung unterstützt. So bewerten 88%der saudischen Staatsbürger seine Politik po-sitiv. Sollte es dem Königshaus gelingen,innerhalb der religiösen und traditionellenSchranken eine gesellschaftliche Diskussionum Reizthemen wie Geschlechtergleichheit,Zukunftsperspektiven oder Minderheiten-schutz zuzulassen und in rechtliche Rahmen-bedingungen zu überführen, könnte dies derBeginn eines vorsichtigen Wandels werden.Hierzu gehört auch die ernsthaft voranzutrei-bende Diversifizierung der Wirtschaft, um Bü-rokratie abzubauen, den öffentlichen Sektorzu reduzieren, Korruption und Patronagenetz-

werke zu bekämpfen, den Zugang zum Ar-beitsmarkt zu erleichtern und die Abhängig-keit vom Erdöl zu vermindern. Die finanziellenMittel und die politische Stabilität sind vorhan-den, allerdings droht diese Entwicklung amfehlenden politischen Willen zu scheitern. Vorallem die Integration oftmals im Westen aus-gebildeter Nachwuchskräfte in den Arbeits-markt muss vorangetrieben werden, wennSaudi-Arabien nicht in ein demographischesDilemma geraten will. Die durch kostenloseStaatsalimentierung ausgelöste „Vollkasko-mentalität” sollte mithilfe eines leistungs-fördernden Privatisierungsprozess reduziertwerden, um die Wettbewerbsfähigkeit saudi-scher Arbeitnehmer zu verbessern. Dazu be-darf es nicht nur des weiteren Ausbaus angeschlechterunabhängiger Bildungsinfra-struktur, sondern der besseren Verzahnungvon Arbeitsmarkt und Ausbildungssystem.Erst wenn der ernsthafte Wille vorhanden ist,bestehende traditionelle Vorstellungen undNormen zu überdenken und in die Modernezu transferieren, könnte sich eine breite Mittel-schicht von Privatunternehmern entwickeln,die durch Kreativität, Eigen-engagement undLeistungsbereitschaft die Abhängigkeit vomÖl sukzessive aufbrechen würden. Hierzukönnte das Königshaus mit-hilfe von finanziel-len Anreizen in Form von Kleinkrediten, Auf-klärungskampagnen und der Reduzierungdes öffentlichen Sektors besser als bisher bei-tragen.

Worst Case Szenario:

Saudi-Arabiens Herrscher könnten sich in Zu-kunft verstärkt als Vorreiter eines strengenund reaktionären Konservativismus gerieren.Der puristische Wahhabismus und die Vor-stellung, als Hüter der beiden Heiligen Stättenwieder verstärkt eine Führungsrolle der kon-servativen „Gegenrevolutionäre“ in der Re-gion zu übernehmen, könnte zu einerAusweitung der missionarischen und repres-siven Aktivitäten im In- und Ausland führen.Vieles hängt hier vom König ab. Abdallah, derbereits 87 Jahre alt ist, gilt zwar als reform-orientierter König, doch in seinem engstenZirkel konkurriert er mit streng konservativenund reaktionären Familienangehörigen. Dazugehört zum einen der designierte Thronfolger,Kronprinz und Innenminister Sultan, der der-zeitige Innenminister Naif sowie der Gouver-neur von Riad, Prinz Salman bin Abdulaziz.Vor allem der Innenminister gilt als Symbolfi-gur des erzkonservativen saudischen Estab-

Page 138: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Saudi-Arabien

Deutsches Orient-Institut137

lishments, indem er Reformen als Schwächedes Königs-hauses gegenüber einer populä-ren Liberalisierungstendenz auslegt und sei-nen Fokus eher auf die Verschärfung derinneren Sicherheitsmaßnahmen und Repres-sion legt.

Nach dem Tod des kranken Abdullahs könnteder vorsichtige Reformkurs der letzten Jahreschnell rückgängig gemacht werden, da struk-turelle Änderungen nach wie vor vom Monar-chen abhängen. Insbesondere die als Risikowahrgenommenen Auswirkungen des „Arabi-schen Frühlings” könnten unter Sultan (oderNaif, der aufgrund der Krankheit des Kron-prinzen als wahrscheinlicher Nachfolger Ab-dallahs gehandelt wird) zu einem repressivenKurs führen. Weiteres systemimmanentesProblem ist die Altersstruktur der engstenElite des Königshauses: Bisher gilt in Saudi-Arabien die Regelung, dass nur ein Sohn desStaatsgründers Ibn Saud als Thronfolger inFrage kommen darf. Dies hat zur Folge, dassdie Altersstruktur der Al Saud der Jugend derMehrheitsgesellschaft diametral entgegen-steht. Während das Durchschnittsalter lan-desweit 25,3 Jahre beträgt, ist Abdallah wiegesagt bereits 87, Sultan nur ein Jahr jünger,Naif ist 77. Alle 20 Söhne Ibn Sauds sind über60 Jahre alt, acht sind über 70 und gar sechsüber 80. Ändert sich nichts an dieser Nachfol-geregelung, indem auch Enkel als Kronprin-zen akzeptiert werden, würde sich derzeitliche Turnus der jeweiligen Regentschaf-ten reduzieren, was zum einen verstärkteNachfolgestreitigkeiten, zum anderen dro-hende politische Instabilität aufgrund fehlen-der Nachhaltigkeit zur Folge haben könnte.Die traditionell langsame Reformbereitschaftder Al Saud könnte dadurch weiter ge-schwächt werden, da die Hauptkonzentrationauf der Balance der inneren Einheit läge undgesellschaftliche Transformationen als hinder-lich wahrgenommen werden könnten. Ausdiesem Dilemma abzuleiten, es könne ein De-mokratisierungsprozess eingeleitet werden,indem aus einer absoluten eine konstitutio-nelle Monarchie geschaffen werde, erscheint

momentan allerdings unwahrscheinlich. Eherkönnte diese Entwicklung zu einem Machter-haltungsmechanismus seitens der Al Saudführen, die ihren Regierungsanspruch nichtaufgeben oder teilen wollen würden.

Trendszenario:

Wahrscheinlich erscheint, dass sich das sau-dische Königshaus gegen eine weitere Aus-weitung des „Arabischen Frühlings” durchpolitische, religiöse sowie – wenn notwendig –militärische Maßnahmen zur Wehr setzenwird. Es fürchtet eine Schwächung des regio-nalen Einflusses und sieht in den Demokrati-sierungsbewegungen den Status quo derMonarchien bedroht. Dazu könnte es sich –wie immer – auf die Allianz mit den ulama ver-lassen, diese stärker als in der jüngsten Ver-gangenheit kooptieren und dadurch dieislamische Vorbildfunktion wieder in denVordergrund der außen- und innenpolitischenStrategie stellen. Gleichzeitig hat sich inSaudi-Arabien längst eine gesellschaftlichePluralität an verschiedenen Einflussakteurenentwickelt, die aus der Gesellschaft herausdas Königshaus herausfördern könnten. Vorallem die Frauen, die Schiiten, verschiedenemoderate, reformorientierte Geistliche, Intel-lektuelle und Unternehmer könnten ihreForderungen nach Reformbereitschaft, zivil-gesellschaftlicher Öffnung, wirtschaftlicherDiversifizierung und Abbau der Überbürokra-tisierung ausbauen. Es bleibt allerdings un-wahrscheinlich, dass die Legitimation dessaudischen Königshauses in Gänze ange-zweifelt wird. Dazu genießen die Al Saud übereinen zu großen Rückhalt in der Bevölkerung,dazu gestalten sich die wirtschaftlichenDruckpotenziale bisher als zu gering, umgroßflächige Kritik am Königshaus zu bewir-ken. So könnte auf den „Arabischen Frühling”zwar keine reaktionäre Reaktion des Sys-tems, aber eine Intensivierung der zivilgesell-schaftlichen Diskussionskultur durchsystemexterne Akteure erfolgen.

Sebastian Sons

VII. Literaturangaben

ABU-NASR, DONNA: Saudi Women Inspired by Fall of Mubarak Step Up Equality Demand, Bloomberg, 28. März 2011, http://www.bloomberg.com/news/print/2011-03-28/saudi-women-inspired-by-revolt-a, abgerufen am 14.07.2011.

AL-AHMED, ALI: Justice, even for princes, Rasid News Network, 20.10.2010, http://rasid.com/english/?act=artc&id=297&print=1, abgerufen am 07.09.2011.

Page 139: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Saudi-Arabien

Deutsches Orient-Institut 138

AL-BADI, AWADH: Institutionalising Hereditary Succession in Saudi Arabia’s Political Governance System: The Allegiance Commission, Arab Reform Brief, 20. Februar 2008.

AL-FARSY, FOUAD: Modernity and tradition. The Saudi Equation, London, New York, 1990.

AL-RASHEED, MADAWI: The Rashidi Dynasty. Political Centralisation among the Shammar of North Arabia, in: Bidwell, Robin, Smith, G.R., Smart, J.R. (Hrsg.): New Arabian Studies 2, S. 140-152 (1994).

DIES.: A History of Saudi Arabia, Cambridge 2002.

DIES.: Contesting the Saudi State. Islamic Voices from a New Generation, Cambridge 2007.

DIES.: Kingdom without Borders. Saudi Arabia’s Political, Religious and Media Frontiers, UK 2008.

BURKE, JASON: Saudi Arabia's clerics challenge King Abdullah's reform agenda, The Guardian, 01. Juli 2011, http://www.guardian.co.uk/world/2011/jul/01/saudi-arabia-clerics-king-abdullah/print, abgerufen am 07.07.2011.

COLL, STEPHEN: Die Bin Ladens. Eine arabische Familie, München 2008.

CORDESMAN, ANTHONY H.: Saudi Arabia. National Security in a Troubled Region, Santa Barbara 2009.

DERS.: Saudi National Security and the Saudi-US Strategic Partnership, Center for Strategic and International Studies, 3. Dezember 2008.

DEHNE, PHILIPP: Eine Beziehung mit Zukunft? – Arbeitsmigranten in Saudi-Arabien, in: Ulrike Freitag (Hrsg.): Saudi-Arabien – Ein Königreich im Wandel? Paderborn 2010, S. 135-164.

DEKMEJIAN, R. HRAIR: The Rise of Political Islamism in Saudi Arabia, in: Middle East Journal, 4 (1994), S. 627-643.

DINKELAKER, CHRISTOPH: Im Osten nichts Neues? – Zur Situation der Schia in Saudi-Arabien, in: Ulrike Freitag (Hrsg.): Saudi-Arabien – Ein Königreich im Wandel? Paderborn 2010, S. 189-220.

DREWES, FRAUKE: Das Nationale Dialogforum in Saudi-Arabien – Ausbruch politischer Reformen oder Stagnation? In: Ulrike Freitag (Hrsg.): Saudi-Arabien – Ein Königreich im Wandel? Paderborn 2010, S. 29-60.

ECHAGÜE, ANA, BURKE, EDWARD: ‚Strong Foundations’? The Imperative for Reform in SaudiArabia, FRIDE Working Paper, Juni 2009.

FÜRTIG, HENNER: Iran's Rivalry With Saudi Arabia Between the Gulf Wars, Berkshire 2006.

GLOSEMEYER, IRIS: Terroristenjagd in Saudi-Arabien. Hintergründe und Folgen, in: SWP-Aktuell, Nr. 29, August 2003.

HAMZAWY, AMR: The Saudi Labyrinth: Evaluating the Current Political Opening, Carnegie Papers Middle East Series 68 (April 2006).

HEGGHAMMER, THOMAS: Jihad in Saudi Arabia. Violence and Pan-Islamism since 1979, Cambridge 2010.

Page 140: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Saudi-Arabien

Deutsches Orient-Institut139

HENDERSON, SIMON: After King Abdullah. Succession in Saudi Arabia, The Washington Institute for Near East Policy, Policy Focus (2009) 96.

HERTOG, STEFFEN: Princes, Brokers, and Bureaucrats. Oil and the State in Saudi Arabia, London 2010.

HILL, GINNY, NONNEMAN, GERD: Yemen, Saudi Arabia and the Gulf States: Elite Politics, Street Protests and Regional Diplomacy, Chatham House Briefing Paper, Mai 2011.

http://www.aawsat.com/

http://www.arabnews.com/

http://www.asharqalawsat.com/

http://www.globalarabnetwork.com/

http://www.kuwaittimes.net/

http://www.nytimes.com/

http://www.rasid.com/

http://www.saudigazette.com/

http://www.thenational.ae/

http://www.zawya.com/

HUMAN RIGHTS WATCH: ‘As If I Am Not Human’. Abuses against Asian Domestic Workers in SaudiArabia, New York 2008.

DERS.: Looser Rein, Uncertain Gain. A Human Rights Assessment of Five Years of King Abdullah’s Reforms in Saudi Arabia, New York 2010.

DERS.: Saudi Arabia: Let Women Vote, Run for Office, 31. März 2011, http://www.hrw.org/en/news/2011/03/31/saudi-arabia-let-women-vote-...1, abgerufen am08.06.2011.

IBRAHIM, ALI: Saudi Arabia and Turkey the "Arab Spring", Al-Sharq Al-Awsat, 08. Juni 2011, http://www.asharq-e.com/print.asp?artid=id25461, abgerufen am 09.06.2011.

INTERNATIONAL CRISIS GROUP: Can Saudi Arabia Reform itself? Middle East Report Nr. 28, Kairo, Brüssel 2004.

DERS.: Who are the Islamists? Middle East Report Nr. 31, Kairo, Brüssel 2004.

JONES, TOBY: Seeking a Social Contract for Saudi Arabia, Middle East Report Online, http://www.merip.org/mer/mer228/228_jones.html, abgerufen am 02.11.2010.

DERS.: Violence and the Illusion of Reform in Saudi Arabia, Middle East Report Online, 13. November 2003, http://www.merip.org/mero/mero111303.html, abgerufen am 16.06.2011.

KATZ, MARK: The Saudi succession solution, Lebanonwire.com, 5. März 2008, http://www.lebanonwire.com/0803MLN/08030514MET.asp, abgerufen am 05.05.2011.

MARKIN, BARRY: Population Levels, Trends and Policies in the Arab Region: Challenges and Opportunities, Research Paper Series, United Nations Development Programme 2010.

Page 141: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Saudi Arabien

Deutsches Orient-Institut 140

OKRUHLIK, GWENN: Networks of Dissent: Islamism and Reform in Saudi Arabia, http://www.essays.ssrc.org/sept11/essays/okruhlik_text_only.htm, abgerufen am 11.06.2011.

RAPHAELI, NIMROD: Saudi Arabia: A Brief Guide to Its Politics and Problems, in: MERIA Journal 7 (2003) 3, http://www.meria.idc.ac.il/journal/2003/issue3/jv7n3a2.html, abgerufen am 16.02.2011.

REISSNER, JOHANNES: Die Besetzung der Großen Moschee in Mekka, in: Orient, 21 (1980) 2, S.194-203.

SCHMIDT, JANEK: Strippenzieher der Konterrevolution, Süddeutsche Zeitung, 08. Juni 2011, http://www.sueddeutsche.de/politik/2.220/saudi-arabien-gegen-den-ums, abgerufen am 08.06.2011.

STEINBERG, GUIDO: Religion und Staat in Saudi-Arabien. Die wahhabitischen Gelehrten 1902-1953, Würzburg 2002.

DERS.: Saudi-Arabien als Partner deutscher Nahostpolitik, SWP-Studie, Berlin 2008.

DERS.: Saudi-Arabien, in: Werner Ende, Udo Steinbach (Hrsg.): Der Islam in derGegenwart, Bonn 2005, S. 537-546.

DERS.: Saudi-Arabien. Politik. Geschichte. Religion, München 2004.

DERS. : Saudi-arabische Religionspolitik nach 2001. Instrument zur Fortsetzung eines Zweckbündnisses, in: Faath, Sigrid (Hrsg.): Staatliche Religionspolitik in Nordafrika/Nahost. Ein Instrument für modernisierende Reformen? Hamburg 2007, S. 175-196.

TEITELBAUM, JOSHUA: Dueling for Da‘wa: State vs. Society on the Saudi Internet, in: The Middle East Journal, 2002, 56 (2), S. 222-239.

DERS.: The Shiites of Saudi Arabia, Current Trends in Islamist Ideology (2010) 10, abzurufen unter http://www.currenttrends.org/research/detail/the-shiites-of-saudi-arabia am 19.05.2011.

TROFIMOV, YAROSLAV: The Siege of Mecca – The Forgotten Uprising in Islam’s Holiest Shrine andthe Birth of Al Qaeda, New York 2007.

VASSILIEV, ALEKSEI: The History of Saudi Arabia, London 1998.

WINDER, R. BAYLY: Saudi Arabia in the Nineteenth Century, London 1965.

WURM, IRIS: Im Zweifel für die Monarchie. Autokratische Modernisierung in Saudi-Arabien, in: HFSK-Report 13/2007.

ZUHUR, SHERIFA: Saudi Arabia: Islamic Threat, Political Reform, and the Global War on Terror, Strategic Studies Institute 2005.

Page 142: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Jemen

Deutsches Orient-Institut 141

1 CIA – The World Factbook.2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.3 http://www.tradingeconomics.com/yemen/population-density-people-per-sq-km-wb-data.html.4 CIA – The World Factbook. 5 CIA – The World Factbook. 6 CIA – The World Factbook.7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.8 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators,

http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles.10 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN.12 CIA – The World Factbook.13 CIA – The World Factbook. 14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.15 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.16 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG,

International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, S. 183, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf.

17 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$)”, International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html.

18 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm.19 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia,

http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf.20 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us.21 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober

2010,http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 22 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection:

Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/.

23 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf.

24 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp.

25 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

Landesdaten JemenFläche1 2011 527.968 km²

Bevölkerung2 2010 24.300.000

Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 45,94

Ethnische Gruppen4 2010größtenteils Araber, aber auch Afro-Araber, Südasiaten und Europäer

Religionszugehörigkeit5 2010Muslime (Schafiiten, Zayiditen), Juden, Christen, Hindus

Durchschnittsalter6 2010 18,1 Jahre

Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 45%

Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 3%

Lebenserwartung9 2010 63,74 Jahre

Bevölkerungsprognose bis 205010 2010 53.700.000

Geburten pro Frau11 2009 5,1

Alphabetisierungsrate12 2010 50,2%Nutzer Mobiltelefone13 2009 8.313.000Nutzer Internet14 2009 2.349.000

Nutzer Facebook15 2011 329.040

Wachstum BIP16 2009 3,8%

BIP pro Kopf17 2010 2.595 USD

Arbeitslosigkeit18 2010 35%

Inflation19 2011 13,0%

S&P-Rating20 2011 k. A.

Human Development Index21 2010 Rang 133 (von 169)

Bildungsniveau22 2010 Rang 171 (von 177)

Bildungsniveau der Frauen (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)23

2010 7,6%

Politische Teilhabe24 2010 11,8%

Korruptionsindex25 2010 Rang 146 (von 178)

Page 143: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Jemen

Deutsches Orient-Institut142

Jemen

Auch im Jemen zeigen sich deutliche Aus-wirkungen des „Arabischen Frühlings“,was weder zu diesem Zeitpunkt noch indieser Intensität zu erwarten gewesenwäre. Widerstand gab es schon vor derRevolution in Tunesien, durch die Ereig-nisse dort und in den anderen Staaten derRegion erhielten die Proteste jedoch er-heblichen Rückenwind. Der Präsident, AliAbdullah Saleh, galt bis vor kurzem alseinzige Hoffnung im Kampf gegen den Ter-rorismus am Horn von Afrika, nun fordernehemalige Partner seinen Rückzug undeine geordnete Übergabe der Macht.

I. Politisches System und gesellschaftli-che Entwicklungen

Bei der Arabischen Republik Jemen handeltes sich um das jüngste Land der Region.Zwar wurde bei der Vereinigung der beidenTeilrepubliken 1990 von einer „Wiedervereini-gung“ gesprochen; tatsächlich war das vonden Römern aufgrund des Reichtums an Ge-würzen und anderen Annehmlichkeiten alsArabia Felix bezeichnete Gebiet weder zuderen Zeiten noch danach politisch vereint.Des Weiteren ist hervorzuheben, dass dieVereinigung nicht durch den Beitritt eines po-litisch und wirtschaftlich in Auflösung befind-lichen Partners zum Geltungsbereich derVerfassung eines starken Partners erfolgte,wie es beispielsweise im deutschen Fall war.Stattdessen befanden sich sowohl die Demo-kratische Volksrepublik Jemen („Südjemen“)wie auch die Jemenitische Arabische Repu-blik („Nordjemen“) in schwachen Ausgangs-positionen. Diese Pattsituation wiederum wareine wichtige Voraussetzung für eine weitereBesonderheit: Das Ergebnis der Vereinigungwar eine Phase, die bereits über zwanzigJahre vor dem „Arabischen Frühling“ Demo-kratie, Pluralismus und Pressefreiheit möglicherscheinen ließ.

Der Grund hierfür war allerdings nicht dieWeitsicht und Fortschrittlichkeit der handeln-den Personen, sondern die politische und ge-sellschaftliche Rivalität und Gegensätzlichkeitder beiden Länder. Der Nordjemen war bis indie 1960er Jahre weitestgehend vom Auslandabgeschottet und auch danach stärker tradi-tionell geprägt, im Süden hatte sich nach demEnde des britischen Protektorats 1967 eine

sozialistisch-moderne Führung durchgesetzt.Da es sich zunächst um eine friedliche Ver-handlung zweier Partner auf Augenhöhe han-delte, war das Ergebnis ein Kompromiss: AmEnde einer Übergangsphase, in der ein Re-gierungsrat mit Vertretern beider Elitenherrschte, sollten freie demokratische Wahlenstattfinden. Bei diesen gewann der Allge-meine Volkskongress (die Nachfolgeparteider ehemaligen Nordjemenitischen Füh-rungspartei1), vor der jemenitischen Ver-sammlung für Reform (arabisch: Islah), dienach der Vereinigung gegründet worden warund tribale und religiöse Elemente vereinte.Die paritätische Vergabe von Posten an Ver-treter beider Vorgängerländer hatte ein über-proportionales Mitspracherecht für diesüdjemenitische Elite aus der JemenitischenSozialistischen Partei (JSP) hervorgebracht,welches nach den Wahlen nun zu verschwin-den drohte und eine Dominanz des ehemali-gen Nordens erwarten ließ.2 Die Spannungenentluden sich in einem Bürgerkrieg, den je-doch ebenfalls der Norden gewinnen konnte –die Führung der Jemenitischen Sozialisti-schen Partei ging daraufhin ins Exil, zu denWahlen 1997 trat die Partei nicht an. Un-mittelbar nach den Wahlen wurde die Verfas-sung geändert und ein präsidialesRegierungssystem geschaffen, an dessenSpitze der ehemalige Präsident des Nordje-men, Ali Abdullah Saleh, stand. Ebenso wurdedie Scharia nun als einzige Quelle des Rechtsbezeichnet, ein Punkt, dem sich die JSP ve-hement widersetzt hatte. Nach dem Bürger-krieg wurden auch Pläne einer föderalenStruktur mit dem Hinweis auf Abspaltungs-tendenzen zurückgestellt. So bestehen zwarregionale und lokale Regierungen, die jedochin direkter Abhängigkeit von der Zentralregie-rung stehen.

Die 1991 ratifizierte Verfassung stellte ein par-lamentarisches Regierungssystem mit einervom Parlament gewählten Exekutive dar.Nach und nach entwickelte sich das Systemin Richtung eines präsidialen Systems. DieStellung des Präsidenten wurde in den Jah-ren nach dem Bürgerkrieg sukzessive ge-stärkt, auch unter dem Vorwand derTerrorismusbekämpfung. Der Präsident wirdfür sieben Jahre direkt vom Volk gewählt, er-nennt den Premierminister und die Regie-rung. 1997 wurde ein weiteres Gremiumgeschaffen (Beratungskammer), deren Mit-glieder ausschließlich vom Präsidenten er-

1 Burrows, Robert: Prelude to Unification: The Yemen Arab Republic, 1962-1990, in: International Journal of Middle East Studies, Vol. 23 (1991) No. 4, S. 483-506.

2 Etwa zwei Drittel der Bevölkerung leben auf dem Gebiet des ehemaligen Nordjemen.

Page 144: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Jemen

Deutsches Orient-Institut 143

nannt werden. So gibt die starke Stellung desPräsidenten ihm die Möglichkeit, nicht auf de-mokratischem Weg legitimierte Kräfte in daspolitische System einzubeziehen. Im Jemenstützt sich dieses Patronagenetzwerk der Po-litik insbesondere auf informelle Kanäle, wel-che Sicherheitskräfte (aus denen Ali AbdullahSaleh hervorgegangen ist) und Stammesfüh-rer durch Kooptation einbeziehen. Die Fähig-keit, auf diesem Weg die Loyalitäteinflussreicher Personen zu gewinnen, stelltebereits vor der Vereinigung die grundlegendeVoraussetzung für die Machterhaltung Salehsim Nordjemen dar. Zwar ist die Verteilungwichtiger Ämter im Militär- und Sicherheitsap-parat noch keine Besonderheit im regionalenVergleich. Als charakteristisch für den Jemenkann allerdings die traditionell starke Stellungder Stämme gesehen werden. Vor allem imNorden des Landes entziehen sich weite Teileso den offiziellen staatlichen Institutionen undstützen sich auf Jahrhunderte lange tribaleTraditionen, Rechtskodizes und familiäreLoyalitätsbeziehungen.3 Hierbei spielt imJemen, anders als in anderen, eher noma-disch strukturierten Stammesgesellschaften,der Landbesitz eine wichtige Rolle, da dieStämme im Jemen vor allem als sesshafteBauern leben, wobei es auch hier regionaleUnterschiede gibt.

Die Stämme stellen seit jeher eine wichtigeMachbasis im Jemen dar und verfügen übersignifikante militärische und politische Macht.Bei vielen internen und externen Konfliktenwar entscheidend, welche Partei sich dieUnterstützung der mächtigsten Stämme si-chern konnte. Die historisch bedeutendstenStammeskonföderationen, Hashid und Bakil,konnten ihren Einfluss dabei über Generatio-nen hinweg aufrechterhalten. Einbezogenwerden die Stämme zum einen durch Pos-tenverteilung, vor allem aber durch finanzielleZuwendungen aus dem Ministerium fürlokale Angelegenheiten. Diese Form der Ko-optation erzeugte eine gegenseitige Abhän-gigkeit zwischen staatlichen Institutionen undStammesführern, die für lange Zeit die Stabi-lität des Regimes sicherstellte. Für weite Teileder Bevölkerung, die sich nicht oder nur se-kundär über eine Zugehörigkeit zu einem ein-flussreichen Stamm identifizieren, stellt dieseinen wesentlichen Kritikpunkt an der Regie-

rung und dem herrschenden Regime dar, dader Zugang sowohl zu politischer Macht wieauch insbesondere zu wirtschaftlichen Vorzü-gen auf informellem Weg vergeben werdenund so für den „Durchschnittsbürger“ uner-reichbar sind.

Gleichzeitig entfremdeten sich mancheStämme auch gerade durch die Verteilungs-politik Salehs von den Stammesführern, diebeispielsweise durch Posten im Parlamenteinbezogen werden sollten. Die Einbeziehungbetrifft also vor allem eine kleine Elite. Dieausgeschlossenen tribalen Elemente wendensich noch stärker vom Staat ab und suchen inihren traditionellen Gesellschaftsstrukturenden Rückhalt, den ihnen der Staat nicht bie-tet.4

Treibstoff dieses Patronagesystems sind dieEinnahmen des Landes aus dem Export vonÖl sowie finanzielle Zuwendungen aus demAusland. Da die Ölexporte bei weitem nichtan die der Nachbarländer herankommen undzudem in absehbarer Zeit vollständig versie-gen werden, und da ausländische Zuwen-dungen immer auch von der Weltpolitikabhängig sind, ist in den kommenden Jahreneine Neuausrichtung der Politik des Jemen,unabhängig von der Person an der Spitze desSystems, unausweichlich, da die bisherigeVergabepolitik langfristig nicht mehr funktio-nieren wird.5

II. Voraussetzungen für den Willen nachWandel

Politisch stabil war die Republik Jemen seitihrer Gründung noch nie. Verschiedene Kon-flikte erschütterten das Land, eine existen-zielle Bedrohung für das Regime stelltendiese aufgrund ihrer Fragmentierung bisherjedoch nicht dar. Die politische Marginalisie-rung großer Bevölkerungsteile in Kombinationmit massiven wirtschaftlichen Problemen ver-stärkte sich in den vergangen Jahren jedochvor allem auch aufgrund einer stark wach-senden Bevölkerung6 und brachte die staat-lichen Strukturen immer stärker inBedrängnis.

Seit 2004 befindet sich das Regime in einembewaffneten Konflikt mit schiitischen Aufstän-

3 Manea, Elham: Yemen: The Tribe and the State, http://www.al-bab.com/yemen/soc/manea1.htm, abgerufen am 02.09.2011.

4 Deutsches Orient-Institut: Die Stämme im Jemen. Chance oder Hindernis für Stabilität? Berlin 2010, S. 6.

5 USAID: Yemen Corruption Assessment 2006, http://www.yemen.usembassy.gov/root/pdfs/reports/yemen-corruption-assessment.pdf,abgerufen am 28.08.201.

6 Zwischen 1990 und 1995 lag das Bevölkerungswachstum bei über 4%, seitdem bei ca. 3%.

Page 145: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Jemen

Deutsches Orient-Institut144

dischen im Nordteil des Landes. Der Konfliktgeht auf die Zeit vor der Gründung der Repu-blik im Norden des Landes zurück und wirddurch Anhänger des religiösen Anführers derschiitisch-zaiditischen Konfession HusseinBadreddin al-Huthi getragen. Bevor der Nord-jemen 1962 Republik wurde, herrschte einzaiditischer Imam, wobei die Zaiditen nureinen kleinen Teil der Gesamtbevölkerung re-präsentierten. Vor allem seit dem Tod al-Hu-this 2004 flammt der Konflikt immer wiederneu auf. In diesem Konflikt spielt auch dernördliche Nachbar Saudi-Arabien eine ambi-valente Rolle.

Im Süden des Landes formiert sich seit 2007verstärkt eine separatistische Bewegung (ara-bisch: Hirak). Sie vereint verschiedene Grup-pierungen, denen die Dominanz des Nordensin Wirtschaft und Politik ein Dorn im Auge ist.Bereits der Bürgerkrieg 1994 war ein Kriegzwischen der ehemaligen sozialistischen Füh-rung des Südens und dem Regime Ali Abdul-lah Salehs. Inzwischen umfasst dieBewegung aber auch andere Gruppierungenaus Militär und lokalen Stämmen. Am 10. No-vember 2010 wurde der Führer der Bewe-gung verhaftet, was zahlreiche Demon-strationen im Süden des Landes hervorrief.7

Die konfliktreiche Gemengelage und der man-gelnde staatliche Zugriff sind ein wesentlicherPunkt für das verstärkte Auftreten des Al-Qaida-Netzwerkes. Seit vielen Jahren schonhat sich der Jemen zu einem bevorzugtenRückzugsgebiet für militante Islamisten ent-wickelt, vor allem seit sich der saudische undjemenitische Ableger zur Al-Qaida auf derArabischen Halbinsel (AQAH) zusammenge-schlossen haben. Die Präsenz Al-Qaidas imLand am Horn von Afrika machte Ali AbdullahSaleh zu einem Verbündeten der USA imKampf gegen den Terrorismus. Saleh wusstediese Position aber auch zu nutzen, um seineStellung im Land gegenüber anderen, nicht-islamistischen Gruppen abzusichern. Geradeim Konflikt im Süden des Landes stellteAQAH einen Gegenspieler zu Hirak dar, wasSaleh bis vor kurzem eher nützte als scha-dete.

Diese Konflikte stehen zunächst nicht in un-mittelbarem Zusammenhang mit den aktuel-len Protesten, stellen jedoch eine wichtigeVoraussetzung dar. Ein weiterer wichtiger

Punkt ist der andauernde Abstieg Jemenszum Armenhaus Arabiens. Die Blütezeiten, inder durch den Handel mit Weihrauch, Gewür-zen und Kaffee legendärer Wohlstand erreichtwurde, sind lange vorbei. Über 90% derStaatseinnahmen stammen aus dem Exportvon Erdöl, der jedoch im Vergleich zu denNachbarländern minimal8 ist, und in abseh-barer Zeit aufhören wird: Zwischen 2000 und2009 ging die Erdölproduktion bereits um dieHälfte zurück. Auch der Anbau von Qat, einerhauptsächlich lokal konsumierten, leicht be-rauschenden Droge stellt keine Alternative mitZukunft dar: 40% der Wasservorräte des Lan-des werden bereits durch den Anbau von Qatverbraucht, Nahrungsmittel werden kaum an-gebaut. Zudem bietet Qat keine Einnahme-quelle, eher bindet es das Einkommen derBevölkerung. Auch die Wasservorräte gehenimmer stärker zurück, was neben dem exzes-siven Qat-Anbau auch am starken Bevölke-rungswachstum liegt. 1980 lebten auf demGebiet des heutigen Jemen ca. 8 Mio. Men-schen, heute sind es ca. 24 Mio. Bis 2050 solldie Bevölkerung gar auf über 53 Millionensteigen. 31% der Bevölkerung sind zwischen15 und 30 Jahren, 45 % unter 15 Jahren. Be-reits heute liegt die Arbeitslosenquote selbstoffiziell bei 35%, inoffiziell sicherlich weit dar-über. Die stark wachsende junge Bevölkerunghat keine Aussichten auf Beschäftigung, da-gegen werden sie von steigender Armut,Wasser- und Nahrungsmittelknappheit be-droht.

Diese wirtschaftlichen Negativaspekte, die imVergleich mit anderen Ländern der Regiondeutlich massiver sind, treffen das Regimevon zwei Seiten: Zum einen versiegen mit densinkenden Staatseinnahmen die Quellen desPatronagenetzwerkes. Die Anzahl von ent-täuschten und konfliktbereiten Akteurennimmt kontinuierlich zu. Bisher gelang es AliAbdullah Saleh, die verschiedenen Gruppengegeneinander auszuspielen. Bereits vor Be-ginn der Revolution in Tunesien führte die An-kündigung Salehs, erneut für diePräsidentschaft kandidieren zu wollen, fürAufruhr innerhalb der politischen Opposition.Zusätzlich wurde jedoch allmählich eine poli-tische Kraft aktiviert, die vorher im Jemenkaum in Erscheinung getreten war: Sicherlichermutigt durch die Erfolge der Revolution inTunesien kam es am 15. Januar 2011 zu er-sten Protesten der Jugend und zivilgesell-

7 Warzinski, Julian und Julia von Franz: Ein Land im freien Fall, zenithonline.de, http://www.zenithonline.de/deutsch/politik//artikel/ein-land-im-freien-fall-001084, abgerufen am 13.08.2011.

8 Die Produktion nimmt seit 2003 ab. 2007 betrugen die Reserven 381 Mio. Tonnen.

Page 146: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Jemen

Deutsches Orient-Institut 145

schaftlichen Organisationen. Von Anfang anwurden Spruchbänder und Slogans in Anleh-nung an die Proteste in Tunesien und Ägyp-ten vorgebracht, die den Rücktritt Salehsforderten.

III. Akteure des Wandels und konkreteAuslöser

Diese konfliktgeladene Situation bestand imJemen bereits seit Jahren, weshalb man auchnicht von einem auslösenden Ereignis spre-chen kann. Sehr wesentlich war jedoch An-fang Januar 2011 die Ankündigung derRegierungspartei, im Zuge der für 2013 an-stehenden Präsidentschaftswahlen eine Ver-fassungsänderung anzustreben, die AliAbdullah Saleh nicht nur eine weitere Amts-zeit, sondern eine Präsidentschaft auf Le-benszeit ermöglich hätte und damit dieohnehin bestehende Vermutung einer ange-strebten Machtübergabe an seinen SohnAhmed Ali weiter verstärkt hat. Dafür sollte dieAmtszeit zwar auf fünf statt bisher siebenJahre begrenzt, im Gegenzug aber die Be-schränkung von zwei möglichen Legislatur-perioden aufgehoben werden. Bisher wurdediese Regelung dadurch umgangen, dass mitjeder Verfassungsänderung eine neue Zäh-lung der Amtszeiten begann. Diese Ankündi-gung verstärkte den Widerstand derpolitischen und gesellschaftlichen Opposition.

Verschiedene Oppositionsparteien haben sichbereits 2001 zu einem Bündnis zusammen-geschlossen, welches seitdem als stärksteparlamentarische Konkurrenz auftritt. DieJoint Meeting Parties (JMP) setzen sich ausder islamisch-traditionellen Islah und der ehe-maligen süd-jemenitischen Staatspartei, derJemenitischen Sozialistischen Partei (JSP)sowie weiteren, kleineren Parteien zusam-men. In der Vergangenheit wurde beispiels-weise ein gemeinsamer Gegenkandidat zuSaleh nominiert. Allerdings zeigte sich immerwieder, dass die Oppositionsparteien uneinigsind, was einerseits an der unterschiedlichenAusrichtung (religiös-traditionell vs. sozialis-tisch) liegt, wie auch an den langjährigen per-sönlichen Verbindungen führenderIslah-Politiker (insbesondere der Familie Al-Ahmar) zu Saleh. Dies ist auch der Grund,warum vor allem junge Anhänger der Protest-bewegung die Rolle der JMP kritisch sehen.Dennoch war es zunächst die parlamentari-sche Opposition, die erste Proteste organi-sierte. Zusätzlichen Schub bekamen diese

Proteste dann zweifellos mit dem Ausbruchder Revolution in Tunesien, worauf nicht zu-letzt eine zwischenzeitlich führende Vertrete-rin der Protestbewegung hinweist: TawakkulKarman, die Vorsitzende der Women Journa-

lists without Chains. Die Organisation setztsich schon seit 2005 für Menschenrechte,Meinungsfreiheit und Demokratie ein, seit2007 in regelmäßigen Demonstrationen, diesich zunächst vor allem gegen das Ministe-rium für Information und seine Politik zur „Len-kung“ der Meinungsäußerung richteten. Ihrlangjähriges Engagement wurde bereits 2010durch den International Women of Courage

Award gewürdigt. Karman steht dabei für einpositives Bild der jemenitischen Frauen, fürdie sie zwar kein repräsentatives Beispiel ist,in jedem Fall aber ein Hoffnungsschimmer.Dies gilt vielleicht umso mehr, als sie für Islah

im Parlament sitzt, und damit zeigt, dass derWille zur Veränderung nicht unbedingt aus„westlich“ oder „modern“ geprägten Gesell-schaftsteilen kommen muss. Sie lehnt auchdie Anti-Terror-Politik der Regierung gegen-über Al-Qaida ab und zeigt somit nicht etwaWidersprüche, sondern Konsequenz: Gewaltsei keine Lösung für Konflikte, daher seienfriedliche Demonstrationen der einzige Weg.9

Ob dies so für den Jemen gelten wird, ist auf-grund der Ereignisse eher fraglich. Trotz Ihreslangjährigen Engagements weist Karmanauch darauf hin, dass die Revolutionen in Tu-nesien und Ägypten wichtige Vorbilder für diejemenitische Protestbewegung waren. Wel-che Rolle Karman im weiteren Verlauf derProteste und in der Zukunft spielen wird, wirdaber auch davon abhängen, wie friedlich dieSituation im Jemen bleibt. Als Vertreterin derIslah-Partei steht natürlich auch sie teilweisein der Kritik, traditionelle, ehemals mit demPräsidenten kooperierende Kräfte zu unter-stützen.

Anders sieht dies für die einflussreiche Fami-lie al-Ahmar aus. Sie führt bereits seit dem 18.Jahrhundert die mächtige Stammeskonföde-ration der Hashid und war 1962 maßgeblicham Sturz des Imams und somit der Entste-hung der Republik im Norden des Jemen be-teiligt. Seitdem hatte die al-Ahmar-Familiestets auch wichtige Posten inne, vor allem derVater des aktuellen FamilienoberhauptsSadiq, Abbdullah al-Ahmar, mischte bis zuseinem Tod 2007 über Jahrzehnte in der Po-litik des Landes mit. Nach der Vereinigung1990 war Abdullah al-Ahmar einer der wich-tigsten Partner Salehs. Er stand der neu ge-

9 Baker, Eryn: The Woman at the Head of Yemens Protest Movement, time.com, http://www.time.com/time/world/article/0,8599,2049476,00.html, abgerufen am 28.08.2011.

Page 147: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Jemen

Deutsches Orient-Institut146

gründeten Islah-Partei vor, die in der Ausein-andersetzung zwischen den ehemaligenStaatsparteien des Nordens und des Südensenger mit Saleh paktierte. Abdullah al-Ahmarsetzte sich stets für den Präsidenten ein,wurde dafür regelmäßig als Parlamentspräsi-dent gewählt, obwohl Saleh über eine Parla-mentsmehrheit verfügte.

Die enge Beziehung nutzte der Familie nichtnur politisch, sondern sicherte ihr wirtschaftli-che Vorteile, die sich an den vielfältigen Akti-vitäten der Al-Ahmar Group of Companies

ablesen lassen. In den vergangenen Jahrenlitt diese enge Beziehung, weil sich zum einenabzeichnete, dass Saleh seinen Sohn AhmedAli als Amtsnachfolger in Stellung brachte.Dadurch und durch die sich verschlechterndeWirtschaftslage des Landes konzentrierteSaleh sich bei Zuwendungen verstärkt auf dieengere Familie. Zum anderen schmälerteauch der Tod von Abdullah al-Ahmar, in des-sen sehr große Fußtapfen Sheikh Sadiq al-Ahmar als Führer der Hashid trat, denEinfluss der Familie auf Saleh. Sadiqs jünge-rer Bruder Hamid gilt als wesentlich ambitio-nierter als seine insgesamt neun Brüder undzeigt dies auch während der aktuellen Pro-teste. Er unterstützte die Demonstrationenvon Anfang an, unter anderem durch den zuseinem Firmenimperium gehörenden Mobil-funkanbieter Sabafon. Die privilegierte Situa-tion und die wichtige Rolle als langjährigeUnterstützer Salehs diskreditierten die Fami-lie bei großen Teilen der Protestbewegung.Saleh versuchte dies zu nutzen, und die Fa-milie als treibende Kraft der Proteste darzu-stellen, was die Situation für ihn jedochanfangs nicht verbessern konnte. Die Aus-einandersetzung zwischen dem Haus al-Ahmar und Saleh blieb zwischenzeitlich nichtauf politische Mittel begrenzt und führte zurschweren Verwundung des Präsidenten imJuni 2011 und damit zu seiner Ausreise zurmedizinischen Behandlung nach Saudi-Ara-bien. Auch wenn zwischenzeitliche Meldun-gen, ein Nachfolger Salehs könnte aus demHause al-Ahmar kommen, sowohl von Teilender Protestbewegung vehement abgelehntwerden, sowie durch Äußerungen von Sadiqal-Ahmar relativiert wurden, wird die Familiewieder eine wichtigere Rolle im politischenGeschehen spielen, wie sich bereits durch dieEinbindung in den Übergangsrat zeigt. FürAufsehen sorgte die öffentliche Unterstützungder Protestbewegung durch General Ali

Muhsin. Er galt lange als einer der wichtigstenVertrauten Salehs, was auch seine zentraleRolle im Konflikt mit den Huthi-Rebellen imNorden des Landes zeigt. Muhsin steht je-doch nicht für die gesamte jemenitischeArmee. Enge Verwandte des Präsidentenkontrollieren beispielsweise die Republikani-sche Garde und andere Spezialeinheiten, dieweiter auf der Seite Salehs stehen. DerSchwenk Muhsins wird zudem, ähnlich wiebei den al-Ahmars, von manchen Regime-gegnern kritisch gesehen, da er ebenso wenigfür einen Wandel steht, sondern eher für eineBeibehaltung des Status quo unter andererFührung.

Insbesondere der nördliche Nachbar Saudi-Arabien beobachtet die fragile und volatile Si-tuation im Jemen mit Besorgnis. Dabeiverfolgt Saudi-Arabien eigene Ziele, die poli-tischer, aber auch ideologischer Art sind. DieSchwäche der jemenitischen Regierung be-reitet Saudi-Arabien vor allem in Bezug aufden Huthi-Konflikt Sorge. Von saudischerSeite wird iranische Schützenhilfe für die schi-itischen Rebellen an der Grenze zwischenJemen und Saudi-Arabien vermutet, was imZusammenhang mit der Rivalität zwischenSaudi-Arabien und Iran in der Golfregion zusehen ist. Die orthodox-konservative Ausle-gung des Islam nach wahhabitischer Lehre,die in Saudi-Arabien ihren Ursprung hat, siehtSchiiten als Ungläubige, womit der Konfliktzwischen Iran und Saudi-Arabien real- und si-cherheitspolitische, aber auch religiös-ideolo-gische Bedeutung erlangt hat. Da dassaudische Königshaus auch Anschlagszielvon islamistischen Terroristen ist, setzte essich für den US-unterstützten Kampf gegenden Terrorismus ein. Ein rechtsfreier Raum inunmittelbarer Nachbarschaft, in dem 24 Mio.Menschen leben, der schiitischen Rebellenund radikalen, antiwestlichen TerroristenRückzugs- und Operationsmöglichkeiten bie-ten würde, ist wohl eine der größten Ängsteder saudischen Außenpolitik. Bis zu den Pro-testen war aus dieser Perspektive Ali AbdullahSaleh der logische KooperationspartnerSaudi-Arabiens, da er für die aus saudischerSicht dringend benötigte Stabilität stand. Fürdie Zukunft wird Stabilität und Sicherheitweiterhin Saudi-Arabiens erste Priorität inBezug auf den Jemen sein, weshalb man sichauch für einen geordneten Machtübergangeinsetzte.10

10 Boucek, Christopher: Higher Stakes in Yemen, Carnegie Endowment for Peace, http://www.carnegieendowment.org/2011/06/14/higher-stakes-in-yemen/1rl#future, abgerufen am 31.08.2011.

Page 148: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Jemen

Deutsches Orient-Institut 147

IV. Auswirkungen des „Arabischen Früh-lings“

Mit den Ereignissen in Tunesien und Ägyptenweiteten sich auch die Proteste im Jemenaus. Ende Januar 2011 kam es erstmals zuGroßdemonstrationen mit ca. 16.000 Men-schen in Sanaa, was Saleh am 2. Februardazu brachte, seinen Verzicht auf eine wei-tere Amtszeit und eine Übergabe der Regie-rung an seinen Sohn zu erklären. Nach demRücktritt Hosni Mubaraks verstärkte sich dasEngagement der außerparlamentarischenOpposition, wesentlich mehr spontane De-monstrationen kamen im ganzen Land zuStande. Trotz teilweiser unterschiedlicher Po-sitionen und gegenseitiger Skepsis vereintedie Forderung nach dem Rücktritt Salehs nunnicht nur JMP, Jugend- und Menschenrechts-bewegungen, sondern auch Huthi-Anhängerim Norden des Landes und Separatisten imSüden. Im Süden kommt es dabei bereits indieser Phase zu größeren Auseinanderset-zungen. Aber vor allem das brutale Vorgehender Sicherheitskräfte am 18. März in Sanaa,als über 50 Tote und über 600 Verletzte zu be-klagen sind, lässt einen Riss durch das Re-gime gehen. In den folgenden Tagen tratenmehrere Minister und Botschafter zurück,Saleh entließ die Regierung.

Zahlreiche Stammesführer wandten sich ab,Sadiq al-Ahmar forderte offen den Rücktrittdes Präsidenten.11General Ali Muhsin, der alsenger Vertrauter Salehs galt, setzte seine Sol-daten zum Schutz der Demonstranten aufwichtigen Plätzen in Sanaa ein, die Protesteblieben jedoch weitestgehend friedlich. EndeMärz erklärte Saleh erstmals, unter bestimm-ten Bedingungen zum Rücktritt bereit zu sein.Ein Vermittlungsabkommen der im Golfkoo-perationsrat vertretenen Länder, allen voranSaudi-Arabien, nahm Saleh zunächst münd-lich an. Demnach hätte Saleh die Präsident-schaft nach 30 Tagen an seinen Stellvertreterübergeben, der einer Einheitsregierung ausRegierungspartei und Opposition vorstehensollte, bis es nach 60 Tagen Neuwahlengeben sollte. Im Gegenzug wäre Saleh straf-rechtliche Immunität gewährt worden. Insge-samt dreimal verweigerte Saleh dieUnterschrift, schließlich umstellten Sicher-heitskräfte das Gebäude, in dem sich inter-nationale Vertreter in Erwartung derUnterzeichnung befanden und mit Helikopternevakuiert wurden. Der Kompromissvorschlagspaltete jedoch auch die Gegner Salehs, da

sich die zivile Protestbewegung von den Ver-handlungen ausgeschlossen sah und be-fürchtete, die Vertreter der JMP könnten dieMacht übernehmen. Insgesamt nahm nunauch die Gewalt zu, wobei dies nicht von derProtestbewegung ausgeht. In Sanaa hattensich vor allem Gefolgsleute der al-Ahmarseingefunden, aber auch im Süden und Nor-den des Landes kam es zu verstärkten Kämp-fen zwischen regimetreuen Militär- undSicherheitskräften und Oppositionellen. Inden südlichen Provinzen zog sich die Armeejedoch relativ bald aus den Städten zurück.Bei den Kämpfen in Sanaa wurde Salehschwer verletzt, und am 5. Juni zur Behand-lung nach Saudi-Arabien ausgeflogen.

Nachdem auf saudische Vermittlung ein Waf-fenstillstand zwischen Regierungskräften undStammesführern verhandelt wurde, kam esnur noch zu wenigen größeren Auseinander-setzungen. Bis zur Entlassung Salehs ausdem Krankenhaus am 16. August herrschteweitestgehend Stillstand. Erst die erneute An-kündigung seiner Rückkehr, und auch die Er-eignisse in Libyen (Einnahme Tripolis’ durchdie Rebellen) führten zur Bildung eines langegeforderten Übergangsrates, der jedoch diezivile Protestbewegung kaum mit einbezog.

V. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure

Die ersten Reaktionen des Regimes auf dieProteste im Januar waren repressiven Cha-rakters. Wenn auch in weniger starker Inten-sität, so wurden doch Sicherheitskräftemobilisiert und Regimekritiker festgenommen.Vor allem die Festnahme von Tawakkul Kar-man, charismatische Führungspersönlichkeitdes Netzwerkes Womens Journalists without

Chains, verstärkte die Proteste jedoch. DerAufruf Salehs, keine Gewalt gegen Demon-stranten anzuwenden, verhallte. Anfang Märzwurde neben Tränengas und Gummige-schossen auch scharfe Munition eingesetzt.Auch wenn im ganzen Land hart gegen De-monstranten vorgegangen wurde, so warendoch im Süden, vor allem im Hadramaut undAden, die Zusammenstöße wesentlich hefti-ger. Zwischenzeitlich sah es nach einem mög-lichen Bürgerkrieg aus, nachdem Saleh dasLand verlassen hatte, beruhigte sich die Lagein dieser Hinsicht etwas.

Aber nicht nur Gewalt, auch die Mobilisierungder eigenen Anhänger war eine Reaktion aufdie zunehmenden Proteste. Zwar ist ein

11 Dies stellt durch die Tatsache, dass Salehs Stamm zur Konföderation der Hashid gehört, eine besondereKonstellation dar.

Page 149: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Jemen

Deutsches Orient-Institut148

Grund für die große Unterstützung dieser Pro-Saleh-Demonstrationen vermutlich auch diefinanzielle und materielle Ausstattung der Re-gimeanhänger, doch ist die Bevölkerung ins-gesamt durchaus gespalten, so dass es auchzu Unterstützung des Regimes von Bürgernkam und kommt, die schlicht Angst vor einerAusweitung der Proteste hatten. AnhängerSalehs blockierten auch Straßenzüge undPlätze und verwehrten so Regimekritikern Zu-gang zu Protestaktionen.

Auch auf die wirtschaftliche Ursache der Pro-teste reagierte das Regime unmittelbar. Sokündigte Saleh an, die Gehälter für Staatsbe-dienstete zu erhöhen, staatliche Zuschuss-programme auszuweiten und weitere Stellenim Staatsdienst zu schaffen. Diese Ankündi-gungen lösten aber selbst bei Regimebefür-wortern Widersprüche aus, da deraufgeblähte Staatsdienst als ein wesentlicherGrund der fiskalischen Misere gilt und dieseAnkündigungen daher ebenso leicht durch-schaubar waren wie nicht umsetzbar. Nebendiesen wirtschaftlichen Zugeständnissen warSaleh auch zu politischen Kompromissen be-reit, die vor Beginn der Proteste noch alsgroße Erfolge der Opposition wahrgenommenworden wären. Dementsprechend wurden dieAnkündigungen auch befürwortet, jedoch mitder Forderung nach weiteren Schritten verse-hen. Saleh kündigte an, nicht mehr für eineweitere Amtszeit zu kandidieren, sowie ereine Amtsübernahme durch Familienmitglie-der ausschloss. Ebenso sollte die Verfas-sungsklausel, nach der die Begrenzung derLegislaturperioden für den Präsidenten hätteaufgehoben werden sollen, zurückgenommenwerden. Die wesentliche Forderung nacheinem vorzeitigen Rücktritt sollte aber zu-nächst unerfüllt bleiben.

Nachdem die Protestbewegung nach demRücktritt des ägyptischen Präsidenten neuenSchwung gewonnen hatte, versuchte Salehdurch Gespräche mit Stammesvertretern dieUnterstützung der militärisch wichtigenStämme für die Demonstranten durch die Zu-sicherung weiterer finanzieller Zugeständ-nisse zu beenden. Dies zeigte für dieDemonstranten nur erneut, dass es Salehnicht um inhaltliche Zugeständnisse und poli-tische Reformen ging, sondern um die Fort-führung seiner bewährten Methoden desMachterhalts. Die anhaltenden Proteste lie-ßen auch die Maßnahmen des Regimes es-kalieren. Nach den Vorkommnissen vom 18.

März traten mehrere Minister aus der Regie-rung aus. Auch der Führer des größten Stam-mes, Sadiq al-Ahmar, und der führendeGeneralmajor der Streitkräfte, Ali Muhsin, er-klärten ihre Solidarität mit der Protestbewe-gung.12

Dennoch blieben weite Teile der Armee aufder Seite Salehs. Die Rückkehr Salehs ausSaudi-Arabien wurde mehrmals angekündigt,Ende August bekräftigte Saleh seinen Willen,nach Sanaa zurückzukehren in einem erstenFernsehauftritt nach seiner Verwundung an-lässlich des Fastenbrechens nach dem Ra-madan, ließ den Zeitpunkt jedoch offen. AlsVorbedingung für Präsidentschaftswahlennannte er die abschließende Untersuchungdes auf ihn verübten Angriffs, der zu seinerVerwundung geführt hatte. Damit ging er aufKonfrontationskurs mit der Familie al-Ahmar,deren Anhänger in diese Kämpfe involviertwaren.

VI. Zukunftsszenarien

Der Machtkampf im Jemen ist nicht beendet,Ali Abdullah Saleh spielt weiter auf Zeit. Zwarbekommt die Protestbewegung durch die Er-folge der Rebellen in Libyen neuen Schwung,doch ist die Lage im Jemen völlig anders.

Die Bildung einer Übergangsregierung, die inbreiten Teilen der Bevölkerung akzeptiertwird, ist bislang nicht gelungen. Dies dürfteauch schwierig werden, wenn die Protestbe-wegung an der Forderung festhält, dass nurPersonen ohne Verbindung zur aktuellen Elitedarin vertreten sein sollen. In dieser Elite ste-hen einige Persönlichkeiten, die über erhebli-che militärische Mittel verfügen und bereitsgezeigt haben, dass sie auch bereit sind,diese einzusetzen, wenn sie ihre Interessennicht berücksichtigt sehen. Gleichzeitig verfü-gen v.a. die Familie al-Ahmar und GeneralMuhsin auch über sehr gute Beziehungen zuSaudi-Arabien. Das Königreich schien mitdem Vermittlungsangebot der GCC-Länderschon von Saleh abgerückt zu sein. Die Un-einigkeit der Protestbewegung und der Op-position dürfte die Bereitschaft, mit Salehweiter zusammen zu arbeiten, hier jedochdeutlich erhöht haben. Eine Fortsetzung derPolitik der vergangenen Jahre dürfte fürSaudi-Arabien auf den ersten Blick sicherlicheine akzeptable Lösung der Situation sein.Saudi-Arabien wird ein politisches Vakuum imJemen nicht zulassen und seinen Einfluss auf

12 International Crisis Group: Popular Protest in North Africa and the Middle East (II): Yemen between Re-form and Revolution,10. Mai 2011.

Page 150: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Jemen

Deutsches Orient-Institut 149

die Politik weiter wahren wollen. Dennochmuss auch hier mittelfristig ein Prozess desUmdenkens einsetzen, da eine Fortsetzungdieser Politik langfristig nicht mehr möglichsein wird. Die Ressourcen des Landesschwinden, die Bevölkerung wächst weiter,der soziale Druck wird zunehmen.

Die USA und die EU haben die Zeichen derZeit vermutlich schon erkannt. Dennoch wirdes schwer möglich sein, gegen die InteressenSaudi-Arabiens Einfluss zu nehmen. Nunrächt sich die Politik der vergangenen Jahre,in der man Stagnation und Rückschritte hin-sichtlich der demokratie- und entwicklungs-politischen Ziele hinnahm, sobald Gefahrdurch Terroristen im Verzug war. Man hat sichzu wenig mit den Kräften beschäftigt, die sichgegen Saleh gestellt haben.

Im Verlauf der Proteste schienen schon ver-schiedenste Szenarien möglich. Ein neuer ge-samt-jemenitischer Nationalismus wurdeebenso ausgerufen, wie die Abspaltung desSüdens bereits beschlossene Sache schien,und Al-Qaida im Sindjibar kurz vor der Errich-tung eines „Gottesstaates“ stand. Während-dessen hat sich die ohnehin katastrophalewirtschaftliche Situation zugespitzt. Strom,Benzin, Wasser und Lebensmittel sind knap-

per und teurer denn je. Die Preise für Le-bensmittel sind seit Januar um bis zu 60% ge-stiegen, für Trinkwasser und Benzin um einVielfaches. Es mehren sich die Stimmen, diedarauf verweisen, dass Nahrung und Sicher-heit die Voraussetzungen für Freiheit und De-mokratie sind.

Doch auch im Jemen hat der „ArabischeFrühling” die politische Landschaft nachhaltigverändert. Die Protestbewegung wird sichnicht ohne weiteres zurückdrängen lassenoder aufgeben. Zumindest haben die Erfah-rungen der vergangenen Monate gezeigt,dass auch im Jemen eine Generation heran-wächst, deren Bedürfnisse nicht ignoriert wer-den können. Aber es wird vermutlich auchkeine vollständige Umwälzung der politischenVerhältnisse geben, weil keine Kraft im Landstark genug ist, sich durchzusetzen, undBündnisse schon während der Proteste zer-brechen. Gleichzeitig zeigen auch externe Ak-teure entweder zu wenig Einfluss-möglichkeiten oder zu wenig Interesse, dasRisiko eines klaren Bekenntnisses einzuge-hen, solange sich noch nicht abzeichnet, wergestärkt, und wer geschwächt aus den ak-tuellen Protesten hervorgeht.

Peter Schmitz

VII. Literaturangaben

ALMASRYALMYOUM.COM: Special from Yemen: Economic woes generate growing calls for protest closure, http://www.almasryalyoum.com/en/node/474474, abgerufen am 01.09.2011.

BAKER, ERYN: The Woman at the Head of Yemens Protest Movement, time.com,

http://www.time.com/time/world/article/0,8599,2049476,00.html, abgerufen am 28.08.2011.

BURROWS, ROBERT: Prelude to Unification: The Yemen Arab Republic, 1962-1990, in:International Journal of Middle East Studies, Vol. 23 (1991) No. 4, S. 483-506.

DEUTSCHES ORIENT-INSTITUT: Die Stämme im Jemen. Chance oder Hindernis für Stabilität? Berlin 2010.

DEUTSCHES ORIENT-INSTITUT: Die Beziehungen Saudi-Arabien – Jemen. Ein kompliziertes Verhältnis, Berlin 2010.

GLOSEMEYER, IRIS: Politische Akteure in der Republik Jemen. Wahlen, Parteien und Parlamente, Hamburg 2001.

INTERNATIONAL CRISIS GROUP: Popular Protest in North Africa and the Middle East (II): Yemen between Reform and Revolution, 10. Mai 2011.

Page 151: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Jemen

Deutsches Orient-Institut150

KOPP, HORST: Jemens Abstieg zu Arabiens Armenhaus, NZZ Online, http://www.nzz.ch/nachrich-ten/wirtschaft/aktuell/jemens_abstieg_zu_arabiens_armenhaus_1.10375863.html, abgerufen am 14.August 2011.

MANEA, ELHAM: The Tribe and the State, al-bab.com, http://www.al-bab.com/yemen/soc/manea1.htm, abgerufen am 27. August 2011.

PHILIPS, SARAH: Eveluating Political Reform in Yemen, Carnegie Papers, http://www.carnegieendowment.org/files/cp_80_phillips_yemen_final.pdf, abgerufen am 28.08.2011.

SCHMITZ, CHARLES: Jemens langer Sommer, The European, http://www.theeuropean.de/charles-schmitz/7684-demonstrationen-im-jemen,abgerufen am 30.08.2011.

USAID: Yemen Corruption Assessment 2006, http://yemen.usembassy.gov/root/pdfs/reports/yemen-corruption-assessment.pdf, abgerufen am 28.08.2011.

WARZINSKI, JULIAN, FRANZ, JULIA VON: Ein Land im freien Fall, zenithonline.de, http://www.zenithonline.de/deutsch/politik//artikel/ein-land-im-freien-fall-001084, abgerufen am 13.08.2011.

Page 152: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Vereinigte Arabische Emirate

Deutsches Orient-Institut 151

1 CIA – The World Factbook.2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.3 The World Bank, Population density (people per sq. km of land area),

http://www.data.worldbank.org/indicator/EN.POP.DNST.4 CIA – The World Factbook. 5 CIA – The World Factbook. 6 CIA – The World Factbook.7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.8 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators,

http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles.10 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN.12 CIA – The World Factbook. 13 CIA – The World Factbook. 14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.15 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.16 Germany Trade and Invest, Wirtschaftsdaten kompakt: Vereinigte Arabische Emirate, Mai 2011,

http://www.gtai.de/ext/anlagen/PubAnlage_7782.pdf?show=true.17 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human

Development Indicators, http://hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html.18 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm.19 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia,

http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf.20 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us.21 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,

http://hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 22 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection:

Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/.

23 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf.

24 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://www.info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp.

25 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

Landesdaten Vereinigte Arabische EmirateFläche1 2011 83.600 km²Bevölkerung2 2010 4.700.000Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 56

Ethnische Gruppen4 2010Emiratis 19%, andere Araber und Iraner 23%, Südasiaten 50%

Religionszugehörigkeit5 2010Muslime 96% (Schiiten 16%), andere (wie z.B. Christen, Hindus) 4%

Durchschnittsalter6 2010 30,2 JahreBevölkerung unter 15 Jahren7 2011 18%Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 1%Lebenserwartung9 2010 76,51 JahreBevölkerungsprognose bis 205010 2010 8.300.000Geburten pro Frau11 2009 1,9Alphabetisierungsrate12 2010 77,9%Nutzer Mobiltelefone13 2009 10.672.000Nutzer Internet14 2009 3.555.100Nutzer Facebook15 2011 2.340.000Wachstum BIP16 2011 3,2%BIP pro Kopf17 2010 56.485 USDArbeitslosigkeit18 2010 2,5%Inflation19 2011 0,9%S&P-Rating20 2011 AAHuman Development Index21 2010 Rang 32 (von 169)

Bildungsniveau22 2010 Rang 95 (von 177)

Bildungsniveau der Frauen (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)23

2010 76,9%

Politische Teilhabe24 2010 23,7%Korruptionsindex25 2010 Rang 28 (von 178)

Page 153: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Vereinigte Arabische Emirate

Deutsches Orient-Institut152

Vereinigte Arabische Emirate

Jahrelang erfreuten sich die Vereinigten

Arabischen Emirate (VAE) dank politischer

und wirtschaftlicher Stabilität dem Ruf als

„sicherer Hafen“. Ausländische Unterneh-

men schätzten die Emirate als wichtigen

Standort und Investoren lobten die vielen

Investitionsmöglichkeiten. Doch im Zuge

des „Arabischen Frühlings“, der Finanz-

krise in Dubai und der Proteste der Ar-

beitsimmigranten stellt sich die Frage, wie

stabil dieser Hafen denn eigentlich ist oder

ob der „Fels in der Brandung“ allmählich

anfängt zu bröckeln.

I. Politisches System und gesellschaftli-

che Entwicklung

Im Dezember 1971 von Großbritannien in dieUnabhängigkeit entlassen, trafen sich dieHerrscher der sechs Emirate Abu Dhabi,Ajman, Dubai, Fujaira, Sharjah und Umm al-Qaiwan, um eine Union zu gründen. Im Fe-bruar 1972 trat Ra’s al-Khaima dem Bund, derseinen ersten Präsidenten in Zayid bin SultanAl Nahyan gefunden hatte, bei. Seitdemspricht man von den VAE als eine Föderationaus sieben Emiraten, deren Hauptstadt AbuDhabi ist. Die Organe und Institutionen dieserFöderation sind jedoch nur bedingt hand-lungsfähig, da die Autonomie der sieben Emi-rate verfassungsrechtlich geschützt ist. DieFöderationsregierung beschränkt sich zu-meist auf übergeordnete Politikfelder, wie diegemeinsame Außenpolitik, Sicherheit, Polizei,Verteidigung, Geheimdienst, Gesundheitspo-litik, Währung, Bildung und Passformalitäten.Nach Artikel 116 der Verfassung üben dieEmirate „alle durch diese Verfassung nicht andie Föderation abgegebenen Befugnisse“aus. Dieser Bundescharakter soll im Bedarfs-fall gegenseitige Unterstützung1 und eine ziel-gerichtetere und effektivere Politikgewährleisten. Zunächst einmal wirtschaftetjedes Emirat für sich und besitzt eigene, lo-

kale Regierungen, deren Komplexität und Ar-beitsspektren vom jeweiligen Emirat abhän-gen. Bei Entscheidungen von regionaler oderinternationaler Tragweite bemühen sich dieVAE jedoch, als geschlossener Akteur aufzu-treten, um den eigenen Anliegen mehr Ge-wicht verleihen zu können2. Theoretischkönnen die Emirate zwar einen Teil ihrer Be-fugnisse abtreten, praktisch aber sind sie dar-auf bedacht, ihre Eigenständigkeit zu wahren.

An der Spitze des Bundesstaates steht derPräsident, derzeit Scheich Khalifa bin ZayidAl Nahyan. Die Herrscher der sieben Emiratebilden mit dem Obersten Rat (Supreme Coun-

cil) das höchste Verfassungsorgan. Sie habensowohl legislative als auch exekutive Befug-nisse und wählen aus ihren Reihen den Prä-sidenten und seinen Stellvertreter für eineAmtszeit von fünf Jahren. Zusammen bestim-men sie die Richtlinien der Politik, wobei AbuDhabi und Dubai ein Vetorecht besitzen3.

Der Bundesnationalrat (Federal National

Council) besteht aus 40 Mitgliedern, die zureinen Hälfte vom Obersten Rat und zur an-deren Hälfte durch einen Prozess indirekterWahlen ermittelt werden. Die Anzahl der Mit-glieder, die jedes Emirat stellen darf, ergibtsich aus der jeweiligen Einwohnerzahl4. Inner-halb der legislativen Gesetzgebung kommtdem Bundesnationalrat nur eine konsultie-rende Funktion zu. Er ist Mitglied in der Inter-nationalen Parlamentarischen Union (IPU)und der Arabischen Parlamentarischen Union(APU). Mit einem westlichen Parlament ist derBundesnationalrat jedoch nicht zu verglei-chen, da er keine wesentlichen Befugnisseoder Kompetenzen besitzt.

Die herausragende Stellung der beiden Emi-rate Abu Dhabi und Dubai im Obersten Ratund im Bundesnationalrat lässt sich zumEinen mit einer höheren Einwohnerzahl5 undzum Anderen mit höheren Einnahmen durchgrößere Ölvorkommen6 begründen.

1 Das war beispielsweise der Fall bei der Finanzkrise in Dubai 2009: Als Dubai Zahlungsschwierigkeiten verlauten ließ, sagte Abu Dhabi seinem Nachbaremirat finanzielle Unterstützung von zunächst 10 Mrd. USD zu.

2 Das trifft zum Beispiel im Falle der OPEC, der UNO, der Arabischen Liga oder des Golf-Kooperationsra-tes zu.

3 Artikel 49 der Verfassung: “Issuing the decisions of the Supreme Council on substantive matters shall beby a majority of five of its members provided that this majority includes the votes of the Emirates of Abu Dhabi and Dubai. The minority shall be bound by the view of the said majority (…)”.

4 Abu Dhabi und Dubai entsenden jeweils acht, Ra’s al-Khaima und Sharjah sechs und Ajman, Fujaira undUmm al-Qaiwan jeweils vier Mitglieder.

5 Das nationale Amt für Statistik der VAE ging 2010 von einer Gesamtbevölkerung (nur Staatsbürger) von947.997 aus. Dabei betrug die Einwohnerzahl emiratischer Staatsbürger in Abu Dhabi 404.546 und inDubai 168.029.

6 Abu Dhabi 92,2 Mrd. Barrel, Dubai 4 Mrd. Barrel, Sharjah 1,5 Mrd. und Ras al-Khaimah 100 Mio. Barrel Öl.

Page 154: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Vereinigte Arabische Emirate

Deutsches Orient-Institut 153

Der Ministerrat und das Kabinett bilden dieExekutive der Emirate. Sie bestehen aus denFachministerien und werden von dem Minis-terpräsidenten angeführt, der vom Präsiden-ten und dem Obersten Herrscherrat ernanntwird. Die Bundesjustiz genießt laut Verfas-sung völlige Unabhängigkeit. An ihrer Spitzesteht das Oberste Gericht, welches aus fünfvom Obersten Rat bestimmten Richtern be-steht. Deren Aufgabe ist es, über die Verfas-sungsmäßigkeit von Bundesgesetzen zuentscheiden und Streitigkeiten zwischen deneinzelnen Emiraten beizulegen.

Trotz ihrer institutionellen Gliederung kanndas politische System nicht als parlamentari-sche Demokratie bezeichnet werden; viel-mehr weist es drei wesentliche Merkmaleeiner autoritären Herrschaft7 auf:

1. Fehlen einer ausformulierten Ideologie;2. geringer Mobilisierungsgrad: Bedingtdurch die Ideologielosigkeit gelten ein-heitliche Widerstände als unwahr-scheinlich;

3. begrenzter Pluralismus: Der geringeMobilisierungsgrad führt einerseits zueiner Entpolitisierung der Massen, an-dererseits zu einer Stärkung der vor-handenen Mächte. Oppositionen undMedien gelten als Indikatoren, um denGrad des begrenzten Pluralismus fest-zulegen.

Den sieben Herrschern der Emirate – inklu-sive dem Präsidenten – kommt eine be-sonders gewichtige Stellung zu: Sie alleinbestimmen die Richtlinien der Politik, und al-lein von ihnen geht alle Macht aus. Nur we-nige Familienclans sind Teil dieserMachteliten, allen voran die Häuser der Al Na-hyan und der Al Maktoum, die gegenwärtigden Präsidenten Scheich Khalifa bin Zayedbin Sultan Al Nahyan und den Regierungs-chef Mohammed bin Rashid Al Maktoum stel-len. Ihre Stellung wird durch das offizielleVerbot von Regierungsparteien, Oppositionenund Gewerkschaften noch weiter gestärkt.Hinzu kommen Einschränkungen in Mei-nungs-, Rede- und Pressefreiheit, obwohldiese laut Verfassung eigentlich geschützt

sind8. In der Praxis finden vornehmlich das1980 erschienene Publications and Printing

Law und das Press Law von 2009 Anwen-dung, die jegliche Kritik an den Präsidenten,den Herrschern, dem Islam, dem Führungs-stil oder befreundeten Staaten unter Strafestellen.

Aber auch wenn das politische System auto-ritäre Züge aufweist, erfreut sich die Regie-rung großer Beliebtheit. Mit Scheich Khalifa(geb. 1945) und Regierungschef Mohammed(geb.1949) und ihren Söhnen ist auch, im Ver-gleich zu anderen Golfmonarchien, die jün-gere Generation in den Herrschaftsetagenweitgehend vertreten. Anders als in Ägypten9,Saudi-Arabien10 oder Kuwait11 können dieVAE einzig und allein schon wegen des ver-gleichsweise jungen Alters der Herrscher ziel-gerichteter auf die Bedürfnisse der jüngerenBevölkerung eingehen. Mohammed binRashid Al Maktoum beispielsweise gilt als Mo-dernisierer, und als Herrscher von Dubai be-reitet er das Emirat schrittweise auf eine Zeitnach dem Öl vor. Er beauftragte die Realisie-rung zahlreicher Projekte, darunter die Frei-handelszonen, das Dubai Shopping Festival,den Bau des Burj al-Arab und The Palm. Auf-fällig an dem politischen System der VAE ist,dass es sowohl moderne als auch traditionelleElemente in sich vereint. So ziehen die Herr-scher der Emirate ihre Legitimität nicht alleinaus ihrer Funktion im Staat, sondern auch ausdem hierarchischen Aufbau der Stämme12

und deren Loyalität untereinander. Theore-tisch ist auch das islamische Prinzip derShura, wonach jeder Muslim seinen Herr-scher mit seinem Anliegen oder seinen Fra-gen konsultieren kann, in den VAE vertreten.Zudem wird jedes Gesetz auf Islamkonfor-mität geprüft.

In der Politik und im Alltagsleben erfährt dieoffizielle Religion des Landes, der Islam, eineeher ungezwungene Anwendung. Zwar nenntdie Verfassung die Scharia als Hauptrechts-quelle, sie findet in der Praxis – mit Ausnahmedes Familienrechts – jedoch kaum Anwen-dung. Bei zivilrechtlichen Angelegenheitenwird häufig die Verfassung als wesentlicheRechtsquelle genannt, es folgen Bundes- und

7 Definition nach Juan J. Linz.8 Artikel 30: “Freedom of opinion and expressing it verbally, in writing or by other means of expression shall

be guaranteed within the limits of law”.9 bis 2011: Muhammad Husni Mubarak (geb. 1928).10 Abdullah ibn Abd al-Aziz al-Saʿud (geb. 1924).11 Sabah al-Ahmad al-Dschabir Al Sabah (geb. 1929).12 Bani Yas ist ein Stamm, der sich historisch gesehen aus mehreren Stämmen zusammensetzt. Darunter

al Bu Falasah, aus dem wiederum die Familie Maktoum (Herrscherfamilie in Dubai) hervorgeht. Angeführtwurde der Bani Yas Stamm, der Koalitionen mit anderen Stämmen unterhielt, von der Nahyan-Familie.

Page 155: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Vereinigte Arabische Emirate

Deutsches Orient-Institut154

Emiratsgesetzgebung, Scharia und Handels-bräuche sowie Praxis13. Vor allem die Lageder Frauen hat sich seit der Gründung der Fö-deration stetig verbessert: Auf ihre Bildungwird immer mehr Wert gelegt; sie studieren,arbeiten und finden sich zunehmend in lei-tenden Positionen wieder14.

Die Bevölkerung insgesamt hat sich in denletzten Jahren rapide entwickelt: Derzeit lebenetwa 4,7 Mio. Menschen in den VAE. 1971 lagdie Einwohnerzahl bei gerade einmal180.000. Von den geschätzten 4,7 Mio. Ein-wohnern sind knapp 70% keine emiratischenStaatsbürger. Zurückzuführen ist diese Be-völkerungsexplosion auf die natürlicheWachstumsrate, d.h. längere Lebenserwar-tung15, Rückgang der Kindersterblichkeit16

und die gewaltige Zuwanderungswelle von Ar-beitsimmigranten. Anfangs kamen vor allemAlgerier und Iraker aufgrund der noch wach-senden Ölindustrie in das Land, später folg-ten Inder, Pakistaner, Bengalen, Iraner,Philippiner, Westeuropäer und Amerikaner.Diese arbeiten in allen erdenklichen Bran-chen, wobei ungelernte Kräfte eher körperlichanstrengende Arbeiten verrichten oder aberim Hotel-, Restaurant- und Reinigungswe-sen beschäftigt werden. Qualifizierte Arbeitersind im Bildungs- und Erziehungssektor, inBanken und Versicherungen zu finden. DieEmiratis hingegen genießen einen hohen Le-bensstandard und eine staatliche „Vollkasko-versorgung“ in Form von Ausbildung,kostenfreier medizinischer Versorgung, Geld-und Sachwerten.

II. Voraussetzungen für den Willen nach

Wandel

Die VAE verfügen mit etwa 97,8 Mrd. Barrelüber das sechstgrößte Ölvorkommen derWelt, sie zählen mit einem Bruttoinlandspro-dukt pro Kopf von 56.485 USD17 zu den reich-sten Ländern der Welt, erfreuen sich

politischer Stabilität und werden von auslän-dischen Unternehmen und Investoren alswichtiger Standort18 geschätzt. Drei Faktorenaber könnten den Emiraten in Zukunft nochProbleme bereiten und so den Willen nachWandel hervorbringen oder stärken: Fehlendepolitische Mitbestimmung, die Arbeitsimmi-granten und die Wirtschaft.

Doch obwohl die politischen Partizipations-möglichkeiten für die Bevölkerung vom De-

mocracy Index auf einer Skala von 0 (nichtvorhanden) bis 10 (sehr gut) mit 1,11, Wahl-system und Pluralismus mit 0 und bürgerlicheFreiheiten mit 2,9419 bewertet werden, fehlt esder Mehrheit der einheimischen Bevölkerungbislang an sozioökonomischen Druck, der De-monstrationen und den Wunsch nach nach-haltiger Veränderung auslösen könnte. Hierbestehen Parallelen zwischen der Situation inden VAE und der in Saudi-Arabien oder an-deren ressourcenreichen Golfstaaten. Diewohlbekannten und effizienten Allokations-mechanismen der Herrscher, die den Reich-tum verteilen und die wirtschaftlicheEntwicklung fördern, haben auch in den Emi-raten zu der weit verbreiteten Umkehrung despolitischen Credos „No taxation without re-presentation“ geführt. Da die Besteuerung derindigenen Bevölkerung quasi wegfällt, die fi-nanzielle Belastung auf ein Minimum sinktund der Staat seinen Bürgern ein enormesMaß an Wohlstand und Modernisierung inden letzten Jahren garantierte, scheint bislangdas Streben nach politischer Teilhabe, nachÖffnung und Demokratisierung nur peripherzu interessieren.

Wesentliche Triebfeder der Revolutionen inTunesien und Ägypten war die Jugend, dieperspektivlos, vernachlässigt und arm gegendie repressiven Regime aufbegehrte. ImGegensatz dazu lebt die junge Bevölkerungvor allem in Dubai und Abu Dhabi in relativemWohlstand, scheint sozial abgesichert zu sein

13 1951 übernahmen die damaligen Trucial States (heute VAE) das britische Kolonialrechtssystem, vonwelchem das heutige Rechtssystem teilweise inspiriert wurde.

14 Zu Beginn der Föderation waren 85% der Frauen von Analphabetismus betroffen waren; 2005 waren esnur noch 7,6%. Heute sind 56,3% aller Schüler und 70,8% aller Studenten weiblich.

15 Die Lebenserwartung von Menschen in den VAE lag 1990 bei 73, 2010 bei 76,51 Jahren. Zum Vergleich:Die Lebenserwartung der Menschen in Deutschland lag 1990 bei 75, 2009 bei 80 Jahren.

16 1990 starben 15 von 1.000 Neugeborenen innerhalb der ersten 12 Monate, 2009 waren es 7 von 1.000.Zum Vergleich: In Deutschland lag die Kindersterblichkeit 1990 bei 7 von 1.000, 2009 bei 3 von 1.000.

17 Deutschlands Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag 2009 bei 40.670 USD.18 Zum einen sind die VAE wichtige Handelsdrehscheibe für die Märkte in Europa, Asien und Afrika, zumanderen Finanzknotenpunkt zwischen New York und London im Westen und Hongkong und Singapur imOsten.

19 Mit einer Gesamtbewertung von 2,52 liegen die VAE noch hinter China (3,14) und Simbabwe (2,64); derIndex spricht von einem autoritären Regime.

Page 156: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Vereinigte Arabische Emirate

Deutsches Orient-Institut 155

und strebt einer sicheren Zukunft entgegen.Zudem profitieren sie regelmäßig von staat-lichen Transferleistungen20. Diese allerdingserinnern mehr an Beschwichtigungspolitik alsan Wohlfahrtsstaat. In den weniger wohlha-benden Emiraten im Norden – Ajman, Ra’s al-Khaima, Sharja und Umm al-Qaiwan – ist derUnmut schon etwas größer. Während ihre In-frastruktur immer wieder zusammenbricht,Wasserknappheit und Stromausfälle an derTagesordnung sind, boomt das Geschäft derNachbaremirate. Doch auch sie profitieren inForm von Wohlfahrtsprogrammen und staat-lichen Zuschüssen indirekt von dem Öl, ob-wohl sie selbst über keine Ressourcenverfügen. Möglich ist das, weil die (öl-)reiche-ren Emirate Abu Dhabi und Dubai den Nordenregelmäßig finanziell unterstützen.

Insgesamt aber scheinen politische Partizipa-tion, Meinungs-, Rede- und Pressefreiheittrotz des „Nord-Süd-Gefälles“ nur vereinzeltzu interessieren. Die Regierung, allen voranScheich Khalifa bin Zayed bin Sultan Al Na-hyan und Regierungschef Mohammed binRashid Al Maktoum, scheint sich großer Be-liebtheit zu erfreuen, u. a. weil diese beidenHerrscher die Modernisierung der Emirateimmer weiter vorantreiben und die Korruptionweniger verbreitet ist als in anderen Staatender Region21.

Die Arbeitsimmigranten leiden dagegen unterenormen Problemen, wie katastrophale Le-bensbedingungen und Arbeitsverhältnisse,kaum Rechtssicherheit, enormer sozioökono-mischer Druck, soziale Ungleichbehandlungund völlige Abhängigkeit vom Arbeitgeber. DieRede ist jedoch nicht von Arbeitskräften, diezumeist aus westlichen Industrieländernstammen, hochqualifiziert sind, häufig Füh-rungspositionen innehaben, hohe Gehälterund zusätzliche Bezüge beziehen. Vielmehrsind es die ungelernten Arbeitskräfte, die dem„sicheren Hafen“ noch enorme Schwierigkei-ten bereiten könnten.

Die ungelernten Kräfte stellen in den VAE dieMehrheit der Arbeitsimmigranten. Sie sind zu-meist in Branchen beschäftigt, in denen siekörperlich schwere Arbeiten verrichten undverdienen in den VAE zwar häufig mehr als inihren Heimatländern, doch mit einem Tages-lohn von durchschnittlich 5 USD immer noch

sehr wenig. Die Gastarbeiterinnen sind häufigim Hotel-, Restaurant- oder Reinigungswesenbeschäftigt. Obwohl durch sie erst Projektewie der Burj al-Arab und der Burj Khalifa rea-lisiert werden konnten, bleiben sie vom Wohl-stand und Erfolg ausgeschlossen. DieLebens- und Arbeitsbedingungen sind teil-weise sehr bedenklich, so sind unbezahlteÜberstunden, verzögerte Gehaltszahlungenund die Einbehaltung des Reisepasses sei-tens der Arbeitgeber keine Seltenheit. Diemeisten Arbeiter dieser Gruppe sind wederunfall- noch krankenversichert und es gibtkeine Gewerkschaften, an die sie sich wen-den könnten.

Weil viele von ihnen Angst haben, ihre Arbeitzu verlieren und in ihr Heimatland zurückge-schickt zu werden, blieben größere Protestebislang aus. Dass das Potenzial für eine „Ar-beiterbewegung“ aber theoretisch da wäre,zeigt die Geschichte: In der Vergangenheitkam es bereits zu Arbeitsniederlegungen, zu-letzt Anfang 2011. Auslöser waren ausblei-bende Lohnzahlungen, schlechte Arbeits- undLebensbedingungen und Gewalt gegenüberArbeitern. Offiziell gibt es sogar Gesetze, diePausenzeit, Überstunden und Bezahlung re-geln, es existiert jedoch bislang keine offizielleInstitution, die deren Einhaltung auch kontrol-liert. Dass die Angst der Arbeitsimmigrantenvor der Ausweisung berechtigt ist, zeigt dasBeispiel in Dubai 2009: Damals wurden imZuge der Finanzkrise täglich bis zu 1.500 Ar-beiter nach Hause geschickt – die Kündigungerhielten viele von ihnen per SMS.

Da die Staatsbürgerschaft sowohl den ge-lernten als auch den ungelernten Arbeiternverwehrt bleibt, erhalten sie auch keinerlei fi-nanzielle Unterstützung von der Regierung.Es gibt zwar die Möglichkeit unbegrenzterAufenthaltserlaubnisse, die es ihnen erlau-ben, sich in den VAE dauerhaft niederzulas-sen, doch die Einbürgerung – und damit auchdie Privilegien der emiratischen Staatsbürger– bleiben ihnen vorenthalten. Diese Politikbirgt ein hohes Konfliktpotenzial, denn geradefür die ungelernten Kräfte, die sich täglich mitdem hohen Lebensstandard ihrer Umgebungkonfrontiert sehen, wäre staatliche Zuwen-dung dringend erforderlich. Diese Bevölke-rungsgruppe erfüllt demnach dieVoraussetzungen für den Willen nach Wan-

20 Wasser und Strom werden hoch subventioniert; Wohnungsbauprogramme vergeben kostenlose oder zu-mindest subventionierte Wohnungen; Eltern erhalten für ihre Kinder Erziehungsgeld; alte Menschen, Wit-wen, Behinderte, Waisen und allgemein alle Bedürftigen erhalten großzügige Alimentationen.

21 Zahlen für 2010: Auf einer Skala von 0 (sehr korrupt) bis 10 (sehr transparent) werden die VAE vom Trans-

parency Index mit 6,3 bewertet. Ägypten erhielt eine Wertung von 3,1, Tunesien 4,3, Saudi-Arabien 4,7und der Oman 5,3. Damit landen die VAE auf Platz 28 von insgesamt 178 bewerteten Staaten.

Page 157: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Vereinigte Arabische Emirate

Deutsches Orient-Institut156

del, weil ihre Lebens- und Arbeitssituationdeutlich unter dem staatlichen Niveau liegen.Es ist jedoch anzunehmen, dass ein Aufbe-gehren der Arbeitsimmigranten ausbleibenwird. Obwohl ihre Lebens- und Arbeitssitua-tion zwar sehr bedenklich ist, wiegt letztend-lich die Angst, die Arbeit zu verlieren,ausgewiesen zu werden und die Familie inder Heimat nicht mehr unterstützen zu kön-nen, doch höher.

Eine weitere Gefahr für die inneremiratischeStabilität dürfte neben fehlender politischerPartizipation und den Arbeitsimmigrantenauch die sich verändernde Wirtschaftslagesein. Ging es bis 2008 stetig aufwärts, sankdas BIP 2009 um 31 Mrd. USD auf 230 Mrd.USD22. Die Finanzkrise hat vor allem Dubaihart getroffen und zuletzt sogar zu Zahlungs-schwierigkeiten geführt. Während Dubai sichgezwungen sah, den Bau verschiedener Pro-jekte23 zu stoppen, sagte Abu Dhabi finan-zielle Unterstützung zu. Die Wiederaufnahmeder Bauarbeiten geht nur zögerlich voran unddas Ziel, dem bis zur Finanzkrise herrschen-den Bauboom allmählich wieder neuen Auf-trieb verleihen zu können, ist man bisher nochnicht deutlich näher gekommen24.

Ein nochmaliger Finanzkollaps aber könnteverheerende Folgen für Dubai und auch fürdie VAE insgesamt haben: Wenn Investorenfern blieben, Wohnräume leer stünden unddie Wirtschaft sänke, wäre zum einen die Di-versifizierung der Wirtschaft wohl langfristigbeeinträchtigt und zum anderen die Wohl-fahrtspolitik in Gefahr. Damit stiege aber auchdas Risiko eines Protestes seitens der (ein-heimischen) Bevölkerung.

III. Akteure des Wandels und konkrete

Auslöser

Inspiriert von den Aufständen in Tunesien undÄgypten und dem damit einhergehendenhohen Mobilisierungsgrad versuchten auch in

den VAE Bürger ihre Rechte einzufordern:133 Unterzeichner einer Onlinepetition for-derten im März 2011, den Bundesnationalrataus freien und direkten Wahlen hervorgehenzu lassen und seinen Einfluss zu stärken. DieZahl von 133 Menschen wurde anfänglichzwar etwas belächelt, aber diese Petition wardie wahrscheinlich erste politische Bewegungin der Geschichte des Landes – und das inAbu Dhabi, dem reichsten Emirat. Vielleichtsollte man deswegen auch von immerhin 133Menschen sprechen. Bei den Unterzeichnernhandelte es sich um emiratische Intellektuelleund Menschenrechtsaktivisten, die, trotz odergerade wegen ihres hohen Lebensstandards,auch politische Mitbestimmung forderten.Weil aber viele emiratische Staatsbürger Kon-sequenzen in Form von repressiven Maß-nahmen fürchteten, verweigerten sie ihreUnterschrift25. Insgesamt gesehen kann abervon keiner Bewegung oder gar Revolution ge-sprochen werden. Es gibt weder einen kon-kreten Auslöser, der zu einer Revolutiongeführt hätte, noch eine Führungspersönlich-keit, die sich in dieser besonders hervorgetanhätte. Wenn überhaupt, so muss von einermarginalen Protestbewegung gesprochenwerden, die vielmehr durch Einzelaktionen alsdurch organisierte und zielgerichtete Mas-senproteste geprägt war.

IV. Auswirkungen des „Arabischen Früh-

lings”

Die Unruhen in anderen arabischen Staatenhaben ausländische Investoren verunsichert.Viele von ihnen, die eigentlich kurz vor demMarkteintritt standen, scheinen die gewähltenStandorte zu überdenken. Dies könnte denEmiraten zukünftig nutzen. Sie garantierenweitgehende wirtschaftliche und politischeStabilität und galten auch in der Vergangen-heit als attraktiver Wirtschaftsstandort. Soprofitieren beispielsweise ausländische Bau-firmen und Zulieferer von den zusätzlichenMitteln, die der Staat für Infrastruktur zur Ver-

22 Daten der World Bank, einzusehen unter http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.CD, abn-gerufen am 11.08.2011.

23 Gestoppt wurden beispielsweise die Projekte Dubai Land, ein Vergnügungspark, und Rotating Tower, einsich drehender Wolkenkratzer.

24 Nach einer Überarbeitung, die u.a. Kürzungen im Design betreffen, sollen die Bauarbeiten für das Pro-jekt Dubai Land Ende 2011 wieder aufgenommen werden, dagegen scheint das Projekt The World imwahrsten Sinne des Wortes unterzugehen: Die künstlichen Inseln fallen langsam wieder ins Meer zu-rück, zum Aufschütten fehlt aber das Geld. Dagegen wurde im Juli bekannt, dass Dubai mit 97 Hotels,die zusammen mehr als 35.000 Zimmer zählen, seine Kapazitäten im Tourismusbereich weiter ausbauenwill.

25 Laut Amnesty International soll zudem ein Mann verhaftet worden sein, der seine Solidarität mit den Ägyp-tern wohl etwas zu laut bekundet hatte; siehe http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/uae-urged-disclose-whereabouts-detained-man-2011-02-09, abgerufen 11.08.2011.

Page 158: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Vereinigte Arabische Emirate

Deutsches Orient-Institut 157

fügung gestellt hat26. Als cleverer Schachzugder Regierung kann die Senkung der Le-bensmittelpreise bewertet werden27. Durchdie gesunkenen Lebenshaltungskosten kön-nen die Menschen dann, so die Hoffnung, denKonsum anregen, indem sie anderweitig in-vestieren.

Wohl um möglichen Protesten zuvorzukom-men, kündigte der Staat Neuwahlen für denBundesnationalrat an. Noch in diesem Jahrsollen 12.000 ausgesuchte Bürger die Hälftedes Rates wählen dürfen, 2006 waren geradeeinmal 6.000 wahlberechtigt. Doch der Staatreagiert nicht nur mit Zugeständnissen, son-dern auch mit Repression gegen Regie-rungskritiker: Die bereits oben erwähnteOnlinepetition soll einen Monat später Grundfür weitere Verhaftungen gewesen sein, unterdenen auch der bekannte und populäre Inter-net-Blogger Ahmed Mansour und der AktivistNasser bin Ghaith gewesen seien sollen. Ihraktueller Aufenthaltsort ist unbekannt.

Interessanterweise haben sich in sozialenNetzwerken einige Gruppen gebildet, die dieaktuelle Regierung verteidigen und die Sys-temkritiker hart attackieren – ein Indikator fürdie systemimmanent weitgehend existierendeLoyalität mit der Regierung. Facebook-Grup-pen wie No place for a revolution in the UAE

und Fight against the Revolts on UAE äußernsich ablehnend gegenüber den ausländi-schen Gastarbeitern, verteidigen den Regie-rungsstil und proklamieren die Bewahrungdes Status quo.

V. Bisherige Reaktionen staatlicher Ak-

teure

Grundlegende Reformen sind ebenso weniggeplant wie freie Wahlen oder politische Mit-bestimmung. Stattdessen versucht es die Re-gierung mit altbewährten Mitteln: Geld. DieBeschwichtigungspolitik scheint, wie die letz-ten 40 Jahre zuvor auch, zu funktionieren28.Die Lebensmittelpreise werden bis Ende desJahres stabil gehalten und die Infrastrukturausgebaut. Vor allem in den ärmeren Norden

soll investiert werden. Die Neuwahlen für denBundesnationalrat und die Erhöhung der An-zahl der Wahlberechtigten sollen möglichenProtesten zuvorkommen.

Auf internationaler Ebene beteiligten sich dieVAE innerhalb des Golf-Kooperationsratesam Libyen-Einsatz sowie am umstrittenenEinsatz zur Niederschlagung der Demonstra-tionen in Bahrain. Da vor allem Saudi-Arabieneinen Spill-Over-Effekt der Proteste von Bah-rain in sein Staatsgebiet befürchtete, ent-schied sich der Golf-Kooperationsrat zurIntervention: Ließ er am 10. März noch ver-lauten, Bahrain und Oman mit 10 Mrd. USDzu unterstützen29, entsandte er einige Tagespäter eine 2.000 Mann starke Truppe30, umdie Proteste niederzuschlagen. Anfang Märzeinigten sich die Mitglieder des Rates, Bah-rain und Oman 20 Mrd. USD für die nächstenzehn Jahre zur Verfügung zu stellen. Damitsollen die beiden Staaten Wohnprojekte fi-nanzieren und neue Arbeitsplätze schaffen.

VI. Zukunftsszenarien

Best Case Scenario:

In diesem Fall werden sich breite Teile derGesellschaft nicht mehr allein mit staatlichenZuwendungen zufrieden geben und die Re-gierung unter Druck setzen, Reformen einzu-leiten. Die Arbeitsimmigranten werden denProtest ihrerseits dazu nutzen, bessere Ar-beits- und Lebensbedingungen zu fordern.Manifestieren könnten sie ihre Forderung mitArbeitsverweigerung. Da die Arbeitsimmi-granten aber Projekte wie den Burj Khalifa,die Mall of the Emirates und Indoor-Skipistenerst möglich machen, wird die Wirtschaft dar-unter leiden. Der Ruf der VAE als „sichererHafen“ wird unter diesen EntwicklungenSchaden nehmen und ausländische Investo-ren könnten sich abwenden. Die Regierungwird dieses Szenario nicht zulassen. Immer-hin ist das gute Image durch die prosperie-rende Wirtschaft das höchste Gut, was sichernicht aufs Spiel gesetzt werden wird. DieFrage ist nur, wie die Regierung den Protes-

26 Rund 1,6 Mrd. USD werden für den Ausbau des Wasser- und Stromnetzes in den nördlichen Emiraten zurVerfügung gestellt: http://www.gulfnews.com/news/gulf/uae/government/dh5-7b-to-boost-water-electricity-supply-in-northern-emirates-1.770375, abgerufen am 11.08.2011.

27 Die Preise für v.a. Grundnahrungsmittel fielen im Schnitt um 20-30%. 2010 waren die Lebensmittelpreiseim Schnitt um 4,8% höher, 2009 waren es noch 0,8%. Für weitere Informationen:http://www.gulfnews.com/business/general/uae-suppliers-agree-to-cut-food-prices-1.749803; abgerufen02.09.2011.

28 Wie die New York Times berichtet, bereitet sich der Kronprinz von Abu Dhabi, Scheich Muhammad ibnZayid al-Nahyan, aber sicherheitshalber schon auf den Ernstfall vor: Die US-Firma Blackwater World-

wide, eine private Militär- und Sicherheitsfirma, stellt ihm gerade eine Söldnertruppe von 800 Mann zu-sammen. Offiziell, um Pipelines zu schützen und Terrorgefahren abzuwehren, inoffiziell aber wird dieTruppe offenbar auch für Niederschlagungen von Protestbewegungen trainiert.

29 Dieses Geld soll über zehn Jahre ausgezahlt werden, um v.a. Wohnungen und Infrastruktur auszubauen.

Page 159: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Vereinigte Arabische Emirate

Deutsches Orient-Institut158

ten entgegentreten wird.

Worst Case Scenario:

Seit Jahren sind die VAE damit beschäftigt,ihre Wirtschaft zu diversifizieren. Die Regie-rung weiß, dass der Staat sich nicht ewig vomÖl finanzieren kann. Um den Wohlstand aberbeibehalten zu können, wird kräftig in Bau-projekte, in die expandierende und verarbei-tende Wirtschaft und in den Handels- undDienstleistungssektor investiert. Um weiterhinals attraktiver Standort zu gelten, muss diepolitische Stabilität unbedingt gewahrt wer-den. Wenn der Wohlstand bleibt, wird auchdie Regierung weiter bestehen. Solange dieumfangreichen Wohlfahrtsprogramme nichtausbleiben, werden auch die Emiratis keinenGrund haben, um auf die Straße zu gehen.Falls es wider erwartend doch zu einer Pro-testbewegung käme, bliebe die Frage, wie dieRegierung dieser entgegentreten würde.Ihren eigenen Staatsbürgern würde sie mög-licherweise Reformen und politische Mitspra-che gewähren – das wäre natürlich positiv;die Aufstände der Arbeitsimmigranten aberkönnte sie vermutlich blutig niederschlagenlassen.

Trendszenario:

Wahrscheinlicher bleibt eine zumindest mittel-fristige Aufrechterhaltung des Status quo. Dersoziale Druck ist nach wie vor zu gering, dieWohlstandsgenerierung wird auch zukünftiganhalten. Hierbei könnten sich die kurz- odermittelfristig wegfallenden Märkte in Revolu-tionsländern wirtschaftlich sogar positiv für dieemiratische Wirtschaft auswirken, da derStandort nun an zusätzlicher Attraktivität ge-winnt. Die Regierung wird jeden Protest imKeim ersticken, zum einen, um selbst an der

Macht zu bleiben und zum anderen, um derWirtschaft nicht nachhaltig zu schaden. Dafürwerden sie, wenn die Rufe nach Veränderungwieder einmal zu laut werden sollten, die Be-völkerung mit großzügigen Wohlfahrtspro-grammen bedienen oder aber Scheinwahlenzulassen. Große Unruhen oder flächende-ckende Proteste werden wahrscheinlich aus-bleiben, weil vor allem den emiratischenStaatsbürgern bislang der soziale Druck unddamit die Notwendigkeit für Reformen fehlen.Auch wenn die wirtschaftlichen Ungleichhei-ten innerhalb der Emirate signifikant sind, pro-fitiert der ärmere Norden vom „solidarischenEinkommensausgleich“, sodass sich auchhier der soziale Unmut in Grenzen haltendürfte.

Die soziale und politische Ungleichbehand-lung der asiatischen Arbeitsmigranten könntesich in Zukunft zwar zu einer möglichen Pro-testquelle entwickeln, allerdings besteht hierein starker Konsens zwischen Regierung undder emiratischen Bevölkerung: So werdenausländische Gastarbeiter im Billiglohnsektorgeduldet, aber keineswegs als integraler Be-standteil der Gesellschaft wahrgenommenoder akzeptiert. Ähnlich wie in Saudi-Arabienexistieren auch in den Emiraten eine latenteXenophobie und eine diffuse Angst vor Über-fremdung, die ein härteres Vorgehen der Re-gierung gegen Streiks oder politischeForderungen durch die Gastarbeiter unter-stützen würden. Da in den VAE ein generellesStreikverbot besteht, wird die Angst der Ar-beitsimmigranten, in ihr Heimatland abge-schoben zu werden, überwiegen undletztendlich dazu führen, dass bis auf Weite-res alles so bleibt, wie es ist.

Denise Penquitt

VII. Literaturangaben

BBC: Gulf states send forces to Bahrain following protests, BBC, http://www.bbc.co.uk/news/world-middle-east-12729786, abgerufen am 14.09.2011

BÖLL, MARTIN: Gerade jetzt!, Zenith online, http://www.zenithonline.de/deutsch/wirtschaft//artikel/gerade-jetzt-001812/, abgerufen am 14.09.2011

DAVIDSON, CHRISTOPHER: Dubai. The vulnerability of success, London 2008.

Page 160: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Türkei

Deutsches Orient-Institut 159

DERS.: Dubai’s Diversification: From Boom to Bust, in: Orient I/2011, S. 51-54.

DEMMELHUBER, THOMAS: Political Reform in the Gulf Monarchies. Making Family Dynasties Ready for the 21st Century, in: Orient I/2011, S. 6-10.

GULF TIMES

HEARD-BEY, FRAUKE: Hard Choices: The United Arab Emirates’ Development from Obscurity to Prominence, in: Orient I/2011, S. 43-50.

DIES.: From Tribe to State. The Transformation of Political Structure in five States of the GCC, CRiSSMA Working Paper, Nr. 15, Mailand 2008.

DIES.: From Trucial States to United Arab Emirates, Dubai 2004.

KHALEEJ TIMES

LINZ, JUAN: Totalitarian and authoritarian regimes, Boulder, Colorado 2000.

MEED

RUGH, ANDREA B.: The Political Culture of Leadership in the United Arab Emirates, New York 2007.

SHAHEEN, KAREEM: Dh5.7bn for water and electricity in Northern Emirates, The National, http://www.thenational.ae/news/uae-news/dh5-7bn-for-water-and-electricity-in-northern-emirates, abgerufen am 14.09.2011.

SIMON, HOLGER: Die Migration indischer Gastarbeiter in die Vereinigten Arabischen Emirate, Hamburg 2009.

UAE MINISTRY OF INFORMATION AND CULTURE: UAE yearbook 2006, London 2006.

ZAWYA

Page 161: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Katar

Deutsches Orient-Institut 160

1 CIA – The World Factbook.2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.3 http://www.tradingeconomics.com/qatar/population-density-people-per-sq-km-wb-data.html.4 CIA – The World Factbook 5 CIA – The World Factbook 6 CIA – The World Factbook.7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.8 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators,

http://www.dr.undp.org/en/data/profiles.10 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN.12 CIA – The World Factbook. 13 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.15 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG,

International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf.

16 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html.

17 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm.18 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia,

http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf.19 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us.20 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,

http://hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 21 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection:

Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/.

22 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf.

23 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://www.info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp.

24 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

Landesdaten KatarFläche1 2011 11.586 km²

Bevölkerung2 2010 1.500.000

Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 130,14

Ethnische Gruppen4 2010Araber 40%, Inder 18%, Pakistaner 18%, Iraner 10%, andere 14%

Religionszugehörigkeit5 2010 Muslime 77,5%, Christen 8,5%, andere 14%

Durchschnittsalter6 2010 30,8 Jahre

Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 14%

Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 1%

Lebenserwartung9 2010 75,7 Jahre

Bevölkerungsprognose bis 205010 2010 2.300.000

Geburten pro Frau11 2009 2,4

Alphabetisierungsrate 2010 89%

Nutzer Mobiltelefone12 2009 2.472.000

Nutzer Internet13 2009 563.800

Nutzer Facebook14 2011 245.580

Wachstum BIP15 2009 8,6%

BIP pro Kopf16 2009 77.178 USD

Arbeitslosigkeit17 2010 0,5%

Inflation18 2011 4,2%

S&P-Rating19 2011 AA

Human Development Index20 2010 Rang 38 (von 169)

Bildungsniveau21 2010 Rang 104 (von 177)

Bildungsniveau der Frauen (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)22 2010 62,1%

Politische Teilhabe23 2010 22,7%

Korruptionsindex24 2010 Rang 19 (von 178)

Page 162: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Katar

Deutsches Orient-Institut161

Katar

Im Frühjahr 2011 kam es in fast allen ara-bischen Ländern zu Protesten und Mas-sendemonstrationen vor dem

Hintergrund sozialer, wirtschaftlicher undpolitischer Missstände. Katar bildet in die-sem Zusammenhang eine Ausnahme. Sei-nen Sonderweg erklären die Instrumente,auf die sich der Staat Katar stützen kann:Geld, Medien und politische Flexibilität.Durch die enormen Ressourcen von Ölund Gas kombiniert mit der zahlenmäßigkleinen einheimischen Bevölkerung ver-fügt Katar über Freiräume in der Formulie-rung seiner innenpolitischen undaußenpolitischen Ziele. Eine entschei-dende Rolle spielt hierbei der derzeitigeEmir von Katar Scheich Hamad bin KhalifaAl Thani, der sein Land innenpolitisch mitbehutsamen Reformen lenkt und außen-politisch zunehmend auf der internationa-len Bühne positioniert. So konnte Katarbislang seine Position während des „Ara-bischen Frühlings“ konsolidieren undsogar ausbauen. Es scheint, als habeKatar als einziges Herrscherhaus tatsäch-lich von den Aufständen profitiert, indemLegitimation, Einfluss und Machtbereich,teils durch eigenständige außenpolitischeInitiativen, noch ausgeweitet werdenkonnte.

I. Politisches System und gesellschaftli-che Entwicklungen

Vor weniger als hundert Jahren war das inter-nationale Interesse an Katar noch sehr ge-ring. Dies lag nicht alleine daran, dassnennenswerte wirtschaftliche Rahmenbedin-gungen und Ressourcen fehlten, sondernauch weil dem kleinen Land politisch wie stra-tegisch keine besondere Bedeutung zuge-messen wurde. Dies änderte sich jedochnach der Entdeckung der enormen Öl- undGasressourcen: In wenigen Jahrzehntenhaben sie Katar zu einem der reichsten Län-der der Region gemacht. Katars nachgewie-sene Reserven an Erdgas betragen etwa15% des gesamten Weltvorkommens undsind damit die drittgrößten der Welt. So gene-riert Katar ein Bruttoinlandsprodukt von 194,3Mrd. USD (Prognose 2011). Das reale BIP istim Jahr 2010 um 16% gewachsen und nachSchätzungen des IWF wird es im Jahr 2011um 20% steigen. So gilt Katar heute als eineder schnellst wachsenden Wirtschaften welt-

weit. Mit der Zusage zur Austragung der FIFAFußballweltmeisterschaft 2022 erringt Katarweitere weltweite Aufmerksamkeit. Die zu-nehmende Bedeutung Katars ist allerdingsnicht alleine auf sein enormes Wirtschaftspo-tential beschränkt. Die hohen Einnahmen ausder Ölwirtschaft führen zu immensen Einnah-men des Staates und wirken sich direkt aufdie politische Entwicklung aus, indem sie diepolitische Macht des Herrschers erhöhen. Zu-sätzlich führte der Einfluss des Öls zu sozia-len Veränderungen, die wiederum diepolitischen Entwicklungen beeinflussen könn-ten.

Katar ist eine traditionelle Monarchie. Seit1995 ist der Emir Scheich Hamad bin KhalifaAl Thani nach einem unblutigen Putsch gegenseinen Vater das Staatsoberhaupt und derRegierungschef.1 Er repräsentiert das Landnach innen und außen. Zuerst sah sich derEmir mit der ablehnenden Haltung der be-nachbarten Golfstaaten konfrontiert, die sei-nen Vater unterstützt hatten. Der katarischeHerrscher unternahm früh außenpolitische Al-leingänge, begann mit vorsichtigen Reformenund positionierte dadurch sein Land zuse-hends auf der internationalen Bühne. Trotz er-ster Reformen ist der Emir weiterhin dasZentrum der Macht des Staates Katar. Er re-giert mit Hilfe einer beratenden Versammlung(arabisch: Majlis al-Shura), dessen Mitgliedervon ihm ernannt und entlassen werden.Jedes Gesetz bedarf seiner Zustimmung. Da-neben ist er auch Verteidigungsminister undOberkommandierender der Streitkräfte. Seitseinem Amtsantritt bemüht sich der Emir mitbehutsamen Schritten um eine stärkere politi-sche Beteiligung der Bürger. So schaffte ergleich nach seiner Machtübernahme 1995 diemediale Zensur ab und finanzierte im Folge-jahr die Gründung des Nachrichtensendersal-Jazeera. Im Jahr 1998 fanden erstmalsWahlen zur Industrie- und Handelskammerstatt. Es folgten die ersten politischen Wahlenüberhaupt in Katar im Jahr 1999. Dabei han-delte es sich um Kommunalwahlen, auf diemit Stolz verwiesen wird und bei denen auchFrauen das aktive und passive Wahlrecht be-saßen. Im Jahr 2003 wurde die Verfassung,die vom Emir initiiert wurde, in einem Refe-rendum mit 97% der Stimmen angenommenund ist 2005 in Kraft gesetzt worden. Die Ver-fassung Katars ähnelt sehr der kuwaitischenund sieht eine beratende Versammlung (Par-lament) vor, die zu zwei Dritteln gewählt undzu einem Drittel vom Emir ernannt werden

1 De facto übernahm Scheich Hamad bin Khalifa Al Thani, der seit 1977 Thronfolger war, die Regierungs-geschäfte des Landes, da sich sein Vater der Emir Scheich Khalifa bin Hamad Al Thani (reg. 1972-1995)überwiegend im Ausland aufhielt.

Page 163: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Katar

Deutsches Orient-Institut 162

soll. Die aktuellen 35 Mitglieder der beraten-den Versammlung werden zur Zeit noch allevom Emir ernannt, da die ersten Wahlenmehrfach verschoben wurden, zuletzt auf dasJahr 2013. Interessanterweise sind diese Re-formen keine Reaktion auf einen bedeuten-den internen Druck oder einem konkreten Rufnach Veränderung. Der Emir initiierte viel-mehr einen Modernisierungsprozess vorsich-tiger Reformen von oben nach unten.

Die Bevölkerung Katars beläuft sich auf rund1,5 Millionen, wobei weniger als 20% katari-sche Staatsbürger sind. Den in Katar leben-den Ausländern, überwiegend Asiaten undAraber, ist jede politische und gewerkschaftli-che Aktivität verboten. Sie stehen unter finan-zieller und juristischer Bürgschaft ihresArbeitgebers und sind zudem nur im Rahmenvon zeitlich begrenzten Arbeitsverträgen imLand. Es existieren weder offizielle Parteiennoch inoffizielle weitere politisch tätige Orga-nisationen in Katar.

II. Voraussetzungen für den Willen nachWandel

Im Frühjahr 2011 kam es in fast allen arabi-schen Ländern zu Protesten und Massende-monstrationen vor dem Hintergrund vonsozialen, wirtschaftlichen und politischenMissständen. Katar bildet in diesem Zu-sammenhang eine Ausnahme. Obwohl auchein starker Wille nach Wandel in Katar vor-handen ist, bewegt sich dieser doch in eineandere Richtung. Die hohen Deviseneinnah-men aus dem Erdölexport in Katar haben zueinem alle Bereiche des Lebens umfassen-den grundlegenden Wandel geführt. Dabeihat sich eine enorme Entwicklung vollzogen,für die so gut wie keine historischen Vorbilderexistierten. Der Landesaufbau begann quasiam Nullpunkt. Die ersten Ölvorkommen wur-den 1939 im Dukhan Field entdeckt. Die Pro-duktion des Öls ab 1949 führte zunächst zueinem technischen und infrastrukturellen Aus-bau des Landes. Mit der Unabhängigkeit undden Deviseneinahmen wurde das Land zueinem der reichsten Länder der Region. Mitdem Bewusstsein über die kurze Ausbeu-tungszeit dieser Ressource wurde zügig einPlan zur Diversifizierung der Wirtschaft desLandes erstellt. Mit Hilfe enormer finanziellerMittel und der Möglichkeit billiger Energie ver-sucht der Staat, ein landesweites Aufbaupro-gramm mit einem Schwerpunkt auf dieIndustrie zu realisieren. So ist binnen weniger

Jahrzehnte aus dem ressourcenarmen Landeine wohlhabende Monarchie herangereift,die sich zunehmend um eine Liberalisierungdes Landes bemüht. Politische und ökonomi-sche Reformen laufen dabei Hand in Hand.Bildung spielt in diesem Prozess eine zentraleRolle, um eine solide Grundlage für sozialeReformen und den weiteren Landesausbauzu schaffen. Bildung ist für die einheimischeBevölkerung kostenfrei. Berufliche Ausbildungebenso wie das Hochschulsystem haben sicheindrucksvoll entwickelt. Im Jahre 1973 wurdedie Universität von Katar gegründet. Im Jahre1995 folgte die Qatar Foundation von EmirScheich Hamad bin Khalifa Al Thani, die Bil-dung, Wissenschaft und Forschung fördert.Zu den Bildungsprojekten zählt die Education

City, die 2003 eröffnet wurde. Sie fungiert alsLehr- und Forschungszentrum, in dem sechsamerikanische und zwei europäische Univer-sitäten Abteilungen eröffnet haben. Weiterhinwerden Wissenschafts- und Forschungsinsti-tutionen gefördert, wie beispielsweise derQatar Science and Technology Park (QSTP),zu deren Mitgliedern zahlreiche internationaleUnternehmen zählen.

Der kleine Wüstenstaat Katar gelangte in kur-zer Zeit wegen seines enormen Reichtums zueinem neuen Entwicklungsstand und befindetsich nach wie vor in einer Zeit des Wandels.Dabei ist die Regierung darauf bedacht, dieeinheimische Bevölkerung am Reichtum teil-haben zu lassen. Der allgemeine Lebens-standard ist sehr hoch. Der Staat finanziertsich nicht durch Steuern der Bürger, sondernes sind die Bürger, die vom Staat umfassendeWohlfahrtsleistungen erhalten. Gesellschaft-lich betrachtet droht Katar dadurch nicht dieGefahr der Instabilität, da der soziale Druckseitens der katarischen Bevölkerung ver-schwindend gering bleiben wird: Immerhin be-trägt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf über77.000 USD pro Jahr (2010). Ein Risikofaktorfür die Stabilität bleibt jedoch die demogra-phische Entwicklung. Vergleichbar mit ande-ren Golfstaaten ist die einheimischeBevölkerung Katars eine Minderheit im eige-nen Land: So kommen im Verhältnis auf einenkatarischen Staatsbürger drei Ausländer. EineAusländerproblematik scheint unvermeidlichund eine gewisse Diskriminierung findet statt.Eine rechtliche Gleichstellung brächte wahr-scheinlich eine Verdrängung der Einheimi-schen aus ihren jetzigen Positionen. Hierbeispielt das Bewusstsein eine Rolle, trotz ihresStatus als Minderheit im eigenen Land einer

Page 164: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Katar

Deutsches Orient-Institut163

privilegierten Gruppe anzugehören. Viele As-pekte der Benachteiligung der Gastarbeiterwerden bei einem vorübergehenden Aufent-halt ohnehin als irrelevant gesehen. Weiterhinbemüht sich die Regierung, eine „Katarisie-rung“ des Arbeitsmarktes durchzusetzen. DerPlan sieht vor, dass qualifizierte einheimischeArbeitskräfte den Gastarbeitern Konkurrenzmachen sollen. Besonders in den Wirt-schaftssektoren sollen sie diese ersetzen. Obdiese als wesentliche Veränderung in der Ar-beitswelt greift, ist bislang fraglich. Sicher isthingegen, dass Katar gerade bei Tätigkeitenfür unqualifizierte Arbeitskräfte auch zukünf-tig auf Ausländer angewiesen bleiben dürfte.

Wie viele andere Länder in der Region weistKatar eine kleine schiitische Minderheit meistpersischer Abstammung auf. Diese wird bis-lang jedoch nicht als offensichtliche Stabili-tätsgefährdung für das Land angesehen, dasie ihre Religion frei praktizieren können.Auch hat sich die schiitische Minderheit, dieseit mehreren Generationen in Katar ansäs-sig ist, sich während des Iran-Irak-Krieges(1980-1988) loyal zum Staat Katar verhalten.

Durch die enormen Ressourcen kombiniertmit der zahlenmäßig kleinen einheimischenBevölkerung verfügt Katar zusätzlich überenorme Freiräume in der Formulierung voninnenpolitischen wie außenpolitischen Zielen.So verfolgt Katar eine unabhängige undselbstbewusste Außenpolitik, die darauf be-ruht, die innere Stabilität zu sichern und dieäußere Souveränität zu gewährleisten. Diegeographische Lage Katars zwischen denbeiden Regionalmächten Iran und Saudi-Ara-bien stellt sicherheitspolitisch eine der großenHerausforderungen für das Land dar. So be-stehen mit Saudi-Arabien Konflikte um dengenauen Grenzverlauf. Hinsichtlich seiner Be-ziehungen mit Iran stellt Katar einen Sonder-fall unter den Staaten desGolfkooperationsrates (GKR) dar. So bemühtsich die Regierung darum, gute Beziehungenzu seinem Nachbarn Iran zu unterhalten, wassich unter anderem in gegenseitigen Besu-chen der Staatschefs beider Länder zeigt.Grund dafür ist nicht zuletzt das weltweitgrößte unassoziierte Erdgasfeld North Field,das sich Katar mit Iran teilt. In diesem Zu-sammenhang ist auch der Luftwaffenstütz-punkt al-Udeid der US Air Force alsAbsicherung gegen Katars starke Nachbarnzu interpretieren. Zusätzlich sichert sich Kataräußere Souveränität durch die Allianz mit

mächtigen internationalen Partnern. Nebender steigenden Produktion und dem Exportvon Öl ist Katar der größte Exporteur vonFlüssiggas weltweit und besitzt damit lang-fristige Vereinbarungen mit führenden Indus-trieländern und Schwellenländern, unteranderem den USA, dem Vereinigten König-reich, Südkorea, Japan und China. Die wirt-schaftlichen Verträge sichern gegenseitigegute Beziehungen. Das dadurch geschaffeneNetz von Abhängigkeiten gibt leistungsstar-ken internationalen Partnern eine direkte Be-teiligung an einem stabilen Katar. DieOrganisation großer internationaler Sportver-anstaltungen bringt Katar zusätzlich auf dieinternationale Bühne und schafft Anreize fürinternationales Wirtschaftsengagement. DieZusage zur Ausrichtung der FIFA Fußball-weltmeisterschaft 2022 übertrifft alle bisheri-gen Erfolge und stellt Katar in dasRampenlicht der Welt.

III. Akteure des Wandels und konkreteAuslöser

Historisch gewann Katar erstmals mit den zu-nehmenden Machtkämpfen zwischen den eu-ropäischen Kolonialmächten um dieHandelswege nach Indien und in den FernenOsten an Bedeutung. Aber erst die Zuwande-rung des Stammes Al Thani um 1750 ausdem Inneren der arabischen Halbinsel nachKatar legte den Grundstein für eine neue qua-litative Entwicklung des Gebietes. DasSchicksal der Al Thani ist sehr eng mit derGründung und Konsolidierung des Staatesverknüpft. Der Aufstieg des Herrscherhausesführte 1971 zur Verkündung der Unabhängig-keit. Die vornehmlich tribal organisierte, herr-schende Familie Thani ist der Gesellschaft„organisch“ verbunden und hat daher kaumLegitimitätsprobleme.

Die Stellung des jetzigen Emirs ScheichHamad bin Khalifa Al Thani gilt als gefestigt.Er agiert innenpolitisch zurückhaltend und istdarum bemüht, eine gewisse Kontinuität zubewahren und versucht, das Vertrauen vonBevölkerung und wichtigen ausländischenPartnern zu gewinnen und zu erhalten. So hater konkrete Schritte für eine wachsende Be-teiligung der Bürger unternommen. Der Emirsetzte einen Ausschuss zur Ausarbeitungeiner Verfassung ein, die 2005 in Kraft trat. Erhob die interne Pressezensur auf, wobei sichdie katarischen Medien allerdings einerSelbstzensur unterwarfen, die Kritik an Emir

Page 165: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Katar

Deutsches Orient-Institut 164

und Herrscherhaus ausschließt. Mit derGründung des Nachrichtensenders al-Ja-

zeera im Jahr 1996 revolutionierte Katar diearabische Medienwelt. Der aus Doha betrie-bene Satellitensender ist bei dem Publikumder arabischen Welt populär und gilt für dieRegion als ausgesprochen liberal. Es werdenauch kritische Meinungen zugelassen, meistaußerkatarische Themen. Welche Bedeutungal-Jazeera bei der Mobilisierung der Men-schen in den protestierenden arabischen Län-dern zukommt, lässt sich nicht im Einzelnenaufzeigen. Jedoch spielt der Sender eine we-sentliche Rolle bei der medialen Darstellungüber die jeweiligen Konflikte.

Durch die Inthronisierung des Emirs ScheichHamad bin Khalifa Al Thani hat sich Katarauch als außenpolitischer, eigenständiger Ak-teur positioniert. Neben einer regional ausge-richteten Medienpolitik setzt Katarzunehmend auf die Instrumente Diplomatieund Konfliktlösung und geriert sich in mehre-ren regionalen Konfliktfeldern als ausglei-chender Mediator. Darunter fallen unterAnderem die Neuausrichtung der Beziehun-gen zu Israel seit 1996, eine aktive Rolle alsVerhandlungsakteur im Jemen seit 2007sowie Katars Engagement bei der Lösungdes Darfur-Konflikts. Somit versucht Katarkontinuierlich, sich gute Reputationen für Kon-fliktvermittlung zu erarbeiten.

IV. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure

Wie oben beschrieben erlebt der Staat Katarkeinen „Arabischen Frühling“ im eigenenLand. Dennoch agiert und reagiert die Füh-rung Katars – alleine und als Mitgliedsstaatdes GKR – seit Jahresbeginn 2011 im Kon-text der Ereignisse des „Arabischen Früh-lings“.

In Bezug auf die oppositionellen Bewegungenin Libyen unterstützte der Golfkooperations-rat (GKR) ausdrücklich die Einführung einerFlugverbotszone durch die Vereinten Natio-nen Anfang März 2011. Dabei beteiligt sichKatar zusammen mit den Vereinigten Arabi-schen Emiraten durch die Bereitstellung vonkatarischen Flugzeugen aktiv an der Durch-setzung der VN-Sicherheitsresolution. Weiter-hin gehörte Katar zu einem der ersten Länder,die den Nationalen Übergangsrat (NÜR) inBenghazi anerkannt haben und angebotenhaben, Öl im Namen des NÜR zu vermarkten.Die aktive Beteiligung des GKR an den Auf-

ständen in Libyen wird auf die gegen dieMonarchie gerichtete Politik des ehemaligenlibyschen Revolutionsführers Muammar al-Gaddafi zurückgeführt.

Im Jemen versucht der GKR bisher mit mäßi-gem Erfolg zwischen den Konfliktparteien zuvermitteln. Im Mai 2011 wurde die möglicheAufnahme von Jordanien und Marokko in denGKR in Aussicht gestellt, womit zwei ressour-cenarme Nicht-Golfstaaten in den GKR auf-genommen werden würden. Beide arabischeMonarchien könnten zusammen mit demGKR als ein exklusiver Kreis konservativ-autoritärer Monarchien an Einfluss gewinnenund sich gegen die veränderte regionalpoliti-sche Kräftekonstellation stellen.

Die Zielsetzung der Wahrung eines autoritä-ren monarchischen Herrschaftsmodells zeigtsich auch in der aktiven Intervention des GKRin Bahrain. Im März 2011 rückten Truppen ausSaudi-Arabien und den Vereinigten Arabi-schen Emiraten in Bahrain ein. Die GKR-Truppen unterstützten das herrschendeKönigshaus Al Khalifa bei den Auseinander-setzungen mit einer von Schiiten dominiertenOpposition. Gründe für die Intervention desGKR in Bahrain sind Ängste vor einer mög-lichen Ausweitung von Partizipationsrechtenfür die schiitische Mehrheit. Daneben werdendie Proteste in Bahrain, im Vergleich mit Auf-ständen in anderen arabischen Ländern, alsunangenehm nah empfunden. Entsprechendgalt es, einen möglichen anti-monarchischenDominoeffekt zu verhindern. Regionalpolitischbetrachtet gelang dem GKR eine Aufwertungdurch verbleibende Monarchien im neu aus-gerichteten Machtgefüge.

V. Auswirkungen des „Arabischen Früh-lings“

Obwohl der katarische Herrscher sich innen-politisch um behutsame Reformen bemühtund im Allgemeinen die Gunst der einheimi-schen Bevölkerung genießt, versucht er kurz-oder mittelfristigen Folgen des „ArabischenFrühlings“ vorzubeugen: Eine Auswirkung des„Arabischen Frühlings“ ist der seit Ende 2010erneute sicherheitspolitische Fokus des Golf-kooperationsrates (GKR). Davon zeugenunter anderem die aktive Unterstützung derNATO-Operation in Libyen und der Einmarschvon Truppen des GKR in Bahrain. So wirdversucht, die regionalpolitische Stellung inveränderter regionalpolitischer Kräftekonstel-

Page 166: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Katar

Deutsches Orient-Institut165

lation präventiv zu stärken. Der monarchischeStatus quo soll hierbei zwischen den neuenKräften – den arabischen Republiken (Ägyp-ten, Irak) und Iran und Israel – bestärkt wer-den. Innenpolitisch sollen deutliche Signalebezüglich der relativen Stabilität der Monar-chien gesetzt werden.

Auf der internationalen Bühne präsentiert sichKatar als verantwortungsbewusster interna-tionaler Akteur und verstärkt damit weiter sei-nen Ruf der Diplomatie und Mediation. Soliefert Katar beispielsweise der Oppositions-bewegungen in Libyen materielle Unterstüt-zung und nimmt aktiv an dem NATO-Einsatzin Libyen teil. Ebenso versucht der Emir vonKatar die Anstrengungen des GKR für einepolitische Lösung des zunehmend eskalie-renden internen Konfliktes in Jemen zu leiten.Katar hat sowohl in Libyen als auch im Jemengroße Handlungsfreiheit, da die Positionie-rung gegen Muammar al-Gaddafi und Ali Ab-dullah Saleh keine unangenehmen Fragender Herrschaft nach sich zieht. Die Interven-tion mit internationalen Akteuren gegen al-Gaddafi stellt Katar zudem als offenen undverlässlichen arabischen Partner dar.

Anders verhält es sich im Falle der Interven-tion in Bahrain. Die GKR-Intervention unter-streicht, wie Konzepte der Intervention inverschiedenen Kontexten unterschiedlicheBedeutungen annehmen können. Katar recht-fertigte den Schritt der Intervention in Bahraindurch bestehende Abkommen. Die Entschei-dung des GKR, die Königsfamilie Bahrains ef-fektiv vor ihrer eigenen Bevölkerung zuschützen, verstärkt das Argument, dass dieGKR ein Klub von autoritären Herrschern sei,der sich für familiäre Solidarität und gegen-seitige Unterstützung zusammengeschlossenhabe. Zunächst tritt Katar gestärkt als Media-tor und verlässlicher Partner in Vermittlungs-versuchen aus dem „Arabischen Frühling“hervor. Jedoch befindet sich Katar in zwie-spältiger Position: zwischen der Unterstüt-zungserklärung der Opposition Libyens undder gleichzeitigen militärischen Intervention inBahrain gegen schiitische Regimekritiker.

VI. Zukunftsszenarien

Die wachsende Präsenz von Katar in der ara-bischen Welt und auf der internationalenBühne ist nicht zu leugnen. Dabei stützt sichKatar auf die Säulen Geld, Medien und politi-sche Flexibilität. Deshalb kann Katar nicht als

ein wichtiger internationaler Wirtschaftsakteurnegiert oder unterschätzt werden. Ebensowichtig ist auch seine weltweit führende Rolleim Energiesektor, insbesondere in Bezug aufErdgas, welches von wachsender Bedeutungfür die industrielle Entwicklung ist. Mit Einsatzder Medien, al-Jazeera spielt hier eineSchlüsselrolle, besitzt Katar die Möglichkeit,die internen Angelegenheiten in anderen Län-dern zu beeinflussen, indem es z.B. denFokus auf Kampagnen gegen bestimmte Re-gimes richtet. Am eindruckvollsten erscheintjedoch Katars politische Flexibilität. Katar hatsich trotz geringer Bevölkerungszahl durcheine Reihe von komplexen internationalen po-litischen Beziehungen ein Netzwerk von Ver-bündeten erarbeitet, um seine strategischenZiele zu erreichen.

Bislang konnte Katar seine Position währenddes „Arabischen Frühlings“ konsolidieren undsogar ausbauen. Es scheint, als habe Katarals einziges Herrscherhaus tatsächlich vonden Aufständen profitiert, indem Legitimation,Einfluss und Machtbereich noch ausgeweitetwerden konnten. So versucht Katar, sichdurch eigene außenpolitische Initiativen vonder regionalpolitischen Hegemonie Saudi-Arabiens zu lösen. Denn: Trotz der traditio-nellen Beziehungen zwischen denHerrscherfamilien des GKR sind auch diegegenseitigen Verbindungen Schwankungenunterworfen.

Katars finanzielle und politische Fortschrittesowie sein Einfluss in den internationalen Me-dien suggerieren, dass das Land alle Pro-bleme hinter sich gelassen habe. Betrachtetman Katars prekäre strategische Situationsorgfältig, wird deutlich, dass eine der größ-ten Gefahren in den Auseinandersetzungenzwischen den Golfstaaten liegen könnte. Ins-besondere wäre Katar bei einem regionalenKonflikt zwischen den beiden nach Hegemo-nie strebenden Golfmächten Saudi-Arabienund Iran direkt involviert und würde die nega-tiven militärischen, politischen und ökonomi-schen Konsequenzen negativ zu spürenbekommen. Momentan gelingt es Katar, sichzu beiden Ländern ein neutrales, relativ ver-trauenswürdiges Verhältnis zu bewahren,ohne von einem der Akteure dafür kritisiertoder instrumentalisiert zu werden. Ein wichti-ger Faktor für Katars Einfluss und Stabilität istdie US-amerikanische Militärpräsenz im Land.Sie stellt eine wesentliche Sicherheitsgarantiegegen seine Nachbarn dar und stärkt Katar

Page 167: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Katar

Deutsches Orient-Institut 166

zusätzlich, eine unabhängige politische Posi-tion einzunehmen. Es bleibt jedoch offen, wieweit Katars politische Flexibilität reicht, wennsich die Situation zwischen Iran und Saudi-Arabien zuspitzen sollte und damit auch dieUSA als Verbündeter Saudi-Arabiens in denKonflikt involviert würde. Auch sind der Kon-fliktmediation Katars, die es auf Grund vonvielfältigen, guten Kommunikationswegen be-sitzt, Grenzen gesetzt. So mangelt es Kataran einem geschulten Beamtenapparat undausreichenden Sicherheitskräften zur Analyseund Umsetzung von nachhaltigen und erfolg-reichen Verhandlungen. Es darf nicht überse-hen werden, wie beschränkt letztlich dieinstitutionellen Möglichkeiten des kleinenStaates Katars sind. Ähnlich verhält es sichmit der demographischen Situation und derbleibenden Abhängigkeit von ausländischenArbeitskräften. Denn trotz des Versuchs einer„Katarisierung” in den letzten Jahren ist esdem Staat nicht so leicht möglich, all jene Ta-lente und Begabungen hervorzubringen, dieeine arbeitsteilige Industriegesellschaft benö-tigt. Somit sind ausländische Arbeitskräftenicht nur vorübergehend zum Aufbau derWirtschaft erforderlich. In einem kleinen Landwie Katar werden auch weiterhin gerade Trä-ger von Know-how und Beziehungen unent-behrlich sein, welche das Land in dem Maßenicht selbst aufbringen kann. Interessantbleibt dabei, ob sich die Behandlung der Ar-beitnehmer, die vielfach unter der Armuts-grenze leben, mit der zunehmendenAufmerksamkeit der Ausrichtung der Fußball-weltmeisterschaft 2022 verbessern wird. Esbleibt zunächst unklar, in welchem Lager sichder kleine Staat Katar in Zukunft verorten

wird. Im Vergleich zu den benachbarten Golf-staaten lässt sich Katar am Ende des autori-tären Spektrums verorten. Obwohl es sich alsreformfreudig gibt, vor allem auf Grund seinerMedienpolitik, erlaubt es seinen Bürgern – ab-gesehen von den Frauenrechten – derzeitnicht viel mehr formale Partizipation alsSaudi-Arabien. Dies würde sich deutlich än-dern, wenn die 2005 in Kraft getretene Ver-fassung auch umgesetzt würde.

Das der Verfassung entsprechende neue Par-lament hätte dann keine rein beratenden, son-dern legislative und überwachendeFunktionen. Auch die autoritäre MonarchieKatars muss in gewissem Maße an Demo-kratie ausgerichtet werden, obwohl das bis-her einzige offizielle demokratische Verfahrenin Katar die Kommunalwahlen sind. Innenpo-litische Faktoren könnten die katarische Sta-bilität bedrohen. Allerdings kann man keineAnzeichen von Ressentiments gegen dieHerrschaft des jetzigen Emirs Scheich Hamadsehen, da die einheimische Bevölkerung dieEntwicklung ihres Landes nicht einfach demReichtum zuschreibt, sondern auch der klu-gen und reformorientierten Politik des Emirs,der mit seinem Willen nach Veränderung,Weisheit und Weitsichtigkeit das Land ent-schlossen lenke. Die Gefahr besteht dem-nach für die Zeit nach Emir Scheich Hamad.So könnte die Frage der Nachfolge eine Be-drohung für die Zukunft von Katar stellen, unddies in einer Zeit, in der das Land beginnt, sei-nen Reichtum zu genießen und stolz aufseine Erfolge zu sein.

Alina Mambrey

VII. Literaturangaben

AL KHAMIS, ABDULAZIZ: Magic and magician: Qatar and the danger of excessive success, Middleeast Online, 23. Mai 2011, http://www.middle-easT-online.com/ENGLISH/?id=46267, abgerufen am 15.08.2011.

AL-HAMARNEH, ALA: Katar. In: Weiss, Walter (Hrsg): Die arabischen Staaten. Geschichte, Politik, Religion, Gesellschaft, Wirtschaft, Heidelberg 2007.

ASSEBURG, MURIEL: Der Arabische Frühling, Herausforderung und Chance für die deutsche und europäische Politik, SWP-Studie, Berlin, Juli 2011.

AUSWÄRTIGES AMT

COATES, KRISTIAN: Qatar and the Arab Spring, OpenDemocracy, 12. April 2011, http://www.opendemocracy.net/kristian-coates-ulrichsen/qatar-and-arab-spring, abgerufen am 23.08.2011.

Page 168: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Katar

Deutsches Orient-Institut167

CRYSTEL, JILL: Oil and Politics in the Gulf. Rulers and Merchants in Kuwait and Qatar, Cambridge 1995, S. 112-170.

NIETHAMMER, KATJA: Familienbetriebe mit Anpassungsschwierigkeiten, Perspektiven und Grenzen politischer Reform in den Golfmonarchien, SWP-Studie, Berlin, Juli 2008.

PETERSON, J.E.: Qatar and the World: Branding for a Micro-State: in: Middle East Journal, Vol. 60 (2006) Issue 4, S. 732-748.

RITTER, WIGAND: Qatar. Ein arabisches Erdölemirat. Nürnberg 1985.

SCHOLZ, FRED, STERN, WERNER: Qatar-Wüstenstaat mit industrieller Zukunft? In: Scholz, Fred (Hrsg.): Die kleinen Golfstaaten, Stuttgart 1999.

ZAHLAN, ROSEMARIE SAID: The Making of the Modern Gulf States: Kuwait, Bahrain, Qatar, the United Arab Emirates and Oman. London 1989.

Page 169: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Bahrain

Deutsches Orient-Institut 168

1 CIA – The World Factbook.2 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.3 http://www.tradingeconomics.com/bahrain/population-density-people-per-sq-km-wb-data.html 4 CIA – The World Factbook. 5 CIA – The World Factbook.6 CIA – The World Factbook.7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.8 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators,

http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles/.10 World Bank, Population Growth Rate, Middle East and North Africa, http://www.worldbank.org/depweb/english/mod-

ules/social/pgr/datamide.html.11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN.12 CIA – The World Factbook.13 CIA – The World Factbook. 14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.15 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.16 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG; In-

ternational Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, S. 183,http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf.

17 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html.

18 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm.19 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia,

http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf.20 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us.21 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,

http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 22 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection:

Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators,http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/.

23 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf.

24 The World Bank “Voice and Accountability”, Worldwide Governance Indicators, http://info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp.

25 Transparency International, Corruption Perception Index,http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

Landesdaten BahrainFläche1 2011 780 km²

Bevölkerung2 2011 1.336.000

Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 1.062

Ethnische Gruppen4 2010 Bahrainer 62,4%, Nicht-Bahrainer 37,6%

Religionszugehörigkeit5 2010 Muslime 81,2%, Christen 9%, andere 9,8 %

Durchschnittsalter6 2010 30,9 Jahre

Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 20%

Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 2%

Lebenserwartung9 2010 76,0 Jahre

Bevölkerungsprognose bis 205010 2011 k. A.

Geburten pro Frau11 2009 2,2

Alphabetisierungsrate12 2010 86,5%

Mobiltelefone13 2009 1.578.000

Nutzer Internet14 2009 649.300

Nutzer Facebook15 2011 287.020

Wachstum BIP16 2008 6,3%

BIP pro Kopf 17 2010 27.838 USD

Arbeitslosigkeit18 2010 15%

Inflation19 2011 3,0%

S&P-Rating20 2011 BBB

Human Development Index Rang21 2010 Rang 39 (von 169)

Bildungsniveau22 2010 Rang 54 (von 177)

Bildungsniveau der Frauen (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)23

2010 57,0%

Politische Teilhabe24 2010 25,1%

Korruptionsindex25 2010 Rang 48 (von 178)

Page 170: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Bahrain

Deutsches Orient-Institut169

Bahrain

In dem kleinen, gerade einmal 1,2 Mio.Einwohner zählenden InselstaatBahrain brachen die ersten Massenpro-

teste am 14. Februar 2011 aus, wobei essich hierbei nicht um unerwartete Ereig-nisse handelte. Vielmehr waren sie eineFolgeerscheinung der „Jasminrevolution”in Tunesien und der sich zuspitzendenLage in Ägypten. Da Bahrain bisweilen je-doch die einzige der sechs Golfmonar-chien ist, in der das bestehendeHerrschaftssystem ernsthaft in Bedro-hung geriet, nimmt das kleine Königreicheine besondere Stellung im Kontext des„Arabischen Frühlings” ein, galt doch dieMacht der sechs sich im Golfkooperati-onsrat (GCC) vereinigenden Herrscherfa-milien des Golfes bis dahin als sicher.Nicht zuletzt aufgrund der weit verbreite-ten Annahme, dass die Golfmonarchienaufgrund ihres, wenn auch sehr unter-schiedlichen, Ressourcenreichtums in derLage seien, die Loyalität und Zufriedenheitihrer Bürger durch großzügige Alimentie-rungen zu erkaufen, sorgten die Ereig-nisse in Bahrain bei vielenAußenstehenden für Überraschung.

Die Proteste in Bahrain können vielmehrnicht als Spontanerhebung, sondern alsAusdruck einer lange schwelenden Unzu-friedenheit in bestimmten Teilen der Ge-sellschaft bewertet werden, so dass dieMassenproteste in Nordafrika einzig die In-itialzündung für jene am Golf darstellten.Da Bahrain in der wohl ressourcenreich-sten Region der Erde liegt und zudem alsFinanzzentrum eine wichtige wirtschaftli-che Rolle einnimmt, taten sich die westli-chen Staaten sehr viel schwerer, eine klareStellung zu beziehen. Allen voran die Re-aktionen der USA, die Bahrain als Flotten-stützpunkt nutzen und in wirtschaftlicherHinsicht wohl am meisten an einer friedli-chen Lösung interessiert sind, werden vonder Weltöffentlichkeit genauestens beob-achtet und bewertet. Die westlichen Indu-

strienationen insgesamt werden einenschmalen Grat zwischen der Förderungvon Demokratie einerseits und seinen po-litischen, geostragischen sowie ökonomi-schen Interessen in dieser für dieWeltwirtschaft so äußerst wichtigen Re-gion andererseits zu beschreiten haben.

I. Politisches System und gesellschaftli-che Entwicklungen

Bahrain bedeutet auf Arabisch „Zwei Meere“.Die Insel nahm historisch aufgrund ihrer Lageentlang der Seehandelsrouten des Golfeseine strategisch äußerst wichtige Position einund befand sich im Interessenfokus der um-liegenden Großmächte. Es waren auch nichtzuletzt die sich vor den Küsten befindlichenPerlenbänke, die das ökonomische Interesseder konkurrierenden Reiche an dem Archipelweckten. Bahrain wurde folglich zum Schau-platz vieler Kriege1 und stand im Laufe derGeschichte unter unterschiedlichen Herr-schaftseinflüssen.2

1797 zog die aus Kuweit stammende sunniti-sche Familie der Al Khalifa, die noch heuteden König stellt, nach Bahrain und erobertedie gesamte Insel sowie die umliegenden Ar-chipele innerhalb von 20 Jahren. Gleichzeitigstieg das Interesse der Briten an der Region.Im Zuge ihrer Suche nach Partnern, die ihnenbei der Verfolgung ihrer strategischen Inter-essen in der Region behilflich sein könnten,verbündeten sie sich mit der Al Khalifa-Fami-lie und schlossen mit ihr im Laufe des 19.Jahrhunderts mehrere Abkommen. Die Ver-träge erklärten die Al Khalifa-Familie zur offi-ziellen Herrscherdynastie und wandeltenBahrain schrittweise zum britischen Protekto-rat. Im Gegenzug versicherten die Al Khalifa,ohne britische Zustimmung mit keiner ande-ren Macht in Beziehung zu treten und denstrategischen Ambitionen der Briten, die dieSicherung ihrer Handelswege und die Hege-monie auf den Meeren verfolgten, nicht imWege zu stehen. Der Schulterschluss mit denBriten ermöglichte den Machterhalt undkappte letztendlich die politischen Verbindun-

1 1717 eroberte das Sultanat Oman Bahrain. Eine persische Rückeroberung scheiterte. Die Omanische Invasion lei-tete eine Phase der Instabilität ein, in der verschiedene Stämme versuchten, die Vorherrschaft zu erlangen. DieOmanis verkauften die Insel letztendlich zurück an die Perser. Diese mussten ihre Souveränität jedoch wiederumgegen arabische Stämme behaupten.

2 Anfang des 17. Jahrhunderts vertrieben die persischen Safawiden unter Abbas I. die Portugiesen und erklärten denschiitischen Islam zur Staatsreligion. Auch wenn die Insel fortan faktisch Teil ihres Reiches war, übten die Perser dieKontrolle nur indirekt aus, indem sie arabische sunnitische Stämme, die die fremde Schirmherrschaft anerkannten, zuVasallen machten. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts verloren die Perser allmählich die Kontrolle, als der Stammder Bani Utbah die Insel eroberte. Ihr religiöser und ethnischer Einfluss währte jedoch fort und blieb bis ins 19. Jahr-hundert prägend. Die Herrschaft der Bani Utbah war nur von kurzer Dauer.

Page 171: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Bahrain

Deutsches Orient-Institut 170

gen der Insel zum Persischen Reich – einFakt, der die sich mit Iran kulturell verbundenfühlende Bevölkerung negativ stimmte undanti-britische Ressentiments verstärkte.3 1923zwangen die Briten Sheikh Isa bin Ali Al Kha-lifa, formell abzudanken, weil dieser das Landnach einem Volksaufstand nicht befriedenkonnte und verdächtigt wurde, iranische Ver-suche zur Rückgewinnung Bahrains zu un-terstützen, und ersetzten ihn durch seinenSohn, Sheikh Hamad bin Isa. Jedoch gelanges auch ihm nicht, die Feindseligkeiten derschiitischen Bevölkerungsmehrheit gegenü-ber der sunnitischen Herrscherfamilie undden Briten zu mindern. Im Gegenteil: Die vonden Briten verfolgte Politik des divide et im-

pera und ihre Taktik, die demographische Be-schaffenheit des Landes durch dieImmigration von sunnitischen Arbeitern zumanipulieren, beeinflussten die Lage zuse-hends negativ und führten immer wieder zugewaltsamen Aufständen.

Die Entdeckung von Erdöl auf dem Territoriumdes Inselstaates im Jahre 1932 beschleunigteBahrains Modernisierung immens, hatte aberwiederum eine steigende Abhängigkeit vonGroßbritannien zur Konsequenz. Zu einemvorläufigen Höhepunkt in dem Ringen um dieSouveränität Bahrains kam es 1957, als dasiranische Parlament den Inselstaat zur 14.Provinz Irans erklärte – ein Schritt, der in denarabischen Golfstaaten Besorgnis hervorriefund das Misstrauen gegenüber dem schiiti-schen Staat verschärfte. Ein von den Verein-ten Nationen initiiertes Referendum, in demdas bahrainische Volk sich jedoch klar dafürentschied, dass ihr Land ein unabhängigerStaat werden solle, wurde von Iran anerkannt.1971 wurde Bahrain auch offiziell unabhän-gig.

Der Bürgerkrieg im Libanon, der vor allemBeirut als Wirtschaftsstandpunkt nachhaltigschwächte, führte dazu, dass Bahrain zumneuen Finanzzentrum der arabischen Weltavancierte. Parallel dazu generierte der Öl-boom der 1970er Jahre relativen Reichtum imInselreich und beschleunigte dessen Moder-nisierung. Im Vergleich zu den anderen Staa-ten der Region entwickelte sich in Bahrainschon sehr früh eine gebildete Mittelschicht,die etwa über Gewerkschaften sehr gut mit-einander vernetzt war. Die Al Khalifa-Familiewar sich der Gefahr für ihre Macht bewusst,die von derartigen, mitunter stark linksideolo-gischen Gruppierungen ausging und ver-

suchte seine eigene Legitimität durch Zuge-ständnisse zu stärken, um ihre Herausforde-rer zu schwächen. So kam es 1973 zu erstenparlamentarischen Experimenten. Bahrain er-hielt erstmals eine Verfassung, eine National-versammlung wurde gebildet, der es jedochan echten legislativen Befugnissen fehlte,während Emir Sheikh Isa bin Salman Al Kha-lifa das Land weiterhin per Dekret regierte.Gleichwohl entstanden in dieser Zeit zahlrei-che politische Vereinigungen aller Couleur,von linken Gruppen, über Islamisten bis hinzu arabischen Nationalisten.

Das parlamentarische Experiment sollte je-doch nicht lange andauern. Bereits 1975wurde die Nationalversammlung durch denEmir aufgelöst, weil die Abgeordneten gegenein umstrittenes Sicherheitsgesetz votierten,das unter anderem die Festnahme und Inhaf-tierung von Personen ohne gerichtliches Ver-fahren ermöglichte. Es folgte eine äußerstrigide Phase der politischen Repression, Will-kür und auch Folter, die größtenteils gegendie schiitische Bevölkerung gerichtet war. Sei-tens der sunnitischen Eliten wurde die vonIran ausgehende schiitische Bedrohung fort-während heraufbeschworen und lebendig ge-halten, während den eigenen schiitischenBewohnern des Landes unterstellt wurde, mitHilfe Irans subversive Aktionen zu planen undletzten Endes den Sturz der sunnitischenHerrscherdynastie zu beabsichtigen. Die AlKhalifa suchten stets den Konflikt entlang derkonfessionellen Bruchlinien am Leben zu hal-ten, um eine Aussöhnung zu verhindern.

Die weitflächige Hysterie bei den autoritärenarabischen Regierungen und in weiten Teilender westlichen Welt, ausgelöst durch die Isla-mische Revolution von 1979 in Iran, und dieAngst vor dem Revolutionsexport, spieltenden Al Khalifa in die Hände. Die Zwingen derRepression wurden noch fester angezogen.In der Tat flog 1981 ein wohl von der Revolu-tion inspirierter Staatsstreich auf. Allerdingswurde die diffuse Angst vor Iran eher als Dau-erbedrohung instrumentalisiert als dass essich um eine reale existenzielle Gefahr han-delte.

Bis in die späten 1990er Jahre blieb der Zu-stand der Unruhe und Unterdrückung beste-hen, begleitet von immer wieder auf-flammenden Kämpfen zwischen Islamistenund Sicherheitskräften vor allem in sozioöko-nomisch unterentwickelten und vernachläs-

3 Schon 1895 gab es erste Revolten, die sich gegen die Aufgabe eben dieser Verbindungen und gegen eine zu starkeAbhängigkeit von den Briten richteten. Die Aufstände wurden von den Al Khalifa nicht selten mit britischer Hilfe bru-tal niedergeschlagen.

Page 172: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Bahrain

Deutsches Orient-Institut171

sigten schiitischen Dörfern und Vororten. Als1999 Isa bin Salman starb und sein Sohn,Sheikh Hamad bin Isa Al Khalifa, mit dem Ver-sprechen auf mehr Freiheit dessen Erbe alsEmir antrat, stiegen die Hoffnungen und Er-wartungen vor allem auf Seiten der Schiiten.Tatsächlich verfügte der neue HerrscherBahrains die Freilassung aller politischen Ge-fangenen und die Abschaffung des Sicher-heitsgesetzes. Darüber hinaus wurde dieNational Action Charta erlassen, die am 14.Februar 2001 in einem Referendum mit über-wältigender Mehrheit angenommen undanschließend in Form einer neuen Verfas-sung in offizielles nationales Recht transfor-miert wurde. Die neue Verfassung weitete dasWahlrecht auch auf Frauen aus und stelltedas parlamentarische System, dieses Mal alsZweikammernparlament, wieder her. Doch er-neut entpuppte sich die postulierte Freiheitund die Möglichkeit der politischen Partizipa-tion als Illusion, da sich das neue Parlamentals nur scheinbar repräsentativ herausstellte.Denn die 40 Abgeordneten des Unterhauses(arabisch: Majlis an-Nuwab) werden zwar re-gelmäßig vom Volk gewählt. Das Oberhaus(arabisch: Majlis ash-Shura), dessen eben-falls 40 Mitglieder vom König ernannt werden,besitzt jedoch wie der König (Bahrain ist seit2002 ein Königreich) ein Vetorecht gegen allevom Unterhaus eingebrachten Gesetzesvor-haben, was eine echte Umsetzung des Volks-willens in Recht de jure ermöglicht, de facto

aber aussichtslos macht.

II. Voraussetzungen für den Willen nachWandel

Die Proteste des Februars 2011 allein aufkonfessionelle Problematiken zu reduzieren,ist irreführend. Erstens sind es nicht nur schi-itische Bahrainis, die sich auf den Straßenüber die ungerechten Verhältnisse im Landempören und für ihre Menschenrechte eintre-ten, sondern auch Sunniten. Zweitens ver-deutlichen die schiitischen Protestführerimmer wieder, dass ihr Aufbegehren eineSache der nationalen Einheit sei und ihre Be-wegung keine konfessionellen Grenzenkenne. Das ist bemerkenswert, betreffen diestaatlichen Diskriminierungen in den sozialen,ökonomischen und religiösen Bereichen desLebens doch zu einem überwiegenden Teil

die schiitische Bevölkerungsmehrheit. Etwa1,34 Mio. Menschen leben in Bahrain, vondenen nur rund 62% bahrainische Staatsbür-ger sind. Die restlichen 38% der Bevölkerungkommen größtenteils aus Südasien und an-deren arabischen Ländern. 70% der Staats-bürger gehören der schiitischenGlaubensrichtung des Islam an.4 DieSchaltzentralen der Macht in Bahrain werdenvon Familienmitgliedern des sunnitischenHerrscherhauses besetzt. Die SchiitenBahrains sind in weiten Teilen des Staatsap-parates deutlich unterrepräsentiert. Gerademal jede zehnte öffentliche Position von höhe-rem Rang ist in schiitischer Hand. Nur 20%der Minister- und Staatssekretärposten wer-den von Schiiten bekleidet. Die politischenSchlüsselbehörden (Inneres, Äußeres, Ver-teidigung, Justiz, Sicherheit) sind in dieserStatistik gar nicht eingeschlossen. Einzig undallein die Belegschaft des Ministeriums für In-dustrie ist zur Hälfte schiitisch.5

Am deutlichsten findet die Ausgrenzung derSchiiten im Sicherheitsapparat statt, da eseinem Großteil von ihnen verwehrt bleibt, indiesem zu arbeiten. Nur einige wenige Privi-legierte schaffen es in die Reihen der Polizeiund der königlichen Streitkräfte. Ebenfalls fastunmöglich gestaltet es sich für Schiiten, eineAnstellung in den für Sicherheit zuständigenstaatlichen Einrichtungen zu erlangen. Lauteiner bahrainischen Menschenrechtsorgani-sation besteht der bahrainische National Se-

curity Apparatus, eine behördenähnliche, dienationale Sicherheit überwachende und demKönig direkt unterstehende Institution mit teil-weise geheimdienstlichen Befugnissen, zu96% aus sunnitischen Mitgliedern, währendrund zwei Drittel dieses SicherheitsapparatesAusländer sind6. Die Armee, die Polizei, denGeheimdienst, die Behörden und das Innen-ministerium zu einem großen Teil mit nichtaus Bahrain stammendem Personal zu be-setzen und Schiiten möglichst gänzlich aus-zuschließen, lässt auf die Hauptaufgabe derSicherheitskräfte schließen – nämlich dieVerhinderung einer seitens der schiitischenBevölkerung, womöglich durch Iran unter-stützten, Machtübernahme. Die HerrscherBahrains sehen in ihrer eigenen Bevölkerungdie wahrscheinlich größte Gefahr für ihreMacht, die Gefahr eines Putsches wird recht

4 Auswärtiges Amt, www.auswaertiges-amt.de, abgerufen am 12.07.115 Die durch den Staat verfolgte Taktik der Marginalisierung und systematischen Diskriminierung der schiitischen Bevöl-

kerungsmehrheit kam 2006 im so genannten „Bandargate-Skandal“ ans Licht. Salah al-Bandar, Generalsekretär desGulf Centre for Democratic Development und damals Berater des Kabinetts, veröffentlichte einen 240-seitigen Bericht,in dem geschildert wird, dass Teile der Regierung gewisse Kampagnen finanziell unterstützen, die die Förderung kon-fessioneller Spannungen beabsichtigen und die politische Ausgrenzung der Schiiten verfolgen. Al-Bandar wurde dar-aufhin des Landes verwiesen und ging ins britische Exil.

6 Siehe http://www.bahrainrights.org.

Page 173: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Bahrain

Deutsches Orient-Institut 172

hoch eingeschätzt und auf internationalerEbene wird Iran als größter Widersacher be-trachtet. Schließlich ist eine wachsende Sy-stematik in der Ausschließung schiitischerBürger aus dem Sicherheitsapparat späte-stens seit der Islamischen Revolution in Irannachzuweisen. Ferner sind die fremdländi-schen Angehörigen der Armee in weiten Tei-len der Bevölkerung als Söldner verpönt.

Ein weiterer Aspekt staatlicher Diskriminie-rung ist die der Manipulation der Mehrheits-verhältnisse dienende Grenzziehung derWahlkreise, Gerrymandering genannt. Dabeiwird der geometrische Zuschnitt der Wahlbe-zirke so verändert, dass es der sunnitischenWählerschaft, obwohl in der Minderheit, mög-lich ist, als Sieger aus der Wahl hervorzuge-hen.7 Eine schiitische Mehrheit im gewähltenUnterhaus wird damit verhindert. Bei denWahlen von 2010 erlangten sunnitische Ab-geordnete 22 von 40 Sitzen. Al-Wifaq („DieEintracht“), die bedeutendste politische Ver-einigung innerhalb der schiitischen Gemein-schaft, gewann indessen die restlichen 18Sitze, obwohl sie rund zwei Drittel aller abge-gebenen Stimmen auf sich vereinigen konnte.Auch wenn sie von einer Mehrheit im Unter-haus nicht profitieren könnten, weil diesemohnehin die nötigen legislativen Kompeten-zen fehlen, erhöht die Wahlkreis- verfäl-schung die Frustration unter den Schiiten undhat nicht zuletzt einige schiitische Vereinigun-gen dazu bewogen, die Wahlen zu boykottie-ren.

Eine der Hauptforderungen der Protestieren-den ist außerdem die Beendigung der bereitsoben erwähnten Strategie zur Veränderungder demographischen Verhältnisse, die mut-maßlich von der Regierung angewandt wird,indem sie sunnitische Ausländer einbürgert.Besonders häufig wird Jordaniern, Jemeniten,Syrern und Pakistanern, die einen Großteildes Personals der bahrainischen Streitkräfteausmachen, die Staatsbürgerschaft verliehen.Darüber hinaus haben oppositionelle, vorran-gig schiitische Gruppen wiederholt kritisiert,dass auch saudische Stämme, die zwar einstin Bahrain ansässig waren, deren Haupt-siedlungsgebiet jedoch im Osten Saudi-Ara-biens liegt, die doppelte Staatsbürgerschafterlangten.8

Nach bahrainischem Gesetz haben Arabernach 15 aufeinander folgenden Jahren, in

denen sie in Bahrain ihren festen Wohnsitzhatten, Anspruch auf Staatsbürgerschaft. FürNicht-Araber gelten analog 25 Jahre. Das Ein-bürgerungsgesetz von 1963 sieht zudem vor,dass eine Person, die dem Land besondereDienste erwiesen hat, die Staatsbürgerschafterlangen kann. Darauf hinweisend, dass sichdieser Artikel sehr flexibel auslegen lasse unddass der Einbürgerungsprozess ohnehin sehrintransparent verlaufe, fordert die Oppositionschon seit Jahren eine Novellierung des Ge-setzes.

Wie schon weiter oben erwähnt, entzündensich die aktuellen Proteste nicht ausschließ-lich an konfessionellen Ressentiments,sondern an der Ungerechtigkeit innerhalb despolitischen Systems, wofür jedoch nicht dieSunniten als Glaubensgemeinschaft ansich verantwortlich gemacht werden. Dieungerechte Einbürgerungspolitik schürtjedoch das Misstrauen untereinander undkönnte bei zunehmender Eskalation der Lagefür Zwietracht zwischen den Konfessionensorgen.

Die Tatsache, dass Schiiten bei der Arbeits-suche im öffentlichen Sektor, der der größteArbeitgeber des Landes ist, systematisch be-nachteiligt werden, resultiert in einer unver-hältnismäßig hohen Arbeitslosenquote unterihnen. Obendrein verdienen jene, die eine An-stellung haben, gegenüber ihren sunnitischenKollegen in vergleichbaren Positionen deut-lich weniger.

Die ökonomische Divergenz zwischen denbeiden Konfessionen führt unweigerlich zueiner unverhältnismäßigen Verteilung desReichtums. Die meisten Schiiten leben inRandbezirken der Hauptstadt Manama und inarmen Dörfern, deren infrastrukturelle Er-schlossenheit nicht selten als katastrophal be-zeichnet werden darf. In einigen, besondersden sunnitischen Eliten vorbehaltenen, Ge-bieten ist es Schiiten gar verboten, Land zuerwerben und zu wohnen. Die ökonomischegeht also zusätzlich mit einer räumlichen Dis-kriminierung einher. Bei einem Bevölkerungs-wachstum von jährlich 3% wirdLandknappheit auf der kleinen Golfinsel zueinem ernsten Problem, während Mitgliederder Königsfamilie mehr Boden besitzen alssie nutzen können. Der niedrige Beschäfti-gungsgrad innerhalb der schiitischenGemeinschaft wird zudem dadurch ver-

7 Zur Definition von Gerrymandering, siehe: http://www.wahlrecht.de/lexikon/gerrymander.html, abgerufen am13.07.11.

8 Angehörige des saudischen Dawasir-Stammes seien während der Wahlen von 2002 sogar mit Lastern auf Staatsko-sten in die Mitte des Saudi-Arabien und Bahrain verbindenden Dammes gebracht worden, um dort ihre Stimmen ab-zugeben. Dass im Jahr zuvor rund 1.000 langjährige schiitische Staatenlose die bahrainische Staatsbürgerschafterhielten, konnte die Empörung unter den Schiiten über die einseitige Einbürgerungspolitik nur unmerklich lindern.

Page 174: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Bahrain

Deutsches Orient-Institut173

schlimmert, dass zunehmend Arbeitskräftemit niedrigeren Lohnansprüchen besondersaus Asien auf den Markt drängen.

Des Weiteren ist festzuhalten, dass in Bahrainkein staatliches System der sozialen Absi-cherung existiert, sodass diese Aufgabe vonVerwandten und Bekannten getragen werdenmuss, was jene zusätzlich belastet. Wennselbst das soziale Umfeld diese Bürde nichtauf sich nehmen kann oder will, bleiben dieBetroffenen sich selbst überlassen. ErnsthafteVersuche, die daraus resultierende Entste-hung von regelrechten Elendsvierteln zu un-terbinden, werden nicht unternommen,bedauert die Opposition.

III. Akteure des Wandels und konkreteAuslöser

In Bahrain sind politische Parteien offiziellnicht zugelassen. Als jedoch 1999 Hamad binIsa Al Khalifa seinem Vater als Emir folgte undim Rahmen der politischen Öffnung desLandes Reformen einleitete, wurden in derFolge politische Vereinigungen legitimiert.Seither haben sich zahlreiche sunnitische,schiitische und linksorientierte Gruppierungenetabliert. Darüber hinaus treten bei denWahlen zumeist sunnitische unabhängigeKandidaten an.

Die beiden politischen Vereinigungen al-Min-

bar (arabisch: „Das Forum“) und al-Asala

(arabisch: „die Authentizität“, „die Echtheit“)repräsentieren die islamistischen Tendenzender sunnitischen Bevölkerungsminderheit.Die Al Khalifa haben mit ihnen stets taktischeAllianzen geschlossen, um den Einfluss derliberalen und schiitischen Gruppierungenzurück zu drängen. Zu Beginn der Protestebildeten sie zusammen mit einigen Unabhän-gigen die Allianz National Unity Gathering

(NUG). Die regimefreundliche NUG hat wie-derholt die Legitimität des augenblicklichenpolitischen Systems bestätigt. In einigenPunkten stimmen ihre Forderungen mit denender Opposition jedoch überein. So verlangensie unter anderem ebenfalls die Freilassungpolitischer Gefangener, eine größere Teilhabedes Unterhauses an der Gesetzgebung, diestärkere Bekämpfung der Korruption und dieernsthafte Strafverfolgung jener, die für dieTötung mehrerer Demonstranten im Februar2011 verantwortlich sind. Langfristig kann dieRegierung jedoch mit der breiten Unterstüt-zung der NUG rechnen – besonders wenn es

zu den zentralen Fragen der Machtverteilungkommt. Eine politische Stärkung der schiiti-schen Bevölkerung wird diese nicht in Kaufnehmen.

Die Opposition, die sich in den ersten Wochennach den Protesten zu einer losen Allianz ver-einigt hat, besteht aus sieben politischen, teilsschiitischen, teils linken Vereinigungen undaus nicht-lizensierten außerparlamentari-schen Gruppierungen. Die wichtigste Fraktiondieser Koalition und wahrscheinlich die stärk-ste politische Teilkraft des Landes ist al-Wifaq

(arabisch: „Die Einheit“). Der Erfolg dieser re-lativ heterogenen pan-schiitischen Vereini-gung lässt sich darauf zurückführen, dass sieviele verschiedene politische und religiöseStrömungen der schiitischen Gemeinde zu-sammenführt.9 Seit 2006 haben Mitglieder al-

Wifaqs an den Parlamentswahlenteilgenommen und verfolgen seither das Ziel,das politische System durch Partizipation voninnen zu verändern, nachdem sie die Wahlenvon 2002 wie die meisten oppositionellenKräfte aus Protest boykottierten.

Die al-Haqq-Bewegung (arabisch: „dasRecht“, „die Wahrheit“) besteht vorrangig ausehemaligen al-Wifaq-Mitgliedern, die sich2005 von ihrer Partei lossagten, um gegen dieEntscheidung zu protestieren, an den Wahlenvon 2006 teilzunehmen. Al-Haqq gehörenauch einige wenige sunnitische Oppositio-nelle an, denen der Reformprozess zu lang-sam vonstatten geht. Die Bewegung lehntjegliche Form von Arrangement mit der Re-gierung ab und beschränkt ihre Aktivitäten aufdas Sammeln von Unterschriften, die Mobili-sierung der Jugend und die Förderung politi-schen Interesses und Bewusstseins. Seitensder Regierung wird al-Haqq unterstellt, fürGewaltbereitschaft innerhalb der Oppositionverantwortlich zu sein. Wegen ihres konfron-tativen Kurses und ihrer Absicht, das Systemdurch Protest und zivilen Ungehorsam zu Fallzu bringen, wird der Bewegung auch keine Li-zenz gestattet und ist daher praktisch illegal.

Die wichtigste politische Kraft des linkenSpektrums ist al-Wa’ad (arabisch: „Das Ver-sprechen“). Diese Vereinigung, deren Unter-stützer vor allem aus der schiitischen Mittel-schicht, aber auch konfessionsübergreifendaus intellektuellen Kreisen stammen, verfolgteine Art arabischen Nationalismus. Sie wardie erste politische Kraft, die sich öffentlich fürdie Unterstützung der Proteste vom 14. Fe-

9 Dies gilt sowohl für Schiiten arabischer als auch persischer Abstammung.

Page 175: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Bahrain

Deutsches Orient-Institut 174

bruar 2011 aussprach. Dass die Proteste amjenem Tag, dem 14. Februar 2011 ausbra-chen, war kein Zufall. Dieser Tag bedeuteteauch das zehnjährige Bestehen des „Natio-nalen Aktionsplans” (National Action Charta),der die Grundlage der heutigen VerfassungBahrains bildet und der die Hoffnungen aufein gerechteres politisches System weckte.Wie weiter oben deutlich gemacht, wurdendiese Hoffnungen enttäuscht, weil die Elitendes Al Khalifa-Clans nicht vermochten, ihrenVersprechungen Taten folgen zu lassen. DieEinführung der Verfassung von 2001 glicheiner Farce und stellte für weite Teile der Op-position einen Affront dar. Die scheinbare po-litische Öffnung des Landes konnte zwar dieGewalt der turbulenten 1990er Jahre in ge-wissem Maße eindämmen. Der Missmut, dieUnzufriedenheit, ja gar die Frustration inner-halb der Bevölkerung wurden aber wegendem fehlenden Realisierungswillen der Re-formen nur bestärkt.

Die Bahrainis verfolgten die Ereignisse in Tu-nesien und Ägypten aufmerksam. Die Nach-richt vom Sturz zunächst Ben Alis und späterMubaraks stimmte viele optimistisch, auch inBahrain politische Veränderungen durch zivi-len Protest herbeizuführen. Der Sturz der AlKhalifa wurde aber zunächst nicht angestrebt.Man verfolgte lediglich die Aufhebung derkonfessionellen Segregationspolitik und dieEinführung einer echten konstitutionellenMonarchie nach Vorbild Großbritanniens,Schwedens oder Spaniens, in der die Fami-lie Al Khalifa zwar weiterhin den König stellte,die exekutive Macht jedoch von gewähltenVertretern des Volkes ausginge.

Bereits vor den Protesten im eigenen Landhatte die Regierung als Reaktion auf die Pro-teste in der arabischen Welt wie auch seineGCC-Nachbarn angekündigt, jeder bahraini-schen Familie eine Pauschale von 1.000Dinar (ca. 2.650 USD) zukommen zu lassen.Die Geste zeugte von königlicher Großzügig-keit, konnte die Proteste jedoch weder in ihrerIntensität abschwächen noch gänzlich ver-hindern.

Die ersten Aufrufe an die Bahrainis, sich am14. Februar, dem bahrainischen „Tag desZorns“, auf die Straße zu begeben, um fürFreiheit und Würde sowie gegen Diskriminie-rung und Korruption zu demonstrieren, gingenvon der Jugend aus, die sich der sozialenPlattformen Facebook und Twitter bedienten,

um die Proteste zu organisieren und zu koor-dinieren. Al-Haqq und das Bahrain Center for

Human Rights10 konnten durch ihre gutenKontakte zur Zivilgesellschaft ihr Übrigesdazu beitragen, dass Zehntausende in derHauptstadt Manama und anderen Ortschaf-ten im ganzen Land an Demonstrationen teil-nahmen. Keine einzige politische Kraft desLandes könnte jedoch für sich allein in An-spruch nehmen, den Anstoß für die Protestegegeben zu haben. Die bedeutendsten Im-pulse gingen wie auch in Tunesien von der in-ternettaffinen, gut informierten undpessimistisch in die Zukunft blickenden Ju-gend aus, die keinem politischen Lager ex-klusiv zuzuordnen ist.

Bereits am 14. Februar, dem ersten Tag derProteste, gingen die Sicherheitskräfte mitäußerster Härte vor. Dies geschah wohl mitder Absicht, eine drohende Revolution vonBeginn an zu unterbinden. Ein 27-jähriger De-monstrant wurde erschossen. Am Morgen desnächsten Tages versammelte sich eine großeMenschenmenge zu einem Trauerzug, umdem Tod des Verstorbenen zu gedenken.Wieder eskalierte die Situation und eine wei-tere Person wurde getötet. Der König ent-schuldigte sich umgehend für das harteVorgehen der Polizei und kündigte eine um-fassende Untersuchung der tragischen Ereig-nisse an. Sein Versprechen konnte die vonden beiden Tötungen aufgebrachten Massenjedoch nicht beruhigen. Der Versuch, die Pro-teste frühzeitig durch den Einsatz von Gewaltaufzulösen, bestätigte viele in ihrer Annahme,dass den Herrschern an einer substantiellenReform des Systems gar nicht gelegen war.Insofern stellten die Tode der beiden erstenDemonstranten einen Wendepunkt in der Pro-testbewegung dar. Ein Großteil der Empörtenverlor in der Folge den Glauben an einen ech-ten Wandel durch die Herrscherfamilie.

Am Abend der Beerdigung und der zweitenKonfrontation der Protestierenden mit den Si-cherheitskräften zog eine Menschenmengeauf den zentral gelegenen Perlen-Platz inManama und errichtete Zelte – ganz nachdem Vorbild der ägyptischen Demonstranten,die den Tahrir-Platz in Kairo tagelang besetzthielten. In der Nacht stürmten Regierungs-truppen unter Einsatz von Tränengas undscharfer Munition den Platz, töteten fünf Per-sonen, verletzten hunderte und nahmen wei-tere in Gewahrsam. Die Zugangsstraßenwurden abgeriegelt. Den Verletzten zu Hilfe

10 Siehe http://www.bahrainrights.org.

Page 176: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Bahrain

Deutsches Orient-Institut175

eilende Krankenwagen wurden aufgehalten.Als Reaktion auf die Gewalt zogen sich alleAbgeordneten al-Wifaqs und einige unabhän-gige Kandidaten aus dem Parlament zurück.Die Forderung, die Regierung solle geschlos-sen zurücktreten, da sie ihre Legitimität nunendgültig verloren habe, wurde nun auch zumpolitischen Programm der legalen Opposition.

Der Zorn der Massen kanalisierte sich imHass auf den Premierminister und Onkel desKönigs, Khalifa bin Salman Al Khalifa, dersein Amt seit 1971 innehat. Er wird zur altenreformunwilligen Garde des Regimes gezähltund gilt als korruptester Politiker des Landes.Des Weiteren wurde er als Hauptverantwort-licher für das brutale Vorgehen der Sicher-heitskräfte ausgemacht.

IV. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure

Nachdem die ersten drei Tage der Protestederartig blutig verlaufen waren, wurde auchdie Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeitgrößer und die internationale Kritik immer lau-ter. In der Folge brachte das Regime denSohn des Königs, Kronprinz Salman binHamad bin Isa Al Khalifa, in Stellung. Der 41-Jährige, der unter anderem in den Vereinig-ten Staaten und Großbritannien studiert hat,gilt als vergleichsweise liberal und moderat.Im Fernsehen bekundete er den Dialogwillenseiner Familie, versprach Reformen, um demWillen des Volkes nachzukommen, und er-klärte, dass nun friedlich weiterdemonstriertwerden dürfe. Die Streitkräfte, als deren stell-vertretender Befehlshaber er fungiert, würdensich zurückhalten. Dementsprechend ruhigverliefen auch die nächsten drei Wochen. Sei-tens der Regierung wurde die Schaffung von20.000 neuen Stellen im Innenministerium an-gekündigt – ein Signal, dass man es mit derArbeitslosigkeit im Lande ernst nehme. Auchwurden fünf Minister ausgewechselt und ei-nige wenige politische Gefangene freigelas-sen. Zu umfangreichen Zugeständnissen kames allerdings nicht, sodass die Proteste wei-tergeführt wurden und die Demonstrantenden Perlen-Platz erneut besetzten, was aller-dings erst durch den Rückzugsbefehl desKronprinzen an die Sicherheitskräfte ermög-licht wurde.

Einerseits wurde den Protestierenden seitensdes Regimes also Raum verschafft. Anderer-seits begannen konservative Kräfte innerhalbder Regierung – vor allem vertreten durch den

Premierminister – erneut die konfessionelleKarte zu spielen, indem sie den Demonstran-ten vorwarfen, Hass gegen Sunniten zuschüren und ihren politischen Führern unter-stellten, im Auftrag Irans zu handeln. Die Op-position behauptete ihrerseits, dasssunnitische „Schläger“ unbehelligt friedlicheDemonstranten angreifen können. Die Si-cherheitskräfte würden nicht eingreifen.

Ungeachtet dessen und angesichts des zumErliegen gekommenen Dialogs marschiertenMitte März Protestierende gen Finanzzentrumin Manama und blockierten dort einigeStraßen. Andernorts brachen heftige Kämpfemit der Polizei aus. Mehrere hundert Men-schen wurden verletzt. Am nächsten Tag, dem14. März, marschierten als Reaktion auf dieerneuten Zusammenstöße Truppen des Golf-kooperationsrates, allen voran saudische Sol-daten, in Bahrain ein – angeblich auf Anfrageder bahrainischen Regierung. Am 15. Märzwurde – zunächst für drei Monate vorgesehen– das Kriegsrecht verhängt. Die von der Op-position titulierte „Besetzung des KönigreichsBahrain“ ist kritisch zu betrachten, da dieschnelle Eingreiftruppe des GCC eigentlichfür die Abwehr von äußeren Feinden be-stimmt ist. Es lässt sich vermuten, dass dieAktion vor allem auf saudische Initiativezurückzuführen ist. Denn das saudischeKönigreich befürchtet ein Übergreifen derProteste auf seine ölreichen Gebiete imOsten, die direkt an Bahrain grenzen und indenen ebenfalls Schiiten in ähnlich prekärenVerhältnissen wie ihre bahrainischen Glau-bensgenossen leben. Generell wäre das Zu-standekommen einer schiitischen Regierungin Bahrain für Saudi-Arabien nicht hinnehm-bar. So wurde die Bekämpfung der Protesteauf eine breite regionale Basis gestellt, an dersich alle Staaten des Golfkooperationsratesbeteiligen, um den Eindruck der regionalenEinigkeit gegen die angeblich von Iran inspi-rierte Protestbewegung zu wecken. Nebendem Einmarsch in Bahrain wurde vom GCCauch ein Stabilisierungspaket für den Insel-staat und Oman von insgesamt 20 Mrd. USDverabschiedet, um die Infrastruktur zu ver-bessern und die sozialen Missstände zubekämpfen.

Der Erfolg dieser Maßnahmen blieb bishermarginal. Die Präsenz fremder Truppen, dieunter anderem erneut mit Gewalt den Perlen-Platz räumten und ihn schwer beschädigten,hat wie es scheint der Protestbewegung eher

Page 177: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Bahrain

Deutsches Orient-Institut 176

Aufschwung verliehen, was nicht zuletztdurch die Wiederbesetzung des Perlen-Plat-zes deutlich wurde. Der Zweck des Einmar-sches wurde somit verfehlt. Auch ließ sich dieProtestbewegung durch die finanziellen Kon-zessionen nicht von der Forderung nach demRücktritt der Regierung abbringen. Wohlführte die Intervention aber zu einer Zunahmeder Gewalt – und zwar auf beiden Seiten. Ei-nerseits verfolgt die breite Masse der Protest-bewegung weiterhin eine friedliche Lösungdes Konflikts. Andererseits wurde jedochauch von einzelnen Gewaltaktionen durchDemonstranten berichtet – ob aus Vergeltungoder Verteidigung, darüber lässt sich nur spe-kulieren.

Mit dem Einmarsch der GCC-Truppen gingferner eine umfangreiche Verhaftungswelleeinher. Nachdem die Opposition noch dieAufhebung des Ausnahmezustands am1. Juni 2011 gefeiert hatte, wurden Tage spä-ter 21 prominente Oppositionsverführer undMenschenrechtler, darunter die Führer deral-Haqq-Bewegung und wichtige Funktionärevon al-Wifaq und al-Wa’ad, in Massen-verfahren vor einem Militärgericht wegen ihrerRolle in den Protesten zu teils lebenslangenHaftstrafen verurteilt. Den Verurteilten wurdevorgeworfen, mit Hilfe Irans in Bahrain dieErrichtung eines Gottesstaates geplant zuhaben. Amnesty International kritisierte diedrakonischen Urteile, da eine Verurteilung voreinem Militärgericht nach Beendigungdes Notstands nicht rechtmäßig sei. Fernerseien die Richtersprüche politisch motiviertgewesen.11

Es hat in diesem Sinne allen Anschein, dassdas Regime eine „Zuckerbrot-und-Peitsche”-Taktik lanciert hat. Einerseits signalisiert es,vertreten durch den Kronprinzen, Dialogbe-reitschaft und die Bereitschaft zu Konzessio-nen. Andererseits geht es brutal gegen dieProtestierenden vor und versucht die Führer-schaft der Opposition zu eliminieren. Hinzukommt, dass die Protestbewegung in denstaatlichen Medien zunehmend diskreditiertwird. Immer wieder wird von Waffenfundenberichtet, die bis jetzt jedoch sämtlich unbe-stätigt blieben. Symbolisch für die Politik mitder Peitsche steht hierbei der Premiermini-ster, dem nachgesagt wird, saudische Inter-essen zu vertreten.

Seit Beginn der Proteste im März kamen rund35 Menschen ums Leben, viele Hunderte

wurden verletzt, etliche verurteilt und aber-mals Dutzende gelten als vermisst. Die mas-sive Anwendung von Folter wird angeprangertund ist an nicht wenigen Leichen nachweis-bar. Über ein halbes Jahr sind seit Beginn derersten Demonstrationen nun vergangen unddas Land scheint in einer politischen Sack-gasse zu stecken. Der Ausgang der Krise istschwer vorauszusagen.

König Hamad bin Isa Al Khalifa initiierte An-fang Juli einen Nationalen Versöhnungsdia-log, zu dem rund 300 Vertreter des Regimes,der Opposition und der Zivilgesellschaft ein-geladen wurden. Al-Wa’ad und al-Wifaq –letztere nach anfänglichem Zögern – nahmenan den ersten Gesprächen teil. Vorbedingun-gen für die Teilnahme wie der Abzug derGCC-Truppen oder der Rücktritt des Premierswurden abgelehnt. Die Unterredungen solltendas Wahlgesetz, den Umfang staatlicher Lei-stungen und die Kompetenzen des gewähltenParlaments behandeln. Die Forderung derOpposition, Bahrain in eine konstitutionelleMonarchie umzuwandeln, wurde zurückge-wiesen. Den oppositionellen Gruppen, be-sonders al-Wa’ad und al-Wifaq, wurde rechtschnell bewusst, dass sie ihre politischen For-derungen nicht würden durchsetzen können.Zum einen, weil die Bandbreite der Themenbegrenzt sei und zum anderen, weil die Op-position von 300 Eingeladenen gerade einmal35 Delegierte stellt. Aus diesem Grund zog al-

Wifaq auch Mitte Juli sämtliche seiner Mit-glieder von den Gesprächen ab, womit einepolitische Verständigung abermals in weiteFerne rückte.

V. Auswirkungen des „Arabischen Früh-lings“

Der weitere Verlauf ist kaum zu prognostizie-ren. Zurzeit scheinen die Verhandlungen fest-gefahren. Wohl kann aber konstatiert werden,dass die Ereignisse die ohnehin schon vor-handenen Gräben in der bahrainischen Ge-sellschaft vergrößert haben. Der Konflikt birgtdie Gefahr, dass es zu tatsächlichen konfes-sionellen Kämpfen kommt, wenn die Ge-spräche nicht rasch und konstruktivfortgesetzt werden. Die Aufständischen soll-ten sich nicht durch Provokationen seitensdes Regimes beziehungsweise sunnitischenLoyalen zu gewalttätigen Reaktionen verlei-ten lassen. Des Weiteren darf die Oppositionnicht davon ablassen, die Vorwürfe zu negie-ren, dass sie unter der Ägide Irans gegen den

11 Siehe http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE11/036/2011/en.

Page 178: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Bahrain

Deutsches Orient-Institut177

Staat konspiriere. Denn die Regierung be-trachtet die Heraufbeschwörung dieser Ge-fahr nach wie vor als Universalmittel und nutztdie staatlich gelenkten Zeitungen und Fern-sehsender zu dessen propagandistischer Ver-breitung. Vor der Niederschlagung derProteste und der folgenden Repressionswelleverfügte Bahrain noch über eine verhältnis-mäßig freie Medienlandschaft. Viele Journali-sten haben nun aber ihren Job verloren. Eswird berichtet, dass ganze Redaktionen aus-gewechselt wurden wie jene der Zeitung Al-

Wasat, die bis dahin zu den kritischstenBlättern am Golf zählte.

Nicht nur Journalisten, sondern auch andereBerufsgruppen, die den Demonstranten in ir-gendeiner Weise geholfen haben, wie Ärzteund Anwälte, sind von Kündigungen undsogar Berufsverboten betroffen. Von den Uni-versitäten wurden bereits etliche Studentenexmatrikuliert, wenn sie nicht einen Loyalitäts-eid ablegten. Im Ausland studierendenBahrainis wurden teilweise Stipendien entzo-gen, weil sie Kontakt zu den Demonstrantenaufgenommen hatten.

Die Nachbarstaaten positionieren sich mehr-heitlich auf Seiten der Al Khalifa. Das diffuseBedrohungsszenario, iranischer Einflusskönne sich der bahrainischen Schiitenbemächtigen, bestimmt vor allem das außen-politische Handeln Saudi-Arabiens, das als„Vorreiter des sunnitischen Islams“ und „Hüterder beiden heiligen Stätten“ Mekka und Me-dina mit dem schiitischen Rivalen um die He-gemonialposition am Golf konkurriert. Auchenge Verbündete von Saudi-Arabien undBahrain wie u. a. die USA befürchten die Aus-weitung des iranischen Einflusses auf dieSchiiten der arabischen Golfregion – eine Si-tuation, die in den Augen der US-amerikani-schen Sicherheitsstrategen zu erhöhtenRisiken führen und den Atomkonflikt mit Iranin die zunehmend fragile arabische Welt tra-gen könnte.

So zielt das geostrategische Interesse derUSA und anderer westlicher Akteure inBahrain auf eine Stabilisierung des Statusquo, eine Konsolidierung der Sicherheitslageund der Position der Al Khalifa, was zu vehe-menter Kritik geführt hat. Vorwürfe, im Fallevon Ägypten und Tunesien die Demonstran-ten unterstützt zu haben, während in Bahraindas Regime aus Eigeninteresse gestärkt

werde, wurden laut und schmälern dasAnsehen der USA bei weiten Teilen derbahrainischen Gesellschaft, die der US-ame-rikanischen Außenpolitik mindestens fehlendeVerhältnismäßigkeit vorwerfen. Zwar wurdeein Ende der Gewalt gegen Demonstrantenund eine friedliche Lösung gefordert, weit rei-chende internationale Unterstützung erfährtdie bahrainische Opposition jedoch nicht. Siekann nicht darauf hoffen, dass die USA denAl Khalifa-Clan fallen lässt. Denn die Ameri-kaner brauchen ihn, unterhalten sie aufBahrain doch einen Flottenstützpunkt. Eben-falls einflussreich agiert die saudische Lobbyin Washington, die viel dafür tun wird, dasssich die USA nicht, wie im Falle Mubarak, vonihren alten Verbündeten abwendet. Die Sau-dis üben auch auf die Al Khalifa erheblichenEinfluss aus, nicht zuletzt aufgrund der tiefgreifenden Abhängigkeit Bahrains von dersaudischen Wirtschaft.12 Es bestehen garenge persönliche Kontakte zwischen den bei-den Königshäusern. Premierminister Khalifaibn Salman Al Khalifa ist ein langjährigerFreund von Nayif bin Abdulaziz Al Saud, demsaudischen Innenminister und HalbbruderKönig Abdullahs. Beide vertreten die konser-vative Linie innerhalb ihrer Familien. Diebahrainischen Reformbestrebungen seit derJahrtausendwende waren ihnen seit jeher einDorn im Auge. Von Premierminister Khalifawird gesagt, dass er nun spätestens seit denAusschreitungen des Frühlings und denanschließenden Rufen nach dem Rücktritt derRegierung die eigentlichen Entscheidungenim Inselstaat trifft. Es scheint jetzt, als habe erden Machtkampf mit dem reformorientiertenKronprinz Salman bin Hamad bin Isa Al Kha-lifa für sich entschieden. Letzterer hatte sichzu Beginn der Proteste für Zugeständnisse andie Opposition ausgesprochen. Es verwun-dert nun nach der „Palastrevolution“ desPremierministers und der saudischen Inter-vention nicht, dass es zu keiner Annäherungkam und die Gespräche folglich abgebrochenwurden. Die negativen wirtschaftlichen Aus-wirkungen sind als moderat zu bewerten. DieKurse bahrainischer Firmen an den Aktien-märkten fielen nach Ausbruch der Unruhenleicht und der Ölpreis legte zu, weil Anlegereine Ausweitung der Proteste auf saudischemBoden befürchteten. Durch die Blockierungdes Finanzsektors und wegen teilweise lan-desweiter Streiks kam das wirtschaftlicheLeben in der Inselmonarchie zeitweise zumErliegen. Die Folgen der Stagnation haben

12 Der Großteil der bahrainischen Ölförderung findet im Abu Safa Offshore-Feld statt, das zur Hälfte Saudi-Arabien gehört.Die Hälfte der saudischen Erlöse aus diesem Geschäft geht direkt an Bahrain, das im Gegenzug seine Ansprüche aufdas komplette Feld aufgibt. Bahrainische Raffinerien werden mit saudischem Rohöl zu Discount-Preisen beliefert. DesWeiteren hängen die bahrainische Tourismusindustrie und das Bankwesen von saudischen Besuchern und Einlagenab.

Page 179: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Bahrain

Deutsches Orient-Institut 178

aber bislang keine alarmierenden Ausmaßeangenommen, da saudische Truppen einÜbergreifen der Proteste auf das eigene Ho-heitsgebiet offenbar unterbinden konnten.13

VI. Zukunftsszenarien

Best Case Scenario:

Es tritt der Fall ein, dass das bahrainische Kö-nigshaus auf Drängen der USA die Transfor-mation Bahrains in eine echte konstitutionelleMonarchie und freie Wahlen zulässt. Die AlKhalifa behalten den Großteil ihres Vermö-gens. Von einer strafrechtlichen Verfolgungsieht die Regierung ab. Zuvor waren die Ame-rikaner mit der Opposition in Verbindung ge-treten und hatten sich versichert, dass sieBahrain auch in Zukunft als Flottenstützpunktnutzen können. Saudi-Arabien wurde insofernberuhigt, dass die USA noch mehr Militärzu-sammenarbeit zur Eindämmung des irani-schen Einflusses zusagte. Die schiitischenFührer Bahrains ihrerseits stellten den Saudisfreundschaftliche Beziehungen in Aussichtund versicherten, dass ein schiitisch domi-niertes Bahrain sich in keinster Weise in dieinneren Angelegenheiten Saudi-Arabiens ein-mischen werde – gerade in Bezug auf dieschiitische Minderheit im Osten. Vielmehr ver-stehe man sich als ein den Frieden sichern-der, neutraler Staat.

Worst Case Scenario:

Angesichts der ausweglosen Situation, in dersich die bahrainische Protestbewegung sieht,und der anhaltenden Repression, beginnensich Teile der al-Haqq-Bewegung und andereschiitische militante Gruppierungen zu be-waffnen und verwickeln die regimetreuenTruppen landesweit in Gefechte. Das Landkehrt in das Chaos der 1990er Jahre zurück.Auch auf saudischem Boden kommt es zu be-waffneten Kämpfen zwischen schiitischen Mi-lizen und dem Militär. Der Westen hält sichweitgehend zurück. Provokative Äußerungen

vonseiten iranischer Offizieller, die eine Inter-vention fordern, nähren nun auch in den west-lichen Medien die Furcht, der iranischeEinfluss könne rapide ansteigen. Die USA undIsrael nutzen die Gunst der Stunde undführen Präventivschläge auf iranische Rake-ten- und Atomanlagen aus. Im Schatten derkriegerischen Auseinandersetzung, die dieUSA und Israel schnell für sich entscheiden,werden die schiitischen Aufstände in Saudi-Arabien und Bahrain von der Armee brutalniedergeschlagen.

Trend Szenario:

Was am wahrscheinlichsten eintreten wird, istdas, was momentan bereits abzusehen ist:Die Protestbewegung besitzt keine nennens-werte Verhandlungsmacht. Der Großteil derpolitischen Führer und Aktivisten, die durch ihrCharisma und ihre Erfahrung noch vermoch-ten, die Massen zu mobilisieren, sitzt in Ge-fängnissen ihre teils lebenslangen Haftstrafenab. Angesichts der fehlenden internationalenUnterstützung und der Stagnation der Ver-handlungen verschwindet die bahrainischeRevolution auch aus den westlichen Medien.

Ernüchtert von der fehlenden Aufmerksamkeitund frustriert vom ausbleibenden Interesse fürihre Sache, lassen sich viele durch die staat-lichen finanziellen Anreize vom Regime ko-optieren. Zumindest ihre Wohnsituation wirdverbessert. Die Regierung kündigt die Schaf-fung zusätzlicher Stellen im öffentlichen Sek-tor an und reduziert die Haftstrafen einigerpolitischer Führer. Des Weiteren stellt sie eineÄnderung der Einbürgerungspolitik und einEnde des Gerrymandering in Aussicht.

An den Befugnissen des Parlaments wird al-lerdings nichts geändert. Somit bleibt dasLand politisch weiterhin sunnitisch dominiert.Die Proteste lösen sich auf, die Menschenverschwinden von der Straße.

Jakob Pupke

13 Die Absage des Formel 1 Grand Prix’ von Bahrain hat weniger für die bahrainische Wirtschaft als für die Formel 1selbst negative finanzielle Folgen.

VII. Literaturangaben

AL-SAADI, YAZAN: Bahrain’s Uprising, http://www.muftah.org/?p=893, abgerufen am 15.07.2011.

BIRRINGER, THOMAS: GCC-Truppen und Kriegsrecht in Bahrain, Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., http://www.kas.de/rpg/de/publications/22240/, abgerufen am 19.07.2011.

DAMIR-GEILSDORF, SABINE: Abriss oder Renovierung? Opposition in Bahrain, in: inamo 65, Jahrgang 17, Frühjahr 2011, S. 12-15.

Page 180: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Bahrain

Deutsches Orient-Institut179

KAROLAK, MAGDALENA: Religion in a Political Context: The Case of the Kingdom of Bahrain, in: Asia Journal of Global Studies, Vol 4, No 1 (2010-11), S. 4-20.

KERR, CORTNI, JONES, TOBI: A Revolution Paused in Bahrain, Middle East Research and Information Project, http://www.merip.org/mero/mero022311, abgerufen am 20.07.2011.

INTERNATIONAL CRISIS GROUP: Middle East Report N°105, 6 Apr 2011: Popular Protests in North Africa and the Middle East (III): The Bahrain Revolt, http://www.crisisgroup.org, abgerufen am 12.07.2011.

INTERNATIONAL CRISIS GROUP: Middle East Report N°111, 28 July 2011: Popular Protests in North Africa and the Middle East (VIII): Bahrain’s Rocky Road to Reform, http://www.crisisgroup.org, abgerufen am 29.07.2011.

INTERNATIONAL CRISIS GROUP:Middle East Report N°40, 6 May 2005: Bahrain’s Sectarian Challenge, http://www.crisisgroup.org, abgerufen am 12.07.2011.

RIZVI, SAJJAD: Shi’ism in Bahrain: Marja’iyya and Politics, in: Orient IV / 2009, Jahrgang 50, S. 16-23.

Page 181: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Oman

Deutsches Orient-Institut 180

1 CIA – The World Factbook.2 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.3 http://www.indexmundi.com/facts/oman/population-density4 CIA – The World Factbook. 5 CIA – The World Factbook.6 CIA – The World Factbook.7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.8 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators,

http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles.10 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN.12 CIA – The World Factbook. 13 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.15 The World Bank, GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG,

International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, S. 183, http://www.imf.org/exter-nal/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf.

16 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Develop-ment Indicators, http:/www./hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html.

17 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm.18 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia, http://www.imf.org/exter-

nal/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf.19 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us.20 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,

http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf. 21 United Nations Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection:

Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators,http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/.

22 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf.

23 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://www.info.worldbank.org/gover-nance/wgi/sc_chart.asp.

24 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indi-ces/cpi/2010.

Landesdaten Oman

Fläche1 2011 309.500 km²

Bevölkerung2 2011 2.997.990

Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 9,31

Ethnische Gruppen4 2010Araber, Baluchi, Südasiaten (Indien, Pakistan, Sri Lanka, Bangladesh), Afrikaner

Religionszugehörigkeit5 2010Ibaditen 75%, Sunniten, Schiiten, Hindus und andere 25%

Durchschnittsalter6 2010 24,1 Jahre

Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 24%

Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 2%

Lebenserwartung9 2010 76,1 Jahre

Bevölkerungsprognose bis 205010 2011 4.900.000

Geburten pro Frau11 2009 3,0

Alphabetisierungsrate 2010 81,4%

Nutzer Mobiltelefone12 2009 3.971.000

Nutzer Internet13 2009 1.465.000

Nutzer Facebook14 2011 285.080

Wachstum BIP15 2008 12,8%

BIP pro Kopf 16 2010 26.258 USD

Arbeitslosigkeit17 2010 15%

Inflation18 2011 3,3%

S&P-Rating19 2011 BBB+

Human Development Index Rang20 2010 k.A.

Bildungsniveau21 2010 Rang 106 (von 177)

Bildungsniveau der Frauen (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)22

2010 k. A.

Politische Teilhabe23 2010 16,1%

Korruptionsindex24 2010 Rang 41 (von 178)

Page 182: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Oman

Deutsches Orient-Institut181

Oman

Die Proteste des „Arabischen Früh-

lings” kamen für viele unerwartet

und heftig. Zum ersten Mal konnte

ein solch heftiges Aufbegehren in der ara-

bischen Welt beobachtet werden. Auch im

Oman, vorher eher als Land mit zwar

wenig Möglichkeiten der politischen Ent-

faltung für den einzelnen, dafür jedoch mit

einem vergleichsweise hohen Lebens-

standard bekannt, sorgten Demonstratio-

nen und Kundgebungen, verbunden mit

den Forderungen nach mehr Freiheit und

Sicherheit, für Aufsehen.

I. Politisches System und gesellschaftli-

che Entwicklungen

Archäologische Funde auf dem Gebiet desheutigen Oman lassen vermuten, dass die er-sten Siedlungen durch Menschen bereits vorcirca 5.000 Jahren existierten. Das Volk derSumerer, eine Hochkultur, welche an der Ent-wicklung sowie territorialen Ausbreitung Me-sopotamiens entscheidend beteiligt war,siedelte sich um 3.000 v. Chr. im Nordomanan, wo bei ständigem Bevölkerungszuwachsschnell das Reich Magan entstand. Hiermitwar der erste Schritt zur Jahrtausende dau-ernden Entwicklung zum heutigen Sultanatvon Oman getan.

Der sich um 630 n. Chr. im Aufbruch befin-dende Islam machte auch vor den Gebietendes heutigen Oman nicht halt. Ein Grossteilder omanischen Bevölkerung konvertierte so,unmittelbar nach dem Aufkommen der neuenReligion auf der Arabischen Halbinsel, zumIslam. Anders als jedoch der Grossteil derheutigen islamischen Gemeinschaften gehörtdie Mehrzahl der im Oman lebenden Muslimeder Glaubensgemeinschaft der Ibaditen an.Die Ibaditen entstanden aus den so genann-ten Kharidjiten, welche heute oftmals als ersteislamische Sekte bezeichnet werden.1 Einedieser Gruppen, welche aus den verbliebenenKharidjiten hervorgingen, waren Al-Ibadiyyah,die Ibaditen. Sie wählten als neue Herrscher-form das System des Imamats, welches sichim Vergleich zu den späteren Kalifatsystemenz.B. der Umayyaden oder der Abbasiden,

beide sunnitischen Glaubens, hinsichtlich derWahl des Herrschers fundamental unter-schied: Bei den Ibaditen wurde der Führeraus einem Rat von Islamgelehrten gewählt.Er benötigte hierfür die direkte Unterstützungder Gelehrten, welche sich als legitime Ver-tretung des Volkes sahen. Zwar wurdendiese, im Gegensatz zu modernen Demokra-tien, nicht direkt vom Volk gewählt oder ein-gesetzt, jedoch waren sie, und dies vor allemmoralisch, dem Willen des Volkes unterstellt.Ebenso wurde das Ziel einer „volksnahen“Regierung und religiösen Vertretung ange-strebt. Somit war man vom Wohlwollen desVolkes durchaus abhängig. Während in denvielen anderen Teilen der islamischen Weltdas Kalifat entweder eine Art erbliches Kö-nigtum, auch Familiendynastie, oder eine the-okratische Einrichtung wurde, blieb im Omandas Imamat weitgehend eine Sache realerWahlen.

Das Imamat von Oman bestand in seiner ur-sprünglichen Form bis ca. 1750. Durch die ca.150 Jahre andauernde KolonialisierungOmans durch die Portugiesen sowie innereStreitigkeiten wurde das Imamat in zwei Teilegespalten. So konnte auf der einen Seite dastheokratisch ausgerichtete Imamat weiterhinbestehen, wurde jedoch im anderen, wirt-schaftlich wichtigeren Teil durch das realpoli-tisch orientierte Sultanat ersetzt. Diesbedeutete gleichzeitig die Entmachtung derIslamgelehrten, wenngleich ihnen das theo-retische Mitspracherecht bei politischen sowiereligiösen Fragen im Sultanat weiterhin ge-währt wurde. Unter dem Sultanat wurdeOman durch seine günstige geostrategischeLage mit seiner geographischen Nähe zuAsien zu einem wichtigen Handelsplatz zwi-schen der Arabischen Halbinsel und Indien,und konnte somit seine Herrschaft bis nachSansibar, Mombasa und ebenso in Teilen In-diens ausbreiten.

Im 20. Jahrhundert geriet Oman ebenso wieandere arabische Nachbarn unter britischenKolonialeinfluss und wurde zum Schauplatzder regionalen Rivalitäten um die neu ent-deckten Ölvorkommen. So entstanden ab den1930er Jahren erste Spannungen zwischendem Sultanat im Oman, seinen britischen Ver-bündeten, sowie dem Imamat, dem von Ibn

1 In der islamischen Geschichtsschreibung gelten diese als extremistisch bezeichnete Sekte oder Abspal-tungsbewegung, mit starkem Augenmerk auf die Verfolgung der, von ihren theologischen Grundsätzen ab-weichenden, Muslime. Durch ihre durchaus extremistische Auslegung der Religion gerieten die Kharidjitenrecht schnell unter Druck. So kam es schon um 660 n. Chr. zum beinahe kompletten Zerfall der Sekte,welcher zum einen durch massive Bekämpfung, die ihnen durch den vierten Kalifen Ali widerfuhr, zum an-deren durch Streitigkeiten untereinander, sowie die Spaltung in mehrere, sich in theologischen Detailsunterscheidende Gruppierungen, in hohem Maße gefördert wurde.

Page 183: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Oman

Deutsches Orient-Institut 182

Saud regierten Saudi-Arabien und der Ara-bian-American Oil Company (ARAMCO), wel-che 1933 den Zuschlag für großflächigeBohrkonzessionen auf der Arabischen Halb-insel erlangte. Der Vertrag zwischen Saudi-Arabien und ARAMCO sicherte derÖlgesellschaft auch die Bohrrechte an denGrenzgebieten zu Oman, in denen der ge-naue Grenzverlauf seit geraumer Zeit unklarwar. Als ARAMCO schließlich immer weiter inomanisches Gebiet vordrang, wehrte sich derOman gegen diesen Eingriff in seine Souve-ränität, indem englische Truppen nun ge-meinsam mit der Armee des Sultanatsversuchten, die Einhaltung der Grenzen sei-tens ARAMCO zu gewährleisten. Der Konfliktzwischen Oman und Saudi-Arabien sowieden Briten auf omanischer und den Amerika-nern auf saudi-Arabischer Seite zog sich soüber Jahre hin, und sollte bis nach dem Zwei-ten Weltkrieg stets kurz vor einer Eskalationstehen.

Der damalige Sultan Sayyid plante schonlange den Sturz des Imamats, welches denwachsenden Einfluss des Sultanats bedrohte.Großbritannien wiederum nutzte die sich bie-tende Gelegenheit, ölreiche Gebiete des Ima-mats unter britische Kontrolle zu bringen,indem kurzerhand Militärbasen auf imamiti-schem Territorium errichtet wurden. Saudi-Arabien stellte sich auf die Seite des Imamats,um sich mit der Hilfe von ARAMCO den briti-schen Ölförderungsplänen zu widersetzen.Durch die britischen Militärbasen und dendamit verbundenen Ölbohrungen auf imamiti-schem Gebiet kam es 1954 zu vereinzeltenMilitäraktionen zwischen den konkurrierendenParteien, an deren Ende die Besetzung Niz-was, der Hauptstadt des Imamats, stand. DieRegierung floh nach Saudi-Arabien und verlordadurch alle Ansprüche auf Fortführung derSouveränität des Imamatstaats. Die hierausresultierende Ausweitung des Sultanats aufdas vorherige Staatsgebiet des Imamats hattedie Gründung des Gesamtstaates zur Folge.Die damalige Grenzziehung hat bis heuteGültigkeit. Sultan des neuen Oman wurdeSayyid Sa’id bin Taimut Al Sa’id (1910-1972,reg. 1932-1970), welcher sein Hauptaugen-merk vor allem darauf legte, Oman dem briti-schen Einfluss zu entziehen und den Staatfinanziell unabhängig von ausländischen Zah-lungen zu machen. Diese Ziele versuchte er

mit einschneidenden Sparmaßnahmen durch-zusetzen. Stattdessen verhinderte er so dieModernisierung der Wirtschaft. Die damit ver-bundene Unbeliebtheit in der Bevölkerung,die unter anderem durch das Ausreiseverbot,welches Sultan Sa’id bin Taimut zum Schutzevor ausländischen Einflüsse verabschiedethatte, ausgelöst wurde, ermöglichten seinemSohn Qabus bin Sa’id 1970 den Staatsstreichund somit den Sturz des Sultans.

Der neue Sultan, Qabus bin Sa’id Al Sa’id, defacto Staatsoberhaupt Omans, Regierungs-chef, Außenminister, Verteidigungs- minis-ter, Chef der Zentralbank sowieOberbefehlshaber der Streitkräfte und der Po-lizei, begann unmittelbar nach seiner Mach-tergreifung zunächst mit der komplettenUmbildung der Regierung seines Vaters. Sul-tan Qabus hob als eine seiner ersten Amts-handlungen den verhängten Ausnahme-zustand, die Ausgangssperre sowie die Aus-reisesperre auf, welche Sultan Sayyid Sa’idvor allem aus Angst vor der Gefahr einer auf-kommenden Opposition im Ausland verfügthatte. Nach dem Eintritt in die UNO sowie dieArabische Liga 1971 lag das Hauptaugen-merk auf der Modernisierung der so gut wienicht vorhandenen Infrastruktur, des Bildungs-sowie des Gesundheitswesens. Grundlagedieser Modernisierungspolitik sollten die ge-steigerten Erdöleinnahmen sein.2 Dadurchwurde jedoch auch der Nährboden für, einesder größten Probleme der omanischen Volks-wirtschaft gelegt – der starken Abhängigkeitder Erdölexporte. Oman gilt gemeinhin alsRentierstaat, dessen Ölreserven rein rechne-risch nur noch für knapp 18 Jahre ausreichenwerden. Auch hier besteht in den Augen derBevölkerung dringender Handlungsbedarf.

Der Beginn der 1980er Jahre wurde von demVersuch dominiert, Oman in eine moderne In-dustrienation zu transformieren. Hierzu wur-den mit Hilfe des 1981 gegründetenGolf-Kooperationsrates (GCC) die Handels-beziehungen zu den Nachbarstaaten intensi-viert und durch das 1989 geschlosseneKooperationsabkommen mit der EU die Ab-nahme der eigens produzierten Güter ge-währleistet. Die Unterzeichnung des UnifiedEconomic Agreement im Jahre 1982 sorgtefür die Liberalisierung des Warenverkehrs,sowie der Einrichtung einer Zollunion zwi-

2 In den frühen Jahren der 1960er Jahre wurde innerhalb der Staatsgrenzen des Oman Öl zum kommer-ziellen Abbau gefunden. Ein erstes Exportterminal wurde in Mina Al-Fahal unweit der Hauptstadt Maskaterrichtet. Sieben Jahre nach den ersten erfolgreichen Bohrungen konnten 1967 die ersten Ölexporte, zu-nächst in geringen Mengen von ca 30.000 Barrel pro Tag, vollzogen werden. Bis 1970 stieg die Förder-menge auf 332.000 Barrel am Tag. Nach Schätzungen der Weltbank ermöglichten die Erdölförderungsowie der Export dem Oman die Steigerung des Bruttosozialprodukts um 8% zwischen 1965 und 1987.

Page 184: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Oman

Deutsches Orient-Institut183

schen den Staaten der Arabischen Halbinsel.Zunächst war zwischen den Staaten des Ko-operationsrates sogar die Einrichtung einergemeinsamen Währung geplant, welche aberaufgrund innerpolitischer Differenzen undunterschiedlich formulierter Ziele faktischnicht mehr in Betracht gezogen wird.

II. Vorraussetzungen für den Willen nach

Wandel

Nach verhaltener Kritik und den ersten erfas-sten Demonstrationen in der GeschichteOmans Anfang der 1990er Jahre, welche dieModernisierung des Staatssystems und diedamit einhergehende Demokratisierung for-derten, entstand 1991 ein Rat, Majlis Oman,bestehend aus Konsultativrat und Staatsrat,welcher dem Sultan beratend zur Seite steht,allerdings keine legislative Funktion besitzt.Seit 1996 hat Oman eine Verfassung, derenRechtswesen auf der islamischen Schariaruht, welche aufgefordert ist, individuelle Frei-heitsrechte von Bürgern festzulegen und all-gemeine Aspekte des politischen Systems zuregeln. Seit 2002 besteht für jeden omani-schen Staatsbürger ab 21 Jahren die Mög-lichkeit, die Mitglieder des Konsultativratessowie des Staatsrates direkt zu wählen, wasjedoch angesichts des Mangels an Entschei-dungsgewalt nicht wirklich als demokratischerWandel im autoritären System Omans ge-wertet werden kann. Sämtliche Mitglieder desOberhauses, der Majlis ad-Dawla, werdenvom Sultan ernannt. Trotz allem bescheinigtedas UNO-Entwicklungsprogramm dem Omanin den bislang 40 Regierungsjahren des Sul-tans die weltweit größten Entwicklungs-sprünge.

Die im Vergleich zur Herrschaft Sayyid Sa’idspositiven Veränderungen können jedoch nichtüber die zum Teil massiven Probleme desLandes hinwegtäuschen: So wird unter ande-rem die hohe Bestechlichkeit von Beamtenbeklagt. Die Vorwürfe gegenüber der omani-schen Regierung wiegen schwer: Korruptionseitens der Regierung, namentlich Ministerund Berater, wird nicht verfolgt. Vor allem wirftman dem Sultan vor, sich in erster Linie fürProjekte einzusetzen, welche seinen persön-lichen Interessen entgegenkommen. Der Baueiner knapp 2 Mrd. EUR teuren Oper im Zen-trum von Maskat ist ein Beispiel von vielen,welches die Gemüter der omanischen Bevöl-kerung erhitzte. Ebenso wirft man dem Sultanvor, sich nur rudimentär mit der Lage des Lan-

des und der Gesellschaft zu beschäftigen.Stimmen wurden laut, welche Sultan Qabusbeschuldigten, den Grossteil seiner Zeit ineinem seiner Paläste oder auf seiner Motor-jacht, gleichzeitig die drittgrößte der Welt, zuverbringen. Auch wird ihm vorgeworfen, sei-nen repräsentativen Pflichten nicht ausrei-chend nachzukommen: Der Sultan eröffnetkeine Schulen, legt keine Grundsteine beiwichtigen Infrastrukturprojekten, wendet sichnur einmal im Jahr mit einer Rede an seinVolk und verleiht keine Orden.

Eines der größten Probleme Omans ist je-doch die stetig steigende Arbeitslosigkeit, wel-che 2010 bei rund 15% lag. Die Zahl der unter25-Jährigen liegt im Oman, vergleichbar mitdem Grossteil anderer arabischer Staaten,mit rund 51% der Staatsbürger weit über demweltweiten Durchschnitt. Daraus resultierendkämpft der Oman ebenso mit einer relativhohen Jugendarbeitslosigkeit, welche derzeitbei geschätzten 20% liegt. Hinzu kommt, dassjedes Jahr rund 50.000 junge Omanis mit Ab-schluss ihrer Schulausbildung auf den ohne-hin schon gesättigten Arbeitsmarkt strömen.In Angesicht der schlechten Arbeitsmarktlagejedoch meist ohne Erfolg. Dies wirkt sich be-sonders negativ auf junge, gut qualifizierteHochschulabsolventen aus, für die es so gutwie keine Möglichkeiten gibt, ihr erlangtesWissen in einem Beruf anzuwenden. Dieskann besonders häufig bei Studiengängen zutechnischen Berufen beobachtet werden.Hierbei spielt die Vernachlässigung der In-dustriezweige, welche nicht auf die Ölindus-trie im weitesten Sinne bezogen sind, eineausschlaggebende Rolle.

Auch in Städten mit einer traditionell starkenIndustrie konnte in den letzten Jahren ein An-stieg der Arbeitslosigkeit beobachtet werden.Städte wie das im Nordosten gelegene Suhar,seit Jahrhunderten einer der wichtigstenHäfen Omans, wurden so zum Zentrum derProteste, welche im Zuge der flächendecken-den Aufstände des „Arabischen Frühlings“ imNahen und Mittleren Osten ausbrachen.Genau wie in Tunesien, Ägypten, Libyen,Bahrain oder Syrien waren es also auch imOman meist junge, mehr oder weniger gutausgebildete Menschen, welche ihre berufli-che Zukunft in ihrer Heimat gefährdet sehenund enttäuscht von der Regierung ihres Lan-des sind, welche sich viel zu oft viel zu wenigum die Belange des Volkes gekümmerthaben. Besonders fällt jedoch auf, dass es,

Page 185: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Oman

Deutsches Orient-Institut 184

im Gegensatz zu anderen Ländern des „Ara-bischen Frühlings”, im Oman keine organi-sierten Proteste gegeben zu haben scheint.Faktisch existierten keine Gruppen, Parteien,oder Interessenszusammenschlüsse, welchedie Proteste organisierten oder förderten.

III. Akteure des Wandels und konkrete

Auslöser

So war es dann auch fast ausschließlich dieJugend Omans, welche ab dem 18. Februar2011 durch die Straßen des Regierungsvier-tels von Maskat zog, um ihrer UnzufriedenheitAusdruck zu verleihen. Dabei handelt es sichum jene 90% der Bevölkerung, welche dieZeit vor Sultan Qabus nur aus Erzählungenkennen, und somit nur eine vage Vorstellungvon den Veränderungen haben, welche seitder Zeit Sultan Sayyid Al Sa’id vorangetriebenwurden. Der Wille nach Mitbestimmung undFreiheit, nach Entfaltung und Bildung über-wog wohl erstmals den großen Respekt vordem allgegenwärtigen Herrscher Qabus.Dennoch richteten sich die Proteste zunächstzu keinem Zeitpunkt gegen den Sultan per-sönlich oder seine Herrschaftslegitimation. Andiesem ersten Tag schien es zunächst fasteher eine Solidaritätsveranstaltung für jeneLänder des „Arabischen Frühlings” zu wer-den, welche in den Tagen und Wochen zuvorim Fokus der Öffentlichkeit standen. Zu vagewaren die Forderungen der Demonstranten.

Allerdings konnten sich die Demonstrantenschon am zweiten Tag der Demonstrationenauf gemeinsame Forderungen einigen: Zu-nächst verlangten die Protestierenden dieSchaffung neuer Arbeitsplätze und politischeVeränderungen, mehr Partizipationsrechteund das Recht zu Parteigründungen. Dochnach wie vor richteten sich die Proteste aus-drücklich nicht gegen den Sultan. Auffallendwar zudem, dass die Proteste dieser erstenTage ausschließlich in der Hauptstadt Maskatstattfanden. Diese Tatsache sollte sich im wei-teren Verlauf der Demonstrationen jedochgrundlegend ändern.

Nach den ersten Tagen der friedlichen Pro-teste nahmen die Demonstrationszüge ab.Immer weniger Menschen beteiligten sich anden jetzt nur noch vereinzelt auftretendenKundgebungen. So waren es in der Haupt-stadt Maskat nur noch knapp 300 Demon-stranten, welche sich gegen das Systemerhoben. Durch die Entwicklungen anderer

arabischer Staaten gewarnt, versuchte SultanQabus den Forderungen der Protestierendenzunächst entgegenzuwirken, indem er wäh-rend der ersten Tage der Proteste 200 politi-sche Häftlinge aus den Staatsgefängnissenentließ.

IV. Auswirkungen des „Arabischen Früh-

lings“

Fast mutete es an, als hätte die Mehrheit ersteinmal genau beobachtet, wie der Sultan aufdie ersten Proteste regieren würde. Genausieben Tage nach den ersten Protesten in derHauptstadt, und den damit verbundenen Ent-lassungen von politischen Häftlingen, kam esnun zu Kundgebungen und Versammlungenüberall im Land. Die Menschen hatten au-genscheinlich das Gefühl, mehr erreichen zukönnen. Es schien nun auf einmal die Mög-lichkeit zu bestehen, etwas im Land bleibendverändern zu können. Nach den zunächstverhaltenen, fast abwartenden Protesten gin-gen nun in Suhar annähernd 2.000 Menschenauf die Strasse, um für Reformen, mehr Mei-nungsfreiheit, eine gerechtere Verteilung derstaatlichen Einnahmen aus Ölgeschäften,mehr Transparenz bei innerpolitischen Ent-scheidungen, sowie gegen korrupte Regie-rungsbeamte und Masseneinwanderung vonWanderarbeitern, welche mit knapp 700.000Menschen einen vergleichsweise großen Teilder Bevölkerung ausmachen, zu demonstrie-ren.

Im Verlauf der sich nun ständig ausweitendenProteste kam es auch erstmalig zu Zu-sammenstößen zwischen Demonstrantenund der Polizei, in deren Verlauf die Polizeiversuchte, die mit Steinen werfenden De-monstranten mit Tränengas und Gummige-schossen zurückzudrängen. Zunehmendkristallisierte sich das nordöstlich gelegeneSuhar als Protesthochburg heraus. Die ca.250 Kilometer von Maskat entfernte und somitunmittelbar an der Meerenge zu Iran gele-gene Stadt beherbergte den einst bedeu-tendsten Hafen Omans und galt von jeher alseiner der wichtigsten Handelsplätze der ara-bischen Welt. Durch den stetigen Stellenab-bau, die geringe Arbeitslosenhilfe und denständigen Zustrom von ausländischen Gast-arbeitern stiegen die Arbeitslosenzahlen aufmehr als 20% und damit auf einen deutlichhöheren Wert als im gesamtomanischenDurchschnitt. Im Rahmen der Proteste kames zu mehreren Angriffen auf Polizeistationen

Page 186: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Oman

Deutsches Orient-Institut185

und Regierungsgebäude. Die Zahl der Ver-letzten und Toten schwankt stark zwischenden offiziellen Angaben und den Angaben sei-tens der Demonstranten. Insgesamt sind inOman während der Proteste des „ArabischenFrühlings” wohl knapp mehr als zehn Men-schen ums Leben gekommen.

V. Bisherige Reaktion staatlicher und ge-

sellschaftlicher Akteure

Die Proteste im Oman kamen für viele über-raschend. Besonders die Staaten des Golf-Kooperationsrates schienen durch dieEntwicklungen in den Gesellschaften ihrerBündnispartner zunehmend beunruhigt. ImVergleich zu anderen arabischen Staaten, indenen die Menschen nicht nur rechtlos, son-dern meist auch mittellos sind, schienen dieGolfstaaten eine Insel der relativen Freiheitund des wirtschaftlichen Wohlstandes zu sein.Die Herrscher schienen sich der Unterstüt-zung und des Vertrauens ihrer Untertanen si-cher. Nun deutete sich an, dass genau dieseSicherheit ins Wanken geraten könnte. DieProteste in Bahrain waren kurz davor zu es-kalieren, und im Oman forderten Demon-stranten erstmals nach dem Tod einigerProtestler die Absetzung des Sultans. Somitwollten die Herrscherfamilien aus Saudi-Ara-bien und den Vereinigten Arabischen Emira-ten ein Überschwappen der Proteste umjeden Preis verhindern. Eine undenkbare Si-tuation – Revolutionen in den Golfstaaten –schien, nach nun auch zaghaft aufkommen-den Demonstrationen in Saudi-Arabien, aufeinmal denkbar. Im Golf-Kooperationsrat kamso der Entschluss auf, dem Oman sowie Bah-rain mit einem Hilfspaket von 20 Mrd. USD dieMöglichkeit zu geben, auf politischer Ebeneund langfristig gegen die Aufstände vorzuge-hen.

Erste kleinere Reformen, welche wohl als Zu-geständnisse an die Demonstranten verstan-den werden können, verabschiedete SultanQabus bin Sa’id unmittelbar nach der erstenWelle der Proteste. Zu diesen Reformen ge-hörte das Versprechen, rund 180 Mio. EURfür Stipendien zur Verfügung zu stellen, mitdenen der Sultan bis zu 1.000 Studenten eineakademische Ausbildung ermöglichen will.Ebenso kam es zur Gründung eines Konsu-mentenverbandes und der Senkung der Le-bensmittelpreise. Schon im Januar 2011wurde seitens der omanischen Regierung einFünfjahresplan erlassen, welcher die stufen-

weise Umwälzung der, zurzeit zu mehr als75% aus Ölgeschäften bestehenden, Ge-samtwirtschaft vorsieht. Laut Studien ist, trotzintensivierter Förderung, der Abbau von Erdölim Oman nur noch für weitere 18 Jahre mög-lich. Viel wahrscheinlicher ist ein aus wirt-schaftlicher Sicht gesehen notwendigerFörderungsstopp einige Jahre früher. Die Re-duzierung der Erdölförderung führte somitschon in den letzten Jahren zu massivemStellenabbau in der so wichtigen Ölindustrie.Einer der dringendsten Schritte wäre somitkonsequenterweise eine Diversifizierung deromanischen Wirtschaft, welche während derletzten Jahre weitgehend vernachlässigtwurde.

Der Plan sieht ebenso die Bereitstellung vonrund 55 Mrd. EUR für umfassende Reformenin der Arbeits- und Bildungspolitik sowie deromanischen Wirtschaft vor. Ebenso rechnetder Plan mit einem Wachstum des Bruttoso-zialprodukts um durchschnittlich 5% innerhalbder nächsten fünf Jahre. Im Zuge der landes-weiten Proteste und Ausschreitungen wurdendiese Planungen und das bereitgestellte Bud-get noch einmal aufgebessert. Nach denschnellen Reformangeboten, welche von Sul-tan Qabus unmittelbar mit dem Aufkommender ersten Demonstrationen bereitgestelltwurden, kamen nach und nach weitere Zuge-ständnisse der Regierung hinzu. Zunächstwurden alle Gehälter des öffentlichen Dien-stes um 190 EUR angehoben. Anschließenderhöhte die Regierung die Pensionen um biszu 50%.

Einer der massivsten Forderungen der De-monstranten war die Bekämpfung der Kor-ruption in Verbindung mit einem sanftenDemokratisierungsprozess. Bei Kundgebun-gen wurden von Seiten der Demonstrantendetaillierte und transparente Untersuchungengefordert, welche das Ausmaß der Korruptionim Oman an die Öffentlichkeit bringen sollten.Sultan Qabus entließ hierauf insgesamt zwölfMinister, welche der Korruption beschuldigtwurden.

VI. Zukunftsszenarien

Umfassende Reformen werden jedoch in dennächsten Jahren vermutlich weiterhin aus-bleiben. Es bleibt abzuwarten, inwiefern derSultan seine bisher gemachten Versprechenauf innerpolitische Veränderungen wirklicheinlöst. Weiterhin gilt es, die Verlagerung der

Page 187: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Oman

Deutsches Orient-Institut 186

Wirtschaft von einem fast reinen Ölproduzen-ten zu einer vielschichtigen Volkswirtschaftmit gleichmäßig verteilten Wirtschaftsschwer-punkten anzutreiben. Nur so können ge-steckte Ziele erreicht werden. Dazu zählt vorallem die Reform des Arbeitsmarktes, welchedie Schaffung von 50.000 Arbeitsplätzen zurFolge haben soll.

Trotz der ihm vorgeworfenen Verfehlungenund seines autoritären Herrschaftsstils stehtder Sultan bisher nicht im Fokus der Proteste.Der Grossteil der omanischen Bürger siehtSultan Qabus aufgrund der enormen Fort-schritte unter seiner Regentschaft nach wievor als legitimen politischen Herrscher. Aller-dings bleibt abzuwarten, inwieweit sich dieserBlickwinkel bei einem möglichen Bruch derVersprechen ändern würde. Eines scheint zu-mindest deutlich zu werden: Der „ArabischeFrühling“ hat bei vielen jungen MenschenInteresse an politischer Partizipation geweckt.Unlängst wurde in Omans Hauptstadt dieerste Nichtregierungsorganisation gegründet,

welche Seminare für Frauen ebenso wieSchulungen im Bereich Medien in Verbindungmit Menschenrechten anbietet. Weiterhin wirddie Notwendigkeit bestehen, gegen Korrup-tion unter Beamten und Minister vorzugehen.Zwar rangiert der Oman im internationalenKorruptionsvergleich auf Rang 41, und damitweitaus besser platziert als z. B. Jemen mitRang 146. Die Dunkelziffer der nicht erfasstenKorruptionsfälle dürfte im Oman jedoch wahr-scheinlich weitaus höher liegen. Der Weg ineine veränderte Zukunft Omans könnte somitsteinig werden. Jedoch bietet Oman prinzipielleinige der besten Vorraussetzungen aller vom„Arabischen Frühling“ betroffenen Staaten, je-doch gilt es diese mit viel Engagement und In-vestitionen in die Tat umzusetzen. Einbesonderes Augenmerk wird hierbei auf jenenvernachlässigten Industriestädten im Nordos-ten des Landes liegen, welche schon bei Be-ginn der Proteste eine maßgebliche Rollespielten.

Ivo Lisitzki

VII. Literaturangaben

OXFORD BUSINESS GROUP: The Report: Oman: Politics, http://www.oxfordbusinessgroup.com/full_content/politics-122, abgerufen am 15.07.2011.

http://www.fundinguniverse.com/company-histories/PETROLEUM-DEVELOPMENT-OMAN-LLC-Company-History.html, abgerufen am 30.06.2011.

http://www.asharq-e.com/news.asp?section=2&id=25849, abgerufen am 30.06.2011.

http://www.m.gulfnews.com/news/gulf/oman/protesters-in-oman-happy-with-qaboos-decision-to-give-council-of-oman-powers-1.776309, abgerufen am 15.07.2011.

VALERI, MARC: OMAN: Politics and Society in the Qaboos State, London 2009.

WILKINSON, JOHN CRAVEN: Ibadism: Origins and early development in Oman, Oxford 2010.

Page 188: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Kuwait

Deutsches Orient-Institut 187

1 CIA – The World Factbook.2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp 249.3 http://www.tradingeconomics.com/kuwait/population-density-people-per-sq-km-wb-data.html .4 CIA – The World Factbook.5 CIA – The World Factbook.6 CIA – The World Factbook.7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.8 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators,

http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles.10 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN.12 CIA – The World Factbook.13 CIA – The World Factbook. 14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.15 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.16 Germany Trade and Invest, Wirtschaftsdaten kompakt: Kuwait, Mai 2011,

http://www.gtai.de/ext/anlagen/PubAnlage_8476.pdf?show=true.17 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human

Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html.18 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm.19 International Monetary Fund, Regional Economic Outlook, Middle East and Central Asia,

http://www.imf.org/external/pubs/ft/reo/2011/mcd/eng/pdf/mreo0411.pdf.20 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us.21 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,

http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf.. 22 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection:

Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/.

23 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf.

24 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http://www.info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp.

25 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

Landesdaten Kuwait

Fläche1 2011 17.818 km²

Bevölkerung2 2010 3.100.000

Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 160.66

Ethnische Gruppen4 2010Araber 80%, Südasiaten 9%, Iraner 4%, andere 7%

Religionszugehörigkeit5 2010Muslime 85%, (Sunniten 70%, Schiiten 30%), andere (Christen, Hindus u.a.) 15%

Durchschnittsalter6 2010 28,5 Jahre

Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 26%

Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 3%

Lebenserwartung9 2010 77,09 Jahre

Bevölkerungsprognose bis 205010 2010 5.200.000

Geburten pro Frau11 2009 2,2

Alphabetisierungsrate12 2010 93,3%

Mobiltelefone13 2009 3.876.000

Nutzer Internet14 2009 1.100.000

Nutzer Facebook15 2011 822.640

Wachstum BIP (Prognose)16 2011 5,3%

BIP pro Kopf 17 2010 50.284 USD

Arbeitslosigkeit18 2010 1,6%

Inflation19 2011 6,1%

S&P-Rating20 2011 AA

Human Development Index21 2010 Rang 47 (von 169)

Bildungsniveau22 2010 Rang 27 (von 177)

Bildungsniveau der Frauen (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)23

2010 52,2 %

Politische Teilhabe24 2010 31,3%

Korruptionsindex25 2010 Rang 54 (von 178)

Page 189: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Kuwait

Deutsches Orient-Institut188

Kuwait

Die direkten Auswirkungen des „Ara-

bischen Frühlings“ auf Kuwait sind

bislang gering, da sich die Unzu-

friedenheit und Perspektivlosigkeit der

einheimischen Bevölkerung, wie sie in an-

deren arabischen Ländern existiert, auf

eher niedrigem Niveau bewegt und der so-

ziale Druck aufgrund des verhältnismäßig

hohen Lebensstandards kaum nachhaltige

Proteste herausfordert. Dennoch kam es

auch in Kuwait zu Demonstrationen, vor

allem von den staatenlosen, in Kuwait le-

benden Arabern, die für die kuwaitische

Staatsbürgerschaft protestierten. Zum an-

deren demonstrierten interne Kräfte, die

parlamentarische Opposition zusammen

mit mobilisierten kuwaitischen Jugendbe-

wegungen, die sich gegen den derzeit am-

tierenden Premierminister richten und mit

Forderungen nach mehr politischer Frei-

heit einher gehen. Die Demonstrationen in

Kuwait lassen sich daher in zwei unter-

schiedliche, voneinander getrennt zu be-

trachtende Bewegungen einteilen, welche

jedoch nicht den Emir Al Sabah in Frage

stellen, sondern vielmehr eine Transfor-

mation innerhalb des politischen Systems

fordern. Kuwait kann daher auch in ab-

sehbarer Zukunft als politisch stabil ein-

geschätzt werden.

I. Politisches System und gesellschaftli-

che Entwicklungen

Der Staat Kuwait liegt im nordwestlichen Küs-tenbereich des persisch-arabischen Golfs undgrenzt südlich an das Königreich Saudi-Ara-bien und nördlich an die Republik Irak. Miteiner Fläche von rund 17.818 km2 ist es ver-gleichbar mit Rheinland-Pfalz. Die Bevölke-rung Kuwaits belief sich 2010 auf ca. 3,1 Mio.Davon sind nur ca. 1 Mio. gebürtige Kuwaitis,ca. 2,1 Mio. sind Ausländer, meist aus ande-ren arabischen Ländern, dem indischen Sub-kontinent und den Philippinen.

Kuwait ist ein Fürstentum (Emirat), dessenRegierungsform eine Monarchie mit parla-mentarischer Beteiligung ist. Die Emir-Würdeist in der Familie Sabah erblich, die seit etwa250 Jahren das Land regiert. Das Staats-oberhaupt ist seit dem 24. Januar 2006 derEmir von Kuwait Scheich Sabah al-Ahmed al-Jaber Al Sabah. Unter Mitwirkung des Parla-

ments ernennt der Emir seinen Thronfolger.Die Verfassung von Kuwait gibt an, dass dieThronfolge denjenigen Mitgliedern der AlSabah vorbehalten ist, die Nachkommen vonScheich Mubarak dem Großen (reg. 1896-1915) sind. Traditionell aber ist die Thronfolgeauf die Nachkommen der Mubarak-SöhneJaber und Salem beschränkt und es wird zwi-schen den beiden Linien gewechselt. Durchdie Ernennung des derzeitigen Emirs,Scheich Al Sabah, unterbrach die Familie einelange Tradition der wechselnden Macht zwi-schen den beiden großen Flügeln.

Laut der kuwaitischen Verfassung beruht dasRegierungssystem Kuwaits auf der Gewal-tenteilung. Die exekutive Gewalt hat sowohlder Emir, als auch die von ihm ernannten Mi-nister einschließlich des Premierministersinne. Meist ist das Amt des Premierministersso wie die wichtigsten Ministerien mit Ange-hörigen der herrschenden Familie Sabah be-setzt. Die legislative Gewalt liegt bei derNationalversammlung. Der Emir wirkt durchsein Initiativ- und suspensives Vetorechtdabei unmittelbar mit. Weiterhin besitzt derEmir das Vorrecht, die Nationalversammlungaufzulösen, von welchem die Herrscher Ku-waits in der Vergangenheit schon häufigerGebrauch gemacht haben, so zuletzt 1999,2006, 2008 und im März 2009.

Das kuwaitische Parlament, die Nationalver-sammlung (arabisch: Majlis al-umma), ist dasälteste seiner Art in der Region und wurdenach der Unabhängigkeit Kuwaits im Jahre1961 eingerichtet. Es handelt sich hierbei umein Einkammerparlament, das auf vier Jahregewählt wird. Die Nationalversammlung be-steht aus 50 Mitgliedern und maximal 16 Re-gierungsmitgliedern, die ex officio Mitgliederdes Parlaments sind. Bei der Ernennung derRegierung wirkt die Nationalversammlungnicht mit. Sie kann aber Minister zu Befra-gungen vorladen und unter Umständen durchein Misstrauensvotum ihren Rücktritt durch-setzen. Ein Misstrauensvotum gegen denPremierminister ist hingegen nicht möglich.Allenfalls kann das Parlament beschließen,dass es nicht mehr mit dem Premierministerzusammenarbeiten kann. Der Emir kann dar-aufhin entweder den Premierminister entlas-sen und ein neues Kabinett ernennen oderdas Parlament auflösen. Das kuwaitischeParlament hat so in der Vergangenheit Minis-ter zum Rücktritt gezwungen und Erlasse desEmirs mehrfach für ungültig erklärt. Ein inter-

Page 190: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Kuwait

Deutsches Orient-Institut 189

essantes Beispiel ist hierbei die Einführungdes Frauenwahlrechts, welches verdeutlicht,dass mehr politische Partizipation nichtzwangsläufig zu den von westlicher Seite ge-wünschten Ergebnissen führt. Das Parlamenthat zwar keine Gestaltungsmacht. Außerdemkann es grundsätzlich rein „negativ” agieren.Doch das Befragungsrecht hat sich als einwichtiges Gestaltungsinstrument des Parla-ments entwickelt.

Politische Parteien sind in Kuwait verboten.So werden Abgeordnete ausschließlich ad

personam gewählt. Sie können jedoch teil-weise parteiähnlichen Gruppierungen zuge-ordnet werden, die etwa die Hälfte dergewählten Abgeordneten stellen. So könnendie Abgeordneten grob in folgende lose politi-sche Blöcken eingeteilt werden: Islamistenverschiedener Gruppierungen (Salafisten undMuslimbrüder), Schiiten, Liberale verschiede-ner Gruppierungen und dem so genannten„Volksblock“ (arabisch: al-takattal al-scha’bi),der soziale und populäre Themen vertritt.Neben diesen Gruppierungen gibt es unab-hängige Kandidaten und Stammesvertreter,die keine einheitliche Gruppe bilden und sichvon Fall zu Fall unterschiedlichen Gruppie-rungen anschließen. Bei den Wahlen 2009wurden erstmals vier Frauen, die seit 2005das aktive und passive Wahlrecht haben, indas Parlament gewählt. Der kuwaitische Par-lamentarismus besitzt weder klare Regie-rungsparteien noch eine feste Opposition.Doch obwohl keine politischen Parteien zurWahl stehen, ist zu beachten, dass in einemkleinen Land wie Kuwait die Wähler die politi-schen Positionen der Kandidaten in der Regelkennen und dadurch zum Teil die fehlendeParteienlandschaft ausgeglichen wird. Im Ver-gleich zu den benachbarten Golfstaaten giltdas kuwaitische Parlament als relativ offen fürpolitische Diskussionen und zeugt von einerverhältnismäßig liberalen und pluralistischenpolitischen Debatte innerhalb des bestehen-den Systems.

II. Voraussetzungen für den Willen nach

Wandel

Bei dem Staat Kuwait handelt es sich um einevergleichsweise kleine Volkswirtschaft. Durchhohe Gehälter und Wohlfahrtsleistungen lässtdas Land seine Bürger an seinem enormenReichtum teilhaben und sichert sich damitLoyalität und vor allem Ruhe, so dass die all-gemeine sozioökonomische Unzufriedenheit

durch die gute finanzielle Situation der Bürgereher gering bleibt. So generierte Kuwait 2009ein BIP von 109,5 Mrd. USD, welches nachSchätzungen bis 2011 auf 172,8 Mrd. USDsteigen soll. Kuwait verfügt über die fünft-größten Ölressourcen weltweit und generiertüber 90% seiner Staatseinnahmen aus demÖlgeschäft. Das Wirtschaftswachstum soll2011 bei über 5% liegen. Von diesem wirt-schaftlichen Boom profitiert auch die Bevöl-kerung: So stieg das BIP pro Kopf von knapp31.000 USD im Jahr 2009 auf über 50.000USD im Jahr 2010. Ebenso sichern traditio-nelle Strukturen innerhalb der Gesellschaftdie Position des Herrschers. Allgemeinherrscht in der Bevölkerung eine große Ak-zeptanz der Herrscherfamilie. Dennoch wirddie Vorherrschaft der Al Sabah in der Regie-rung zunehmend kritisch betrachtet. Dieimmer währende Auseinandersetzung mitdem Parlament und der Regierung führt ver-stärkt zu politischen Krisen und Stagnation.Daher besteht die wesentliche Herausforde-rung darin, nicht nur wirtschaftliches Wachs-tum, sondern auch politische Stabilität zusichern.

Obwohl die offizielle Arbeitslosenquote seit2009 unverändert mit 1,6% angegeben wird,gibt es eine hohe verdeckte Arbeitslosigkeit.Der Grund dafür liegt in der erheblichen Über-beschäftigung der Staatsbürger im öffent-lichen Sektor. So sind über 90% allerkuwaitischen Arbeitskräfte im öffentlichenSektor beschäftigt. Für die kuwaitischenStaatsangehörigen gibt es eine Beschäfti-gungsgarantie. Obwohl die Beschäftigung inverschiedenen Wirtschaftszweigen, wie derErdöl- und Erdgasindustrie und dem Dienst-leistungssektor gefördert wird, sind diese Ar-beitsplätze überwiegend von ausländischenArbeitern besetzt. Dies mag zum einen an derinadäquaten Ausbildung einheimischer Ar-beitskräfte und den damit verbundenenSchwierigkeiten liegen, sich in der internatio-nalen Konkurrenz der Privatwirtschaft zu be-weisen. Zum anderen weckt der allgemeineWohlstand hohe Einkommenserwartungenbei den Bewerbern. Daher besteht wenig Be-reitschaft, für die meist geringeren Löhne imPrivatsektor zu arbeiten und die Beschäfti-gung im öffentlichen Sektor wird vorgezogen.Kuwait hat deshalb die Notwendigkeit er-kannt, diese Überkapazitäten im öffentlichenSektor zu reduzieren und den Privatsektordurch eine „Kuwaitisierungspolitik“ zu stärken.Die einheimische Bevölkerung Kuwaits stellt

Page 191: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Kuwait

Deutsches Orient-Institut190

mit etwa 1 Mio. die Minderheit im eigenenLand. Neben ausländischen Arbeitskräftenleben eine hohe Anzahl staatenloser Araberin Kuwait, die zunehmend mehr Rechte ein-fordern. Diese staatenlosen Araber, teils lang-jährige Einwohner Kuwaits, werden imArabischen als Bedoun bezeichnet, was freiübersetzt „ohne (Nationalität)“ bedeutet. Nachdem neuesten Report von Human Rights

Watch vom Juni 2011 gibt es ca. 106.000staatenlose Bedoun in Kuwait, die die kuwai-tische Staatsbürgerschaft fordern. Kuwait be-trachtet die Bedoun als „illegale Bewohner“.Die Regierung verweigert die Ausstellungwichtiger Dokumente wie Geburts-, Heirats-,und Todesurkunden sowie freien Zugang zuöffentlichen Schulen und Möglichkeiten zur le-galen Erwerbstätigkeit. Ohne diese Doku-mente können die Bedoun keineregelmäßigen Sozialleistungen erhalten.Ebenso können Bedoun keine Grundstückeund Erwerbserlaubnisse besitzen. Mit demStatus als Bedoun ist es somit nicht möglich,ein vollwertig akzeptiertes, rechtlich aner-kanntes Mitglied der Gesellschaft zu sein.

III. Akteure des Wandels und konkrete

Auslöser

Die Proteste in Kuwait lassen sich in zweiunterschiedliche, voneinander getrennt zu be-trachtende Bewegungen einteilen. Zum einendie Proteste der staatenlosen, in Kuwait le-benden Araber, die für die Erlangung der ku-waitischen Staatsbürgerschaft protestierthaben und zum anderen Proteste kuwaiti-scher Staatsbürger, die sich gegen den der-zeit amtierenden Premierminister richten undmit Forderungen nach mehr politischer Frei-heit einhergehen.

Die Protestbewegung der Bedoun in Kuwaitbegann im Februar und März 2011. Inspiriertdurch die Proteste in anderen arabischenLändern sind die Proteste der Bedoun voreinem besonderen historischen Hintergrundzu verstehen. Staatenlose Bedoun leben seitder Unabhängigkeit 1961 in Kuwait. Währendder ursprünglichen Registrierungsphase fürdie Staatsangehörigkeit versäumte ein Teilder Bewohner, das vollständige Bewerbungs-verfahren durchzuführen. Die meisten vonihnen wohnten in den Außenbezirken von Ku-wait Stadt. Dabei handelte es vor allem umdie nomadischen Beduinenstämme. Einigevon ihnen waren Analphabeten oder verstan-den die Tragweite nicht, welche die Staats-

bürgerschaft später haben würde. So hattendie Bedoun in den 1960er und 1970er Jahrenden gleichen Zugang zum Sozialwesen undöffentlichen Dienstleistungen wie kuwaitischeStaatsangehörige. Dies änderte sich jedochmit der politischen Instabilität in den 1980erJahren, in der das Land eine Reihe von An-schlägen erfuhr, für die die Bedoun teilweiseverantwortlich gemacht wurden. Als Folge än-derte die Regierung ihre Position gegenüberden BedounMitte der 1980er Jahren und ver-wehrt ihnen seither den Zugang zu öffent-lichen Schulen, freiem Gesundheitswesenund bestimmten Stellen im öffentlichenDienst. Die Regierung erklärte nun, dass dieMehrheit der Bedoun Staatsangehörige be-nachbarter Staaten seien, die absichtlichNachweise über ihre Herkunftsländer ver-nichtet haben sollen, um die Vorteile einer ku-waitischen Staatsangehörigkeit nutzen zukönnen. Gleichzeitig verweigert sie jedoch in-dividualisierte Nachprüfungen der einzelnenForderungen. Besonders nach der irakischenInvasion von 1991 befanden sich die Bedoun

mit zunehmenden Schwierigkeiten konfron-tiert, da sie teilweise einem Generalverdachtausgesetzt wurden, „irakische Eindringlinge“zu sein, woraufhin viele ihre Stellen bei derArmee und Polizei verloren.

Hunderte von staatenlosen Arabern protes-tierten im Februar und März 2011 in zwei Ge-bieten für mehr Bürgerrechte außerhalb vonKuwait Stadt. Sie wurden von Sicherheits-kräften mit Tränengas beschossen. Das Par-lament diskutierte einen Gesetzesentwurf, derden Bedoun gewisse Rechte zubilligen sollte,und es schien so, als ob die Regierung denBedoun entgegenkommen würde. Der Ent-wurf enthielt die Erteilung von Personalaus-weisen für die Bedoun, welche ihnen erlaubenwürden, Geburtsurkunden und weitere wich-tige benötigte Dokumente zu erhalten. DieRegierung verwarf den Gesetzesentwurf je-doch.

Unabhängig von dieser Entscheidung wurdein Kuwaits Hauptstadt demonstriert. Bisweilenrichten sich die Proteste nicht direkt gegenden seit 2006 regierenden Emir KuwaitsScheich Al Sabah. Vielmehr gilt das Miss-trauen dessen Neffen, Sheikh Nasser al-Mo-hammed al-Ahmed al-Jaber Al Sabah, demPremierminister des Landes. Er wurde am 7.Februar 2006 ins Amt berufen und damit be-traut, die 22. Regierung Kuwaits zu formieren.Seither wurde die Regierung sieben Mal neu

Page 192: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Kuwait

Deutsches Orient-Institut 191

gebildet, zuletzt im Mai 2011. Erst im Januardieses Jahres wurde der gegen Sheikh Nas-ser Al Sabah gerichtete Antrag zur Versagungder Zusammenarbeit mit knapper Mehrheitabgelehnt. Es war bereits der zweite dieserArt innerhalb von 13 Monaten.

Scheich Nasser sieht sich seit seinem Amts-antritt im Jahr 2006 mit Widerstand im Parla-ment konfrontiert. Aber die Spannung scheintzu steigen, seitdem Abgeordnete und Aktivis-ten der Opposition auf die Straße gehen.Schon im Dezember 2010 plante die kuwaiti-sche Opposition, den Ministerpräsidenten imParlament zu befragen. Grund war ein hefti-ger Zusammenstoß zwischen Sicherheits-kräften und Anhängern der Opposition am 8.Dezember 2010, bei dem mehrere Parlamen-tarier verletzt wurden. Die Opposition im Par-lament vertrat die Haltung, dass derPremierminister die Verantwortung für dieHandlungen der Polizei trage. Nach Aussa-gen der Regierung war die öffentliche Kund-gebung nicht genehmigt worden. Als weitereKonsequenz wurde das Büro des Fernseh-senders al-Jazeera in Kuwait von den Behör-den geschlossen, nachdem sie über denPolizeieinsatz berichtet hatten.

Die Protestanten werfen der Regierung vor,den Status der Verfassung zu unterdrückenund ihren Forderungen nach Freiheit und De-mokratie nicht nachzukommen. Die Verfas-sung von 1962 müsse modifiziert werden.Weiterhin wird dem Premierminister Missma-nagement, Verletzung der Verfassung und derMissbrauch öffentlicher Geldern ebenso vor-geworfen wie seine Iran-freundliche Politik,die nach Meinung einiger Oppositionellergegen das nationale Interesse Kuwaits ver-stoße.

Bei den Protesten im Februar und März 2011forderten mehr als tausend Demonstrantenpolitische Reformen und den Rücktritt desPremierministers. Die zunächst geplante Be-setzung eines zentralen Platzes in Kuwaitwurde von Polizisten verhindert und so ver-sammelten sich die Demonstranten vor demBürogebäude des Premierministers, in demauch Emir Scheich Al Sabah residiert. DieKundgebungen vor dem Bürogebäude wur-den von den Sicherheitskräften streng be-wacht. Es gab jedoch keinerlei Berichte überdie gewaltsame Auseinandersetzung zwi-schen Demonstranten und Polizei. Die Orga-nisatoren der Proteste waren meist junge

Kuwaitis, unter anderem die Jugendbewe-gungen Kafi (arabisch für: „Genug“) und Al-

Soor Al-Khames (arabisch für: „der fünfteZaun“). Die Demonstrationen waren nicht of-fiziell genehmigt worden und damit im Prinzipillegal. Auch diese Proteste richteten sichnicht gegen den Emir selbst, sondern warenmit Forderungen nach der Absetzung desPremierministers verbunden. Teilweise wirdauch verlangt, dass das Amt des Premiermi-nisters nicht mehr von Mitgliedern der Herr-scherfamilie Al Sabah besetzt werden solle.

IV. Auswirkungen des „Arabischen Früh-

lings“

Die direkten Auswirkungen des „ArabischenFrühlings“ auf Kuwait sind bislang gering, dasich die Unzufriedenheit und Perspektivlosig-keit der einheimischen Bevölkerung, wie siein anderen arabischen Ländern existiert, aufeher niedrigem Niveau bewegt und der sozi-ale Druck aufgrund des verhältnismäßighohen Lebensstandards kaum nachhaltigeProteste herausfordert. Durch die starke Ali-mentierung der einheimischen Bevölkerungsichert sich Kuwait innerpolitische Stabilitätund eine gewisse Loyalität zum Herrscher-haus. Das Regime als solches ist nicht be-droht, man ist jedoch auch hier daraufbedacht, jegliche politische Unruhen im Landzu vermeiden. Allerdings zeigen sich dieinnergesellschaftlichen Verwerfungen anhandder zunehmenden Demonstrationen der letz-ten Monate, wobei eine indirekte Inspirationder Protestierenden durch die Transforma-tionsprozesse in anderen arabischen Staatennicht negiert werden sollte. Die Protestegegen den Premierminister gehen mit einerReihe von Protesten gegen die Regierungeinher, was auch die seit längerem ange-spannte Situation zwischen Regierung undParlament verdeutlicht. So ist seit Beginn des„Arabischen Frühlings” ein verstärkter politi-scher Aktivismus aus der Mitte der Gesell-schaft zu beobachten. Die kuwaitischeBevölkerung, die gegenüber seinen Nachbar-ländern deutlich mehr politische Rechte be-sitzt, begibt sich verstärkt auf die Straßen, umihre Forderungen kundzutun.

V. Bisherige Reaktion staatlicher Akteure

Die Regierung Kuwaits trat im März ge-schlossen zurück. Dies ist jedoch weniger alseine Folge der Proteste zu werten. Vielmehrverhinderte die Regierung dadurch Befragun-

Page 193: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Kuwait

Deutsches Orient-Institut192

gen von Mitgliedern der Regierung, die derFamilie des Emirs angehören. Der gerade zu-rückgetretene Premierminister, Scheich Nas-ser Mohammed Al Sabah, wurde erneut mitder Bildung einer neuen Regierung beauf-tragt. Somit wurde den Forderungen der Pro-teste nicht nachgegangen, da nach wie vorPremierminister Scheich Nasser Al Sabah re-giert. Auch in der neuen Regierung sind diewichtigsten Ministerien von Mitgliedern der AlSabah besetzt und bereits zurückgetreteneMinister wurden teilweise wieder in ihre vor-herigen Positionen eingesetzt.

Ebenso wie andere ressourcenreiche Golf-monarchien versucht auch Kuwait, die Forde-rungen seiner Bevölkerung nach politischemWandel durch bewährte Allokationsmecha-nismen zu reduzieren. So hatte der EmirScheich Al Sabah im Januar dieses Jahresjedem Staatsangehörigen des Landes Ein-malzahlungen in Höhe von 1.000 Kuwaiti-schen Dinar (etwa 2.540 EUR) sowieEssensmarken für ein Jahr zugesichert. Zu-sätzlich dazu genehmigte die kuwaitische Na-tionalversammlung ein Budget von 70 Mrd.USD, von denen 90% zur Subventionierungvon Treibstoff und Gehaltssteigerungen fürBeschäftigte im öffentlichen Sektor genutztwerden sollen. Den Bedoun wurden Dienst-leistungen versprochen. Diese umfassenunter anderem kostenlose Bildung an öffent-lichen Schulen und freie medizinische Ver-sorgung. Ein entsprechenderGesetzesentwurf wurde bis dato jedoch nochnicht verabschiedet.

VI. Zukunftsszenarien

Der arabische Golfstaat scheint seinen "Ara-bischen Frühling" vermieden zu haben. Dochauch hier bröckelt die jahrelange Stabilität despolitischen Systems, Forderungen nach mehrPartizipation, mehr Mitbestimmungsrechten,sozialer Gerechtigkeit und Transparenz inner-halb des politischen Systems wurden laut undführten zu Demonstrationen. Vor allem diemarginalisierte soziale Stellung der Bedoun

führte zu Protesten. Die Bedoun, mit ihremStatus des „illegalen Bewohners“, sind mitmehreren Hindernissen konfrontiert, um zivileDokumente zu erhalten. Dies erschwert ihnenden Zugang zu sozialen Dienstleistungen unddie Anerkennung als vollwertige Mitglieder derkuwaitischen Gesellschaft. Das neueste Ver-waltungsorgan ist das Central System to Re-

solve Illegal Residents Affairs (CSRIRA),

welches alle offiziellen Angelegenheiten inBezug auf die Bedoun genehmigen muss. ImOptimalfall sollte die kuwaitische Regierungeinen zeitnahen und transparenten Mecha-nismus schaffen, der die Forderung einerStaatsbürgerschaft der Bedoun unter interna-tionalen Menschenrechtsstandards überprüft.Dieser Prozess sollte die langjährigen histori-schen Verbindungen der Bedoun nach Kuwaitberücksichtigen und eine Chance für die ge-richtliche Überprüfung einbeziehen.

Mit den enormen finanziellen Mitteln, die derRegierung Kuwaits zur Verfügung stehen,wird diese sich auch in Zukunft die Gunst derBevölkerungsmehrheit sichern können. Den-noch ist zu beachten, dass sich Kuwait ineinem lang andauernden politischen Kampfzwischen der Regierung, die von der herr-schenden Al Sabah beherrscht wird, und demParlament, das dieses anfechtet, befindet.Dies ist ungewöhnlich in einer Region, dieweitgehend von mächtigen Herrscherfamilienkontrolliert wird und zeugt von einer relativ of-fenen und pluralistischen politischen Debatteinnerhalb der kuwaitischen Eliten sowie einerTradition des politischen Diskurses und derDiskussion – eine Situation, in der sich Kuwaitgravierend von anderen Golfmonarchienunterscheidet, obwohl längst nicht alle gesell-schaftlichen Akteure diese Debatte führendürfen, da sie einem elitären Zirkel vorenthal-ten bleibt. Wenn jedoch die Regierung unddas Parlament nicht beginnen, miteinander zukooperieren, läuft Kuwait Gefahr, in eine tie-fere politische Krise und eine Phase des ent-wicklungspolitischen Stillstands zu geraten.Im Umgang mit einem durchaus kritischenParlament befindet sich der Emir zunehmendin einer schwierigen Lage, weil das Auflösen– wie es die kuwaitischen Herrscher schonmehrfach getan haben – nicht auf Dauer funk-tionieren und auch nicht zu einer politischenStabilisierung beitragen wird. Auch haben diezahlreichen Rücktritte oder Umbesetzungender Regierung, die durch Befragung undMisstrauensanträge ausgelöst wurden, Ver-zögerungen von Wirtschaftsreformen zurFolge. Der Emir selbst und das Herrscher-haus Al Sabah werden allerdings dauerhaftkaum mit Legitimitätsproblemen konfrontiertwerden. Dennoch wird der Emir gezwungensein, Maßnahmen zu ergreifen, die langfris-tige Auswirkungen auf die Zukunft der kuwai-tischen demokratischen Entwicklung habenkönnen. Im besten Falle wird die Monopoli-sierung der wichtigen Regierungsämter durch

Page 194: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Kuwait

Deutsches Orient-Institut 193

Mitglieder der Herrschaftsfamilie aufgelockert.Diese haben neben politischem auch erhebli-ches ökonomisches Interesse daran, aktivmitzuregieren. Durch eine Öffnung könntenForderungen nach einer Entwicklung hin zueiner konstitutionellen Monarchie nach euro-päischem Modell nicht mehr effektiv blockiertwerden. Der herrschenden Elite sind dieseProbleme und Herausforderungen durchaus

bewusst und es wird versucht, ihnen zu be-gegnen. Mit einer Bevölkerung, die bereit ist,politische Forderungen zu erheben, wird auchdie kuwaitische Führung ihr Schicksal nichtdem Zufall überlassen. Es wird sich hierbeiaber um einen bedachten und graduellenWandel handeln.

Alina Mambrey

VII. Literaturangaben

AL JAZEERA

AUSWÄRTIGES AMT

BIRRINGER, THOMAS, KAISER, SARA-IDA: Nach Tunesien und Ägypten: Arabischer Frühling am Golf?,Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin/Berlin, Januar 2011. http://www.kas.de/wf/doc/kas_21760-1522-1-30.pdf?110130140453, abgerufen am24.08.2011.

BUNDESMINISTERIUM FÜRWIRTSCHAFT UND TECHNOLOGIE

COATES ULRICHSEN, KRISTIAN: Security Policy of the Gulf States: Bahrain, Kuwait and Qatar, in: Orient I/2011, S. 23-26.

EHTESHAMI, ANOUSHIRAVAN: Reform in the Middle East Oil Monarchies, Berkshire 2008.

HUMAN RIGHTSWATCH: Prisoners of the Past, Kuwaiti Bidun and the Burden of Statelessness, Juni 2011.

LEUKEFELD, KARIN: Mehr als ein Streit um Kuwaits Herrscherfamilie, Oppositionelle beklagen Iran-Freundlichkeit des Regierungschefs, AG-Friendsforschung, Juni 2011. http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Kuwait/opposition.html, abgerufen am:24.08.2011.

NEW YORK TIMES

NIETHAMMER, KATJA: Chancen und Grenzen politischer Reformen in den GKR-Staaten, in: Wahlers,Gerhard (Hrsg): Im Fadenkreuz der Grossmächte, Die Geopolitik der Golfregion, Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin/Berlin, 2008, S. 9-15.

DIES.: Familienbetriebe mit Anpassungsschwierigkeiten, Perspektiven und Grenzen politischer Reform in den Golfmonarchien, SWP-Studie Berlin, Juli 2008.

NZZ

POLLOCK, DAVID: Kuwait. Keystone of U.S. Gulf Policy, Washington Institute for Near East Policy, Policy Focus 76, Washington 2007.

REUTERS

SCHMIDMAYER, MICHAEL: Reformprozesse in den arabischen Golfstaaten: wie, warum, wohin?, in: Albrecht/Frankenberger: Autoritarismus Reloaded. Neuere Ansätze und Erkenntnisse derAutokratieforschung, Baden-Baden, 2010, S. 313-330.

ZAHLAN, ROSEMARIE SA'ID: The Making of the Modern Gulf States: Kuwait, Bahrain, Qatar, the United Arab Emirates and Oman, London 1989.

Page 195: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Türkei

Deutsches Orient-Institut 194

1 CIA – The World Factbook.2 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.3 The World Bank, http://www.data.worldbank.org/indicator/EN.POP.DNST.4 CIA – The World Factbook.5 CIA – The World Factbook.6 CIA – The World Factbook.7 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.8 Population Reference Bureau, http://www.prb.org/DataFinder/Geography/Data.aspx?loc=249.9 United Nations Development Programme (UNDP), International Human Development Indicators,

http://www.hdr.undp.org/en/data/profiles.10 United Nations Population Fund, State of world population 2010. From conflict and crisis to renewal: generations of

change, http://www.unfpa.org/swp.11 The World Bank, Fertility rate, total (births per woman), http://www.data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN.12 CIA – The World Factbook.13 CIA – The World Factbook. 14 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.15 Internet World Stats, http://www.internetworldstats.com/stats5.htm.16 The World Bank,GDP growth (annual %), Data, http://www.data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG;

International Monetary Fund, World Economic Outlook, New York, Oktober 2010, S. 183,http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2010/02/pdf/text.pdf.

17 United Nations Development Programme (UNDP), GDP per capita (2008 PPP US$), International Human Development Indicators, http://www.hdrstats.undp.org/en/indicators/62006.html.

18 International Monetary Fund, http://www.imf.org/external/index.htm.19 CIA – The World Factbook .20 Standard and Poors, New Ratings/Ratings Actions, http://www.standardandpoors.com/ratings/ratings-actions/en/us.21 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010,

http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf.22 United Nationas Development Programm (UNDP), Worldwide Trends in the Human Development Index. Selection:

Hybrid: Education Index/Arab States, International Human Development Indicators, http://www.hdr.undp.org/en/data/trends/.

23 United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2010, New York, Oktober 2010, http://www.hdr.undp.org/en/media/HDR_2010_EN_Complete_reprint.pdf.

24 The World Bank, Voice and Accountability, Worldwide Governance Indicators, http:/www./info.worldbank.org/governance/wgi/sc_chart.asp.

25 Transparency International, Corruption Perception Index, http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2010.

Landesdaten Türkei

Fläche1 2011 783.562 km²

Bevölkerung2 2010 75.700.000

Bevölkerungsdichte (pro km²)3 2010 237

Ethnische Gruppen4 2010Türken 70-75%, Kurden 18%, andere Minderheiten 7-12%

Religionszugehörigkeit5 2010 99,8% Muslime, 0,2% Christen und Juden

Durchschnittsalter6 2010 28,5 Jahre

Bevölkerung unter 15 Jahren7 2011 26%

Bevölkerung über 65 Jahren8 2011 7%

Lebenserwartung9 2010 72,5 Jahre

Bevölkerungsprognose bis 205010 2010 97.400.000

Geburten pro Frau11 2009 2,1

Alphabetisierungsrate12 2010 87,4%

Mobiltelefone13 2009 62.780.000

Nutzer Internet14 2009 35.000.000

Nutzer Facebook15 2011 29.459.200

Wachstum BIP16 2010 8,9%

BIP pro Kopf17 2010 13.359 USD

Arbeitslosigkeit18 2010 12%

Inflation19 2011 8,6%

S&P-Rating20 2011 BB

Human Development Index21 2010 Rang 83 (von 169)

Bildungsniveau22 2010 Rang 83 (von 177)

Bildungsniveau der Frauen (mindestens Sekundarstufe, ab 25 Jahre)23 2010 27,1%

Politische Teilhabe24 2010 45,0%

Korruptionsindex25 2010 Rang 56 (von 178)

Page 196: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Türkei

Deutsches Orient-Institut195

1 Vgl. bspw. Höhler, Gerd: Vorbild Türkei? Demokratie made by Erdogan, in: Frankfurter Rundschau vom31. Januar 2011; Khalid, Hamad Ali: The Turkish model: Democratic normality, in: Today’s Zaman vom 12.Februar 2011; Martens, Michael: Der Leuchtturm für Alexandria, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom3. Februar 2011; Perthes, Volker: Die Türkei könnte Vorbild und Vermittler sein, in: Süddeutsche Zeitungvom 18. April 2011.

2 Der hier verwendete Begriff „Islamismus“ übernimmt die Definition Gudrun Krämers, die diesen als ein„umfassendes gesellschaftliches Programm“ versteht, dessen „Anhänger den Islam zur primären, wennnicht ausschließlichen Grundlage ihres Denkens und Handelns machen wollen“. Das Spektrum diesesProgramms reicht von libertärer Toleranz bis völliger Ablehnung anderer Haltungen und Anschauungenund von dementsprechenden gewaltfreien bzw. gewaltbereiten Durchsetzungsstrategien. (Vgl. Krämer,Gottes Staat als Republik, 1999, S. 29-32.) Der Begriff des „politischen Islam“ wird synonym verwendet,weist jedoch auf die Einbettung des islamischen Programms in die politische Systemordnung der jewei-ligen Länder hin. „Post-islamistisch“ schließlich deutet auch Entwicklungen des Programms und dessenVertreter, die alten Überzeugungen im Zuge von Globalisierung und Post-Moderne neu zu interpretierenund für die gegenwärtigen Herausforderungen anwendbar zu machen.

3 Dabei stieß die Türkei auf einige „offene Ohren“, vgl. bspw. „Moussa sees Turkey's role important in so-lution of regional problems“, in: Today’s Zaman vom 27. Januar; „Turkey must play active role in countriesin turmoil, Ahtisaari said“, in: Hürriyet Daily News vom 25. Februar 2011; „Clinton eyes Turkey as modelfor Arab reform“, CNSNews vom 16. Juli 2011 (URL: www.cnsnews.com/news/article/clinton-eyes-turkey-model-arab-reform).

Türkei

Kaum ein anderes Land wird 2011 imZuge der Umstürze und Verände-rungsprozesse in den arabischen Län-

dern so oft als Vorbild oder Modell genanntwie die Türkei.1 Die zwei Hauptgründe dafürliegen auf der Hand: Geprägt sowohl von derislamischen Kultur wie auch von westlichenEinflüssen ist sie seit 1923 republikanisch ver-fasst mit Staatsorganen, welche die demo-kratischen Menschen- und Bürgerrechtegarantieren. Weiterhin ist die Türkei voll in dieinternationale Gemeinschaft integriert undwirkt wegen ihres historischen Erbes an derSchnittstelle zwischen Europa und demNahen und Mittleren Osten als wichtige kultu-relle Brücke und politische und wirtschaftlicheDrehscheibe.

Allerdings erhält die Türkei in der Debatte umihre Vorbildfunktion für die sich transformie-renden arabischen Staaten eine besondereRelevanz durch den Umstand, dass sie seitdem 3. November 2002 von der Partei für Ge-rechtigkeit und Entwicklung (Adalet ve Kal-kınma Partisi, AKP) regiert wird, derenhistorische und ideologische Wurzeln ins isla-mistische politische Lager2 zurückreichen.Dabei besteht die spezielle Brisanz darin,dass jenes Lager, organisiert als Bruder-schaft, Bewegung oder Partei, seit der Früh-zeit der Republik die von Atatürk festgelegtelaizistische Ordnung mit der strikten Trennungvon Staat und Religion herausfordert. Umsoerstaunlicher und vor dem Hintergrund derTransformationen in den arabischen Gesell-schaften besonders bemerkenswert ist dabei,dass es gerade diese AKP ist, welche seitihrem Amtsantritt das türkische politische Sys-tem umfassend und nach den KopenhagenerKriterien der Europäischen Union (EU) refor-miert. Das Ziel eines EU-Beitritts im Blick, ver-

sucht die AKP-Regierung jene ursprünglich„kemalistische“ Vision des StaatsgründersAtatürk zu verwirklichen, die Türkei in dieGemeinschaft der europäischen Staaten zuführen.

Ferner beförderte die AKP durch eine liberaleWirtschaftspolitik und eine expansionsorien-tierte Außenhandelsstrategie, die sich gezieltan die Nachbarländer Russland, Iran, den Irakund Syrien, aber auch an die Länder desNahen und Mittleren Ostens, Asiens und Afri-kas richtete, einen seit 2002 anhaltenden wirt-schaftlichen Boom und führte so das Land inden Kreis der G20 und in die Gruppe der sie-ben größten Volkswirtschaften Europas.Diese außenwirtschaftliche Expansion, wel-che sich etwa in millionenschweren Investi-tionen türkischer Firmen in den neuenPartnerländern oder in gegenseitigen Abkom-men zur Visaerleichterung zeigte, wurdeaußerdem flankiert und abgesichert durcheinen sukzessiven Wandel der türkischenAußenpolitik, den die AKP-Regierung vollzog.Dabei wandte sie sich ab von einer reaktiven,nach innen gerichteten und auf die eigene Si-cherheit bedachten hin zu einer internationalaktiven, Sicherheit und Stabilität „exportie-renden“ Außenpolitik, in deren Folge es zu be-merkenswerten Verbesserungen in denBeziehungen etwa zu Griechenland, Russ-land und Armenien, aber auch zum Irak undSyrien kam. Wegen dieses strategischen Po-litikwandels auf Grundlage der Logik Stabilitätgenerierender Interdependenz sah sich dieAKP-Regierung 2011 auch veranlasst, sich indie Entwicklungen in den arabischen Länderneinzuschalten.3 So mahnten MinisterpräsidentRecep Tayyıp Erdoğan und sein Außenminis-ter Ahmet Davutoğlu früh aus Sorge vor lang-fristigen überregionalen Instabilitäten an, dassdie Umstürze in Tunesien und Ägypten nurmit friedlichen Mitteln und mit Hilfe demokra-

Page 197: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Türkei

Deutsches Orient-Institut 196

tischer Wahlen letztlich Erfolg versprechendsein könnten. In beiden Fällen hatte die Türkeiden führenden tunesischen bzw. ägyptischenOppositionellen in Istanbul ein Forum gebo-ten, ihr jeweiliges weiteres Vorgehenabzustimmen und ihre Forderungen derÖffentlichkeit präsentieren zu können. Be-sondere Beachtung fand Erdoğan, als er alserster hochrangiger ausländischer Politikerden ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarakzum sofortigen Rücktritt aufforderte, währendAußenminister Davutoğlu eine rege Besuchs-diplomatie unternahm und sich konstant mitseinen Amtskollegen in Europa und den USAsowie den Ländern des Nahen und MittlerenOstens über die Entwicklungen und Interven-tionsmöglichkeiten austauschte. Während dersich verschärfenden Libyenkrise half die Tür-kei bei der Rettung tausender ausländischerGastarbeiter aus dem Land. Zwar forderte dieRegierung trotz eskalierender Gewalt weiterediplomatische Anstrengungen an Stelle einesmilitärischen Eingreifens, doch dann folgte sieder UN-Resolution zum Schutz der libyschenBevölkerung und übernahm etwa die Siche-rung der humanitären Hilfslieferungen nachBenghazi. Besondere Sensibilität legte dieTürkei auch im Fall der Unruhen in Syrien anden Tag. Als Nachbarland war sie wegen tau-sender Flüchtlinge, die auf türkischer SeiteSchutz vor Bashar al-Assads Regime und derUnterdrückung des Aufstands durch die syri-sche Armee suchten, direkt in den Konflikt in-volviert. Da sich al-Assad dauerhaft weigerte,die diplomatischen Dialoginitiativen aus An-kara anzunehmen sowie die internationalenForderungen nach einem Ende der Gewaltund der friedlichen Demokratisierung desSystems zu berücksichtigen, fuhr die AKP-Regierung die Beziehungen zu Damaskus zu-nächst auf ein Mindestmaß herunter, wohlwissend, dass die regionale Bedeutung Sy-riens überaus hoch und die strukturellen Inter-dependenzen höchst komplex sind.

Wie auch immer sich die Länder der Regionim weiteren Verlauf des „Arabischen Früh-lings“ transformieren werden, bleibt festzu-halten, dass die Türkei wegen ihres seitJahrzehnten bestehenden partnerschaftlichenVerhältnisses zum Westen sowie jener neuenRolle des Landes in der und für die Regiondes Nahen und Mittleren Ostens, an welcherdie „post-islamistische“ AKP als Regierungs-partei seit 2001 schreibt, ein Faszinosum fürzahlreiche Beobachter darstellt. Wie in der

vorliegenden Analyse gezeigt wird, erscheintes zwar rückblickend auf die historischen Tra-ditionen und die jüngsten politischen und ge-sellschaftlichen Entwicklungen mehr alsfraglich, ob die Türkei allgemein bzw. die AKPim Speziellen als Modell und Vorbild für diesich transformierenden Staaten im Nahen undMittleren Osten geeignet ist. Da es allerdingszum Gegenstand der Debatten geworden istund es sich selbst auch aktiv in die Prozesseund Entwicklungen in der Region einschaltet,ist das Land ein beachtenswerter Faktor, derim Folgenden näher untersucht wird. Dabeisollen – abweichend vom Muster der anderenLänderanalysen – zwei Leitfragen aufgestelltwerden, die in den Debatten um das Verhält-nis der Türkei zu den Transformationsländernin Nahen und Mittleren Osten häufig gestelltwurden: Erstens, ist die Türkei tatsächlich einModell für die sich wandelnden Staaten desNahen und Mittleren Ostens? Und, zweitens,kann die Regierungspartei AKP als ein Vor-bild für die (post-)islamistischen Reformak-teure in den Ländern des Wandels dienen?

I. Bietet sich die Türkei als Modell für den

Transformationsprozess der arabischen

Länder im Nahen und Mittleren Osten an?

Zwei offensichtliche Gemeinsamkeiten vereintdie Türkei mit den Ländern des Nahen undMittleren Osten: Zum einen die kulturelle Prä-gung durch den Islam als in den jeweiligenGesellschaften vorherrschende Religion4 undzum anderen die historische Prägung durchdas Osmanische Reich, dessen politischerNachfolger die Türkei heute ist und das abdem 13. Jahrhundert für 600 Jahre die domi-nierende politische Entität des südlichen undöstlichen Mittelmeeres war und diese Region– ebenso wie den Balkan und die Schwarz-meerregion – politisch, wirtschaftlich und so-ziokulturell formte. Weil das heutige Verhältniszwischen Türken und Arabern eng mit der Ge-schichte des Osmanischen Reiches verbun-den ist, soll diese im Folgenden kurz in ihrenwichtigsten Aspekten wiedergegeben werden.

Höhepunkte der neuzeitlichen politischen Ge-schichte des Reiches waren 1453 die Erobe-rung Konstantinopels durch Sultan MehmetII., welcher den Aufstieg seines Hauses voneinem türkischen Fürstentum im westlichenAnatolien zum Nachfolger der oströmischenbzw. byzantinischen Kaiser besiegelte; dieterritoriale Ausdehnung des Herrschaftsge-

4 Dabei muss zwischen unterschiedlichen islamischen „Konfessionen“, Rechtsschulen, Ausrichtungen undReligionspraktiken differenziert sowie die Tatsache anerkannt werden, dass Atheismus und Säkularismussowie verschiedene andere nicht-muslimische Religionen und Glaubensrichtungen ebenso in allen Län-dern existieren.

Page 198: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Türkei

Deutsches Orient-Institut197

biets unter den Sultanen Selim I. (Herr-schaftszeit 1512-1520) und Süleyman I.(1520-1566) über den Balkan bis Wien undUngarn, an die nördliche und östlicheSchwarzmeerküste, mit der Levante und demZweistromland bis Persien, über Ägypten undden Nil sowie die Küstengebiete des Golfs,des Roten Meeres und des südlichen Mittel-meeres; die Übernahme des Kalifentitels(1517) und damit des Oberhaupts aller sunni-tischen Muslime und Wächter der HeiligenStädten Mekka und Medina; sowie der Ein-bezug des Reiches in das europäische Kon-zert der Mächte und Allianzen ab dem 16.Jahrhundert. Im dominanten Geschichtsdis-kurs steht dieser Einbezug vor allem im Lichtekriegerischer Auseinandersetzungen und mi-litärischer Niederlagen des Reiches gegen dieeuropäischen Monarchien (Seeschlacht vonLepanto 1571, erfolglose Belagerung Wiens1529 und 1683, russisch-türkischer Krieg1768-1774) mit zum Teil massiven Gebiets-verlusten, sowie der Prozess einer innerenStagnation und wachsender wirtschaftlicherund handelspolitischer Abhängigkeit desReiches von den europäischen Staaten.

Während sich aus europäischer Sicht das Bildvom „kranken Mann am Bosporus“ einprägte(und Bestrebungen des Reiches nach Reformund Modernisierung im Sinne europäischerEntwicklungen des 18. und 19. Jahrhundertkaum Beachtung fanden), förderte der indigenanwachsende und exogen durch die europä-ischen Kolonialmächte geförderte Nationa-lismus der Völker des Balkans sowie derAraber Nordafrikas sowie des Nahen undMittleren Ostens das Gefühl der Unter-drückung und Ausbeutung durch die vorherr-schenden Osmanen. So wurden sie 1805 vonMohammed Ali von der Vorherrschaft überÄgypten verdrängt, dieser reformierte dasStaatswesen und das Militär und begründete– unterstützt von Großbritannien – eine ei-gene Herrscherdynastie. Sezessionskriegeauf dem Balkan und im Schwarzmeerraumführten zu weiteren Verlusten an Territorium(Griechenland 1830, Rumänien, Bulgarien,Serbien und Montenegro 1876, Bosnien undHerzegowina 1908, Albanien 1913 und Arme-nien 1914) und damit zu Einbußen an perso-nellen, finanziellen und wirtschaftlichenRessourcen sowie zu gesellschaftlichen Um-wälzungen im thrakischen und anatolischenZentrum des Reiches in Folge von Flucht undVertreibung.

Interne institutionelle, militärische und gesell-schaftspolitische Reformen während und inFolge der Tanzimat („Verordnung“) genanntenReformära (ab 1839) führten zwar nach undnach zu einer Art konstitutionellen Monarchiemit Zweikammernparlament und Rechten fürein im Entstehen begriffenes osmanischesBürgertum. Die Zeit der Reformation und Li-beralisierung wurde jedoch von einer langenPhase der Restauration unter Abdülhamid II.(1876-1909) abgelöst, welche den Revolu-tionseifer der jungen, aufstrebenden Eliten(„Junge Türken“) zur Jahrhundertwende ver-stärkte. Gegen die militärische Übermacht derTriple Entente aus Großbritannien, Frankreichund Russland konnte das Reich, das 1914 aufSeite des Deutschen und des Habsburgerrei-ches in den Ersten Weltkrieg eintrat, kaumetwas entgegensetzen, um den weiteren Ver-lust an Gebieten im Nahen und MittlerenOsten aufzuhalten, wo sich die Araber, be-stärkt, unterstützt und nach dem Krieg ge-schützt von den westlichen Kolonialmächten,ihre „Unabhängigkeit“ erkämpften. Wie auchden anderen Kriegsverlierern wurde demReich 1919 in Paris ein Friedensvertrag (Ver-trag von Sevrès) vorgelegt, den es zu akzep-tieren hatte. Erst der vom Offizier MustafaKemal (1881-1938) angeführte Unabhängig-keitskampf gegen die britischen, französi-schen, italienischen und griechischenBesatzer Anatoliens und Istanbuls und dasvon ihm verfolgte Bestreben nach nationalerEinheit brachte die Wende und sicherte denTürken das Kernland ihrer neuzeitlichen Zivi-lisationsgeschichte im Thrakien und Anato-lien, welches ihnen 1922 mit dem Vertrag vonLausanne zugesichert wurde.

Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und derAufteilung der Reste des Osmanischen Rei-ches unter den Großmächten endete auch diegemeinsame Geschichte von Türken und Ara-bern. Diese war zwar einerseits von jahrhun-dertelanger militärischer Dominanz undKontrolle sowie teilweise wirtschaftlicher undsozialer Ausbeutung durch die türkischen Os-manen geprägt, was den neu entstandenenNationalstaaten der Region die Möglichkeitgab, negative „Images“ zum Zweck der Kon-struktion nationaler Identitäten zu schaffen,die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Be-ziehungen zwischen der Türkei und den ara-bischen Staaten belasten sollten.Andererseits jedoch hinterließen die Osma-nen gerade auf administrativer, kultureller undreligiöser Ebene ihre Spuren – von Familien-

Page 199: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Türkei

Deutsches Orient-Institut 198

namen, Stammesidentitäten und sozioökono-mischen Strukturen bis zu Moscheen und Me-dresen, Straßen und Karawansereien, die bisheute die Ansichten von Städten rund um dasMittelmeer prägen. Keine Tat versinnbildlichtjedoch die Trennung der modernen Entwick-lungsgeschichte der Türkei mit der der Län-der des Nahen und Mittleren Ostens sodeutlich wie die Abschaffung des islamischenKalifats, die das türkische Parlament, dieGroße Nationalversammlung, am 6. März1924 auf Geheiß Mustafa Kemals per Gesetzvollzog. So waren die im Entstehen begriffe-nen arabischen Nationalstaaten, die meistnoch bis nach dem Zweiten Weltkrieg unterkolonialer Vorherrschaft blieben, nicht not-wendigerweise politisch auf den bis dahin inIstanbul residierenden Kalifen, den letzten os-manischen Sultan Abdülmecit II., angewie-sen. Zudem fehlte den neuen Machthabern inden arabischen Ländern somit eine wichtigeLegitimationsgrundlage für ihre Herrschaft.Damalige wie auch noch heutige Bestrebun-gen, das Kalifat wieder zu errichten, scheiter-ten.

Anders als die nach dem Ersten Weltkrieg ge-gründeten Königreiche im Irak (1921), inÄgypten (1922), Transjordanien (1923) undSaudi-Arabien (1932) und anders als diemeisten anderen arabischen Staaten, dienoch lange unter kolonialer Vorherrschaftstanden und erst nach dem Zweiten Welt-krieg, nach teilweise blutigen Konflikten in dieUnabhängigkeit entlassen wurden (Syrien1946, Libyen 1951, Tunesien 1956, Kuwait1961, Algerien 1962) und sich oft als König-reiche reetablierten (wie etwa die anderenGolfmonarchien 1971), wurde am 29. Oktober1923 nach Abschaffung des osmanischenSultanats die Türkei als parlamentarische Re-publik konstituiert. Der neue Staat, den derOberbefehlshaber der Armee und Anführerder Einheitsbewegung Mustafa Kemal mitHilfe der Nationalversammlung, die sich nuraus den Mitgliedern der von ihm geführtenRepublikanischen Volkspartei (CumhurriyetHalk Fırkası, später Cumhurriyet Halk PartisiCHP) zusammensetzte, sollte auf sechs Prin-zipien ruhen, die später zu Ehren des Staats-gründers unter dem Begriff „Kemalismus“zusammengefasst wurden. Diese Prinzipienwaren der Republikanismus (Cumhuriyetçilik)als Ausdruck von Volkssouveränität, Nationa-lismus (Milliyetçilik) in Antithese zum osmani-schen Vielvölkerstaat, Populismus (Halkçılık)im Sinne einer im Interesse des Volkes prak-

tizierten Politik, Etatismus (Devletçilik), ver-standen als partielle Wirtschaftslenkung durchden Staat, sowie Laizismus (Laiklik), dasheißt der Trennung von Staat und Religion,und Revolutionismus (İnkilâpçılık, später Dev-rimcilik) bzw. stetem Reformismus und Mo-dernismus des neuen Staates und der neuenGesellschaft. Mit diesen Prinzipien, deren Be-folgung und Verwirklichung für alle politischenKräfte der Türkei bis heute obligatorisch seinsollen, sollte das Land und seine Gesellschaftendgültig in die Moderne und – damit gleich-bedeutend – nach Europa geführt werden. Mitihnen begründete Mustafa Kemal, der nochzu Lebzeiten von der Nationalversammlungden Ehrennamen Atatürk, „Vater der Türken“,erhielt, einen Nationalstaat zeitgenössisch-modernen Zuschnitts mit einer durch denStaat definierten Volkssouveränität und natio-nalen Identität, wodurch er sich politischgänzlich von den umliegenden Staaten undihren Gesellschaften unterschied.

Wenngleich die folgenden Jahrzehnte zumTeil einschneidende strukturelle und essen-zielle Veränderungen im politischen Systembrachten – insbesondere die Einführung desMehrparteiensystems 1946, die Einführungeiner modernen, freiheitlichen Verfassung1961 und die liberalen Wirtschaftsreformenunter Turgut Özal (1983-1993), aber auch diedirekten und indirekten Militärcoups der Jahre1960, 1971, 1980 und 1997 sind dabei zunennen – blieben die Person des Staatsgrün-ders und ihre Leistungen bei der Unabhän-gigkeit und Neugründung des Landes sowiedie Prinzipien seiner Politik nahezu unantast-bare Erbstücke, deren Wert jede politischeKraft im Land bis heute anzuerkennen und zuschätzen hat. So steht die Türkei gegenwärtig– trotz aller bestehender Defizite gemessenan den Standards etwa der EU – als etablierteRepublik mit einem verfassten Rechtssystemund gesetzlich verbrieften Menschen- undBürgerrechten, strikt geteilten Gewalten undeinem praktizierten Parteienpluralismus, einermarktwirtschaftlichen Ordnung sowie zivilge-sellschaftlichen Strukturen und einer freienPresse. Das Vermächtnis Atatürks an seineNachfolger an der Staatsspitze, das Land inden Kreis moderner, westlicher Staaten zuführen, konnte im Laufe der vergangenenJahrzehnte langsam und nicht konfliktfrei,aber letztlich immer erfolgreich gewahrt wer-den: Nach dem Zweiten Weltkrieg, aus demsich die Türkei als neutrales Land so weit wiemöglich heraushielt, wurde sie Gründungs-

Page 200: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Türkei

Deutsches Orient-Institut199

mitglied der Vereinten Nationen (UN), der Or-ganisation für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung (OECD) und des Europaratssowie – als Folge der Bedrohung durch dieSowjetunion im südlichen Kaukasus – 1951in das westliche Sicherheitsbündnis derNATO aufgenommen. 1963 folgte mit demAnkara-Abkommen die Anerkennung als as-soziiertes Mitglied der Europäischen Wirt-schaftsgemeinschaft (EWG) und die Aussichtauf eine zukünftige Vollmitgliedschaft in derEuropäischen Gemeinschaft. Weitere Etap-pen, dieser für ein islamisch geprägtes Land,einzigartigen internationalen Entwicklungsge-schichte, waren die Aufnahme in die Organi-sation für Sicherheit und Zusammenarbeit inEuropa (OSZE) 1975 und die Assoziierung inder Westeuropäischen Union (WEU) 1992sowie die Einführung einer Zollunion mit derEU 1996. Schließlich erreichte die Reformpo-litik der seit 2002 regierenden AKP und ihrerVorgängerregierung die Aufnahme von Ver-handlungen für einen Beitritt der Türkei zu EUbeginnend mit dem 3. Oktober 2005. Trotzaller Widrigkeiten und Streitpunkte hält dieAKP-Regierung an dem Ziel der Vollmitglied-schaft fest, will bis 2013 die Beitrittskriterienihrerseits erfüllt haben und visiert für das Jahr2023, dem hundertsten Gründungsjahr derRepublik, die Aufnahme an.

Beide Aspekte also, der nun schon Jahr-zehnte andauernde interne politischeReifungsprozess in Richtung Republika-nismus und Demokratisierung, vor allem aberder externe normative Annäherungs- undinstitutionalisierte Aufnahmeprozess in dieGemeinschaft westlicher Staaten mithöchsten Demokratie- und Wohlstandsstan-dards, unterscheiden die Türkei deutlich undin wesentlichen Faktoren von den politischen,wirtschaftlichen und soziokulturellen Entwick-lungen der anderen arabischen Staaten in derRegion des Nahen und Mittleren Osten.Angesichts des eigenständigen, republikani-schen Entwicklungspfades, den die Türkeidurch ihren Staatsgründer Atatürk schon 1923eingeschlagen hat, ist festzuhalten, dassdiese Prozesse nicht ohne weiteres von densich transformierenden arabischen Staateneinfach kopiert und übernommen werdenkönnen – gerade angesichts des Umstandes,dass diese Entwicklungen in der Türkei wederschnell und konfliktfrei abliefen noch zueiner vollkommenen Angleichung der norma-tiven Ordnung und der politischen, wirtschaft-lichen und soziokulturellen Strukturen der

Türkei mit europäischen Standards geführthaben. Trotz der Unterschiede kann jedochauch konstatiert werden: Sollten sich die re-publikanischen Staaten der Region, allenvoran Ägypten und Tunesien, gegebenenfallsLibyen und Syrien, aber auch etwa Algerienund der Irak, für den Weg der fortgesetztenDemokratisierung entscheiden, bietet ihnendie politische Entwicklungsgeschichte derTürkei einen reichhaltigen Schatz an Erfah-rungen, positiver wie negativer Art, wie dieNormen und Werte, Strukturen und Institutio-nen der westlich geprägten Moderne ange-nommen und implementiert werden können –und welche Herausforderungen eigene, kre-ative Lösungen benötigen. Dabei zeigt dieEntwicklungsgeschichte des politischen Islamin der Türkei im Allgemeinen und jene der seit2002 regierenden AKP im Besonderen, wel-che strukturellen Chancen und Risiken für dieDemokratisierung islamisch geprägter Staa-ten und Gesellschaften bestehen und wiediese angegangen werden können.

II. Ist die AKP ein Vorbild für die islami-

schen Reformisten?

Um feststellen zu können, ob und wenn, in-wiefern die Partei für Gerechtigkeit und Ent-wicklung (AKP) als Vorbild für andere,reformorientierte Kräfte in den Ländern desNahen und Mittleren Osten taugt, muss zu-nächst differenziert werden. Denn anders alsetwa die ägyptischen Muslimbrüder oder ihre„Ableger“ in den anderen arabischen Län-dern, deren Geschichte als soziale Bewegungund als politischer Akteur bis in das Jahr 1928zurückreicht, ist die AKP eine erst 2001 alspolitische Partei gegründete Organisation, dieihrerseits aus der Tugendpartei (Fazilet Par-tisi, FP) bzw. der Wohlfahrtspartei (Refah Par-tisi) des Politikers Necmettin Erbakans durchAbspaltung hervorging. Als politische Parteiunterliegt die AKP dementsprechend dem tür-kischen Parteiengesetz und bettet sich durchihre Regierungsverantwortung und mit ihrerParlamentsfraktion anders in das politischeInstitutionsgefüge des türkischen Staates einals etwa soziale oder Widerstandsbewegun-gen. Während also für die AKP in ihrer Grün-dungsphase und ihrer Regierungszeit anderesystemische und strukturelle Bedingungenherrschten als in den arabischen Ländern, sowirkt trotzdem der sunnitische bzw. politischeIslam als ein vereinigendes Band zwischender AKP und anderen organisierten Gruppender Region, wie etwa den ägyptischen Mus-

Page 201: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Türkei

Deutsches Orient-Institut 200

limbrüdern, der Parti de la Justice et du Dé-veloppement (PJD) in Marokko, der algeri-schen Front Islamique du Salut (FIS) oder derpalästinensischen Hamas.

Allerdings unterliegt der Islam in der Türkei imUnterschied zu den arabischen Ländern desNahen und Mittleren Ostens vollends derKontrolle des Staates. Dieser nennt nicht wieetwa arabische Länder die Scharia als Ord-nungsgrundlage, sondern wurde nach Vorbildsäkularistischer bzw. laizistischer westlicherStaaten organisiert. So betrachtete Atatürk immodernen säkularistischen Sinne den Islamals Religiosität individueller Gläubiger für le-gitim, sah in ihm jedoch auch ein großesHemmnis für die gesamtgesellschaftliche Mo-dernisierung des Landes. Sein Laizismusver-ständnis sollte nicht, wie im Fall Frankreichs,zu einer größtmöglichen politischen Neutra-lität des Staates gegenüber jeglicher Religionführen und damit die Religion zur Privatsacheder Gläubigen zu machen. Stattdessen sollteder Staat geradezu ermächtigt werde, überden Islam zu wachen und dessen Rolle im öf-fentlichen Raum so weit wie möglich zu regu-lieren und gegebenenfalls einzuschränken.Nicht nur galt der in weiten Teilen der Gesell-schaft praktizierte Glaube somit in den Augender kemalistischen Eliten im Militär, der Büro-kratie und der Politik als vormoderne Kraft, dieden Fortschritt des türkischen Modernisie-rungsprojektes bremste, sondern musste inseiner soziopolitischen Verfasstheit in Formvon Bruderschaften, Bewegungen und Par-teien „wachsamen Auges“ kontrolliert werden.Während also in der Hauptstadt Ankara mitdem Amt für Religionsangelegenheiten (Diya-net İşleri Başkanlığı, DİB) eine der größtenBehörden des Landes entstand, welche etwadie alleinige Aufsicht über die religiöse Unter-weisung der Bevölkerung in Moscheen undSchulen hat, wurden im Laufe der Jahrzehntereligiöse Orden geschlossen und ihre Besitz-tümer konfisziert sowie Bewegungen undParteien mit religiöser Programmatik einge-

schränkt oder verboten, ihre Führungsperso-nen ins Ausland vertrieben oder mit Berufs-verboten behängt.5 Unter diesenBedingungen hatten es muslimische Gläubigein der Türkei, die zunächst vermehrt in denländlichen Gebieten Anatoliens beheimatetwaren und erst mit den Prozessen der Land-flucht und Abwanderung in den 1950er und1960er Jahren in die Städte, vor allem nachIstanbul, kamen, seit jeher schwer, religiöseÜberzeugungen und politische Ambitionen imorganisierten Rahmen in Einklang zu bringen.Trotzdem konnte der Islam ähnlich wie in denarabischen Ländern Ausdruck auf politischerEbene finden, als massive sozioökonomischeUmwälzungen die Türkei Mitte des 20. Jahr-hunderts erfassten. So existierten die verbo-tenen Orden weiter als religiöse Bewegungen(Nakşibendi, Suleymancılık, Nurcu Cemaati,später auch die Bewegung des 1996 in dieUSA emigrierten Predigers Fethullah Gülen),deren Netzwerke bis in die elitären Zirkel desStaates, der Wirtschaft, der Kultur und Ge-sellschaft reichten. Einen besonderen Auf-stieg erlebte ab Ende der 1960er Jahre dieBewegung der „Nationalen Sicht“ (MilliGörüş), die ähnlich der Muslimbrüder ihre –islamisch begründete – Hauptaufgabe in derWahrnehmung sozialer Dienste für die armen,in die Städte abgewanderten Schichten sah.Ihre politische Stimme war Necmettin Erba-kan, dessen Parteien seit den 1970er Jahrendas programmatische Zentrum des politi-schen Islam in der Türkei bildeten. Dieser warzu jener Zeit dreimal an Regierungskoalitio-nen beteiligt und wurde nach dem Militär-putsch 1980 und nach Ablauf eineszehnjährigen Politikverbots eine starke Kraftin den 1990er Jahren. Damals brachten zwardie liberalen Wirtschaftsreformen der ÄraÖzal neuen Wohlstand und führten zu indus-triellem Wachstum auch in Anatolien, wo sichgläubige, konservative, klein- und mittelstän-dische Unternehmer langfristig zu regionalenInvestoren und „Entwicklungshelfern“ entfal-teten.6 Jedoch erreichte der Wohlstand nicht

5 Kaum besser erging es wegen der Dominanz des sunnitischen Islams sowie des stark ausgeprägten tür-kischen Nationalismus nicht-sunnitischen und nicht-muslimischen Glaubensgemeinschaften, die zwarexistieren durften, jedoch in ihrer Glaubenspraxis starken Restriktionen des Staates unterlagen. EinePhase besonders hohem Drucks erlebten ethnische und religiöse Minderheiten nach dem Militärputsch1980, als sich die kemalistischen Kräfte auf eine konzeptionelle Verschmelzung von türkischem Natio-nalismus und staatlich geführtem, konservativem Islam, der so genannten „Türkisch-Islamischen Syn-these“ („Türk-İslam Sentezi“), verständigten, um so die stärker werdende Kraft der systemfeindlichenGruppen wie bspw. Kurden und Islamisten im Land zu unterbinden. (Vgl. Şen, Transformation of TurkishIslamism and the Rise of the Justice and Development Party, 2010.)

6 Diese aufstrebenden anatolischen Firmen und Geschäftsleute werden auch mit den Begriffen „anatolischeTiger“ oder „islamische Calvinisten“ beschrieben, weil sie in ihrer Arbeit die Verbindung unternehmeri-schen Strebens und religiöser Werte vornahmen. 1990 gründeten sie mit dem Wirtschaftsverband MÜ-SIAD (Müstakil Sanayici ve İşadamları Derneği, Verband unabhängiger Industrieller und Unternehmer)eine der heute einflussreichsten Wirtschaftsorganisationen. Sie setzten damit einen Kontrapunkt gegenden etablierten, säkularistisch geprägten Verband TÜSIAD (Türk Sanayicileri ve İşadamları Derneği, Ver-band türkischer Industrieller und Unternehmer).

Page 202: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Türkei

Deutsches Orient-Institut201

die unteren Schichten in den Großstädten,sondern verschärfte vielmehr noch die politi-schen Probleme und das soziale Gefälle imLand. Bei den Kommunalwahlen 1989 und1994 gewannen die Kandidaten von Erba-kans Wohlfahrtspartei die meisten Städte, in-klusive der Hauptstadt Ankara und Istanbul,wo der junge Recep Tayyıp Erdoğan das Bür-germeisteramt übernahm. Zwar setzten sichdie Parteigänger Erbakans für soziale Sicher-heit sowie die Lösung örtlicher Probleme,etwa bei Infrastruktur und Verkehr ein, dochauch sie beendeten nicht die steigendeStaatsverschuldung und die grassierendeKorruption bzw. waren selbst in Fälle von Ne-potismus und Vetternwirtschaft verwickelt.Entsprechend ihres Programms der „Gerech-ten Ordnung“ (Adil Düzen) setzten sie sichproaktiv für die religiösen Belange ihrer Wäh-lerschaft ein, förderten die religiöse Ausbil-dung und den Bau von Moscheen undforderten die Beachtung des Islam in nahezuallen Bereichen des täglichen Lebens.

Bei den Parlamentswahlen 1996 wurde dieWohlfahrtspartei stärkste Kraft und Erbakanbildete zusammen mit der konservativen Par-tei des Rechten Weges (Doğru Yol Partisi,DYP) von Tansu Çiller eine Regierungskoali-tion. Als Ministerpräsident führte Erbakan imInnern die Politik des konservativen Isla-mismus fort, während er außenpolitisch dieverbündeten USA und die europäischen Staa-ten offen für ihren „unbändigen“ globalen Ka-pitalismus und Imperialismus kritisierte,gegen eine Annäherung der Türkei an die EUeintrat, antisemitische Vorwürfe gegen Israelerhob und den Schulterschluss mit anderenautoritären Regimen wie Iran, Syrien und Li-byen suchte. Seine Rhetorik und seine innen-und außenpolitischen Handlungen und Ent-scheidungen führten letztlich dazu, dass imFrühjahr 1997 der das politische Tagesge-schäft stark beeinflussende und vom Militärdominierte Nationale Sicherheitsrat offen undultimativ die Einführung anti-islamistischerVerordnungen durch die Regierung forderte,was die Regierung schließlich zum Rücktrittzwang. In der Folge dieses indirekten Put-sches vom 28. Februar 1997 wurde nicht nurdie Wohlfahrtspartei vom Verfassungsgerichtfür verboten erklärt und Erbakan erneut mit

einem Politikverbot belegt, auch wurden reli-giöse Organisationen, die der Partei nahestanden, verboten, ihre Mitglieder und Unter-stützer vor Gericht gebracht und wegen desVorwurfs, einen Umsturz gegen die säkularestaatliche Ordnung vornehmen zu wollen, ver-urteilt.

In Folge des repressiven Vorgehens der ke-malistischen Kräfte teilte sich das islamisti-sche Lager in zwei Gruppen: Während dieTraditionalisten zur Fortführung ihrer politi-schen Arbeit 2001 die Glückseligkeitspartei(Saadet Partisi, SP) gründeten, sammeltensich die Erbakan-Kritiker und Reformisten umRecep Tayyıp Erdoğan, Abdullah Gül und Bü-lent Arınc und gründeten im gleichen Jahr dieAKP. Zur Überraschung aller gewann die AKPsogleich die Parlamentswahlen vom Novem-ber 2002 mit großem Vorsprung vor den an-deren Parteien, da es ihr die relativ geringeWahlbeteiligung und die Zehn-Prozenthürde,an der bis auf die CHP alle anderen Parteienscheiterten, ermöglicht hatten, dass sich ihrStimmenanteil von 34,4 Prozent in einenAnteil von 66,3 Prozent der Parlamentssitzeumsetzte. Somit hatten die türkischen Wähle-rinnen und Wähler bei diesem Urnengangnahezu das gesamte parlamentarische Es-tablishment ausgewechselt, aus Protestgegen die lang anhaltende Unfähigkeit deretablierten Parteien und Politiker, sich dengroßen Problemen des Landes7 anzuneh-men. Von dieser weit verbreiteten Protesthal-tung profitierte die neu gegründete AKP als„unbeschriebenes Blatt“. Ihr kam jedoch auchzu Gute, ein Sammelbecken von Vertreternnational-konservativer, post-islamistischersowie liberaler Anschauungen zu sein, mitdenen sich eine Vielzahl an Wählern identifi-zieren konnten.

Im Zwischenfazit der Entwicklungsgeschichtedes politischen Islam in der Türkei und derFrage nach dessen Vorbildfunktion für andereFälle in der arabischen Welt heute kann andieser Stelle konstatiert werden, dass die Ver-treter des türkischen politischen Islams unterziemlich anderen strukturellen Voraussetzun-gen – nämlich denen einer nach eigenem Ver-ständnis laizistisch ausgerichteten Republik,für deren Schutz das Militär und die kemalis-

7 Insbesondere galt die Kritik der Bevölkerung, die bei den Wahlen zum Ausdruck kam, der grassierendenKorruption und Vetternwirtschaft, die vor allem während des großen Erdbebens von 1999 und der Wirt-schafts- und Finanzkrise 2000/2001 offen zu Tage getreten war, als auch der verbreiteten Rechtswillkürder Behörden, der ausbleibenden Lösung des Kurdenproblems und des PKK-Terrorismus im Südostendes Landes sowie der anhaltenden Diskriminierung von Minderheiten. (Vgl. bspw. Özel, After the Tsu-nami, 2003.)

Page 203: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Türkei

Deutsches Orient-Institut 202

tischen Staatsorgane mit allen, auch gewalt-förmigen und repressiven Mitteln eintraten –agierten, als sie in anderen Staaten existier-ten, in denen etwa der Scharia eine konstitu-ierende Bedeutung beigemessen wurde.Außerdem taugen die türkischen Islamistenmit ihrem Anführer Erbakan wegen ihrer dezi-diert antimodernistischen, nationalistischenHaltung und ihrer populistischen und manipu-lativen Rhetorik kaum als Vorbilder für die –zumindest in ihrer Rhetorik und den erstenAnsätzen ihres politischen Reformismus8 –neuen, auf Demokratie und Rechtsstaatlich-keit, nationale Versöhnung und internationaleIntegration abzielenden „gemäßigten“ Isla-misten in Ägypten, Tunesien und anderenLändern der Region. Anders dagegen verhältes sich mit der AKP Erdoğans, welche durch-aus als beachtenswerte Orientierungshilfedienlich sein kann – insbesondere, als dassdie AKP bereits kurz nach Amtsantritt 2002eindeutige Signale in Richtung verantwor-tungsvoller Politikgestaltung sendete. Sosetzte Erdoğan ein klares Zeichen, als er an-ders als damals sein politischer „Ziehvater“Erbakan seine erste Auslandsreise nach Grie-chenland durchführte, um die Entspannungs-politik der Vorgängerregierung fortzusetzen.Daraufhin besuchte er alle wichtigen Haupt-städte Europas, um die Ambitionen seiner Re-gierung zu bekräftigen, die Türkei in die EUzu führen. Und während die AKP-Parla-mentsfraktion mit ihrer deutlichen Mehrheitmehrere große Reformpakete verabschie-dete, die dem Land schließlich die Zusage fürden Beginn von Beitrittsverhandlungen mitder EU zum Ok-tober 2005 einbrachten, er-öffnete der damalige Außenminister AbdullahGül erstmals einen Gipfel der NATO in Istan-bul und mahnte in Teheran vor der Organisa-tion der Islamischen Konferenz (OIC) dieNotwendigkeit an, demokratische Reformenund die Anerkennung von Zivilgesellschaftenin den Ländern zuzulassen.

In die Anfangszeit der AKP fällt auch der Be-schluss über das politische Programm undProfil der Partei, welchem Erdoğan und seineMitstreiter den Namen „Konservative Demo-kratie“ (Muhafazakar Demokrasi) gaben. Al-ternativ zu den anderen etablierten Parteiendes linken, sozialistischen und des rechten,nationalistischen Lagers, vor allem aber auchin Abgrenzung gegen die islamistische Ideo-logie der „Gerechten Ordnung“ entwickeltedie Partei ein Konzept, welches demokrati-schen Reformismus mit den politischen, d.h.

kemalistischen Prinzipien, und kulturell-religi-ösen Traditionen und Werten der Türkei zuverbinden versuchte. Im Zentrum des – ins-gesamt recht unspezifischen – Programmsstanden die Ziele der Partei im Einklang mitden Reformvorgaben der EU, sowie die Pro-filierung der AKP als politische Kraft, die diein ihren kulturellen Traditionen und religiösenWerten verwurzelten Menschen durch gelei-tete Demokratisierung und Modernisierungmit den republikanischen Prinzipien des Staa-tes versöhnen wollte. Hatte die 1980 von denMilitärs eingesetzte Verfassung den Grund-satz verankert, dass der Bürger dem Staat zudienen und sich dessen Prinzipien unterzu-ordnen hatte, so beabsichtigte die AKP, die-sen Grundsatz sinngemäß umzudrehen. Sowurden durch weitere Gesetzespakete unteranderem das Strafrecht geändert und da-durch erhebliche Verbesserungen der Men-schenrechte in Bezug auf den Schutz desLebens, Minderheitenrechte und Versamm-lungsfreiheit eingeführt, die Staatssicher-heitsgerichte abgeschafft und die Justizreformiert sowie der Einfluss der Armee aufden Nationalen Sicherheitsrat und damit aufdie tägliche Politik eingeschränkt. Weitere Re-formen der politischen Ordnung, inklusiveeines Pakets zahlreicher Verfassungsände-rungen, über das die Bevölkerung im Herbst2010 in einem Referendum positiv abge-stimmt hatte, folgten nach.

Darüber hinaus förderte die AKP-Regierungdurch eine liberale Wirtschafts- und Finanz-politik die ökonomische Entwicklung und deninfrastrukturellen und industriellen Ausbaudes Landes, öffnete die Türkei für ausländi-sche Investitionen und erschloss durch eineaktive Handelspolitik neue Auslandsmärktefür die wachsende Zahl erfolgreicher türki-scher Unternehmer. Seit dem Jahr 2002 hattesich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in derTürkei vervielfacht, die Türkische Lira durcheine Währungsreform an Härte gewonnenund die Inflation konnte konstant unter zehnProzent gehalten werden. Angesichts des an-haltenden Wirtschaftswachstums in Folge dessteigenden Konsums der Türken und derguten Auftragslage hatte die türkische Wirt-schaft während der globalen Wirtschafts- undFinanzkrise ab 2008 somit auch kaum Insta-bilitäten und Einbrüche zu verzeichnen, ob-wohl die Staatsverschuldung weiterhin hochist und die Einkommens- und Arbeitsvertei-lung zwischen den westlichen und östlichenLandesteilen sowie zwischen den verschie-

8 Vgl. im Überblick Asseburg, Moderate Islamisten als Reformakteure?, 2008 sowie bzgl. der jüngsten Ent-wicklungen in Ägypten Abdel-Samad, Hamed: Katzenjammer in Kairo, in: Cicero, 8, 2011, S. 46-50.

Page 204: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Türkei

Deutsches Orient-Institut203

denen Bevölkerungsschichten weiterhin un-ausgeglichen ist. Trotz allem machte die Re-gierung als Zeichen des erfolgreichenWandels Istanbul mit seiner Jahrhundertealten Geschichte und seinem vielfältigen, me-tropolitanen Charakter zum Aushängeschildder „neuen Türkei“, das nicht nur Touristenund Investoren anlocken sollte. Auch entwi-ckelte sich die Stadt am Bosporus zum be-liebten Treffpunkt von Staatsgästen aus demAusland, die sich auf Gipfeln, Konferenzenund Plattformen zur Diskussion brennenderFragen der internationalen Politik trafen –vom NATO-Reformgipfel, Konferenzen derOIC und Zusammentreffen mit afrikanischenStaats- und Regierungschefs bis zu zahlrei-chen bi- und multilateralen Vermittlungsinitia-tiven der Türkei, etwa zwischen denehemaligen Feinden Ex-Jugoslawiens, Iransund der Sechsergruppe oder den Parteiendes Nahostkonflikts.

Diese Treffen, Initiativen und diplomatischenBemühungen spiegeln ein weiteres Feld derNeuerung wider, welches die AKP begangenhatte: das der Außenpolitik. Dieser sich nunschon deutlich abzeichnende Wandel imaußenpolitischen Profil der Türkei geht maß-geblich auf den türkischen AußenministerAhmet Davutoğlu und sein Politikkonzept der„Strategischen Tiefe“ zurück. Dabei entwirft erdie Rolle der Türkei als international verant-wortungsvolle und regional Stabilität erzeu-gende Zentralmacht, die sich von denPrinzipien einer multidimensionalen, proakti-ven Außenpolitik durch rhythmische Diploma-tie und einem „Null-Problem-Ansatz“gegenüber den Nachbarstaaten auszeichnensollte, welche man durch wachsende politi-sche, ökonomische und soziale Interdepen-denz erreichen will. Mit Davutoğlusstrategischem Ansatz erreichte die AKP-Re-gierung bemerkenswerte außenpolitischeFortschritte bei der Entspannung ihrer jahre-lang belasteten Beziehungen zu Nachbarlän-dern Griechenland, Armenien und Russland,Iran, Irak und Syrien. Durch ihre Vermitt-lungsbemühungen in Konflikten sowie durchihre Kompromissbereitschaft und dem Willenauf Herstellung von Win-Win-Situationenwurde der AKP-Regierung international Res-pekt gezollt. Deutlich zeigte sich der Erfolgihrer neuen Außenpolitik in der Wahl der Tür-kei in den UN-Sicherheitsrat 2006-2008, indem das Land seit 56 Jahren nicht mehr ver-treten gewesen war.

Allerdings brachten nicht alle diplomatischenBemühungen den gewünschten Erfolg oderstießen ausschließlich auf Lob. So stockteetwa die 2008 gestartete Versöhnungsinitia-tive der Türkei und Armeniens wegen des Ein-spruchs Aserbaidschans und desfestgefahrenen Konflikts der beiden Kauka-susstaaten um die Region Nagorno-Karab-agh. Auch traten Spannungen auf zwischender türkischen Regierung und der US-Admi-nistration unter George W. Bush, als das tür-kische Parlament 2003 die Anfrage der USAnach einem Truppendurchzug für den Ein-marsch in den Irak ablehnte, oder auch 2009,als sich die Türkei im UN-Sicherheitsratgegen eine Initiative der USA und andererwestlicher Staaten für eine Verschärfung vonSanktionen gegen den nach Nuklearenergiestrebenden Iran stellte. Das Verhältnis zu Is-rael, welches in den 1990er Jahren durcheine intensive militärische und sicherheitspo-litische, aber auch wirtschaftliche und sozialeZusammenarbeit aufgeblüht war, gilt alsschwer zerrüttet. Zwar vermittelte die AKP-Regierung erfolgreich zwischen Israel und Sy-rien, doch fühlte sie sich von Israel düpiert, alsdieses, ohne die Türkei vorab zu informieren,2008 die israelfeindliche Hamas im Gaza-streifen angriff. In der Folge prangerte Minis-terpräsident Erdoğan mehrmals lautstark undoffen die Siedlungs- und Diskriminierungspo-litik Israels gegenüber den Palästinensernund die Isolation des Gazastreifens an. EinenTiefpunkt erreichten die Beziehungen der bei-den Staaten im Mai 2010, als ein türkischesSchiff, welches mit einer Flotte weitererSchiffe zum Hilfseinsatz nach Gaza aufge-brochen war, von der israelischen Armee vorder Küste gestürmt wurde, wobei neun türki-sche Passagiere starben. Eine offizielle Ent-schuldigung und Entschädigung der Opferlehnt Israel aus Überzeugung über die Recht-mäßigkeit seines Vorgehens bislang ab.Schließlich treten seit einigen Jahren auch dieBeitrittsverhandlungen mit der EU auf derStelle, da beide Seiten nicht gewillt sind, Zu-geständnisse bzgl. des Streitfalls um die Zu-kunft der geteilten Insel Zypern zu machenoder Lösungen im gegenseitigen Einverneh-men zu finden. Auch kritisiert Ankara die Ein-seitigkeit ihrer bisherigen Bemühungen zurAnnäherung, da einige Mitgliedsstaaten derUnion, allen voran Frankreich, prinzipiellgegen einen möglichen Beitritt der Türkeiseien und mit dieser Haltung früher gemachteZusagen nicht einhalten würden.

Page 205: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Türkei

Deutsches Orient-Institut 204

Zwar verlangsamte sich auch deshalb der Re-formeifer der AKP im Laufe der Jahre ihrerRegierungszeit, da gleichzeitig zum Abkühlender Beziehungen zur EU die Zahl und Härteder innenpolitischen Konflikte mit den altenKräften, allen voran dem Militär, den Gerich-ten und den nationalistischen Parteien zu-nahmen. Streitpunkte waren dabei nicht nurtypische Reizthemen des islamistischen Dis-kurses wie das Verbot des Kopftuchs und diewachsende Rolle der Religion im öffentlichenRaum, sondern auch das langsame Aufbre-chen von Tabus wie etwa die Unterdrückungder Kurden und Repression gegen System-kritiker, die Diskriminierung von religiösen undethnischen Minderheiten sowie die ständigvon den alten Kräften geschürte Angst vor in-neren und äußeren Feinden der kemalisti-schen Staatsordnung. Wenngleich bis heutekeines der Konfliktfelder ausreichend befrie-det werden konnte, hat die AKP-Regierungunter Erdoğan dazu beigetragen, ein Klimaweitgehend offener und friedlicher Diskussionzu schaffen und stieß dadurch auf Zustim-mung in der Bevölkerung und im Ausland. Er-doğans Reformpolitik und seine Versprechen,den Weg Richtung EU-Beitritt trotz allenGegenwinds aus Europas Hauptstädtenweiterzugehen und am Ziel einer Demokrati-sierung und Modernisierung des Landesinnerhalb der bestehenden Ordnung festzu-halten, brachten seiner AKP weitere Siege beiden Kommunalwahlen 2004 und 2009 sowiebei den Parlamentswahlen 2007 und 2011ein. 2007 konnte sogar – nach zum Teil hefti-gen Konflikten mit den kemalistischen Kräften– Abdullah Gül zum neuen Präsidenten derRepublik gewählt werden.9

Wenngleich die Bilanz der AKP zehn Jahrenach ihrer Gründung und im achten Jahr ihrerRegierung insgesamt also ambivalent ausfällt– weder ist der Umbau der Staatsordnungund die Reform einer neuen Verfassung im zi-vilen, demokratischen Geist beendet nochsind die Menschen- und Bürgerrechte umfas-send und ausreichend gestärkt, die haus-halts- und wirtschaftspolitische Ordnungnachhaltig stabilisiert, die sozialen, ethni-

schen und religiösen Spannungen innerhalbder Gesellschaft abgebaut sowie die Bezie-hungen zu allen Nachbarn befriedet und dieAufnahme der Türkei in die EU gesichert – soist die Bilanz der Regierung dennoch beacht-lich und zeugt von der Ambition, das Land imPositiven verändern zu wollen, es gegen dienegativen Effekte der Globalisierung zu schüt-zen und es „fit“ für das 21. Jahrhundert zu ma-chen. Dabei wäre es falsch, die positivenEntwicklungen der Türkei in den vergangenenJahren nur der AKP-Regierung zuzuschrei-ben. Auch haben die Wirtschaft und die Fi-nanzwelt, die Zivilgesellschaft und die Medienebenso wie auch reformbereite Gruppeninnerhalb der kemalistischen Eliten ihren An-teil am Erfolg, indem sie die Regierung beiihrer Arbeit entweder unterstützen oder Kor-rekturen anmahnen.10

III. Fazit

Obgleich die politische Geschichte im 20.Jahrhundert die Türkei und die Länder desNahen und Mittleren Ostens deutlich vonein-ander entfernt hatte, ermöglichte das Endedes Ost-West-Konflikts und die Globalisierungneue Gelegenheiten der Wiederannäherung– auf politische, wirtschaftliche und soziokul-turelle Art und Weise. Wie kaum eine anderepolitische Kraft hat sich die AKP diese Chan-cen zu Nutze gemacht, auf die arabischenStaaten und Gesellschaften einen Schritt zu-zugehen, sich vermittelnd in schwelendeKonflikte einzuschalten, interdependenteWirtschaftsbeziehungen auf- und auszubauenund die kulturelle und religiöse Nähe der Tür-kei dazu zu verwenden, mit Hinweis auf deneigenen schwierigen, aber erfolgreichen Ent-wicklungsweg von den Regimen der Regiondementsprechende demokratische Reformeneinzufordern. Angesichts des 2011 angebro-chenen „Arabischen Frühlings“ ergeben sichso folgende Resultate:

Strukturell, aber auch inhaltlich stand die AKPvor anderen Voraussetzungen als die heuti-gen (post-)islamistischen Akteure in den sichtransformierenden Staaten des Nahen und

9 Die Befürchtungen und Vorwürfe der alten Eliten und der AKP-Kritiker im Vorfeld der Wahl, mit dem „Falldieser letzten Bastion der kemalistischen Ordnung“ würde der Partei die Chance gegeben werden, ihreislamistischen Vorstellungen von einem Umbau des Staates in die Tat umsetzen zu können, erweisensich bislang als haltlos. (Vgl. Hale/ Özbudun: Islamism, democracy, and liberalism in Turkey: The case ofthe AKP, 2010, S. 148-151)

10 Zudem sei darauf hingewiesen, dass in der republikanischen, parlamentarischen Systemstruktur und demModernisierungsgebot des Staatsgründers Atatürk sowie in der verfassten Rechtsstaatlichkeit und dervom EU-Beitrittsprozess geförderten Demokratisierung grundlegende Bedingungen für die Ordnung destürkischen Staates und für die Gesellschaft bestehen, die nicht ohne weiteres von einer politischen Kraftim Land verändert werden können.

Page 206: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Türkei

Deutsches Orient-Institut205

Mittleren Ostens, da sie sich von Anfang an ineine republikanische und streng laizistischeStaatsordnung integrieren musste, die nichtunter der Kontrolle einer autoritär geführtenStaatsspitze stand, sondern deren Ordnungeher diffus von etablierten Eliten des Militärsund der Bürokratie aber auch des Parlaments,der Wirtschaft, Medien und der Zivilgesell-schaft gegen vermeintliche innere und äußereFeinde bewahrt werden sollte.

War das politische System in den 1990er Jah-ren von diesen Kräften zwar weitgehend sta-bil gehalten worden, mangelte es dagegen anStabilität in der Wirtschaft und der Gesell-schaft. So kann zweifellos behauptet werden,dass es wegen des diffusen, indirekten Auto-ritarismus in der Türkei während der 1990erJahre durch die alten Eliten zu keiner direk-ten Revolution der Bevölkerung kam, da dieseKräfte, insbesondere das Militär, in weiten Tei-len der Gesellschaft als systemstabilisierendeAkteure anerkannt oder als Folge vergange-ner repressiver Maßnahmen gegen system-feindliche Gruppen für ihr hartes Durchgreifenbekannt waren.

Zur „indirekten Revolution“ gegen das defizi-täre politische System der Parteien und derweitgehend korrupten Verwaltung kam es je-doch bei der Parlamentswahl 2002, aus derdie unbescholtene, auf demokratische Refor-men setzende AKP als deutliche Siegerin her-vortrat. Auf die arabischen Länder bezogenheißt das, dass sich somit erst im Zuge derangesetzten oder beabsichtigten sowie alsfrei versprochenen Wahlen in Tunesien,Ägypten und gegebenenfalls anderswo wirdzeigen können, inwieweit die Wählerinnenund Wähler dem türkischen Beispiel folgenund jene Kräfte stärken, die glaubhaft für Re-form und Demokratisierung stehen. Dabeiwird gerade auf diejenigen Bewegungen undParteien, die im islamistischen Lager verwur-zelt sind oder diesem entstammen, national

und international große und vor allem kriti-sche Aufmerksamkeit zukommen. Wie auchnach der ersten Wahl der AKP an die Regie-rung 2002 wird es mit Hinweis auf den Fall Al-geriens 199211 dazu kommen, dass die alten,etablierten Kräfte, allen voran das Militär,gegen einen möglichen Wahlsieg von Isla-misten vorgehen könnten. Vor dieser Ent-wicklung, die der Türkei in den Jahren nachder Wahl durchaus gedroht hatte,12 war dasLand nur aus drei Gründen gefeit: Zum einenstand der Armee mit Hilmi Özkök ein relativ li-beraler Generalstabschef vor, der zwar im ke-malistischen System beheimatet war, sichaber mit der Anwendung undemokratischerMittel zu dessen Schutz zurückhielt und ent-sprechende Strömungen innerhalb des Mili-tärs unter Kontrolle hatte. Zum zweiten hattensich die AKP-Vertreter um Recep Tayyıp Er-doğan bei der Parteigründung und im Vorfeldder Wahl deutlich von ihren islamistischenVorgängerparteien, vor allem der Wohlfahrts-partei Necmettin Erbakans, distanziert undsich für die demokratische Reform des politi-schen und gesellschaftlichen Systems inner-halb der bestehenden kemalistischenOrdnung ausgesprochen. Und drittens konn-ten sie zum Ausdruck ihres Reformwillens undzur Mobilisierung von liberalen Gruppen undKräften, die der Partei zunächst skeptischgegenüberstanden, darauf verweisen, dasssie die Annäherung der Türkei an die Europä-ische Union vorantreiben wollten und hierfürauch die Unterstützung der westlichen Part-ner, allen voran den USA, besaßen.

Obwohl diese Faktoren auf die Transforma-tionsländer des Nahen und Mittleren Ostensnicht eins zu eins übertragbar sind, zeigt dastürkische Beispiel, dass es sowohl innerhalbdes Lagers des alten Regimes als auch beiden aufstrebenden, neuen Gruppierungenechte Versicherungen zu demokratischen Re-formen, Bereitschaft zu Verhandlungen undKompromiss innerhalb der Grundstrukturen

11 Bei den Kommunal- und Parlamentswahlen in Algerien Anfang der 1990er Jahre war die oppositionelleislamistische Front Islamique du Salut (FIS) zur stärksten Kraft aufgestiegen. Gegen diesen Trend schrittim Dezember 1991 die Regierung auf Druck des Militärs ein und annullierte das Wahlergebnis. Im Januarsetzte daraufhin die Armee das Wahlverfahren außer Kraft und verdrängte die Regierung von der Macht.Die Etablierung einer Militärdiktatur hatte einen Bürgerkrieg zur Folge, bei dem schätzungsweise 100.000bis 150.000 Menschen ums Leben kamen. (Vgl. bspw. Werenfels, Algeriens legale Islamisten: Von der„fünften Kolonne“ zur Stütze des Regimes, 2008)

12 Seit 2008 ermitteln türkische Staatsanwälte gegen ein radikal-nationalistisches Netzwerk namens „Erge-nekon“, das sich in weite der Teile des Militärs, der Bürokratie und der Politik, aber auch der Wirtschaftund der Gesellschaft erstreckt und ab 2004 durch Anschläge und Anstiftung zu sozialen Unruhen einenMilitärputsch gegen die AKP-Regierung anzetteln wollte. Angesichts der Schwere der Vorwürfe gegenteilweise hoch dekorierte und vormals als unantastbar geltende Offiziere fällt dem Verfahren ein großesöffentliches Interesse zu. Dabei machen die Ermittlungen mittlerweile auch keinen Halt mehr etwa vorWissenschaftlern oder Journalisten, die sich mit den Fällen und der Rolle der Regierung beim Vorgehengegen das Netzwerk befassen, was zu nationaler und internationaler Kritik führt. Dies kontert die Regie-rung wiederum mit dem Verweis auf die Unabhängigkeit der türkischen Justiz. (Vgl. bspw. Cizre, Ümit/Walker, Joshua: Conceiving New Turkey after Ergenekon, in: The International Spectator, 45 (2010) 1, S.89-98; Hermann: Wohin geht die türkische Gesellschaft? Kulturkampf in der Türkei, 2008, S. 233-249.)

Page 207: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Türkei

Deutsches Orient-Institut 206

des bestehenden Systems sowie die Einbin-dung aller Schichten der Bevölkerung in denTransformationsprozess braucht, damit dieserstabil und nachhaltig erfolgreich verlaufenkann. Ebenso kommt der internationalen Ge-meinschaft, den europäischen Organisatio-nen, der EU und ihren Mitgliedsstaaten sowieden Nachbarländern der Transformations-staaten eine hohe Bedeutung dabei zu, dieWandlungsprozesse aktiv und glaubhaft zubegleiten, ohne auf die Aushandlungen derMachtfrage und die Annäherungs- und Ver-

söhnungsversuche der jeweiligen Gesell-schaften mit ihrem Staat und der politischenKlasse Einfluss zu nehmen. Gerade letzteres– die Schaffung einer demokratischen, parti-zipativen politischen Kultur durch Versöhnungder polarisierten Gesellschaft – ist auch in derTürkei Hauptaufgabe nicht nur der regieren-den Partei und der Politik, sondern allerKräfte, die an einer stabilen und prosperie-renden Zukunft des Landes interessiert sind.

Ludwig Schulz

Literaturangaben

ABDEL-SAMAD, HAMED: Katzenjammer in Kairo, in: Cicero, 8, 2011, S. 46-50.

ALAM, ANWAR: Islam in Post-Modernism: Locating the Rise of Islamism in Turkey, in: Journal of

Islamic Studies, 20 (2009) 3, S. 1-24.

ASSEBURG, MURIEL (Hrsg.): Moderate Islamisten als Reformakteure?, Bonn 2008.

CIZRE, ÜMIT (Hrsg.): Secular and Islamic politics in Turkey. The making of the Justice and

Development Party, Abingdon 2008.

DERS., WALKER, JOSHUA: Conceiving New Turkey after Ergenekon, in: The International Spectator,

45 (2010) 1, S. 89-98.

FRANZ, ERHARD: Recep Tayyıp Erdoğan, in: ORIENT, 43 (2002) 2, S. 173-178.

GRIGORIADIS, IOANNIS N.: Die erste „muslimisch-demokratische“ Partei? Die AKP und die Reform

des politischen Islams in der Türkei, in: Asseburg, Moderate Islamisten als Reformakteure,

2008, S. 58-69.

HALE, WILLIAM M., ÖZBUDUN, ERGUN: Islamism, democracy, and liberalism in Turkey: The case of

the AKP, Abingdon/ New York 2010.

HERMANN, RAINER: Wohin geht die türkische Gesellschaft? Kulturkampf in der Türkei, München

2008.

JOPPIEN, CHARLOTTE: Die türkische Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP). Eine Untersuchung des

Programms „Muhafazakar Demokrasi“, Berlin 2011.

KRÄMER, GUDRUN: Gottes Staat als Republik. Reflexionen zeitgenössischer Muslime zu Islam,

Menschenrechten und Demokratie, Baden-Baden 1999.

KREISER, KLAUS, NEUMANN, CHRISTOPH K.: Kleine Geschichte der Türkei, Bonn 2006.

ÖZEL, SOLI: After the Tsunami, in: Journal of Democracy, 14 (2003) 2, S. 80-94.

Page 208: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Türkei

Deutsches Orient-Institut207

ŞEN, MUSTAFA: Transformation of Turkish Islamism and the Rise of the Justice and Development

Party, in: Turkish Studies, 11 (2010) 1, S. 59-84.

SEZER, DUYGU BAZOĞLU: The Electoral Victory of Reformist Islamists in Secular Turkey, in: The

International Spectator, 37 (2002) 4, S. 7-19.

WERENFELS, ISABELLE: Algeriens legale Islamisten: Von der „fünften Kolonne“ zur Stütze des

Regimes, in: Asseburg, Moderate Islamisten als Reformakteure, 2008, S. 115-125.

YAVUZ, HAKAN M.: Islamic Political Identity in Turkey, New York 2003.

DERS. (HRSG.): The Emergency of a New Turkey. Democracy and the AK Parti, Salt Lake City

2006.

Page 209: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Deutschland, die EU und der „Arabische Frühling“

Deutsches Orient-Institut 208

Deutschland, die EU und der „Arabische Frühling”

I. Einleitung

Einige arabische Staaten wie Tunesien, Ägyp-ten, Libyen oder Syrien, befinden sich mo-mentan in einem epochalen Umbruch. Diejahrzehntelang von ihren repressiv-auto-ritären Regimes unterdrückten Gesellschaf-ten verlangen mit noch nie da gewesenerVehemenz nach neuen wirtschaftlichen undsozialen Perspektiven, mehr politischer Teil-habe, rechtsstaatlichen Strukturen sowie ele-mentaren Menschenrechten wie freieMeinungsäußerung und ein Ende von Kor-ruption. Dies beeinflusst auch nachhaltig unddirekt Europa und Deutschland, schafft neueHerausforderungen, lässt althergebrachteaußenpolitische Strategien überholt erschei-nen, fordert zum Um- und Weiterdenken aufund bietet Chancen und Risiken für einenachhaltige konzeptionelle Neuausrichtungder deutschen und europäischen Nahostpoli-tik. So sollte die deutsche und die europäi-sche Politik diese historische Zäsur alseinmalige Chance betrachten, ihre Politik indieser Region kritisch zu überprüfen und mitBlick auf ihre Interessen neu auszurichten.Das folgende Kapitel versucht darzustellen,dass die Schnittmenge zwischen den deut-schen und europäischen Interessen in derRegion und den Interessen der aufbegehren-den Gesellschaften größer ist, als es vonaußen auf den ersten Blick scheint, dass per-manente deutsche und europäische Forde-rungen nach mehr Demokratie undMenschenrechten keine leeren Phrasen, son-dern ein ernstes Anliegen sein müssen. Wei-terhin stellt es überblicksartig die deutscheund europäische Unterstützung für die ange-stoßenen politischen und wirtschaftlichenTransformationsprozesse im Rahmen des„Arabischen Frühlings“ dar.1

Zuerst wird ein Blick auf deutsche Interessenin der Region Nordafrika, Nah- und Mittelostgeworfen, um zu zeigen, dass auf lange Sichtnur ein demokratischer Wandel mit einherge-henden wirtschaftlichen Reformen das vor-rangigste deutsche Interesse in der Region

sein sollte, um so gleichzeitig langfristig Sta-bilität und demokratische Öffnung zu errei-chen. Im zweiten Teil werden vergangeneHandlungsstränge europäischer Außen- undEntwicklungspolitik im Rahmen des 1995 an-gestoßenen Barcelona-Prozesses skizziertund auf bestehende Strukturen und Institutio-nen in diesen Politikfeldern aufmerksam ge-macht. Es wird auf Fehl- und Mangel-entwicklungen verwiesen, die es in Zukunft zuvermeiden gilt, möchte man eine nachhaltigstabile und sich demokratisierende Regionschaffen. Im Anschluss daran werden die ak-tuell initiierten sowie mittel- und längerfristiggeplanten deutschen und europäischen Maß-nahmen zur Unterstützung der politischenund wirtschaftlichen Transformationsprozessedargestellt, bevor abschließend ein kurzerAusblick gegeben werden soll.

II. Deutsche und europäische Interessen inder Region

Ohne einen differenzierten Blick auf die Be-deutung der Region für die deutsche und eu-ropäische Politik scheint ein Verständnis fürdas Handeln der Bundesregierung und derEU gegenüber den aktuellen Umbrüchennicht möglich und politische Handlungsem-pfehlungen willkürlich und zusammenhangs-los.2

Eine konsistente deutsche Strategie bezüg-lich ihrer Nordafrika-, Nah- und Mittelostpolitikhat es in den letzten Jahren nicht gegeben.Die Bundesregierungen vermieden es zudem,möglichst transparent ihre Interessenagendain der Region darzulegen, da der Begriff „stra-tegisches Interesse” mittlerweile in der Öf-fentlichkeit allzu oft mit „harter Machtpolitik“gleichgesetzt wird. Dieses Vorgehen sorgt aufder anderen Seite nicht gerade für den Ein-druck von transparenter und kohärenterAußenpolitik. In den vergangenen Jahren ent-stand der Eindruck, deutsche Nahostpolitikorientiere sich aufgrund der historischen Fak-ten am Sicherheitsbedürfnis Israels als we-sentliches handlungsleitendes Moment, wasrealpolitisch differenziert werden muss. Dernachfolgende Teil dieses Kapitels versucht, indieses „schwarze Loch“ ein wenig Aufklärung

1 Hierbei soll darauf hingewiesen werden, dass es sich bei den präsentierten Programmen, Maßnahmenund Strategievorschlägen nur um einen Überblick handeln kann, da es sich um einen fortlaufenden, sich täglich ändernden Prozess handelt, wie das Beispiel Libyen und der Sturz des Diktators Muammar al-Gaddafi eindrucksvoll zeigt.

2 Für deutsche Interessen in der Region siehe unter anderem: Steinberg, Guido: Deutsche Nah-, Mittelost-und Nordafrikapolitik. Interessen, Strategien, Handlungsoptionen, Berlin 2009. Siehe auch: Bertelsmann-Stiftung: Deutschland, Europa und die arabisch-islamische Welt. Interessen und Handlungsschwerpunkte,Gütersloh 2006.

Page 210: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Deutschland, die EU und der „Arabische Frühling“

Deutsches Orient-Institut209

und Struktur zu bringen.

Primäres deutsches Interesse in der Regionwar es in der Vergangenheit neben der Ga-rantie israelischer Sicherheitsbedürfnisse, so-wohl zwischenstaatliche als auchinnerstaatliche Stabilität zu unterstützen undaufrechtzuerhalten. Die starke Konzentrationauf Stabilität rührt daher, dass ihr Mangel oft-mals mit zahlreichen Folgeproblemen ver-knüpft ist. Maßgeblich für das starke deutscheInteresse an regionaler Stabilität ist dement-sprechend die Vermeidung von gewaltsamenzwischenstaatlichen Konflikten, Bürgerkriegund fragiler Staatlichkeit. Instabile Staaten mitbürgerkriegsähnlichen Szenarien – wie in derjüngeren Vergangenheit im Libanon, Jemenoder im Irak – generieren nicht nur Flücht-lingsströme, die temporäre oder dauerhafteZuflucht in Nachbarländern und den europäi-schen Staaten suchen. Häufig sind dieseFlüchtlingsströme auch geeignetes Umfeld fürterroristische Zellen und organisierte Krimina-lität. Fragile Staatlichkeit und fehlendes staat-liches Gewaltmonopol in einigen Teilen dieserStaaten bieten auch islamistischen Terror-netzwerken wie Al-Qaida Zufluchtsorte undOperationsgebiete. Aufgrund dessen interve-nierende Nachbarstaaten handeln vielleichtmit der Intention, Stabilität wiederherzustel-len. In der Praxis verschlimmern sie die Lagemeistens nur noch und verschärfen die regio-nalen Konflikte.

Regionale Konflikte – zuallererst der israe-lisch-arabische Konflikt – bilden einen wichti-gen Faktor bei der Motivierung undMobilisierung islamistischer Terroristen, tra-gen zur Destabilisierung von Staaten bei, be-feuern die Auseinandersetzungen zwischenanti- und pro-westlichen Regierungen in derRegion und verursachen ebenso Flüchtlings-ströme. Die Kausalität zeigt nachvollziehbar,dass eine friedliche Regelung zwischen Israelund seinen arabischen Nachbarn oberste Pri-orität auf der regionalen außenpolitischenAgenda der Bundesregierung haben muss.

Der zweite große zwischenstaatliche Konfliktin der Region ist seit den 1970er Jahren dasRingen um regionale Vormachtstellung amGolf, das aufgrund negativer Beeinflussungder Energieversorgung der Weltwirtschaftschon mehrmals eine US-amerikanische In-tervention herausforderte. Er wird in Zukunftvermutlich weiter an Bedeutung gewinnen. Sosind der Atomkonflikt mit Iran und die Vielzahl

der irakischen Flüchtlinge eine direkte Folgeder instabilen politischen Verhältnisse rundum den Golf. Insofern ist es im deutschen In-teresse, auch hier eine friedliche Konfliktlö-sung herbeizuführen.

Legitime deutsche Interessenpolitik im Nahenund Mittleren Osten und Nordafrika wäre je-doch verfehlt, wenn dies gleichbedeutend mitder Stabilisierung autoritärer Regime in derRegion interpretiert werden würde. Die deut-sche Terrorismusbekämpfung steht exempla-risch für dieses Dilemma. Auf der einen Seitewar sie – so zumindest die einhellige Perzep-tion – kurzfristig auf die Kooperation mit denautoritären Regimes oder Diktaturen der Re-gion angewiesen, um für den Moment eineangeblich effektivere Bekämpfung von mili-tanten islamistischen Gruppierungen undnicht-staatlichen Gewaltakteuren zu gewähr-leisten. Auf der anderen Seite muss sie abereine Graswurzelursache des islamistischenTerrorismus anpacken, was längerfristiggleichbedeutend mit einem Wandel der vor-herrschenden autoritären Regierungssystemehin zu partizipativen, demokratischen politi-schen Strukturen bedeutet, dem sich die Re-gime aber allzu oft verschlossen haben odernach wie vor verschließen. Hier sollten diePrioritäten statt auf marginale, kurzfristige Er-folge auf längerfristigen Wandel gesetzt wer-den. Mit dieser Neuausrichtung, einerbesseren, nachhaltigeren und konsequente-ren Verzahnung von Demokratisierung undStabilisierung sieht sich die deutsche Nah-ostpolitik seit Beginn der Aufstände im Nahenund Mittleren Osten konfrontiert und solltehier geeignete Antworten finden.

Hierbei befindet sich die deutsche und eu-ropäische Politik in einem traditionellen Di-lemma aus Eigeninteressen und Förderungder demokratisch-partizipatorischen Entwick-lungen in den Transformationsstaaten. Dieszeigt sich deutlich anhand der Flüchtlings-frage: Irreguläre Migration nach Europa undDeutschland zu vermeiden ist ebenso ein vi-tales Interesse deutscher und europäischerPolitik wie die Rückkehr von Flüchtlingen inihre Heimat. Flüchtlingsströme sind für dieStaaten der Region oft eine enorme innenpo-litische Herausforderung, der sie nicht immergewachsen sind. Diese Überforderung sorgtschnell für Destabilisierung der Ausreisestaa-ten, weshalb sich zwischen- oder innerstaat-liche Konflikte auf eine weitere Ebeneausdehnen können. Zudem wurde die Pro-

Page 211: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Deutschland, die EU und der „Arabische Frühling“

Deutsches Orient-Institut 210

blematik von Terrorismus und organisierterKriminalität durch Flüchtlinge bereits ange-deutet. Bisher wurde dem Flüchtlingsproblemzumeist reaktiv begegnet, indem Abwehr-maßnahmen getroffen wurden. Im Zuge derTransformationsprozesse im Nahen und Mitt-leren Osten sollten hier auch prophylaktischeMaßnahmen eine höhere Bedeutung im poli-tischen Kalkül Deutschlands und der EU ein-nehmen, indem die wirtschaftlichenBedingungen in den nordafrikanischen undarabischen Ländern verbessert, Verteilungs-mechanismen und Klientelnetzwerke neu mo-difiziert und durchbrochen, Ausbildung- undWeiterbildungsniveaus angehoben und derZutritt zum Arbeitsmarkt für alle gesellschaft-lichen Gruppen transparenter werden.

Ein weiteres Interesse deutscher Politik in die-ser Region ist energiepolitischer Natur. DieEnergieressourcen der Region, insbesonderein Nordafrika, bieten Deutschland und Europaeine Gelegenheit, sich von einseitigen Gas-lieferungsabkommen zu emanzipieren und indiesem Bereich ein Stück weit mehr Unab-hängigkeit, insbesondere von Russland, zuerlangen. Einen viel versprechenden Ansatzin diese Richtung stellt die Nabucco-Pipelinedar, die mit ihrem Verlauf beginnend in derOsttürkei, über Bulgarien, Rumänien und Un-garn Gas aus Iran oder dem Irak nach Mittel-europa liefern kann. Weiterblickend wird dasdeutsche Interesse an der Förderung erneu-erbarer Energien, an erster Stelle Solarener-gie aus Nordafrika, wachsen, um denEnergiebedarf Europas und Deutschlands zudecken. Zu nennen ist hier das auf deutscheInitiative angeregte Milliardenprojekt Deserteczur Förderung von Solarenergie aus denMaghrebstaaten.3

Der Energiebedarf Deutschlands führt auto-matisch zu deutschen Wirtschaftsinteressenin der Region. Im Jahr 2010 waren die Verei-nigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien– die Türkei außen vor gelassen – vor Iran,Ägypten und Israel die wichtigsten regionalenExportstaaten im deutschen Außenhandel.Bedeutendster regionaler Importstaat war Li-byen aufgrund seiner Erdölimporte in die Bun-desrepublik. Für die deutsche Außen-

handelswirtschaft insgesamt waren jedochdie VAE und Saudi-Arabien am bedeutend-sten.4 Das heißt im Umkehrschluss nicht,dass die Umbrüche und Proteste in Tunesien,Ägypten, Libyen und Syrien nur sekundär diedeutschen Wirtschafts- und Außenhandelsin-teressen in der Region beeinflussen, weil siejeweils – für sich allein genommen – für diedeutsche Außenhandelswirtschaft nur geringeBedeutung haben. In der Summe sorgt dieseunsichere Zukunft der Außenhandelsbilanzenmit mehreren Staaten, in denen infolge des„Arabischen Frühlings“ instabile Lagen ent-standen sind, dafür, dass das wirtschaftlicheInteresse an dieser Region ebenso im Blickbehalten werden muss wie andere Interes-sen, die nur durch Stabilität dauerhaft ge-währleistet werden können.

Letztendlich konnte bislang innerstaatlicheund regionale Stabilität in Nordafrika, Nah-und Mittelost als primäres Interesse Deutsch-lands und Europas sowie gleichzeitig ele-mentare Grundlage für andere Interessendieser Akteure in der Region gesehen wer-den. Diese anderen Interessen sind zusam-mengefasst die Vermeidung von Flüchtlingen,der Kampf gegen den internationalen Terro-rismus und organisierte Kriminalität, dieDeckung des Energiebedarfs und die Konso-lidierung der Außenwirtschaftsbeziehungen.

Ferner würde auch Israel mit seinem Sicher-heitsbedürfnis von einem Umfeld demokrati-sierter arabischer Staaten profitieren. Dies istfür deutsche und europäische Außenpolitik in-sofern von Bedeutung, als dass damit eineHürde für deutsche und europäische Unter-stützung arabischer Transformationsstaatenwegfällt. Israelische Sicherheitsinteressensind ein bestimmender – allzu oft beschrän-kender – Faktor vor allem für deutsche Nah-ostpolitik. Bezüglich der Forderung undUnterstützung demokratischer Transformationmüsste das Sicherheitsinteresse Israels aberin diesem Fall ein verstärkender Faktor sein,statt eines Hindernisses. Vor dem Hintergrundder jüngsten gewaltsamen Übergriffe auf is-raelische Zivilisten bei Eilat und in Tel Avivscheint es jedoch derzeit unwahrscheinlich,dass sich diese Wahrnehmung auch bei den

3 Für nähere Informationen über das Desertec-Projekt siehe auch: Desertec Foundation, http://www.desertec.org/ de/, Hamburg 2011, abgerufen am 23.08.2011.

4 Für eine ausführliche Statistik über die deutsche Außenhandelswirtschaft im Jahr 2010 siehe: Statisti-sches Bundesamt: Außenhandel 2010. Rangfolge der Handelspartner im Außenhandel der Bundesre-publik Deutschland, http://www.destatis.de, Wiesbaden 2011, abgerufen am 11.08.2011.

Page 212: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Deutschland, die EU und der „Arabische Frühling“

Deutsches Orient-Institut211

israelischen Entscheidungsträgern durch-setzt. Dieser Teil des Kapitels zeigt in ersterLinie, wie sehr die Interessen in der RegionStabilität bedingen. Stabilität auf der einenSeite und die weiteren Interessen auf der an-deren Seite unterscheiden sich bezüglichihrer Funktion und ihrer Priorität. Stabilität fun-giert als Grundlage für die dauerhaft erfolg-reiche Verfolgung der anderen aufgeführtenInteressen. Sie sind nicht gleichwertig zu ver-folgen, weil sie aufeinander aufbauen bzw.Stabilität die unerlässliche Grundlage für an-dere Interessen ist.

Die Grundannahme und feste Überzeugung,dass nachhaltige und dauerhafte Stabilität je-doch nicht durch autoritäre Regimes gewähr-leistet werden kann, sondern nur durchlangfristig unterstützte Transformationen hinzu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Wahrungvon Menschenrechten, Ende von Klientelis-mus und Korruption als auch auf Breitenwir-kung angelegtes Wirtschaftswachstum,impliziert zugleich, dass Stabilität den erfolg-reichen Übergang zu diesen Zielen bedingt.

Daran anknüpfend ist es notwendig, den bis-her in der Nahostpolitik gebrauchten Begriffvon Stabilität wesentlich zu verbreitern, ihnnicht nur als Stabilität für ausschließlich stra-tegische Eigeninteressen zu interpretierenund zu gebrauchen, da die Anwendung die-ses „alten Stabilitätsbegriffs” zu Lasten dergesellschaftlichen Entwicklung in den Trans-formationsstaaten ging. Das Ringen um Sta-bilität zur Gewährleistung der deutschen undeuropäischen Eigeninteressen in der Regionwurde teilweise auf den Schultern der jeweili-gen Bevölkerung ausgetragen und dabei ihreBedürfnisse vergessen, was auch als ein Aus-löser für die momentanen Umwälzungen gilt.Diese Entwicklungen zeigen unweigerlich,dass der „alte Stabilitätsbegriff“ in einer aus-schließlich sicherheitspolitischen Dimensionwohl keine Zukunft für außenpolitische Stra-tegien im Nahen und Mittleren Osten habenwird. Für die deutsche und europäischeAußenpolitik kann es demnach kein Zurückzu diesen Praktiken geben, autoritär-repres-sive Regimes zu stützen. Der „neue Stabi-litätsbegriff“ muss ebenso die Bedürfnisse derGesellschaften vor Ort einschließen und aufDemokratisierung als Basis für Stabilität ausdem jeweiligen Land heraus setzen. Für dieseUmdefinierung und den damit einhergehen-den Strategiewechsel deutscher und europäi-scher Nahostpolitik bieten die derzeitigen

Entwicklungen in der Region eine einmaligeChance. So kann der „neue Stabilitätsbegriff“auf der festen Überzeugung basieren, dassmehr Demokratie und Menschenrechte in derRegion auf Dauer tatsächlich positive Auswir-kungen für Europa mit sich bringen und derenForderung und Unterstützung sich nachhaltiglohnt, was sich zweifelsohne in den letztenJahren in der deutschen und europäischenAußenpolitik und ihrer Erfolgsbilanz kaum nie-dergeschlagen hat. Außerdem wird deutlich,dass die Schnittmenge der Interessen deut-scher Außenpolitik und der arabischen Ge-sellschaften in einem demokratischen undwirtschaftlichen Wandel bestehen.

Vor diesem Hintergrund deutscher – undhauptsächlich kongruenter europäischer – In-teressen, insbesondere an langfristiger regio-naler und innerstaatlicher Stabilität, müssendie Maßnahmen Deutschlands und Europaszur Unterstützung für die momentan stattfin-denden Transformationsprozesse bzw. für dieForderung nach ihnen gemessen werden.

Dass Deutschland und Europa dieses Anlie-gen nicht nur mit Lippenbekenntnissen be-gleiten, sondern ein ernstes Anliegen undkonkrete Pläne und Projekte dahinterstecken, die teilweise bereits angelaufen sind,wird im vierten Teil aufgezeigt. Zuvor wird je-doch die europäische Außen- und Entwick-lungspolitik vor dem „Arabischen Frühling“skizziert, um einen Überblick über bisher exi-stierende Strukturen in diesen Politikfeldernzu bieten.

III. Europäische Außen- und Entwick-lungspolitik vor dem „Arabischen Früh-ling“

Im Jahr 1995 wurde im Rahmen des gestar-teten Barcelona-Prozesses die Euro-Mediter-rane Partnerschaft (EMP) mit dem Ziel derDemokratisierung der nordafrikanischen undnahöstlichen Staaten eingeleitet. Gründungs-mitglieder waren damals die 15 EU-Mitglieds-staaten, darunter Deutschland, und zwölfMittelmeeranrainer: Marokko, Algerien, Tune-sien, Ägypten, Israel, Libanon, Syrien, Jorda-nien, die palästinensischen Autonomie-gebiete, Türkei, Zypern und Malta. In derSchlusserklärung der Europa-Mittelmeer-Konferenz von Barcelona erstreckt sich diePartnerschaft auf vier Bereiche: die politischeund Sicherheitspartnerschaft, die Wirtschafts-und Finanzpartnerschaft sowie die Partner-

Page 213: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Deutschland, die EU und der „Arabische Frühling“

Deutsches Orient-Institut 212

schaft im kulturellen, sozialen und menschli-chen Bereich als auch eine Partnerschaft inden Feldern Migration, soziale Integration, Ju-stiz und Sicherheit.

Als konkrete Maßnahme wurde im Bereichder politischen und Sicherheitspartnerschaftein multilaterales Gesprächsforum unter Ein-schluss der Konfliktparteien des Nahostkon-flikts geschaffen, dessen Fundament zumGründungszeitpunkt in der Aussicht auf einemaussichtsreichen israelisch-arabischen Frie-densprozess lag. Mit der Stagnation diesesProzesses und seit dem Ausbruch der zwei-ten Intifada im Jahr 2000 kam die Partner-schaft in diesem Bereich jedoch fast komplettzum Erliegen, da ihr eine wesentliche Grund-lage entzogen wurde. Insbesondere die ara-bischen Staaten sahen die Partnerschaft indiesem Kontext nicht mehr als gewinnbrin-gend, da sie damit nur den für sie ungünsti-gen Status quo zementiert hätte. Trotzdemkonnte zumindest auf den unteren Ebeneneine Zusammenarbeit mit positiven Auswir-kungen aufrechterhalten werden.

Misstrauen seitens der Mittelmeeranrainer ge-genüber der Europäischen Sicherheits- undVerteidigungspolitik (ESVP) konnte durch ihregraduelle Integration in diese erreicht werden,was durchaus als Teilerfolg gewertet werdenkann. Sogar ein ESVP-Mittelmeerdialog kamzustande, in dem die EU und die Mittel-meeranrainer bezüglich Konfliktverhütungund Krisenmanagement kooperierten.

Seit dem 11. September 2001 stand derKampf gegen den internationalen Terrorismusvor allem im Rahmen der EMP auf der si-cherheitspolitischen Agenda der EU. Zumgrößten Teil entfielen die Instrumente undStrategien in diesem Kampf gegen den inter-nationalen Terrorismus auf das Politikfeld derinneren Sicherheit. Gleichzeitig schottete dieEU in diesem Sinne ihre Außengrenzen ab.Schon 1999 erklärte die EU in Amsterdamdas Ziel, in Europa einen Raum der Freiheit,der Sicherheit und des Rechts (RFSR) zuschaffen, was sich unter den Entwicklungender folgenden Jahre als nicht immer kompati-bel mit den Intentionen der EMP heraus-stellte. Das Interesse an Sicherheit schien imKampf gegen den internationalen Terrorismusalle Mittel zu rechtfertigen. Gerade dies waraber eine Fehlentwicklung, der Deutschlandund die EU hätten entgegenwirken müssen,beispielsweise durch eine universell verbind-

liche Definition von Terrorismus, die bislangfehlt.

Dass Deutschland und die EU ein langfristi-ges Interesse an Demokratisierung aufgrunddamit einhergehender Stabilitäts- und Sicher-heitsinteressen haben müssten, wurde be-reits im vorangegangenen Kapitel ausgeführt.Entwicklungszusammenarbeit mit autoritärenRegimes hat sich spätestens seit Ende desKalten Krieges als ineffektiv erwiesen, wes-halb man neben diesem Strang vermehrt aufDemokratieförderung als bisher vernachläs-sigte Entwicklungsressource setzte und sieauch als verbindliches Ziel im EU-Vertragfestschreiben ließ. Im Zuge dieser Erkenntniswurde Demokratisierung zunehmend Teil derdeutschen und europäischen Strategie imKampf gegen den internationalen Terroris-mus, die dabei an der Wurzel des Problemsanpacken sollte. Nur mit Demokratie undMenschenrechten könne es in der RegionFrieden, Stabilität und wirtschaftliche Ent-wicklung geben, so die Annahme Deutsch-lands und der europäischenStaatengemeinschaft. Ihre Förderung als Zieldurchzieht die Dokumente nahezu aller Poli-tikfelder der EMP, wenngleich diese nur de-klaratorischen Charakter besitzen. PraktischeInstrumente zur Umsetzung finden sich in denBereichen II und III der Barcelona-Schlusser-klärung. Die EU verfolgte dabei zwei Ansätze:

Der erste Ansatz nimmt die Regierungen indie Pflicht, indem er auf institutionelle Refor-men, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeitund verantwortliches Regieren setzt. Einflussübt die EU durch finanzielle Konditionierunggegenüber den einzelnen arabischen Staatenaus, je nach tatsächlichem Fortschritt im poli-tischen Reformprozess. Zudem hat die EUdie Option, die Kooperation mit einzelnenStaaten teilweise oder komplett auszusetzen.Solche Suspensionsklauseln finden sich auchin den Euro-Med-Assoziierungsabkommen,die mit einzelnen Staaten der Region verein-bart wurden.

Der zweite Ansatz versucht, gesellschaftspo-litischen Einfluss über einen Zugang zu denZivilgesellschaften geltend zu machen. Je-doch entfernte sich die EU über die Jahre zu-nehmend von Programmen expliziterDemokratisierungs- und Menschenrechtspo-litik. Stattdessen dominierten mit der Zeit Pro-jekte zur Förderung des kulturellen Dialogs.In 2005 gaben sich die Zivilforen innerhalb der

Page 214: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Deutschland, die EU und der „Arabische Frühling“

Deutsches Orient-Institut213

EMP einen lockeren institutionellen Rahmen,indem sie die Euro-Med Non-Governmental

Platform gründeten. Stärker politisch ausge-richtete Programme fanden sich dem ge-genüber außerhalb des EMP-Rahmens in derüberregionalen European Initiative for De-mocratisation and Human Rights. Die Fehl-entwicklung dieses zweiten Ansatzes lagdarin, dass sich die EU in ihrer Kooperationmit der Zivilgesellschaft lediglich auf säkulare,westlich orientierte Eliten der arabischenStaaten stützte, die keinesfalls einen reprä-sentativen Querschnitt durch die Gesellschaftboten. Moderate islamistische Organisatio-nen, die Pluralismus und Gewaltlosigkeit re-spektieren, hätten dafür in eine Partnerschafteinbezogen werden müssen. Als problema-tisch hat sich zudem herausgestellt, dasskeine Einigkeit über die Rolle der Zivilgesell-schaft innerhalb der EMP bestand.

Auf dem Weg zu einer erfolgreichen EMPhaben sich mehrere Probleme aufgetan: Dererfolglose Osloer Friedensprozess zur Lö-sung des Nahostkonflikts, die starke Asym-metrie der Partnerschaft zwischen der EU alsgroßem Akteur und den einzelnen Mittel-meeranrainern, der Barcelona-Prozess alsweitgehende Unbekannte bei den Bevölke-rungen der EU und der Mittelmeerländer,komplizierte und höchst bürokratische Struk-turen, unzureichend ausgebildetes Personal,augenscheinlich unüberwindbare Interes-senskonflikte sowohl zwischen EU und Part-nerschaftsländern als auch innerhalb beiderLager, das dem Partnerschaftsprinzip diame-tral gegenüberstehende Prinzip der Konditio-nalisierung bzw. Sanktionierung, mehrereparallel laufende und sich teils gegenseitighemmende Instrumente der „westlichen Staa-tengemeinschaft“ für den Mittelmeerraum, dernicht immer geglückte Spagat zwischen Men-schenrechtsdurchsetzung und Nichteinmi-schung in die Angelegenheiten souveränerStaaten sowie die Misstrauen und Ablehnunggegen Europa geschürte Irakinvasion derUSA im Jahr 2003 als auch die Anschlägevom 11. September 2001 und danach ver-stärkte europäische Tendenzen hin zu Isla-mophobie. Im Jahr 2004 legte die EU ihrneues Konzept der Europäischen Nachbar-schaftspolitik (ENP) zur Gestaltung ihrer Be-ziehungen mit den Nachbarländern vor.Insgesamt musste der Demokratisierungspo-litik der EU im Rahmen der Euro-Mediterra-nen Partnerschaft bis dahin eine erfolgloseBilanz konstatiert werden. Lediglich im Be-

reich der Vertrauensbildung zwischen Europaund arabischen Staaten konnte sie einige Er-folge nachweisen. Die ENP zielte zunächstnur auf die östlichen Nachbarstaaten ab, ehesie auch auf die Mittelmeeranrainer ausge-dehnt wurde. Die Euro-Med-Assoziierungsab-kommen mit einzelnenStaaten der Region werden dabei durch sogenannte Aktionspläne erweitert, die wesent-liches Instrument der ENP sind und den bila-teralen Beziehungen mit den Nachbarländerndienen sollen. Die Aktionspläne, worin Prio-ritäten für politische und wirtschaftliche Re-formen festgelegt werden, werdengemeinsam mit den Partnerstaaten ausge-handelt und sind auf drei bis fünf Jahre aus-gelegt. Die gemeinsame Aushandlungvermindert die Dominanz der EU, garantierteine den landesspezifischen Situationen an-gepasste Reformagenda und stellt mehr Ei-genverantwortung für die regionalen Staatenund Kooperationsbereitschaft in Aussicht.

Lange setzte man innerhalb der EU auf wirt-schaftliche Liberalisierung, die Basisimpulsefür politische Reformen geben sollte. Dochgenauso lange bestätigte sich diese Hoffnungnicht. Wirtschaftliche Reformen gingen gleich-zeitig mit verstärkter staatlicher Repressioneinher. Dabei hat sich die EU doch recht lern-willig gezeigt, indem sie Erfahrungen aus dererfolgreichen EU-Erweiterung und der Erfolg-losigkeit der EMP in ihre zukünftige Politik inNordafrika und Nahost einfließen ließ. Mit derENP versuchte die EU, mehr positive Anreizezur Einleitung politischer Transformationspro-zesse bei den herrschenden Eliten zu schaf-fen.

Im Jahr 2008 wurde die Union für das Mittel-meer ins Leben gerufen, die in die Euro-Me-diterrane Partnerschaft eingebettet ist und imMärz 2010 erstmals ihre Arbeit aufnahm. DasZiel der stark projektorientierten Union ist es,im Mittelmeerraum Frieden, Stabilität undWohlstand zu schaffen. Sie unterstützt wirt-schaftliche Integration und demokratische Re-formen in den 16 EU-Nachbarländern. Diewesentlichen Felder, in denen sie Projekte ini-tiiert und unterstützt, sind Wirtschaft, Umwelt,Energie, Gesundheit, Migration und Kultur.Die Arbeit der Mittelmeerunion begannäußerst zögerlich. Das lag zunächst daran,dass es nicht gelang, die wesentlichen Insti-tutionen für die Union einzurichten. Erst zweiJahre später – im März 2010 – konnte dasSekretariat der Union seine Arbeit aufneh-

Page 215: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Deutschland, die EU und der „Arabische Frühling“

Deutsches Orient-Institut 214

men. Ein Grund dafür lag auch in Israels Mi-litäroperation im Gazastreifen zum Jahres-wechsel 2008/09, in dessen Folge sich diearabischen Staaten nicht in der Lage sahen,eine Zusammenarbeit mit Israel fortzusetzen.Die Spannungen im Nahen Osten wirken sichbis heute auf die Arbeit der Mittelmeerunionaus. Ein geplantes Gipfeltreffen der Unionmusste bereits zweimal – im Juni 2010 undim November 2010 – deswegen abgesagtwerden. Daraufhin trat im Januar 2011 der bisdahin amtierende Generalsekretär der Union,der Jordanier Ahmed Khalef Masadeh, mit derBegründung mangelnder Handlungsfähigkeitder Union im Zuge der damaligen Umwälzun-gen in Tunesien und Ägypten zurück, was fürdie noch junge Mittelmeer-union einen herbenDämpfer bedeutete. Von einem viel verspre-chenden Beginn kann also nicht die Redesein. Im Gegenteil, noch bevor erste kleineErfolge verbucht werden konnten, stellt sichbereits die Frage nach der Zukunft der Unionfür das Mittelmeer.

IV. Unterstützung Deutschlands und derEU für die TransformationsstaatenÄgypten und Tunesien

Die Kernbereiche, auf die sich die deutscheUnterstützung für die Transformationspro-zesse in den beiden Ländern der erfolgreichgestürzten Regimes Ben Alis und Mubarakskonzentriert, sind dabei Good Governanceund Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und Par-tizipation, Bildung und Ausbildung, Medien-und Meinungsfreiheit, Arbeit und Beschäfti-gung, sozial- und marktwirtschaftlich orien-tierte Wirtschaftstransformation, Stärkung derZivilgesellschaft sowie Aufbau und Stärkungdemokratischer Kontrolle des Sicherheitssek-tors. Daran orientieren sich bereits initiierteund geplante Maßnahmen zur Unterstützungdemokratischer und sozioökonomischerTransformation in Ägypten und Tunesien.

Die Entwicklungen in Libyen und Syrien sindin einem momentanen Zwischenstadium nochzu frisch und ungewiss, als dass es hier be-reits länger angelegte Aktionspläne gäbe. Inanderen Staaten wie Marokko oder Jordanienscheinen die Proteste und umfassendere Um-brüche im Zuge des „Arabischen Frühlings“durch Reformmaßnahmen der Monarchengestoppt. In wieder anderen Staaten wurdendie Proteste durch Gewalt erstickt. In Libyenist die NATO noch mit militärischen Operatio-nen aktiv. Dazu ist humanitäre Soforthilfe drin-

gend notwendig, deren Bereitstellung mo-mentan oberste Priorität hat. In Syrien ist dieAussicht auf einen demokratischen Wandelsehr unsicher. Deshalb konzentrieren sich dienachfolgend aufgeführten Maßnahmen aufTunesien und Ägypten.

IV.1 Kurzfristige Maßnahmen

Deutsche Unterstützung: Die kurzfristige Un-terstützung der deutschen Bundesregierungfür die Länder Tunesien und Ägypten im de-mokratischen Umbruch hat sich im Wesentli-chen auf die Bereitstellung finanzieller Mittelund rhetorische Signale bezogen. Das Bun-desministerium für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung (BMZ) hat indiesem Rahmen drei Fonds eingerichtet undfür diese finanzielle Mittel bereitgestellt:

Demokratieförderungsfonds

Die Hauptintention des Fonds besteht inder Unterstützung des demokratischenWandels durch Beratung bei struktur- undordnungspolitischen Herausforderungenvor Ort.

3,25 Mio. EUR werden für politische Stif-tungen und kirchliche Hilfswerke vor Ortmobilisiert, deren Aufgabe darin besteht,der Zivilgesellschaft bei ihrer Organisie-rung und dem Aufbau unabhängiger politi-scher Parteien unter die Arme zu greifen.

Zudem wird der Fonds vom BMZnochmals mit 2,0 Mio. EUR versorgt, umüber die Deutsche Gesellschaft für Inter-nationale Zusammenarbeit (GIZ) ein über-regionales Projekt zur Unterstützungdemokratischer Reformen in der gesam-ten Region zu fördern. Das Programm zieltauf eine stärkere Beteiligung von Jugend-lichen an politischen Prozessen und ge-sellschaftlichen Reformen sowie eineStärkung von Zivilgesellschaft, öffentlicherVerwaltung, Rechtsstaatlichkeit und Justiz.

Bildungsfonds

Dieser Fonds zielt auf die Unterstützungeines Regionalprogramms, insbesonderein strukturschwachen Regionen, zur ver-besserten Qualifizierung und erhöhten Be-schäftigung junger Menschen, um ihnenerste oder neue Bildungs- und Entwick-lungsperspektiven zu eröffnen.

Page 216: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Deutschland, die EU und der „Arabische Frühling“

Deutsches Orient-Institut215

8,0 Mio. EUR für 2011 bis 2014 stellt dasBMZ dafür bereit. ArbeitsmarktorientierteAus- und Weiterbildungsangebote sowieExistenzgründungsprogramme für jungeMenschen stehen bei diesem Projekt imMittelpunkt, an deren Ausführung sowohldie GIZ mit ihren Partnern und der privatenWirtschaft als auch die Außenhandels-kammern und deutsche Unternehmen vorOrt beteiligt sind.

Wirtschaftsfonds

Ziel des Regionalfonds ist die Förderungvon Kreditvergaben durch Mikrofinanzin-stitutionen vor Ort an Kleinst-, Klein- undmittlere Unternehmen, damit diese neueArbeitsplätze schaffen können.

Das BMZ stellt für die Refinanzierung vonMikrofinanzinstitutionen 20,0 Mio. EUR zurVerfügung, die über die KfW-Entwick-lungsbank vergeben werden.

Zudem stellt die BMZ-Menschenrechtsfazilitätfür Nichtregierungsorganisationen im Jahr2011 bis zu 40% ihrer finanziellen Mittel – ma-ximal 3,0 Mio EUR – für die Förderung vonProjekten zur Stärkung von Menschenrechtenin der Region bereit. Fachkräfte des ZivilenFriedensdienstes unterstützen damit lokaleMenschenrechtsaktivisten oder für lokaleMenschenrechtsorganisationen werden Trai-ningsmaßnahmen gefördert.

Auf journalistischer Ebene ist es höchste Pri-orität, die Presse- und Meinungsfreiheit in derRegion zu fördern. Dies geschieht durch ge-zielte Weiterbildungsangebote der DeutscheWelle-Akademie, deren Zielgruppe freie Jour-nalisten, Blogger, Jounalistikstudierende undNutzer von sozialen Netzwerken vor Ort dar-stellen.

Europäische Unterstützung: Im Rahmen einerneu angedachten „Partnerschaft für Demo-kratie und gemeinsamen Wohlstand” gewährtdie EU den Transformationsstaaten 30 Mio.EUR humanitäre Soforthilfe, erleichtert diekonsularische Zusammenarbeit und Evaku-ierung von Staatsbürgern, öffnet die beidenmit insgesamt 25 Mio. EUR ausgestatteten

EU-Außengrenzenfonds und EuropäischenFlüchtlingsfonds, garantiert Ägypten und Tu-nesien Besuche der Hohen Vertreterin der EUfür Außen- und Sicherheitspolitik bzw. Kom-missionsvizepräsidentin und organisiert eininternationales Koordinierungstreffen als Sig-nale zur Unterstützung des demokratischenÜbergangs.5

Diese neue Partnerschaft, die mittlerweile vonden Staats- und Regierungschefs gebilligtwurde, umfasst dabei die drei grundsätzlichenSäulen Demokratisierungsprozess und Insti-tutionenaufbau, eine engere Partnerschaft mitden örtlichen Bevölkerungen und eine wirt-schaftliche Entwicklung, die auf Nachhaltig-keit und möglichst breitenwirksamesWachstum ausgerichtet sein soll.

Zu bereits umgesetzten Projekten mit Part-nerorganisationen in Tunesien und Ägyptengehört auch die Einrichtung der so genannten„Tahrir-Lounge“ in Kairo als Anlaufpunkt vie-ler Akteure des demokratischen Wandels imLand, z.B. für Aktivisten von Nichtregierungs-organisationen und Menschenrechtsgruppen,Blogger etc. Zudem unterstützt das Auswär-tige Amt Filmemacher, die mittels Kurzfilmenvor anstehenden Wahlen die Menschen überdemokratische Rechte aufklären, so ge-nannte „Freiheitsbusse“, die der ländlichenBevölkerung politische Bildung bringen sowieReisen der Jahn-Behörde und der Gedenk-stätte Hohenschönhausen nach Ägypten undTunesien, um Erfahrungen bei der Aufarbei-tung von Unrechtsregimes mit den Menschenvor Ort zu teilen.6

IV.2 Mittel- und längerfristige Maßnahmen

Deutsche Unterstützung: Auf der mittelfristi-gen Agenda der Bundesregierung bzw. desBMZ stehen ebenso bereits einige Maßnah-men. Die deutsche Entwicklungszusammen-arbeit will die Förderung bereits bestehenderMenschenrechtsinstitutionen intensivierenund den Aufbau weiterer Kapazitäten undNetzwerke in diesem Bereich unterstützen.Ebenfalls soll die politische Teilhabe, insbe-sondere der jungen Generation, verstärkt undfreie Medien sowie unabhängiger Journalis-mus gefördert werden. Diese Aufgabe kommtden politischen Stiftungen zu, ebenso wie

5 Vgl. Europäische Kommission / Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik: Eine Partner-schaft mit dem südlichen Mittelmeerraum für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand, EuropäischeKommission, Brüssel 2011.

6 Dies ist nur ein Teil der bereits getroffenen Maßnahmen. Für weitere Informationen dahingehend sieheauch: Auswärtiges Amt: Der Umbruch in Ägypten und Tunesien. Vorbild für die arabische Welt – Chancefür Europa, Berlin 2011.

Page 217: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Deutschland, die EU und der „Arabische Frühling“

Deutsches Orient-Institut 216

eine beratende Funktion gegenüber neu ent-stehenden politischen Parteien und eine be-gleitende Funktion bei anstehendenWahlprozessen. Um Frauen auf längere Sichtbesser in wirtschaftliche Strukturen und Pro-zesse zu integrieren, soll ein Netzwerk vonUnternehmerinnenverbänden aufgebaut wer-den. Die Einrichtung einer Sonderinstitutionfür Entwicklungspartnerschaften mit der Wirt-schaft (Public Private Partnerships) zielt dar-auf ab, die lokale Wirtschaft zu stabilisierenund Anreize für ausländische Investoren zuschaffen. Zudem sollen im Bildungsbereichmittels eines Sonderprogramms zur Hoch-schulförderung, dessen Umsetzung der Deut-sche Akademische Austauschdienst (DAAD)übernimmt, entwicklungsorientierte Studi-engänge und Stipendienprogramme aufge-baut werden. Zudem soll der DAAD dafürsorgen, dass die Qualität der bestehendenKooperationshochschulen in Tunesien, Ägyp-ten, Syrien und Jordanien etabliert wird.

Darüber hinaus hat das Auswärtige Amt mitden Staaten Tunesien und Ägypten so ge-nannte Transformationspartnerschaften insLeben gerufen, die sich an den landesspezi-fischen Bedürfnissen und Prioritäten orientie-ren. In deren Rahmen sind bereits zahlreicheProjekte in Zusammenarbeit mit ägyptischenbzw. tunesischen und deutschen Nichtregie-rungsorganisationen auf den Weg gebrachtworden, die allen voran auf die Förderung desdemokratischen Dialogs, unabhängige Men-schenrechtsarbeit und freie Medienarbeit ab-zielen.7 Ferner sollen jeweils für die Jahre2012 und 2013 im Haushalt des AuswärtigenAmtes 50 Mio. EUR für die Transformations-prozesse in der Region bereitgestellt werden.

Speziell in Bezug auf Ägypten hat die Bun-desregierung zuletzt einen Schuldenerlass inHöhe von 240 Mio. EUR zugesagt. Die Schul-densumme soll stattdessen in beiderseitigvereinbarte Reformmaßnahmen, insbeson-dere den Aufbau demokratischer Institutionen,

investiert werden. In seinem Strategiepapiervom August 2011 erkennt das Auswärtige Amtbzw. die Bundesregierung zudem die Kom-plexität der momentanen Situation, die einenklugen Umgang, einen anhaltenden Lernpro-zess und eine Überprüfung aller Instrumenteerfordere. Zudem hat sie darin angedeutet,den Fokus ihres Engagements - nicht zuletztaufgrund begrenzter Ressourcen und Kapa-zitäten - vorerst auf Tunesien und Ägypten zubeschränken. Zudem verspricht sich die Bun-desregierung davon eine Modellfunktion.

Europäische Unterstützung: Auch auf eu-ropäischer Ebene haben die EU-Mitglieds-staaten mittel- und langfristige Unterstützungfür die Transformationsprozesse in Aussichtgestellt. Dies betrifft vor allem Hilfe bei derDurchführung von Wahlen, Maßnahmen zurErholung der Wirtschaft und Wiederaufbaudes Tourismussektors sowie Maßnahmen zureinvernehmlichen Regelung von Migrationund Mobilität.8

Zwischen 2011 und 2013 wird die Europäi-sche Nachbarschaftspolitik zudem zusätzli-che finanzielle Mittel von 1,24 Mrd. EUR zuden bereits eingeplanten 5,7 Mrd. EUR frei-setzen, jedoch für den gesamten Nachbar-schaftsraum, nicht nur für die arabischenTransformationsstaaten. Diese Gelder solleninsbesondere auf den Ausbau der interkultu-rellen Beziehungen, die sozioökonomischeEntwicklung in ländlichen Gebieten, den Fort-schritt beim Aufbau von Institutionen und dieErfüllung der Millenniums-Entwicklungsziele(MDG) hinarbeiten.9

Um Partnerstaaten bei der Lösung kurzfristi-ger finanzieller Probleme unter die Arme zugreifen, ist es möglich, dass makrofinanzielleHilfen bereitgestellt werden. Zudem soll dasZuständigkeitsgebiet der Europäischen Bankfür Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD)auf die Staaten im Mittelmeerraum ausge-dehnt werden und die maximale Kreditver-

7 Für nähere Informationen zu den Transformationspartnerschaften mit Tunesien und Ägypten siehe die Ho-mepage des Auswärtigen Amtes www.auswaertiges-amt.de.

8 Vgl. Europäische Kommission / Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik: Eine Partner-schaft mit dem südlichen Mittelmeerraum für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand, EuropäischeKommission, Brüssel 2011.

9 Die acht Millenniums-Entwicklungsziele wurden im Jahr 2000 zusammen mit 21 Unterzielen und 60 Indi-katoren zu ihrer Messung auf dem UN-Millenniumsgipfel beschlossen. Dazu gehören die Beseitigungder extremen Armut und des Hungers, die Verwirklichung der allgemeinen Grundschulbildung, die För-derung der Gleichstellung der Geschlechter und Ermächtigung der Frauen, die Senkung der Kinder-sterblichkeit, die Verbesserung der Gesundheit von Müttern, die Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria undanderen Krankheiten, die Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit und der Aufbau einer weltweitenEntwicklungspartnerschaft. Siehe dazu: Deutscher Übersetzungsdienst der Vereinten Nationen: OffizielleListe der Indikatoren für die Millenniums-Entwicklungsziele, http://www.un.org/Depts/german/millen-nium/MDG-Indikatoren.pdf, New York 2010, abgerufen am 26.08.2011.

Page 218: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Deutschland, die EU und der „Arabische Frühling“

Deutsches Orient-Institut217

gabe der Europäischen Investitionsbank (EIB)um 1 Mrd. EUR auf 6 Mrd. EUR zwischen2011 und 2013 angehoben werden.Zudem engagierten sich die EU-MitgliederDeutschland, Großbritannien, Frankreich undItalien im Rahmen des G8-Gipfel von Deau-ville im Mai 2011 für das dort beschlosseneDeauville Partnership Programme, das so-wohl ein politisches als auch ein ökonomi-sches Maßnahmenpaket umfasst. Erstereszielt auf die Unterstützung von Reformen füreinen demokratischen Übergang, währendletzteres parallel Wirtschaftsreformen undnachhaltiges Wachstum fördern soll. An denetwa 20 Mrd. US-Dollar umfassenden Hilfenbeteiligen sich neben Weltbank, Internationa-lem Währungsfonds und anderen auch eu-ropäische Finanzinstitutionen wie EIB bzw.EBRD. Der Betrag ist angedacht für den Zeit-raum zwischen 2011 und 2013 und wird imRahmen bereits bestehender Formate und In-stitutionen verwendet.

V. Ausblick und Perspektiven

Die Entwicklungen, die die arabischen Um-brüche mit sich bringen, haben keine Auswir-kungen auf die deutsche und europäischeInteressenagenda an sich. Die Interessen, dieDeutschland und die EU vor den aktuellenEntwicklungen in der Region hatten, bleibennach wie vor bestehen. Was sich aber ändert,ist jetzt das plötzliche Auftreten einer einmali-gen Gelegenheit, nach Jahrzehnten überwie-gend autoritärer Herrschaft in der Region dieGunst der Stunde zu nutzen und die arabi-schen Transformationsgesellschaften beiihrer Forderung nach mehr politischer Mit-sprache und Gehör, Demokratie und Rechts-staatlichkeit, Wahrung von Menschenrechtensowie der Eröffnung neuer sozioökonomi-scher Perspektiven tatkräftig zu unterstützenund damit den Grundstein für das vordring-lichste deutsche und europäische Interesse inder Region zu legen, nämlich nachhaltige Sta-bilität durch demokratische Strukturen undProzesse. Dass dieses primäre Ziel die Basisfür die Vermeidung oder Lösung vieler Nach-folgeprobleme ist, wurde oben gezeigt.

Nachhaltige Stabilität kann nur durch langfri-stig angelegte wirtschaftliche und politischeTransformationsprozesse in den Staaten derRegion verwirklicht werden. Deshalb solltesich die deutsche und europäische Politiknicht der Illusion hingeben, durch kurzfristiggedachte Stabilisierungsmaßnahmen zur

Stützung autoritärer Regierungssysteme inder Region ihre Interessen auf Dauer erfolg-reich verfolgen zu können. Zudem würde siesich in der politischen Öffentlichkeit mit ihrenpermanenten Forderungen nach Demokratie,Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtenselbst diskreditieren und bei den Bevölkerun-gen der Region erheblich an Glaubwürdigkeiteinbüßen.

Will sie sich unangenehme Folgen in Zukunftersparen, muss die deutsche und europäi-sche Politik auf die Karte des langfristigen de-mokratischen und wirtschaftlichen Wandels inden arabischen Staaten setzen. Sicherlichbringen diese Entwicklungen eine beträchtli-che Menge an Ungewissheit und Unsicherheitmit sich. Auf lange Sicht könnten diese Ent-wicklungen aber weitaus mehr Sicherheit be-züglich einer erfolgreichen Verfolgungdeutscher und europäischer Interessen in derRegion entsprechen.

Es ist richtig, dass die deutsche und europäi-sche Politik nicht nur auf humanitäre Sofort-und Stabilisierungsmaßnahmen setzt, son-dern bereits angedeutet hat, auch mittel- undlängerfristige Maßnahmen zur Unterstützungder Prozesse demokratischer und wirtschaft-licher Transformation in der Region anzuvi-sieren. Zudem muss sie den Zeitraumzwischen Beginn des Barcelona-Prozesses1995 und dem Beginn des „Arabischen Früh-lings” kritisch unter die Lupe nehmen, Ver-säumnisse aufdecken, aus vergangenenFehlern Lehren ziehen, diese Erfahrungen inihre aktuellen Entscheidungen einbeziehenund ihre bisherigen Programme gegebenen-falls korrigieren und anpassen.

Allzu viel Zeit sollte sie sich dabei auch nichtlassen, denn es ist wahrscheinlich, dass inZukunft eher mehr als weniger Akteure in derRegion auf den Plan treten, die ihren Hand-lungsspielraum einschränken werden. Wiesehr andere Akteure den Handlungsspielraumdeutscher und europäischer Politik eingren-zen, wird vor allem deutlich an den diversenSonderbeziehungen, die z.B. die USA oderehemalige Kolonialmächte wie Frankreichoder Großbritannien mit Staaten in der Re-gion hegen.

Dass ein Ansatz, der für alle Staaten in derRegion gleichermaßen Anwendung findet,kontraproduktiv ist, hat sich während der EMPgezeigt. Die Mittelmeerländer, die die EU um-

Page 219: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Deutschland, die EU und der „Arabische Frühling“

Deutsches Orient-Institut 218

geben, sind äußerst heterogen. Der einheitli-che Ansatz förderte massive Interes- sens-konflikte zwischen den Mittelmeeranrainernzutage, beispielsweise zwischen relativ res-sourcenreichen Staaten wie Algerien und aufFinanzhilfen angewiesene Staaten wie Tune-sien und Marokko. Hier hat sich gezeigt, dassgroße Lösungen nicht greifen, sondern kleine,aber beharrliche und effektive Schritte ge-gangen werden sollten. Dies sollte berück-sichtigt werden, indem länderspezifischeAnsätze gefunden werden.

In Zukunft wird die EU auch einen intensi-veren Dialog mit anderen geopolitischen Ak-teuren mit gewichtigem Einfluss in der Regionsuchen müssen. Die USA, Russland, China,die Türkei, Iran oder die arabischen Golfstaa-ten sind hier nennenswerte Staaten, die ihreEinflusssphären in der Region besitzen unddiese auch zukünftig wahren wollen. Demzu-folge werden Deutschland und die EU eineneue Dialogstrategie im Umgang mit unlieb-samen Gesprächspartnern suchen müssen.Als Beispiel sei Iran genannt, dessen Einflussin der Region stetig zunimmt. Mit bleibenderBlockadehaltung der „westlichen Staatenge-meinschaft“ dürfte sich der Konflikt mit Irannicht lösen lassen und er erschwert gleich-zeitig die Kooperation mit Staaten wie dem Li-banon oder Syrien. Auch die Diskussion umeine eventuelle militärische Aufrüstung Saudi-Arabiens ist hierbei wohl ein irritierendes Sig-nal der Bundesregierung, die sich durch dieöffentliche Diskussion um das umstrittene undnicht eindeutig belegte Panzergeschäft mitder größten Golfmonarchie in Erklärungsnotbrachte.

Eine Herausforderung für die Bundesregie-rung wird gleichzeitig darin bestehen, denschmalen Grat zwischen hinreichender Un-terstützung und der Wahrnehmung vonaußen erzwungener Demokratisierung zu fin-den. Die Initiatoren und Teilhaber an den ara-bischen Umbrüchen wollen am Ende nichtden Eindruck haben, man habe sie ihrer „Re-volution” beraubt. Dementsprechend wird hierseitens deutscher und europäischer Außen-und Entwicklungspolitik ein gewisses Maß anZurückhaltung außerordentlich wichtig sein,um dem Vorwurf vom „westlichen Werteimpe-rialismus“ und „zwanghaft aufoktroyierter De-mokratie“ zu entgehen. Dieses Erfordernisscheint die Bundesregierung erkannt zuhaben, denn im Strategiepapier des Auswär-tigen Amtes vom August 2011 bezieht sie sichdarauf.

Eine Zusammenarbeit zwischen Deutschlandbzw. der EU und den arabischen Staaten immilitärischen und im Bereich der inneren Si-cherheit sollte sich am Grad der umgesetztenDemokratisierung des militärpolitischen Sek-tors orientieren. Militär darf kein Instrumentder Machtpolitik eines Regimes sein, insofernunterscheiden sich die Sicherheitskulturendemokratisch und autoritär regierter Staaten.Der militärpolitische Sektor muss zuerst zivilerPartizipation und demokratischer Kontrollezugänglich gemacht werden.

Auch der Einbezug zur politischen Realitätzweifellos dazugehörender islamistischer Ak-teure in partizipative, demokratische Struktu-ren dürfte die Europäer ein gewisses Maß anÜberwindung kosten, aber er ist absolut not-wendig. Er dürfte auf lange Sicht islamistischeBewegungen zu mehr politischem Pragmatis-mus drängen und die Terrorgefahr in Europaund Deutschland verringern. Außerdem solltevermieden werden, einen indigenen Zusam-menhang zwischen dem Engagement politi-scher Islamisten und einer erhöhtenRadikalisierung der jeweiligen Gesellschaftenherzustellen. In vielen arabischen Länderngehören islamistische Akteure zu einem zivil-gesellschaftlichen Umfeld, verorten sich alspluralistische, wandlungsfähige und kon-struktiv am Wandlungsprozess partizipie-rende Akteure und müssen als politischeAlternativen und Realitäten wahr und ernstgenommen werden. Dies beweist nicht nurdie Muslimbruderschaft in Ägypten, die auf-grund ihres sozialen, politischen und karitati-ven Engagements längst zu einer wichtigenund zu integrierenden Größe in der politi-schen Landschaft Ägyptens geworden sind.Die Formel, Muslimbrüder würden zu einemislamischen Staat und damit zu einer anti-westlichen und radikalen Ausrichtung sichtransformierender Systeme führen, erscheinteindimensional, pauschalisierend und ent-behrt nicht nur in Ägypten jeglicher Grund-lage. Allerdings wird die Rolle der Religion inden Transformationsstaaten eine weiterhingewichtige Rolle spielen. Ein quasi-automati-scher Zusammenhang zwischen Islam, Isla-mismus und Terrorismus besteht aberkeineswegs.

Die Tatsache, dass demokratische Systemeihre Konflikte öfter friedlich lösen als autoritäreRegime und durch ihren partizipativen Cha-rakter auch Minderheiten eine Stimme schen-ken, dürfte die arabischen Staaten weitausstabiler machen, vor allem auch auf lange

Page 220: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Deutschland, die EU und der „Arabische Frühling“

Deutsches Orient-Institut219

Sicht. Damit könnten sich auch Flüchtlings-ströme aus Krisenregionen und somit die Ge-fahr islamistisch motivierter Gewalt undorganisierter Kriminalität vermeiden lassen.

An dieser Stelle muss an die Bundesregie-rung und die Europäische Union appelliertwerden, mehr auf Nachhaltigkeit ihrer politi-schen Entscheidungen zu setzen, anstatt nurkurzfristige Auswirkungen im Blick zu haben.

Dabei sollte die deutsche und europäischePolitik diese Entwicklungen in Nordafrika,Nah- und Mittelost weniger als Risiko und Un-sicherheitsfaktor interpretieren, als vielmehrim Sinne einer Chance oder einer Herausfor-derung zur Nutzung einer historischen Gele-genheit, die ihnen die arabischenGesellschaften im Wandel momentan bieten.

Jan Zimmermann

VI. Literaturangaben

AL-ANANI, KHALIL, ZEIDAN, ZEIDAN ALI et al.: The Future of the Mediterranean. Which Way for Europe and North Africa?, in: Europe in Dialogue, 01 (2011), Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2011.

ARBEITSSTELLE POLITIK DES VORDEREN ORIENTS: Proteste, Revolutionen, Transformationen. Die arabische Welt im Umbruch, in: Working Papers (2011) 01, Berlin 2011.

ASSEBURG, MURIEL: Der Arabische Frühling. Herausforderung und Chance für die deutsche und europäische Politik, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin 2011.

AUSWÄRTIGES AMT: Außenpolitik. Regionale Schwerpunkte Naher und Mittlerer Osten, Maghreb, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/RegionaleSchwerpunkte/Naher Mitt-lererOsten/Uebersicht_node.html, abgerufen am 09.08.2011.

AUSWÄRTIGES AMT: Der Umbruch in Ägypten und Tunesien. Vorbild für die arabische Welt – Chance für Europa, Berlin 2011.

BEHR, TIMO: Europe and the Arab World. Towards a Principled Partnership, in: C.A.Perspectives,02 (2011), Center for Applied Policy Research, München 2011.

BENDIEK, ANNEGRET: Wenn es Europa ernst ist, http://www.swp-berlin.org/de/kurz-gesagt/ wenn-europa-es-ernst-meint.html, abgerufen am 09.08.2011.

BERTELSMANN STIFTUNG (HRSG.): Deutschland, Europa und die arabisch-islamische Welt. Interessen und Handlungsschwerpunkte, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2006.

BUNDESMINISTERIUM FÜR WIRTSCHAFTLICHE ZUSAMMENARBEIT UND ENTWICKLUNG: Was wir machen. Naher Osten und Nordafrika, http://www.bmz.de/de/was_wir_machen/laender_regio-nen/ naher_osten_nordafrika/index.html, abgerufen am 09.08.2011.

DE VASCONCELOS, ALVARO (HRSG.): The Arab democratic wave. How the EU can seize the moment, European Union Institute for Security Studies, Paris 2011.

EUROPÄISCHE KOMMISSION / HOHE VERTRETERIN DER EU FÜR AUSSEN- UND SICHERHEITSPOLITIK: Eine Partnerschaft mit dem südlichen Mittelmeerraum für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand, Europäische Kommission, Brüssel 2011.

HANELT, CHRISTIAN-PETER, MÖLLER, ALMUT: How the European Union can Support Change in North Africa, in: Spotlight Europe, 01 (2011), Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2011.

Page 221: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Deutschland, die EU und der „Arabische Frühling“

Deutsches Orient-Institut 220

HEESE, BENJAMIN: Die Union für das Mittelmeer. Zwei Schritte vor, einen zurück?, in: Kleger,Heinz (Hrsg.): Region – Nation – Europa, Band 59, Berlin 2009.

HEINRICH BÖLL STIFTUNG: People’s Power. The Arab World in Revolt, in: Perspectives, 02 (2011), Beirut / Ramallah 2011.

MÜLLER-HENNIG, MARIUS: Internationales Engagement in Libyen. Jenseits von Flugverbot und Militärschlägen, Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2011.

PERTHES, VOLKER: Ein Pakt für Arbeit, Ausbildung und Energie, http://www.swp-berlin.org/de/ kurz-gesagt/ein-pakt-fuer-arbeit-ausbildung-und-energie.html, abgerufen am 09.08.2011.

DERS.: Politischer Umbruch im Nahen Osten. Die Neuordnung der Welt, http://www.de. qantara.de/Die-Neuordnung-der-Welt/15949c16140i1p234/, abgerufen am 09.08.2011.

RATKA, EDMUND: Den demokratischen Aufbruch in Tunesien unterstützen und Europas Akteursfähigkeit stärken. Handlungsempfehlungen für die deutsche Außenpolitik, in: C.A.P. Aktuell, 01 (2011), Centre for Applied Policy Research, München 2011.

SCHÄFER, ISABEL: Revolution bei den südlichen Nachbarn. Zeit für eine neue Politik der EU gegenüber der arabischen Welt, Tunis 2011.

STATISTISCHES BUNDESAMT: Außenhandel 2010. Rangfolge der Handelspartner im Außen-handel der Bundesrepublik Deutschland, http://www.destatis.de, Wiesbaden 2011, abgerufen am 11.08.2011.

STEIN, SHIMON: The EU and Recent Events in the Southern Mediterranean, The Institute for National Security Studies, Tel Aviv 2011.

STEINBERG, GUIDO (HRSG.): Deutsche Nah-, Mittelost- und Nordafrikapolitik. Interessen, Strategien, Handlungsoptionen, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin 2009.

YOUNGS, RICHARD: What not to do in the Middle East and North Africa, in: Fride Policy Brief(2011) 70, Madrid 2011.

Page 222: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Vorstand der Deutschen Orient-Stiftung

Stellvertretende Vorsitzende des Vorstandes

Henry Hasselbarth

Vice President North & Central Europe (a. D.) Emirates Airlines

Dr. Michael Lüders

Islamwissenschaftler

Mitglied des Beirates im NUMOV

Michael Lüders Nahostberatung

Helene Rang

Geschäftsführender Vorstand des NUMOV

Helene Rang & Partner

Weitere Mitglieder des Vorstandes

His Excellency Ali Bin Harmal Al Dhaheri

Chairman of the Executive Board of Governors

Abu Dhabi University

Martin Bay

Deutsche Bahn International

Vice Chairman Qatar Railways

Development Co.

Prof. Dr. Christina von Braun

Vorsitzende des Lehrstuhls für Kulturgeschichte

und Gender Studies

Humboldt Universität zu Berlin

Kulturwissenschaftliches Seminar

Elke Hoff, MdB

Mitglied des Deutschen Bundestags

Saffet Molvali

Eren Holding A.S.

Dr. Gunter Mulack

Direktor und Mitglied des Vorstandes

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hermann Parzinger

Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz

Bernd Romanski

Stellvertretender Vorsitzender des Vorstandes im NUMOV

Mitglied des Vorstands HOCHTIEF Solutions AG

Abdulaziz Sager

Chairman

Gulf Research Center

Dr. Gerhard Schäfer

Leiter Wirtschaft und Politik (a. D.)

Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG

Prof. Dr. Susanne Schröter

Institut für Anthropologie / Exzellenz-Cluster

„Herausbildung normativer Ordnungen“

Goethe-Universität Frankfurt

Prof. Dr. Rainer Schwarz

Sprecher der Geschäftsführung

Flughafen Berlin-Schönefeld GmbH

Kuratorium der Deutschen Orient-Stiftung

Präsident

Günter Gloser, MdB

Mitglied des Deutschen Bundestags

Stellvertretender Präsident

Prof. Dr. Mathias Rohe

Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Juristische Fakultät

weitere Mitglieder des Kuratoriums

Prof. Dr. Abdul Ghaffar Yousef

Präsident der Kingdom University in Bahrain

Sheikha Abdulla Al Misnad, Ph.D.

Präsident der Qatar University

Dr. Kilian Bälz, LL.M

Oliver Berben

Geschäftsführer

MOOVIE - the art of entertainment GmbH

Dr. Ralf Brauksiepe

Parlamentarischer Staatssekretär

Mitglied des Deutschen Bundestages

Peter Brinkmann

Journalist

Jürgen Chrobog

Vorsitzender des Vorstandes

BMW Stiftung Herbert Quandt

Thomas Ellerbeck

Mitglied des Beirates im NUMOV

Direktor Unternehmenskommunikation und Politik

Prof. Dr. Friedhelm Gehrmann

Steinbeis Universität Berlin

Institut “Global Consulting and Government”

Abdurrahim Güleç

Stellv. Geschäftsführer im NUMOV

Stephan Hallmann

ZDF Zweites Deutsches Fernsehen

HR Politik und Zeitgeschehen

Aussenpolitik

Dr. Peter Klaus

Mitglied des Vorstandes der KfW a.D.

Dr. Christian Koch

Direktor für Internationale Beziehungen

Gulf Research Center

Burkhardt Müller-Sönksen, MdB

Mitglied des Deutschen Bundestags

Prof. Detlef Prinz

Inhaber

PrinzMedien

Dr. Nicolas Christian Raabe

Vorstand NUMOV Juniorenkreis

Gerold Reichle

Leiter der Abteilung Luft- und Raumfahrt

im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Dr. Gerhard Sabathil

Direktor für Strategie, Koordination und Analyse

Generaldirektion Außenbeziehungen Relex-L

Europäische Kommission

Prof. Dr. jur. Dr. phil. Peter Scholz

Vizepräsident Amtsgericht Tiergarten

Honorarprofessor der Freien Universität Berlin

Oltmann Siemens

Repräsentant der Weltbank a.D.

Dr. Max Stadler, MdB

Parlamentarischer Staatssekretär

Dr. Willi Steul

Intendant des Deutschlandradio

Juergen Stotz

Deutsches Nationales Komitee des Weltenergierates (DNK)

RA Rainer Wietstock

PricewaterhouseCoopers Aktiengesellschaft

Wirtschaftsprüfungsgesellschaft

221Deutsches Orient-Institut

Vorstand und Kuratorium der Deutschen Orient-Stiftung

Page 223: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Vorstand des Nah- und Mittelost-

Vereins- NUMOV

Ehrenvorsitzender

Dr. Gerhard Schröder

Bundeskanzler a.D.

Geschäftsführender Vorstand

Helene Rang

Inhaberin

Helene Rang & Partner

Vorsitzender

Martin Bay

Qatar Railway Development Co.

DB International

Stellvertretende Vorsitzende

Dr. Martin Herrenknecht

Vorsitzender des Vorstandes

Herrenknecht AG

Dr. Norbert Kloppenburg

Mitglied des Vorstandes

KfW Bankengruppe

Bernd Romanski

Mitglied des Vorstandes

HOCHTIEF Solutions AG

Jens-Ove R. Stier

Geschäftsführer

Winterstein-Kontor GmbH

Mitglieder des Vorstandes

Martin Bachmann

Mitglied des Vorstands

Wintershall Holding AG

Jürgen Chrobog

Staatssekretär a. D.

Vorsitzender des Vorstandes

BMW Stiftung Herbert Quandt

Burkhard Dahmen

Mitglied des Vorstandes

SMS Siemag AG

Klaus Eberhardt

Vorsitzender des Vorstandes

Rheinmetall AG

Dr. Bernd Eisenblätter

Mitglied der Geschäftsführung

Deutsche Gesellschaft für Internationale Zu-

sammenarbeit (GIZ) GmbH

Joachim Enenkel

Vorsitzender des Vorstandes

Bilfinger Berger SE

Dieter Ernst

Inhaber

RWL Water Group

Jürgen Fitschen

Mitglied des Vorstandes

Deutsche Bank AG

Michael Glos, MdB

Bundesminister für Wirtschaft und

Technologie a.D.

Mitglied des Deutschen Bundestags

Marc Hall

Geschäftsführer Bayerngas GmbH

Elke Hoff, MdB

Mitglied des Deutschen Bundestags

Joachim Hörster, MdB

Mitglied des Deutschen Bundestages

Michael Ludwig

Mitglied des Vorstandes

Verbundnetz Gas AG

Martin Marsmann

Head of International Business

UniCredit Bank AG

Hartmut Mehdorn

Vorsitzender des Vorstandes

Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG

Jürgen Sander

Geschäftsführer

VEM Motors GmbH

Maria-Elisabeth Schaeffler

Gesellschafterin

Ina-Holding Schaeffler KG

Paul Schockemöhle Pferdehaltung GmbH

Paul Schockemöhle

Inhaber

Werner Schoeltzke

ENTRACON AG

222 Deutsches Orient-Institut

Vorstand und Beirat des Nah- und Mittelost-Vereins NUMOV

Page 224: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Vorstand und Beirat des Nah- und Mittelost-Vereins NUMOV

Deutsches Orient-Institut 223

Matthias Müller

Vorsitzender des Vorstandes

Porsche AG

Günther Mull

Geschäftsführer

DERMALOG Identification Systems GmbH

Erich Staake

Vorsitzender des Vorstandes

Duisport AG

Prof. Dr. Rainer Schwarz

Sprecher der Geschäftsführung

Berliner Flughäfen

Dr. Jochen Weise

Mitglied des Vorstandes

E.ON Ruhrgas AG

Dr. Monika Wulf-Mathies

Inhaberin

wulf.mathies.consult

Ehrenvorstandsmitglied, 1998 - 2005

Hans-Jürgen Wischnewski †Bundesminister / Staatsminister a.D.

Beirat des Nah- und Mittelost-Ver-

eins- NUMOV

Peter Dingens

Botschafter a.D.

Rudolf Dreßler

Botschafter a.D.

Thomas Ellerbeck

Direktor Unternehmenskommunikation und

Politik

Vodafone D2 GmbH

Dr. Henryk Frystacki

Siemens AG, a.D.

Wilfried H. Graf

Arab Bank AG, a.D.

Dr. Gabriela Guellil, Botschafterin

Islamwissenschaftlerin

Dr. Jürgen Hellner

Botschafter a.D.

Near and Middle East Consultant

Herbert Honsowitz

Botschafter a.D.

Wolfgang Kenntemich

Chefredakteur MDR

Marc Landau

Geschäftsführer

Deutsch-Türkische Industrie- und Handels-

kammer

Dr. Michael Lüders, Islamwissenschaftler

Michael Lüders Nahostberatung

Dr. Gunter Mulack

Botschafter a.D.

Direktor Deutsche Orient-Stiftung

Bernd Mützelburg

Botschafter a.D.

AAIN – Ambassadors Associates

Interntional Networking GmbH

Dr. Jürgen K. Nehls

Giesecke & Devrient a.D.

Dietmar Ossenberg

Auslandschef der ZDF Redaktion

Zweites Deutsches Fernsehen

Michael Pfeiffer

Germany Trade and Invest GmbH

Bernhard von der Planitz

Chef des Protokolls a.D.

Auswärtiges Amt

Klaus Rollenhagen

Hauptgeschäftsführer

Verband Beratender Ingenieure

Andreas von Stechow

Botschafter a.D.

Arbeitsstab Außenwirtschaftsberatung

Knut Witschel

Managing Director & Head Near & Middle

East/Africa a.D.

Deutsche Bank AG

Karl Heinz Wittek

Botschaftsrat a.D.

Page 225: Der Arabische Frühling - zu.de · einen politischen Führer, sei es Ali Abdallah Salih im Jemen, seit 1978 an der Macht, Hosni Mubarak in Ägypten, der 30 Jahre Ägyptens Präsident

Impressum

Deutsches Orient-Institut224

IMPRESSUM

Studie des Deutschen Orient-Instituts

Der „Arabische Frühling”

Auslöser, Verlauf, Ausblick

Herausgeberin:

Helene Rang

Gesamtverantwortlicher Projektleiter:

Sebastian Sons

Redaktion:

Abdurrahim Gülec

Autoren der Analysen:

Vorwort: Sebastian Sons (September 2011)

Tunesien: Samira Akrach und Tugrul von Mende (August 2011)

Ägypten: Sophie Awrege Vender (August 2011)

Libyen: Sebastian Sons (September 2011)

Algerien: Samira Akrach (September 2011)

Marokko: Samira Akrach (September 2011)

Syrien: Alexander Rieper mit Bearbeitung von Johannes Struck und Sebastian Sons (September 2011)

Libanon: Samira Akrach und Tutku Güleryüz (September 2011)

Jordanien: Benedikt van den Woldenberg (September 2011)

Irak: Katharina Schmoll (August 2011)

Palästinensische Autonomiegebiete: Matthias Canzler (September 2011)

Saudi-Arabien: Sebastian Sons (August 2011)

Jemen: Peter Schmitz (September 2011)

Bahrain: Johannes Pupke (August 2011)

Vereinigte Arabische Emirate: Denise Pinquett (September 2011)

Katar: Alina Mambrey (September 2011)

Oman: Ivo Lisitzki (August 2011)

Kuwait: Alina Mambrey (September 2011)

Türkei : Ludwig Schulz (September 2011)

Deutschland, die Europäische Union und der „Arabische Frühling”: Jan Zimmermann (September 2011)

Layout und Graphiken:

Hui Pieng Lie

[email protected]

www.deutsches-orient-institut.de

Jägerstraße 63 D - 10117 BerlinTel.: +49 (0)30-20 64 10 21 - Fax: +49 (0)30-30 64 10 29

Copyright: Deutsches Orient-InstitutAlle Rechte vorbehalten.

Es wurden keine Abbildungen, Kopien oder Übertragungen gemacht ohne Erlaubnis der Autoren.

Erscheinungsdatum: September 2011

Deutsche Orient-Stiftung/German Orient-Foundation-Deutsches Orient-Institut/German Orient-Institute-

gegründet / founded by NUMOV 1960