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DER BLAUE REITER

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Der Blaue reiter

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Der Blaue reiterim lenBachhaus mÜnchen

helmut FrieDel annegret hoBerg

Prestelmünchen london new York

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Vorwort 7

helmut Friedel 10

Wege des ›Blauen reiter‹ in das lenbachhaus

annegret hoberg 20

Der ›Blaue reiter‹ – geschichte und ideen

Bildtafeln 75

mit Kommentaren von annegret hoberg

WassilY KanDinsKY (1–39) 76

Franz marc (40 – 58) 156

gaBriele mÜnter (59–74) 196

august macKe (75 – 88) 230

roBert DelaunaY (89–90) 260

heinrich camPenDonK (91–92) 266

alexej jaWlensKY (93 –106) 272

marianne Von WereFKin (107–109) 302

alBert Bloch (110) 310

WlaDimir BurljuK (111) 314

aDriaan KorteWeg (112 –113) 318

alFreD KuBin (114 –118) 324

Paul Klee (119 –132) 336

Bibliografie 368

inhalt

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Der ›Blaue Reiter‹, jener Zusammenschluss so bedeutender Künstler wie Wassily Kandinsky, Franz Marc, Gabriele Münter, August Macke, Alexej Jawlensky und Paul Klee, hat nicht nur in der Kunststadt München einen herausragenden und folgenreichen Beitrag zur Kunst des 20. Jahr­hunderts geliefert. Die spezifische Art einer farbintensiven und expressiven Malerei von verdich­teter, abstrahierender Formensprache eröffnete durch einen ganz eigenen spirituellen Ansatz der bildenden Kunst auch international neue Ausdrucksmöglichkeiten, die von »großer Realistik« bis hin zur »Abstraktion« reichen. Der ›Blaue Reiter‹, das ist zunächst seine Vorgeschichte mit dem Zusammenfinden der Künstler zu gemeinsamem Arbeiten in München und Murnau. Dem folgte die gedrängte Zeitspanne höchster Aktivität und revolutionärer Neuerungen in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die in den beiden Ausstellungen des ›Blauen Reiter‹ 1911 und 1912 und in der Herausgabe des Almanach Der Blaue Reiter im Mai 1912 gipfelten.Der ›Blaue Reiter‹ war ein Zusammenwirken verschiedener Künstlerpersönlichkeiten auf der Basis der Vielfältigkeit. Verbin dendes Moment war das Bestreben, in der Kunst neue Formen zu finden, die es ermöglichten, eine innere Vision unmittelbar und originär zum Ausdruck zu bringen, unabhängig von jedem traditionellen Formenkanon und auch von einem »äußerlichen, modernistischen Programm von heute«, wie Kandinsky und Marc sich über die verschiedenen »Ismen« der Avantgarde auszudrücken pflegten. Mit dieser Offenheit hinsichtlich der Ausdrucks­mittel unterschied sich der ›Blaue Reiter‹ von den anderen Künstlergruppierungen der Zeit wesentlich. In seiner Offenheit liegt das Moderne, das bis heute seine Aktualität und Ak zeptanz bewahrt hat. Die Suche nach dem »Geistigen in der Kunst« war dabei ein Grund anliegen des ›Blauen Reiter‹, das zumindest Kandinsky den Weg in die Abstraktion weisen sollte.Heute sind die Werke des ›Blauen Reiter‹, und ganz besonders die Sammlung des Lenbachhauses, weltberühmt und haben für den Betrachter nichts von ihrer Wirkung eingebüßt, sondern erfreuen sich einer stetig wachsenden Beliebtheit. Die über 130 Hauptwerke, die in diesem Band in einer neu getroffenen Auswahl präsentiert werden, teilen mit ihrer Strahlkraft etwas von dem unge­heuren Selbstbewusstsein des ›Blauen Reiter‹ mit, schlichtweg die Avantgarde zu sein. Dieses Sendungs bewusstsein, das durch die überwältigende, bis in die Gegenwart andauernde Rezeption eine herausfordernde Bestätigung erhält, gehört als ein entscheidendes Element zum Wesen und Wirken dieser Künstlergruppe.Dass München mit der weltbekannten Sammlung der Städtischen Galerie im Lenbachhaus auch heute ein Zentrum für die Kunst des ›Blauen Reiter‹ ist, verdankt die Stadt der hochherzigen Stif­tung Gabriele Münters, einst Gründungsmitglied der Gruppe und bis 1914 die Lebensgefährtin Wassily Kandinskys. Anlässlich ihres 80. Geburtstags 1957 machte Münter mit der umfangreichen Kollektion von Werken des ›Blauen Reiter‹, die in ihrem Besitz verblieben waren, München die größte und bedeutendste Schenkung der jüngeren Museumsgeschichte. 1965 kam zu der be deutenden Schenkung Gabriele Münters die Bernhard und Elly Koehler Stiftung hinzu, die den Bestand des ›Blauen Reiter‹, insbesondere mit Bildern von Franz Marc und August Macke,

VorWort

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98 in diesem Band erweitert vertreten. Campendonk stieß während der entscheidenden Zeit kurz vor der ersten Ausstellung im Winter 1911/12 zu der Gruppe, als er in die unmittelbare Nachbarschaft zu seinem verehrten Künstlerfreund Franz Marc nach Sindelsdorf zog.Ferner wurden hier nun zwei Werke des Franzosen Robert Delaunay aufgenommen, der auf der 1. Ausstellung des ›Blauen Reiter‹ prominent vertreten war und nach diesem ersten Auftritt in Deutschland einen großen Einfluss auf die deutschen Künstler, besonders auf Macke, Marc und Klee, ausübte. Schließlich präsentieren wir in diesem Buch erstmals ein Werk des russischen ›Blauen Reiter‹ Wladimir Burljuk, der mit seinem Bruder David zu den »Stars« der damaligen russischen Avantgarde gehörte und enge Kontakte zu Kandinsky nach München unterhielt. Der ebenfalls neu aufgenommene ame rikanische ›Blaue Reiter‹ Albert Bloch ist mit einem in Mün­chen entstandenen Gemälde vertreten. Zum ersten Mal werden auch zwei Bilder von Adriaan Korteweg gezeigt, die seit einiger Zeit zum Sammlungsbestand des Lenbachhauses gehören: Kor­teweg war der »junge Holländer«, den Kandinsky in den geplanten, jedoch nicht realisierten zwei­ten Band des Almanach Der Blaue Reiter aufnehmen wollte.Auch der einführende Essay Der ›Blaue Reiter‹ – Geschichte und Ideen wartet mit neuen, kennt­nisreichen Einblicken auf, bei denen wir uns um eine lebendige und detailreiche Schilderung der Entstehung der Bewegung und der künstlerischen Charakteristik der beteiligten Mitglieder bemüht haben. Bislang unbekannte Fakten konnten wir aus dem scheinbar un erschöpflichen Quellenmaterial hinzufügen, das dem Lenbachhaus und der Gabriele Münter­ und Johannes Eichner­Stiftung zur Verfügung steht. Neue Erkenntnisse hatte Annegret Hoberg bereits im Zu ­sammenhang mit ihrer Arbeit an der Ausstellung Der Blaue Reiter und das Neue Bild gewinnen können, die das Lenbachhaus 1999 anlässlich des 90. Gründungsjubiläums der ›Neuen Künstler­vereinigung München‹ ausgerichtet hat. Da das Lenbachhaus auch über den größten Museums­bestand von Werken der Künstler der ›NKVM‹, wie Erbslöh, Kanoldt, Bechtejeff und Girieud, verfügt, haben wir uns entschlossen, einige der Hauptwerke dieser Künstler im Essay­Teil dieses Buches farbig abzubilden, um ihnen einen bestmöglichen Wirkungsrahmen zu geben. Ferner sind in den neuen Text auch aktuelle Erkenntnisse über das Verhältnis des ›Blauen Reiter‹ zur rus­sischen Kunstszene, zur zeitgenössischen Musik und zu den großen Avantgarde­Ausstellungen seinerzeit, wie dem ›Sonderbund‹ in Köln und dem ›Ersten Deutschen Herbstsalon‹ in Berlin, mit eingeflossen.An keinem Ort der Welt lassen sich Geschichte und Kunst des ›Blauen Reiter‹ mit einer solchen Qualität und Fülle von Werken in chronologisch dichter Abfolge studieren wie im Lenbachhaus München. Den besten Teil der Gemäldesammlung haben wir in diesem Tafelband zusammen­gefasst, der damit einen ebenso umfangreichen Überblick über die Kunst des ›Blauen Reiter‹ bietet wie die Galerie selbst. Unser Dank geht an den Prestel Verlag, der ein neu gestaltetes Buch vorgelegt hat, in dem die Kunstwerke nicht besser zur Geltung kommen könnten.

hervorragend er gänzte. Die Geschichte beider Schenkungen wird im Essay Wege des ›Blauen Reiter‹ in das Lenbachhaus ausführlich beschrieben.Ein Jahr später, 1966, wurde die Gabriele Münter­ und Johannes Eichner­Stiftung ins Leben geru­fen, die im Lenbachhaus untergebracht ist und in die der gesamte persönliche Nachlass Gabriele Münters eingegangen ist. Neben vielen Kunst werken umfasst dieser auch die schriftliche Hinter­lassenschaft von ihr und Kandinsky, Briefe, Tagebücher, Dokumente, Fotos und ihre gemeinsame Sammlung von Hinterglasbildern und Objekten der Volkskunst. Ein Bestandteil dieses Erbes ist das Münter­Haus in Murnau, das die Künstlerin in den entscheidenden Jahren des ›Blauen Reiter‹ bis 1914 mit Kandinsky bewohnte und in dem sie 1962 starb. Seit den 1970er­Jahren einem interessierten Publikum in großen Teilen zugänglich, wurde es nach einer originalgetreuen Reno­vierung 1999 als außerordentlich anziehende und authentische Kunst­ und Gedenkstätte der Öffentlichkeit neu übergeben.In den letzten Jahrzehnten hat das Lenbachhaus mit einem großen Zyklus wichtiger Ausstellun­gen, auch zu den einzelnen Künstlern des ›Blauen Reiter‹, erheblich zur öffentlichen Kenntnis­nahme, wissenschaftlichen Erforschung und künstlerischen Präsenz ihrer Werke beigetragen. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die Kunst des ›Blauen Reiter‹ nach den Jahren der Verfemung durch die Nationalsozialisten erst allmählich wieder in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrun­gen ist. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg, der einen tiefen Einschnitt in die Biografien aller beteiligten Künstler bedeutete, waren deren Werke sowie die entwicklungsgeschichtlichen Zusam­menhänge schnell wieder aus dem Blick geraten. Wassily Kandinsky, auf den der Name ›Der Blaue Reiter‹ zurückgeht, und Franz Marc sind zweifellos als die führenden Köpfe der Bewegung zu bezeichnen. Bedingt durch den Kriegstod Marcs und eine gewisse ›Heldenverehrung‹ für seine Person erlangte dessen Leistung eine stärkere Beachtung. Ähnliches gilt für Paul Klee, der in den 1920er­Jahren zum »Meister der Gegenwart« aufstieg und dessen Rolle im Kreis des ›Blauen Rei­ter‹ um 1911/12 nun in den historischen Proportionen überbewertet wurde.Die Zugehörigkeit von Alexej Jawlensky und Marianne von Werefkin zum Kreis des ›Blauen Rei­ter‹ ist weniger eindeutig. Nach der engen Zusammenarbeit mit Kandinsky und Münter in Murnau 1908 hatten sie gemeinsam mit weiteren Künstlern 1909 die ›Neue Künstlervereinigung Mün­chen‹ gegründet. Den entscheidenden Austritt aus der ›NKVM‹ nach dem Streit um ein fast gänzlich abstraktes Bild von Kandinsky und die Formierung des ›Blauen Reiter‹ Ende 1911 hatten sie jedoch nicht mitvollzogen. Doch bereits einige Monate später wurden Bilder von ihnen unter anderem in eine Tournee der Aus stellung des ›Blauen Reiter‹ integriert, die durch mehrere Städte im In­ und Ausland wanderte und bis 1914 unterwegs war.Zu dem hier vorgelegten Bestandskatalog mit einer Auswahl von Hauptwerken des ›Blauen Reiter‹ gab es bereits zwei Vorläufer­Bände im selben Verlag: 1989 herausgegeben vom damaligen Gale­riedirektor Armin Zweite, sowie im Jahr 2000 eine Neuedition mit einem neu erarbeiteten Ein­führungstext. In den aktuellen Bestandskatalog haben wir unter anderem 18 neue Tafeln mit Bild­kommentaren aufgenommen, einige ältere Tafeln ausgetauscht und mit Albert Bloch, Wladimir Burljuk und Adriaan Korteweg drei weitere Künstler mit einbezogen.Unter anderem zeigen wir Alfred Kubin mit einigen neuen Werken. Kubin, Mitglied der ersten Stunde, war als Zeichner zwar nicht in der ersten Ausstellung des ›Blauen Reiter‹ vertreten, konnte jedoch neben Paul Klee zahlreiche Blätter auf der zweiten, ausschließlich der Grafik gewidmeten Schau im Frühjahr 1912 zeigen. Auch Heinrich Campendonk ist als Künstler des ›Blauen Reiter‹

helmut FriedelDirektor der städtischen galerie im lenbachhaus

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Wege Des ›Blauen reiter‹ in Das lenBachhaus

Wassily Kandinsky und Gabriele Münter hatten von 1902 bis 1914 eine Arbeits­ und Lebens­gemeinschaft gebildet und ab 1909 gemeinsam eine Wohnung in der Ainmillerstraße  36 im Münchner Künstlerviertel Schwabing sowie das heute so genannte »Münter­Haus« in Murnau bewohnt (Abb. 1). Nach der Kriegserklärung Deutschlands an Russland am 1. August 1914 musste Kandinsky als russischer Staatsbürger und Angehöriger einer nun feindlichen Kriegspartei Deutschland innerhalb von drei Tagen verlassen. Zusammen mit Gabriele Münter emigrierte er am 3. August zunächst auf die Schweizer Seite des Bodensees, im November 1914 trennten sie sich in Zürich. Kandinsky kehrte nach einer mehrwöchigen, beschwerlichen Reise über den Balkan und Odessa in seine Heimatstadt Moskau zurück, während Münter die Wintermonate in München und Murnau verbrachte. Hier hatte sich in den Jahren zuvor der Kreis um den ›Blauen Reiter‹ gebildet, mit Künstlerfreunden wie Franz Marc, August Macke und Paul Klee und ihren Aktivi­täten wie der Publikation des Almanachs Der Blaue Reiter und den Ausstellungen 1911/12 in den Münchner Galerien Heinrich Thannhauser und Hans Goltz. Auf die Tournee der ersten Ausstel­lung durch mehrere deutsche und europäische Städte waren auch Alexej Jawlensky und Marianne von Werefkin einbezogen worden (Abb. 2).Als der Ausbruch des Krieges den überstürzten Abschied aus München notwendig machte, ließ Kandinsky praktisch seine gesamte Vorkriegsproduktion, Hunderte von Bildern seines Frühwerks bis 1907 sowie der so entscheidenden Periode des ›Blauen Reiter‹ mit der Entwicklung zur Ab straktion, dort zurück. Dazu kam eine Anzahl von Bildern der Künstlerfreunde, die diese mit ihm oder Münter als Geschenk getauscht oder voneinander erworben hatten. Auch wenn sich Kandinsky der drohenden Gefahr eines Krieges zwischen Deutschland und Russland schon seit 1912 bewusst gewesen war, kam der plötzliche Aufbruch aus München für ihn doch so über­raschend, dass er keine Zeit mehr fand, Dispositionen über den Verbleib seiner Werke zu treffen. Dass sein Weggang einen Abschied von München für immer und damit vom größten Teil des bis dahin Geschaffenen bedeutete, ahnte er nicht.Johannes Eichner, der zweite Lebensgefährte Gabriele Münters, schilderte in seinem Buch Kandinsky und Gabriele Münter. Von Ursprüngen moderner Kunst 1957 detailliert die Vorgänge von 1914: »Vom Kriegsausbruch 1914 wurden Kandinsky und Gabriele Münter in Murnau über­rascht, wo sie den Sommer verbracht hatten. Am 1. August fuhren sie nach München, am 3. in überfülltem Zug nach Lindau […]. Am 4. setzten sie nach Rorschach über, und am 6. kamen sie nach Mariahalde bei Goldach am Bodensee, dem leeren Landhaus ihrer Wirtin in München. Hier, wo sie sich erst mit gemieteten Möbeln dürftig einrichten mussten, war es unbehaglich. An Arbei­ten war nicht zu denken. Kandinsky verbrachte die Zeit mit Nachdenken über Fragen, die sich lange danach, 1926, in der Schrift Punkt und Linie zu Fläche darstellten.« »Am 16. November zogen sie nach Zürich, und am 25. verabschiedete sich Kandinsky, um seine Verwandten, die einen vergeblichen Versuch gemacht hatten, Russland zu erreichen, nach Hause zu führen. Sie befanden sich in einem Zug von etwa 200 Flüchtlingen, die das gleiche Ziel hatten, und für die Kandinsky

helmut Friedel

der Anführer war. Sie reisten nach Brindisi, erwischten Luxuskabinen auf einem Dampfer nach Saloniki, blieben dort sechs Tage liegen, da Partisanen eine Brücke gesprengt hatten, und schoben sich dann eine Woche lang über Üsküb, Nisch, Sofia, Bukarest, mit zehnmaligem Umsteigen […] durch den Balkan, und kamen am 12. Dezember in Odessa an. Kandinsky war völlig erschöpft. In Mariahalde hatte er Gabriele Münter bevollmächtigt, die Münchener Wohnung aufzulösen, und hatte ihr erklärt, dass er künftig nicht wieder mit ihr gemeinsam wohnen, sondern sie bloß hin und wieder besuchen würde. Die Eheschließung versprach er ihr hoch und heilig. Münter verweilte noch etwas in Zürich, fuhr dann am 16.1.1915 nach München, löste die Wohnung auf, verstaute alle Sachen und Werke bei einem Spediteur, reiste über Berlin und Kopenhagen nach Stockholm, wo sie am 18. Juli eintraf, und wartete auf Kandinsky, der versprochen hatte, im Sommer hinzu­kommen.«Die gleiche Situation des Kriegsausbruchs und die dadurch verursachte Emigration Kandinskys stellt Nina Kandinsky 1976 in ihren Erinnerungen Kandinsky und ich hinsichtlich des Verbleibs der Kunstwerke etwas abweichend, jedoch nicht grundsätzlich verschieden von Eichner, dar: »Als im Jahre 1914 der Krieg ausbrach, wurde Kandinsky als russischer Staatsbürger gezwungen, München innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu verlassen. Er tat dies schweren Herzens und empfand die übereilte Ausweisung als große Härte. […] Kriegsausbruch und Ausweisung kamen für Kandinsky völlig überraschend. […] das schlimmste aber war für ihn, dass er seine bis dahin geschaffenen Bilder nicht mitnehmen konnte. Die Trennung von seinen Werken war für ihn noch schmerzlicher als der Abschied von München. Dennoch war Kandinsky optimistisch. Fest ver­traute er darauf, dass sich die kriegführenden Parteien schnell wieder aussöhnen würden, dass der Krieg also kaum von langer Dauer sein könne. Und da er überzeugt war, in kurzer Zeit wieder in München zu sein, gab er seinen gesamten Besitz samt Bilder zur vorübergehenden Aufbewahrung in ein Münchner Depot. Keinen Moment dachte er daran, sich seine Habe nachschicken zu las­sen. Das war, wie sich später herausstellte, ein schlimmer Fehler. Der größte Teil seines Münch­ner Eigentums und die meisten seiner Bilder waren damit endgültig für ihn verloren.«Fest steht, dass es Gabriele Münter war, die sich bis Mai 1915 um die Einlagerung der Kunstwerke sowie des gesamten Inventars aus der Wohnung in der Ainmillerstraße, einschließlich der Möbel und Sammlung an Kunstgewerbe, kümmerte, die sie auf zwei Lager der Firma Gondrand in Mün­chen bringen ließ. Einige wenige, aber bedeutende Werke stellte sie auch bei Freunden unter, so

1

Wassily Kandinsky vor seinem gemälde Kleine

Freuden in der ainmiller-straße 36, münchen, 1913

Foto: gabriele münter- und johannes eichner-

stiftung, münchen

2

gabriele münter, maria marc, Bernhard Koehler,

thomas von hartmann, heinrich campendonk,

vorn sitzend: Franz marc, auf dem Balkon der ainmillerstraße 36, münchen, 1911/12

Foto: gabriele münter- und johannes eichner-

stiftung, münchen

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bei Paul und Lily Klee. Denn zu diesem Zeitpunkt löste sie die Münchner Wohnung komplett auf, verschloss auch das Haus in Murnau und reiste, wie von Eichner beschrieben, nach Stockholm, um Kandinsky im neutralen Ausland wiedertreffen zu können. Am 23. Mai 1915 schrieb Münter aus München an Maria Marc, die sie zu sich nach Ried bei Kochel eingeladen hatte, während Franz Marc an der französischen Front stand: »Ich hatte keine Ruhe noch nach Ried zu kommen. Obgleich es geradezu himmlisch schön war in Murnau bin ich so schnell ich nur konnte wieder hierher gekommen – Räumen Räumen Packen Packen – Ende der Woche kommen die Möbel zum Spediteur und ich fahre zuerst nach Berlin. Dann voraussichtlich Stockholm – oder zuerst Kopenhagen, wenn ich Zeit habe bis Kandinsky kommt. Bekam heute Telegramm – wenigstens daß er gesund ist weiß ich jetzt. Ich sende Ihnen für Sie beide herzliche Grüße und gute Wünsche, Ihre G. Münter.« Es sollte noch über ein halbes Jahr dauern, bevor Kandinsky im Dezember 1915 von Moskau aus ebenfalls nach Stockholm kam. Hier trafen Münter und er ein letztes Mal für drei Monate zusammen, bevor er am 16. März 1916 nach Russland zurückkehrte; sie sollten sich nie wieder sehen (Abb. 3). Zuvor hatte er vorgeschlagen, wie bei Eichner beschrieben und wie sich auch aus dem Briefwechsel zwischen beiden seit 1914 ablesen lässt, künftig getrennt zu leben, ihr jedoch die immer dringlicher eingeforderte Eheschließung in Aussicht gestellt. Kandinsky aber brach den Kontakt ab und heiratete im Februar 1917 in Moskau eine junge Russin, Nina Andrejewskaja. Münter blieb noch fast vier weitere Jahre in Skandinavien, zunächst in Stockholm, bevor sie Ende 1917 nach Kopenhagen übersiedelte und in den beiden folgenden Sommern Mal­unterricht auf Bornholm anzubieten versuchte, um ihre schwierige finanzielle Lage zu verbessern. Erst im Februar 1920 kehrte sie nach Deutschland und über Berlin nach München und Murnau zurück.Am 18. Mai 1920 wurde eine neue Bestandsliste für das Bilderlager der Firma Gondrand in der Schwanthaler Straße angelegt, die allein für die Arbeiten Kandinskys insgesamt 101 Nummern um fasste. Darunter waren heute hoch berühmte Gemälde wie Impression III (Konzert) und Romantische Landschaft von 1911, Improvisation 26 (Rudern) von 1912 sowie eine größere Anzahl von Ölstudien aus den Murnauer Jahren. Neben den im »Russenhaus« in Murnau und in beiden Lagern von Gondrand befindlichen Bildern hatte Kandinsky 1914 in Deutschland noch ein weite­res größeres Konvolut an Werken bei dem Galeristen Herwarth Walden zurückgelassen, die auf seiner ersten großen Einzelausstellung gezeigt worden waren. Letzte Station dieser im März 1912 in der Galerie ›Der Sturm‹ in Berlin eröffneten Ausstellung war vor Ausbruch des Krieges von Juni bis Juli 1914 Göteborg gewesen. Die meisten der in Schweden ausgestellten Bilder wanderten nach der Ausstellung in Helsinki 1917 nach Petrograd (St. Petersburg) und Moskau. Elf der Zeich­nungen Kandinskys, die während des gemeinsamen Aufenthaltes in Stockholm 1915/16 entstanden waren, sind wiederum im Besitz von Gabriele Münter geblieben, ebenso einige Aquarelle und Radierungen. Sie sollten Jahrzehnte später ebenfalls in den großen Bestand der Schenkung Münters an das Lenbachhaus eingehen.

»Ich will tot sein, für Deutschland und für Gabriele Münter«, schrieb Kandinsky im Herbst 1918 aus Moskau an den Galeristen Herwarth Walden in Berlin. Münter wähnte ihn tatsächlich tot oder in den Kriegs­ und Revolutionswirren verschollen, erst als Kandinsky Ende 1921 mit seiner Frau auf den Ruf von Walter Gropius hin aus der Sowjetunion nach Deutschland zurückkam, um im folgenden Jahr seine Stellung als Lehrer am Bauhaus in Weimar anzutreten, erfuhr Münter über einen Mittelsmann, den jungen, zwischen Deutschland und Russland pendelnden Maler Ludwig Baehr, dass ihr früherer Gefährte noch lebte und zudem verheiratet war. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland reklamierte Kandinsky sein bei Münter verbliebenes Eigentum. Zu Beginn der Auseinandersetzung wurde Baehr, der sich im Auftrag Kandinskys an Münter gewandt hatte, um sie nach dem Verbleib von dessen Bildern zu befragen, zum Vermittler. Doch die Auseinander­setzung gestaltete sich sehr bald schwierig, weil sie in erster Linie geprägt war von der tiefen Enttäuschung und Verletzung, die Münter empfunden haben musste, als Kandinsky mit einer neuen Frau aus Russland zurückkehrte. Sie wollte Rehabilitation auf der ganzen Linie. Als einzige

»legitime« Frau Kandinskys sollte ihr »Mann« zahlen oder ihr für die ihr angetane Schmach seinen Besitz überlassen.Die bald darauf im Jahr 1922 beginnende juristische Auseinandersetzung zwischen Münter und Kandinsky ging deshalb nur äußerlich um das in München und Murnau bei Kriegsausbruch zurückgelassene Werk und das sonstige Eigentum Kandinskys, sondern für sie um eine moralische Wiedergutmachung für das nicht eingelöste Eheversprechen. Ihre Grundforderung formulierte Gabriele Münter in einem Briefentwurf ohne Datum folgendermaßen: »Ich meine, da K. seine Pflichten u. sein früheres Leben vergessen und [im] Stich gelassen hat so soll er mir Witwenrente geben – da er ja ausgesprochen hat, er wolle tot sein für mich u. für Deutschland. Er soll mir ein­fach alles, was zu unserem Leben gehört hat mit allen Rechten vermachen u. es mir überlassen, was ich ihm davon geben will.« Nach den Vermittlungsbemühungen von Ludwig Baehr übernahm

3

Wassily Kandinsky und gabriele münter

in stockholm, 1916Foto: gabriele münter- und johannes eichner-

stiftung, münchen

der Rechtsanwalt Julius Siegel den Fall. Er stand mit Münter und Kandinsky in freundschaftlicher Beziehung, verstand sich als Anwalt aber ganz klar als Vertreter der Interessen Münters. Mit sei­ner Tochter hatte Münter schon vor dem Krieg in Kontakt gestanden und hatte sie porträtiert. Mit deren Mann Franz Stadler, Kunsthistoriker an der Universität Zürich und Schüler Heinrich Wölff­lins, war Kandinsky seit 1911 gut befreundet.Im Bemühen um eine gütliche Einigung unterbreitete Kandinsky im Mai 1923 den seinem Stand­punkt zufolge großzügigen Vorschlag: »Meine Bilder und sonstige Arbeiten: ich überlasse Frau Münter 1/3 dieser sämtl. Sachen – aus jeder Periode 1/3 quantitativ und qualitativ. Darunter ver­stehen sich die Arbeiten bis Ende 1914. Frau Münter möchte eine Liste der sämtl. Arbeiten mit Titel­Nummern­ und Jahresangaben aufstellen lassen und selbst die der von ihr gewünschten Arbeiten mit genaueren Angaben Ihnen überreichen.« Diesen Lösungsvorschlag wies Münter als lächerlich zurück, als »unwesentlich und kleinlich«. Mit dieser Reaktion Münters verstrich

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schließlich eine Möglichkeit der Einigung bereits im Jahre 1923, sodass weiterhin um die in Mün­chen verbliebenen Werke Kandinskys gerungen wurde.Nach über zwei weiteren Jahren erbitterten Rechtsstreits, in dem es auch um die Aufteilung des Hausrats und die Bezahlung der Lagerkosten für die Speditionsfirma ging, die sich mittlerweile von Gondrand in ATGE umbenannt hatte, erhielt Kandinsky im Juni 1926 einen Teil seiner per­sönlichen Gegenstände zurück. Zu dieser Zeit war das Ehepaar Kandinsky bereits mit dem Bau­haus von Weimar nach Dessau übergesiedelt (Abb. 4) und wohnte in einem der von Gropius errichteten ›Meisterhäuser‹ Tür an Tür mit Paul und Lily Klee. Dazu berichtet Nina Kandinsky in ihren Erinnerungen: »Endlich bekam er nun auch einen Teil seiner persönlichen Habe aus Mün­chen zurück. Es waren insgesamt 26 Kisten. Erstaunlicherweise waren die Sachen nach so langer Zeit noch in sehr gutem Zustand. Das Auspacken beschäftigte uns einige Wochen. 5 Bilder förder­ten wir zutage. Küchengeräte und Wäsche waren in Koffern verpackt. In einem der Wäschekoffer fanden wir auch eine Mappe mit Aquarellen: ein unschätzbarer Fund. Die Möbel für den Salon stammten noch aus Moskau. Die Ateliereinrichtung hatte Kandinsky sich in München gekauft.«Zu diesem Zeitpunkt hatte Julius Siegel sein Mandat längst aufgegeben. Als der Syndikus des Reichswirtschaftsverbandes der Bildenden Künstler Deutschlands, Dr. Kodlin, von Münter neu eingeschaltet wurde, kam es noch einmal zu einer Verschärfung des Konflikts. Denn stammten die bisherigen Vermittler immerhin noch aus dem Freundeskreis, und hatte Siegel noch einen Mittel­weg gewählt zwischen offiziellem Kanzleiton und persönlichen Ratschlägen im Bemühen um Schlichtung, so veränderte sich nun mit Kodlins Briefen der Tonfall. Kandinsky fürchtete zu Recht, dass es doch noch zu einem gerichtlichen Verfahren kommen könnte. Münter dachte tat­sächlich immer noch über einen Prozess gegen ihn nach. Sie hätte ihn wegen der Lagerkosten verklagen können. So zog sich die rechtliche Anerkennung der Schlussformulierung auch noch von Ende 1925 bis zum April 1926 hin. Erst die am 2. April 1926 unterschriebene Erklärung Kandinskys nahm Münter an. Sie lautet: »Ich anerkenne hiermit, dass Frau Gabriele Münter­Kandinsky volles, bedingungsloses Eigentumsrecht an allen Arbeiten hat, die ich bei ihr zurück­gelassen habe. Dessau, den 2. April 1926.« Die Nennung des juristisch nicht legitimierten, jedoch von ihr aufgrund des einstigen Eheversprechens immer wieder reklamierten Doppelnamens

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Wassily und nina Kandinsky im esszimmer ihres ›meisterhauses‹ in Dessau, 1927Foto: Bibliothèque Kandinsky, centre georges Pompidou, Paris

»Münter­Kandinsky« in diesem Dokument zeigt nochmals, dass es ihr neben der materiellen Ent­schädigung mindestens ebenso sehr um die Bestätigung gegangen war, die »einzige Frau Kan­dinsky« zu sein. Bei allem Hin und Her und trotz der Abgabe der Bilder, die an Kandinsky gin­gen – die genauen Listen der Kunstwerke sind im Ausstellungskatalog Wassily Kandinsky. Das bunte Leben (1995) des Lenbachhauses ausführlich dokumentiert –, befand sich am Ende dieser »Scheidungsauseinandersetzung« der bedeutendste Bestand an Bildern, Aquarellen, Zeichnun­gen, Drucken, Hinterglasbildern und des schriftlichen Nachlasses aus seiner Münchner Zeit bei seiner früheren Gefährtin. Gabriele Münter hat schließlich bis auf äußerst wenige Ausnahmen alle Hinterglasbilder Kandinskys erhalten, außerdem von allen seinen existierenden Ölgemälden aus der Zeit bis 1908 fast die Hälfte aller Werke: von den 259 Titeln des Werkverzeichnisses immerhin 114. Von den Ölbildern, die zwischen 1909 und 1914 entstanden waren, etwa ein Viertel, das heißt 62 von insgesamt 244 Arbeiten. Aus dieser sehr großen Anzahl, insbesondere der frühen Ölstudien vor 1907, sind nicht alle Werke in die Gabriele Münter Stiftung 1957 an das Lenbachhaus in Mün­chen eingeflossen. Ein kleiner Teil davon ging in die Gabriele Münter­ und Johannes Eichner­Stiftung ein, doch davon wird am Schluss dieses Artikels noch die Rede sein.»Ich habe Kandinsky gegenüber das getan, was das Richtige war. Ich habe ihm seinen Platz in München gegeben«, sollte Münter am 21. April 1957 an die Familie Goltz schreiben. Nach der mühseligen »Scheidungsauseinandersetzung« zwischen Kandinsky und Münter 1922 bis 1926 folgte in den 1930er­Jahren eine Periode des Rückzugs und des Verbergens dieses so bedeutenden künstlerischen Schatzes. Münter war nach fast einem Jahrzehnt des unsteten Wanderlebens, unter

5

gabriele münter vor der städtischen galerie im

lenbachhaus, münchen, 1936

Foto: gabriele münter- und johannes eichner-

stiftung, münchen

6

Werke Kandinskys in der ausstellung

entartete Kunst, münchen, 1937

anderem in Köln, Elmau, Thüringen und Berlin, 1930 wieder dauerhaft in ihrem Haus in Murnau sesshaft geworden. Einige Jahre später siedelte auch ihr zweiter Lebensgefährte Johannes Eich­ner, den sie Silvester 1927 in Berlin kennengelernt hatte, vollständig nach Murnau über. Als Anfang der 1930er­Jahre die Verfolgungen der modernen Kunst durch die Nationalsozialisten immer bedrohlicher wurden, entschloss sich Gabriele Münter, die die Kunstszene aufmerksam beobachtete und sich auch regelmäßig in München aufhielt (Abb. 5), die Lager in München auf­zulösen und den gesamten Bilderbestand in ihr Haus nach Murnau verbringen zu lassen. Ihren kostbaren Bilderschatz, zu dem zahlreiche Werke ihrer eigenen Hand aus der expressionistischen Periode hinzukamen, verbarg sie fortan im heute so genannten »Millionenkeller«, einem Depot­raum des Murnauer Münter­Hauses. Kaum jemand durfte genauere Kenntnis davon haben, was sich in diesem Haus in Murnau verbarg, während 1937 in München in der Ausstellung Entartete Kunst, die Münter übrigens besucht hat, gerade auch Werke Kandinskys der Diffamierung preis­gegeben wurden (Abb. 6). Im Keller des Murnauer Hauses blieben die Werke über mehr als

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25  Jahre unentdeckt beieinander, auch Johannes Eichner hielt sich ganz im Sinne Münters an Verschwiegenheit, und selbst Verkäufe, etwa ins Ausland, erwog das Paar trotz großer materieller Einschränkungen insbesondere während des Krieges nicht.Erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung vom Naziterror konnte sich wieder ein Interesse an Kunst der einstigen Avantgarde öffentlich artikulieren. Damals setzte sich Hans Konrad Roethel, von 1945 bis 1949 Kurator am »Central Collecting Point« in München, später Kurator in den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen und seit Anfang 1957 Direktor der Städti­schen Galerie im Lenbachhaus, mit der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts auseinander. Münter wurde 1949 im Haus der Kunst erstmals wieder in der bedeutenden, von Ludwig Grote organisierten Ausstellung Der Blaue Reiter, die die Kunst dieser Epoche nach dem Zweiten Welt­krieg und dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus wieder rehabilitierte, mit neun Ge ­mälden gezeigt. Sie selbst nahm, wie andere Überlebende aus dem Kreis des ›Blauen Reiter‹, etwa Maria Marc und Elisabeth Erdmann­Macke, an der Eröffnung teil (Abb. 7).Im »Central Collecting Point« folgte dann, kurz nach ihrem 75. Geburtstag, im Mai 1952 eine Aus­stellung mit dem Titel Gabriele Münter – Werke aus fünf Jahrzehnten, zu der Johannes Eichner

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gabriele münter und johannes eichner auf der eröffnung der ausstellung Der Blaue reiter, münchen 1949Foto: gabriele münter- und johannes eichner-stiftung, münchen

den Katalog schrieb. Im Zusammenhang mit der Vorbereitung dieser Ausstellung kamen Münter und Roethel in persönlichen Kontakt. Schon ein paar Monate zuvor, beginnend am 20. Dezember 1951, hatte sich ein kurzer Briefwechsel zwischen beiden ergeben, in dem Roethel sie um Aus­kunft zu Kandinskys Biografie bat. Am 8. April 1952 kam es zu einer ersten Begegnung zwischen Roethel und Münters Lebensgefährten Eichner (Abb. 8). Später entwickelte sich eine Freund­schaft zwischen beiden. »Wann immer Eichner aus Murnau nach München kam, benutzte er Roethels Büro in den Staatsgemäldesammlungen als Ruheraum während der Mittagspause, frei­lich nicht nur, um sich zu erholen, sondern um vor allem Zeitschriften, Kataloge und Bücher anzusehen, die für seine eigenen Untersuchungen über Leben und Werk Kandinskys und Münters wichtig waren«, so Armin Zweite in der Ansprache anlässlich einer Gedenkveranstaltung für Hans Konrad Roethel 1982. Während der Vorbereitungen für die Ausstellung Kandinsky, Marc und Münter 1954 in der Galerie Stangl in München, für die Roethel das Katalog­Vorwort verfasste, vertiefte sich die freundschaftliche Beziehung zwischen Münter und ihm. Am 19. Dezember 1954 kam es zu einem ersten Besuch Roethels bei Gabriele Münter in Murnau. Münter hielt in ihrem Tagebuch fest: »Halb 11 kam Dr. Röthel […] die Herren waren erst unten Ei[chner] zeigte paar

k.[andinsky]bilder, dann oben – Bilder sehen, nett gesprochen […] sympathisch.« Mit einem Brief vom Februar 1955 an Münter verband Roethel  – gleichsam prophetisch  – mit Geburtstags­glückwünschen den Wunsch, dass ihr Werk »immer weiteren Kreisen zugänglich gemacht werden möchte«.Es dauerte jedoch noch fast zwei weitere Jahre, bis Roethel im Oktober 1956, kurze Zeit später Direktor der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, erstmals im Murnauer Keller die dort be ­findliche Sammlung aller Kandinsky­ und Münter­Bilder und diejenigen weiterer Künstlerfreunde sehen durfte. Dann jedoch ging alles sehr schnell. Bereits am 23. November des gleichen Jahres notierte Münter wiederum in ihrem Tagebuch: »gestern. […] gr. Möbelwagen mit 5  Mann u. Dr. Röthel u. Polizei holten alle K.[andinsky]bilder u. etwa 30 Mü.[nter]bilder. Röthel aß mit. Sel­leriescheiben, Vanillepudding. Wermuth.« So war Hans Konrad Roethel als Sieger aus einer Bemü­hung um diesen Bilderschatz hervorgegangen, um den sich der Galerist Otto Stangl wie auch die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen bemüht hatten. Dass vor Roethel bereits sein Amtsvorgän­ger Arthur Rümann vom Lenbachhaus den Kontakt zu Münter gesucht hatte, geht aus einem Brief hervor, den Eichner an Munsing, den Direktor des »Central Collecting Point«, am 1. Dezember

1951 schrieb. Damals jedoch herrschten bei Münter und Eichner unter anderem noch Bedenken wegen des baulichen Zustands der im Zweiten Weltkrieg stark zerstörten Galerie vor.Hingegen hatte sich die Situation der Städtischen Galerie im Lenbachhaus bis 1956/57 so weit ver­ändert, dass Münter gegenüber Otto Stangl am 2. Februar 1957 die Entscheidung für ihre unschätz­bare Schenkung mit recht trockenen Worten wie folgt beschrieb: »Wir hatten früher an die Baye­rischen Staatsgemäldesammlungen gedacht, die aber wohl noch für ein Jahrzehnt nicht den Platz für die Sammlung haben. […] Erst als Dr. Röthel zum Direktor bestimmt war, erfuhr Dr. Eichner, als er ihn im Haus der Kulturinstitute aufsuchte, um ihm zu gratulieren, durch ihn von den Umbau­ten der Galerie. Dann ging alles sehr schnell. Zum ersten Mal ließen wir ihn einen Blick in die K­Sammlung tun. Dann wurde die Schenkungsurkunde ausgearbeitet und der Abtransport durch­geführt. Die ganze Sache ging sehr unpersönlich vor sich. Dass Dr. Röthel obendrein die rechte Persönlichkeit ist, um der Sammlung das rechte Relief zu geben – welch ein Glück!«Dass Hans Konrad Roethel (Abb. 9) durchaus in Abstimmung mit Eichner und Münter den gesam­ten Bestand, der in Murnau aufbewahrt wurde, kritisch sichtete und eine entsprechende Auswahl traf, kennzeichnet die Sammlung des Lenbachhauses noch heute. Arbeiten, die seinen strengen

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johannes eichner, murnau, um 1952Foto: gabriele münter- und johannes eichner-stiftung, münchen

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Maßstäben nicht voll entsprachen, nahm er aus der Gabriele Münter Stiftung heraus. Damit wurde das Profil der heute im Lenbachhaus vorhandenen Kollektion festgelegt. Die gesamte Schenkung Münters, die sie anlässlich ihres 80. Geburtstags im Februar 1957 an die Städtische Galerie gab, umfasste von der Hand Kandinskys 88 Gemälde, 24 Hinterglasbilder, 116 Aquarelle und Tempera­Blätter, 160 Handzeichnungen, 28 Skizzen­ und Notizbücher und fast das gesamte druckgrafische Werk. Dazu schenkte Münter (Abb. 10) 25 Gemälde von ihrer eigenen Hand sowie ihr gesamtes druckgrafisches Werk, ferner eine Anzahl von Aquarellen, Zeichnungen, Hinterglasbildern und Skizzenbücher. Hinzu kamen noch Werke der Künstlerfreunde wie Alexej Jawlensky, Marianne von Werefkin, Franz Marc und Alfred Kubin. Diese Kunstwerke der sogenannten Gabriele Mün­ter Stiftung von 1957 wurden in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus unter einem eigenen, entsprechenden Inventar­Kürzel »GMS« verzeichnet und umfassen über 1000 Nummern.Weitere zahlreiche Werke von Münters Hand sowie ihr gesamtes schriftliches und fotografisches Archiv gingen in die Gabriele Münter­ und Johannes Eichner­Stiftung ein, die auf testamen­tarische Verfügung Gabriele Münters hin mit der Absicht zur Förderung moderner Kunst gegrün­det und 1966 rechtsfähig geworden war.

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hans Konrad roethel, 1965Foto: städtische galerie im lenbach-haus, münchen, archiv

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gabriele münter, murnau, 1957Foto: gabriele münter- und johannes eichner-stiftung, münchenFoto: gabriele von arnim

Mit dem Erlös, den Münter aus dem Verkauf von weiteren Kandinsky­ und Münter­Bildern aus ihrem Besitz erzielt hatte, wurden Werke von achtzehn verschiedenen Künstlern für die Städti­sche Galerie erworben, darunter schwerpunktmäßig Paul Klee, Franz Marc, Wassily Kandinsky, Alfred Kubin und Alexej Jawlensky, immerhin über 100 Werke, mit denen aus einer Kandinsky­ und Münter­Sammlung der wesentliche Grundstock für die Sammlung des ›Blauen Reiter‹ gelegt wurde. Münter konnte noch eine Reihe von bis um 1961 getätigten Ankäufen selbst verfolgen, sie starb 1962 in ihrem Haus in Murnau, ihr Gefährte Johannes Eichner war ihr bereits 1958 voraus­gegangen. In beispielloser Verbundenheit hatte sie trotz der schmerzlichen Trennung von Kan­dinsky bereits zu Ende des ›Blauen Reiter‹ 1914 besonders sein Werk durch alle Wechsel der Zeitläufte bewahrt und ihm am Ende nicht nur »seinen Platz in München gegeben«, sondern ihn der ganzen Welt geschenkt.Roethels Bemühungen wurden einige Jahre später noch dadurch gekrönt, dass es ihm gelang, die verbliebenen Werke der Sammlung Bernhard Koehler mit bedeutenden, heute hochberühmten Bildern von Franz Marc und August Macke sowie von Alexej Jawlensky und Jean­Bloé Niestlé

für das Lenbachhaus zu sichern. Bernhard Koehler sen. war der Onkel von August Mackes Frau Elisabeth und der bedeutendste Mäzen des ›Blauen Reiter‹, der unter anderem zahlreiche Bilder der von ihm besonders geförderten Freunde Macke und Marc besaß, darunter Promenade, Hut­laden von Macke und Marcs Blaues Pferd I. »1965 konnte Roethel für München und dieses Mu ­seum die Bernhard Koehler­Stiftung entgegennehmen. Bernhard Koehler sen. (1849 –1927) hatte 1876 in Berlin die Mechanischen Werkstätten gegründet, denen eine Stempelfabrik, eine Gravur­ und Prägeanstalt sowie eine Metallwarenfabrik angeschlossen waren. August Macke, der mit einer Nichte Koehlers verheiratet war, öffnete diesem Unternehmer die Augen für die moderne Kunst, so dass in kurzer Zeit eine der bedeutendsten Sammlungen zeitgenössischer Malerei entstand. Cézanne, van Gogh, Bonnard, Gauguin, Matisse, Degas, Chagall, Delaunay, Picasso waren ebenso glänzend vertreten wie Marc, Kandinsky, Hodler, Munch, Heckel, Nolde, Kirchner, Klee, Münter, Jawlensky usw.« Nach dem Tod seines Vaters trat Bernhard Koehler jun. (Abb. 11) dessen Erbe an. »1945 ging der größte Teil dieser erstaunlich reichen Sammlungen bei Bombenangriffen verloren. Nur ein kleiner Komplex war auf Drängen von Franz Resch ausgelagert worden, vor allem nach Ried bei Benediktbeuern und Obersdorf. Bernhard Koehler jun. (1882 –1964) hat die Reste der Sammlung zusammengehalten, und 1965 übereignete Elly Koehler der Städtischen Galerie wich­tige Werke von Jawlensky, Macke, Marc und Niestlé. Auch das eine Sternstunde in der Geschichte dieses Museums, denn durch diesen Zuwachs rundete sich die Sammlung entschieden ab« (Armin Zweite 1982) (Abb. 12). An dieser Stelle sei ebenfalls dankbar an die Vermittlertätigkeit des Münchner Galeristen Franz Resch erinnert.Wir haben Gabriele Münter, unterstützt von Johannes Eichner, und später gefolgt von Elly und Bernhard Koehler jun., eine der bedeutendsten Schenkungen in der jüngeren Museumsgeschichte zu verdanken. Armin Zweite, der langjährige Nachfolger von Hans Konrad Roethel, hat in seiner Amtszeit von 1974 bis 1990 die Abteilung des ›Blauen Reiter‹ insbesondere durch substanzielle Ankäufe von Gemälden Paul Klees erweitert. Damit reagierte er auf eine Lücke in den bisherigen umfang reichen Schenkungsbeständen, die er mit bedeutenden Erwerbungen wie Klees Rosen­garten, Zerstörter Ort, Waldbeere, rhythmisches strenger und freier, Rausch und dem zentralen Werk Botanisches Theater ergänzen konnte. Dazu gelangen ihm Ankäufe wie Wassily Kandinskys großes Gemälde Roter Fleck II von 1921 und das herausragende Spätwerk Vögel von Franz Marc. Wir haben die Erwerbungstätigkeit unserer Vorgänger im Rahmen der Möglichkeiten heutiger Kunstmarktpreise fortgesetzt, so konnte die Sammlung neben Werken von Künstlern wie Adolf Erbslöh, Alexander Kanoldt, Pierre­Paul Girieud, Albert Bloch, Erma Bossi, Georgia O’Keeffe und Adriaan Korteweg auch durch die Erwerbung von Marcs Aquarellstudie Mandrill, von Kan­dinskys Zubovsky Platz und zuletzt des großen Bildes Im Zimmer von Gabriele Münter bereichert werden.

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Bernhard Koehler jun., um 1965

Foto: städtische galerie im lenbach-

haus, münchen, archiv

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elly Koehler und hans Konrad roethel, 1965

Foto: städtische galerie im lenbach-

haus, münchen, archiv

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Der ›Blaue reiter‹ – geschichte unD iDeen

Der Künstlerkreis des ›Blauen Reiter‹, der sich nach längerer Vorgeschichte 1911 in München zusammenschloss, ist neben der 1905 in Dresden gegründeten Gruppe ›Brücke‹ die wichtigste künstlerische Erneuerungsbewegung des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Während die Mitglieder der ›Brücke‹ bis zu ihrer Übersiedlung nach Berlin 1911 eine enge Kunst­ und Lebensgemeinschaft bildeten und einen einheitlichen Stil des figürlichen Expressionismus entwickelten, war der Kreis des ›Blauen Reiter‹ eine eher lose Vereinigung von Künstlern unterschiedlicher Ausprägung. Ange­führt von den beiden zentralen Persönlichkeiten Wassily Kandinsky und Franz Marc, bestanden die Hauptaktivitäten des ›Blauen Reiter‹ aus den 1911 und 1912 gemeinsam organisierten Ausstellun­gen sowie der Herausgabe des 1912 erschienenen, berühmt gewordenen Almanach Der Blaue Reiter. Diese mit einem fast visionären Enthusiasmus erarbeitete Publikation hat als ein sprechen­des Dokument die Bestrebungen des Künstlerkreises in heute immer noch lebendiger Form bewahrt. Im Almanach Der Blaue Reiter, wie auch in vielen anderen schriftlichen Äußerungen Kan­dinskys und seiner Mitstreiter, wird unter anderem die Idee von der »inneren Notwendigkeit« des wahren Kunstwerks entwickelt, die in ganz unterschiedlichen Formen und Stilen ihren Ausdruck finden könne. Bereits mit dieser zentralen Idee des ›eigentlich Künstlerischen‹ wird der Pluralismus des ›Blauen Reiter‹ verständlich, der eine ausgesuchte Bandbreite formaler Darstellungsweisen nebeneinander gelten ließ, etwa den ›naiven‹ Realismus eines Henri Rousseau, die farbenpräch­tigen, stilisierten Landschaften und Porträts Gabriele Münters und Alexej Jawlenskys, den Orphis­mus Robert Delaunays, die fantastischen Zeichnungen Alfred Kubins, die vergeistigten Tierdarstel­lungen Franz Marcs oder die abstrakten Kompositionen Wassily Kandinskys. Darüber hinaus war dieser Ansatz des ›Blauen Reiter‹ konsequent offen für die Einbeziehung anderer Künste, insbeson­dere der Musik, aber auch für Äußerungen bildender Kunst außerhalb der »Hochkunst«, wie die der Kinder, Amateure, auch Geisteskranken, der Volkskunst und der Kunst sogenannter »primitiver« Völker außereuropäischer Regionen, die durch die künstlerische Avantgarde nach der Jahrhundert­wende erstmals eine Aufwertung erfuhren. Zudem weist der an vielen Stellen verkündete Anspruch, »Geistiges« in der Kunst Gestalt werden zu lassen, auf den besonderen, spirituellen Charakter des ›Blauen Reiter‹ als zweiter wichtiger Bewegung des deutschen Expressionismus hin, der ihn von anderen Avantgarde­Strömungen, etwa dem Kubismus oder Futurismus, dezidiert unterscheidet und der letztlich in Kandinskys revolutionären Schritt zur gegenstandslosen Malerei mündete.

Die Kunststadt münchen

Diese Entwicklung war nur möglich durch eine Reihe von künstlerischen und theoretischen Vor­aussetzungen, die sich im fruchtbaren Klima um die Jahrhundertwende verdichteten, und natür­lich durch die Begegnung der verschiedenen Künstlerpersönlichkeiten in jenen Jahren in Mün­chen, die die große Neuerung des ›Blauen Reiter‹ vorbereitet oder mitgetragen haben. Münchens

annegret hoberg

damaliger Ruf als Kunststadt hatte sie alle angezogen, sie war damit gleichsam ein Katalysator für die Anfänge des ›Blauen Reiter‹, dessen Bewegung weit über diese Voraussetzungen hinauswuchs. Durch ihren Ruf als Hauptstadt der Kunst und solides Ausbildungszentrum für Maler begann München um die Jahrhundertwende, noch vor dem Zentrum Paris, besonders Studenten aus Ost­ und Mitteleuropa, aber auch aus Belgien, England, Schottland und den USA anzuziehen.1896 etwa waren Wassily Kandinsky, Alexej Jawlensky, Marianne von Werefkin, Igor Grabar und Dimitrij Kardowsky aus Russland nach München gekommen, 1898 der Schweizer Paul Klee, der Österreicher Alfred Kubin und der Deutschrusse Alexander von Salzmann, 1901 Gabriele Münter aus dem Rheinland und Eugen von Kahler aus Prag, um dieselbe Zeit Wladimir von Bechtejeff und Moissey Kogan, etwas später ihr russischer Landsmann, der Tänzer Alexander Sacharoff; 1904 und 1908 schließlich wechselten Adolf Erbslöh und Alexander Kanoldt von der Karlsruher Akademie in die bayerische Hauptstadt. Noch 1909 kam der in Amerika geborene Deutschböhme Albert Bloch aus St. Louis nach München, und Anfang 1910 traf hier August Macke erstmals mit Franz Marc zusammen, der als Einziger aus diesem Kreis ein gebürtiger Münchner war. Viele dieser genannten Künstler, die um die Jahrhundertwende in München zusammentrafen, wurden Mitglieder der 1909 gegründeten ›Neuen Künstlervereinigung München‹, die mit gewissen Ein­schränkungen als Vorläufergruppe des ›Blauen Reiter‹ gelten kann.Ihre Vorgeschichte und Entwicklung, und natürlich die wenig später erfolgte Abspaltung des ›Blauen Reiter‹, werden in dieser Einführung geschildert. Doch zunächst sollen kurz die Voraus­setzungen beschrieben werden, die Kandinsky und seine späteren Weggefährten in der Kunst­szene Münchens am Ausgang des 19. Jahrhunderts vorfanden.

Der Zustrom von bildenden Künstlern nach München geschah nicht ohne Grund. Münchens Ruf als Kunststadt hatte sich seit den entscheidenden mäzenatischen und städtebaulichen Taten Lud­wigs  I., der die beschauliche Residenz der Wittelsbacher seit 1815 zielstrebig zur königlichen Hauptstadt und Kunstmetropole ausbauen ließ, im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr gefes­tigt. Sein Vater, Maximilian I., war erst kurz zuvor von Napoleon aus dem Kurfürstenstand zum König erhoben worden, und schon als Kronprinz begann Ludwig I., neben seiner begeisterten Sammeltätigkeit, besonders den Architekten Leo von Klenze mit wichtigen Bauwerken zu beauf­tragen, die das Gesicht der Stadt mit ihren spätklassizistischen Bauten um den alten Stadtkern bis heute prägen. Unter Ludwig I. entstanden besonders viele Museumsbauten, wie die Glyptothek und die Alte sowie die Neue Pinakothek. Mitte des 19. Jahrhunderts erhielt die bereits 1808 ge ­gründete Kunstakademie – als sich ihr Ruf als Ausbildungszentrum mit Lehrern wie Wilhelm von Kaulbach und Karl Piloty und Münchens Anspruch als »Isar­Athen« schon weit verbreitet hatten – ein pompöses Gebäude an der Grenze zwischen dem Museumsviertel und Schwabing, jener Gegend der Stadt, die seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zum legendären Künstlerviertel aufstieg. Auch die Künstler aus dem Umkreis des ›Blauen Reiter‹ sollten später beinahe alle in Schwabing wohnen und arbeiten.Unter Ludwigs Nachfolger Maximilian II. wurde 1854 der sogenannte Glaspalast als erste archi­tektonische Glas­ und Eisenkonstruktion auf dem Kontinent eingeweiht. Hier fanden ab 1869, betreut von der 1858 gegründeten ›Münchner Künstlergenossenschaft‹, die großen ›Inter natio­nalen Kunstausstellungen‹ statt, die Münchens Ruhm als Kunstzentrum endgültig etablierten. Die ›Münchner Künstlergenossenschaft‹ hatte bis zur Gründung der ›Secession‹ fast dreißig Jahre spä­ter die alleinige Vertretung der Künstlerschaft und die Aufsicht über das Ausstellungswesen inne. Franz von Lenbach, obwohl nur für vier Jahre ihr Präsident, war über einen langen Zeitraum einer ihrer mächtigsten Protagonisten. Der kometenhafte Aufstieg des Malers Franz von Lenbach  – 1882 persönlich geadelt – zum wichtigsten und hoch bezahlten Porträtisten der Münchner Gesell­schaft, der Führer des wilhelminischen Kaiserreiches, des europäischen Adels und zahlreicher Persönlichkeiten des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens, war dabei eng verknüpft mit den spezifischen Bedingungen der Gründerjahre, etwa ihrer Verschwendungssucht und ihrem Bedürf­nis nach historisierender Repräsentation und Nobilitierung.

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Auf der Höhe seines Ruhms ließ sich Franz von Lenbach, der seinen Rang als »Malerfürst« nur mit Hans Makart in Wien und bald mit dem jüngeren Aufsteiger Franz von Stuck teilen musste, in den Jahren 1887 bis 1891 nach Plänen des Architekten Gabriel von Seidl eine prächtige Villa im italianisierenden Stil an den Propyläen des Münchner Königsplatzes errichten (Abb. 1). Nicht nur der Bau selbst, sondern auch seine Lage in unmittelbarer Nähe der großen Museen unterstrich Lenbachs Anspruch als führender Künstler der Stadt. Die historischen Aufnahmen, etwa des Ate­liertraktes, zeigen die damalige Innenausstattung im überladenen Stil der Gründerjahre, die bis auf wenige Reste im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde (Abb. 2). 1924 schenkte die Witwe Franz von Lenbachs die Villa der Stadt München, seit 1929 befindet sich in ihr die Städtische Galerie im Lenbachhaus. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet in das Haus Lenbachs, Prototyp des konservativen Künstlers des Historismus, etwa zwei Generationen später die umfang­reiche Sammlung des ›Blauen Reiter‹ eingezogen ist. Die zahlreichen Werke dieses bedeutends­ten, seinerzeit heftig angefeindeten Beitrags zur Avantgarde in München, dort 1937 in der Aus­stellung Entartete Kunst diffamiert, machten mit ihrem Einzug durch die Schenkung Gabriele Münters 1957, die dann weitere Stiftungen und Erwerbungen nach sich zog, das Lenbachhaus zu einem Museum von Weltrang.Doch bereits vor der Formierung des ›Blauen Reiter‹ in München hatte sich Widerstand gegen das konservative Kunstleben und den traditionellen Unterricht an der Akademie geregt. Schon nach 1870 hatte Wilhelm Leibl die Errungenschaften der französischen Malerei, insbesondere Édouard Manets, aufgegriffen, und entwickelte einen genau beobachtenden Realismus in der deutschen Malerei, der von den Jüngeren des Leibl­Kreises, etwa von Carl Schuch, Philipp Sperl oder Wil­helm Trübner, in einen atmosphärischen Naturalismus überführt wurde. Schließlich aber kam es 1888 im Gefolge der IV. Internationalen Ausstellung im Glaspalast mit ihren über 3000 Werken, darunter vielfach Genre­ und Historienmalerei minderer Qualität, zu jenem entscheidenden Protest, der 1892 in der Gründung der ›Münchener Secession‹ mündete. Zu den Mitgliedern der ersten Stunde gehörten unter anderem Hugo von Habermann, Bruno Piglhein, Heinrich von Zügel, Gotthardt Kuehl, Franz von Stuck, Fritz von Uhde und der Leibl­Schüler Wilhelm Trübner (Abb. 3). Die frühe Gründung der ›Münchener Secession‹ ist besonders hervorzuheben, da sich die beiden anderen wichtigen Sezessionsbewegungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die Wie­ner Secession um Gustav Klimt und die Berliner Secession um Max Liebermann, erst später for­mierten. München stand so an der Spitze einer Bewegung, die neuen künstlerischen Kräften, wie dem Naturalismus, dem Symbolismus und auch dem Jugendstil, Bahn brach.Die ›Münchener Secession‹ stellte zunächst in einem eigenen Ausstellungsgebäude am Königsplatz aus. Doch bald glätteten sich die Gegensätze und schon 1897 organisierte man gemeinsam mit der Künstlergenossenschaft die berühmt gewordene VII. Internationale Ausstellung im Glaspalast. 1898 bezog die ›Secession‹ erstmals auch das neue internationale Kunsthandwerk auf hohem Niveau, unter anderem Werke von Henry van der Velde und René Lalique, in ihre Jahresausstellung ein.

Ein Jahr zuvor, 1897, war die Gründung der ›Vereinigten Werkstätten für Kunst im Handwerk‹ in München erfolgt, die ebenso wie die ›Secession‹ zu einer Pionierbewegung auf dem Gebiet des Kunstgewerbes wurde. Peter Behrens, der spätere Gründer des ›Deutschen Werkbundes‹, Richard Riemerschmid, Heinrich Obrist und Otto Eckmann gehörten zu den ersten Mitgliedern. Ihre Namen sind wiederum eng verbunden mit der Entwicklung des deutschen Jugendstils, der in seinen Anfängen tatsächlich ein Münchner Jugendstil war. Selbst der deutsche Begriff für »Art Nouveau« – Jugendstil – wurde in München geboren, mit der Gründung der Zeitschrift Jugend 1896 durch den Ver leger Georg Hirth. Sein Kollege und Gegenspieler Albert Langen wiederum hatte, aus Paris kommend, ebenfalls 1896 eine ähnlich wichtige Zeitschrift gegründet – den Sim pli cissimus (Abb. 4) nach dem Vorbild des französischen Satire­Blatts Gil Blas. Jugend, die ihren Na men der gesamten Bewegung des Jugendstils lieh, und Simplicissimus wurden in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg zu den führenden Zeitschriften Deutschlands, mit ihren Beiträgen meinungsbildend und vor allem mit ihren Zeichnungen stilbildend. Während sich die Jugend eher auf die schöne Linie ihrer Aus­stattung konzentrierte und auch die Kunst des ornamentalen Dekors zu einem Höhepunkt brachte, hatte der Simplicissimus zum Teil dieselben Zeichner auch für poli tische und sozialkritische Karika­turen unter Vertrag: Thomas Theodor Heine, Rudolf und Erich Wilke, Ferdinand von Reznicek, Olaf Gulbransson, Bruno Paul, Eduard Thöny, Karl Arnold und andere.

Mit allen diesen Aktivitäten hatte sich das Zentrum des künstlerischen Lebens und einer neuen, auch literarischen Bohème nach Schwabing verlagert. In den Jahren von 1896 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 erlebte das Künstlerviertel seine große Zeit, die auch Kandinsky wie so viele der damaligen Zeitgenossen in einem leicht verklärenden Rückblick um 1930 veranlasste, Schwabing weniger einen Stadtteil als einen »geistigen Zustand« zu nennen: »[…] das etwas komi­sche, ziemlich exzentrische und selbstbewusste Schwabing, in dessen Straßen ein Mensch – sei es ein Mann oder eine Frau (a Weibsbuild) – ohne Palette, oder ohne Leinwand, oder mindestens ohne eine Mappe sofort auffiel. Wie ein ›Fremder‹ in einem ›Nest‹. Alles malte […] oder dichtete, oder musizierte, oder fing zu tanzen an.«Neben Schriftstellern wie Frank Wedekind, Thomas und Heinrich Mann, dem Kreis um Stefan George mit Karl Wolfskehl, Ludwig Klages, Friedrich Gundolf sowie Franziska Gräfin zu Revent­low, Rainer Maria Rilke und Eduard Graf von Keyserling bevölkerten unzählige bildende Künstler die Straßen und Cafés in Schwabing. Zu den beliebtesten Treffpunkten gehörte das Café am Sie­gestor, das unter anderem von den Gründungsmitgliedern der 1901 von Berlin nach München übergesiedelten Jugendstil­Zeitschrift Die Insel, Otto Julius Bierbaum und Alfred Walter Heymel, frequentiert wurde, während das Café Stefanie von Alfred Kubin, Hans von Weber, Max Dauthen­dey und Künstlern des späteren ›Dome‹­Kreises in Paris, wie Rudolf Levy und Albert Weisgerber, bevorzugt wurde. In einem Hinterzimmer des Simpl von Kathi Kobus in der Türkenstraße schließ­lich trug die bekannte Kabarettbühne der ›Elf Scharfrichter‹ in den ersten Jahren nach 1900

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Die Villa Franz von lenbachs, historische aufnahmeFoto: städtische galerie im lenbachhaus, münchen

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Blick in den ateliertrakt der Villa Franz von lenbachs, historische aufnahmeFoto: städtische galerie im lenbachhaus, münchen

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Franz von stuck, Kämp-fende amazone, 1897,

Öltempera auf holz, städtische galerie im

lenbachhaus, münchenDauerleihgabe der

münchener secession

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thomas theodor heine, innenplakat für den

simplicissimus, 1897,Farblithografie

auf Pappe, städtische galerie im

lenbachhaus, münchenheine-nachlass

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Atelier mieteten. Nach ihrer Ankunft in München unterbrach Werefkin ihre eigene Malerei für beinahe zehn Jahre, während der sie sich ganz der Pflege und Förderung von Jawlenskys Talent widmete und daneben in ihrer Wohnung einen Salon etablierte, der nach der Jahrhundertwende zu einem Treffpunkt fortschrittlich gesinnter Maler und Bühnenkünstler sowie durchreisender russischer Landsleute wurde. Währenddessen studierten Jawlensky, Kardowsky und Grabar bis 1899 ebenfalls an der Kunstschule von Anton Ažbe, bei dem sie es bis zu Hilfslehrern brachten (Abb. 5). In einem von der russischen Forschung erstmals publizierten Brief schrieb Igor Grabar sehr anschaulich über das Auftauchen Kandinskys in der Ažbe­Schule im Februar 1897 an seinen Bruder: »Da kommt so ein Herr mit einem Farbenkasten, nimmt Platz und beginnt zu arbeiten. Seine Erscheinung ist typisch russisch, ja mit einem Anflug des Moskauer Universitätsmilieus und einem Hauch Magistertum […]. Genauso haben wir  – kurz gesagt – den heute eingetroffenen Herrn beim ersten Anblick beurteilt: als Moskauer Magister. Und stell Dir mein Erstaunen vor, als ich tatsächlich seine deutlich russische Aussprache hörte […]. Das also war Kandinsky.« (Abb. 6) In diesen ersten Jahren in der Ažbe­Schule kam es jedoch zwischen Kandinsky, der übrigens flie­ßend deutsch und französisch sprach – seine Großmutter mütterlicherseits war Baltin und hatte mit ihm seit seiner Kindheit deutsch gesprochen –, und dem Kreis um Jawlensky und Werefkin nur zu losen Kontakten. Diese vertieften sich jedoch bereits ab 1899 durch das gemeinsame Inte­resse an einer intensiven Beschäftigung mit der Farbe, ihrer Theorie, technischen Beschaffenheit und praktischen Wirkung. So weiß man, dass Kandinsky ab 1899 das »chemische Labor« besuchte, das sich Jawlensky in seinem Atelier in der Giselastraße 23 eingerichtet hatte. Auch wurde Kan­dinsky die Wohnung Werefkins während ihrer über einjährigen Abwesenheit mit Jawlensky von September 1901 bis November 1902 in Russland anvertraut, wo während dieser Zeit Jawlenskys Sohn von Helene Nesnakomoff auf dem Gut eines Freundes in Ansbaki geboren wurde. Nach seiner Rückkehr baute Jawlensky das Atelier weiter aus und gab spätestens seit dem Tod seines verehrten Lehrers Anton Ažbe 1905 hier auch privaten Unterricht (Abb. 7). So sollten noch 1908 Adolf Erbslöh und Alexander Kanoldt hier Schüler werden, die bald darauf zu den Gründungs­mitgliedern der ›Neuen Künstlervereinigung München‹ zählten.

Um diese Zeit, ab 1908 in Murnau, sollte auch die frühe Bekanntschaft Kandinskys mit Jawlensky und Werefkin Früchte tragen und sich zu der auch künstlerisch so bedeutenden Freundschaft vertiefen, die die unmittelbare Vorgeschichte des ›Blauen Reiter› einleitete.

allabendlich ihr Programm vor und beschäftigte für ihre Plakat­ und Bühnengestaltung auch bil­dende Künstler, wie die Zeichner Ernst Stern und Alexander von Salzmann, die neben anderen Persönlichkeiten ebenfalls Mitglieder in der kleinen, 1901 gegründeten Künstlergruppe ›Phalanx‹ um Wassily Kandinsky werden sollten.

Kandinsky, jawlensky und Werefkin kommen nach münchen

Wassily Kandinsky, 1866 in Moskau geboren, hatte in seiner Heimatstadt Rechtswissenschaften und Nationalökonomie studiert und stand am Beginn einer aussichtsreichen Universitätskarriere mit einem Ruf an die estnische Universität Dorpat, als er sich 1896 entschloss, zum Studium der Malerei nach München überzusiedeln. Bereits die Tatsache, dass er im letzten Jahr vor seinem Weggang aus Moskau als künstlerischer Leiter einer Druckerei gearbeitet hatte, verrät andere Interessen neben denen seiner wissenschaftlichen Ausbildung. In seinen 1913 erstmals erschie­nenen, später viel zitierten Rückblicken erwähnt er zudem zwei einschneidende künstlerische Erlebnisse, die seinen Entschluss, Maler zu werden, befördert hätten: das synästethische Klang­erlebnis einer Aufführung von Richard Wagners Lohengrin in Moskau und der Anblick eines dort ausgestellten Bildes von Claude Monet aus dessen Serie der Heuhaufen, auf dem der durch die impressionistische Lichtmalerei aufgelöste Gegenstand für ihn auf den ersten Blick nicht mehr erkennbar war.Als Kandinsky Ende 1896 nach München kam, besuchte er zunächst mehr als zwei Jahre die damals anerkannte und beliebte private Kunstschule des Slowenen Anton Ažbe, der eine große Zahl besonders mittel­ und osteuropäischer Studenten um sich scharte. Im selben Jahr waren auch Alexej Jawlensky und Marianne von Werefkin zusammen mit ihren Künstlerkollegen Dimitrij Kardowsky und Igor Grabar aus Russland zum Studium der Malerei nach München gekommen. Marianne von Werefkin war in St. Petersburg seit 1887 Meisterschülerin des berühmten russi­schen Realisten Ilja Repin gewesen und hatte dort den jungen Offiziersschüler und Malstudenten Jawlensky kennengelernt, der 1890 ebenfalls Schüler von Repin geworden war. Als Werefkins Vater, Kommandant der Peter­und­Paul­Festung, 1896 starb und ihr eine stattliche Leibrente hinterließ, nahm sie mit ihrem Gefährten Jawlensky die Gelegenheit wahr, nach München über­zusiedeln, wo sie sich in der Giselastraße in Schwabing eine herrschaftliche Doppelwohnung mit

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alexej jawlensky mit einer Dame in seinem atelier in münchen, nach 1904Foto: Privatstiftung schloßmuseum murnau

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Dimitrij Kardowsky, alexej jawlensky, igor grabar, anton ažbe, sitzend: marianne von Werefkin, in münchen, um 1898Foto: Privatstiftung schloßmuseum murnau

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nikolaj seddeler, Dimitrij Kardowsky und Wassily Kandinsky in der schule von anton ažbe in münchen, um 1897Foto: gabriele münter- und johannes eichner-stiftung, münchen

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später wieder. Es zeigt, dass Kandinsky von Anfang an auch ein geschickter, bewusst und strate­gisch vorgehender »Kunstpolitiker« war, der in neuartiger Weise die Mechanismen des sich gerade entwickelnden modernen Kunstmarktes für sich und seine Ziele zu nutzen suchte.Die ›Phalanx‹, deren Vorsitzender Kandinsky bald nach ihrer Gründung wurde, organisierte bis 1904 insgesamt 12 wichtige Ausstellungen der internationalen Avantgarde in Malerei und Kunst­handwerk, die beim Münchner Publikum jedoch weitgehend unbeachtet blieben. Für die 1. Aus­stellung im August 1901, die überwiegend Werke ihrer Mitglieder zeigte, schuf Kandinsky ein Plakat, dessen stilisierte, speerbewaffnete Krieger mit ihrem Jugendstil­Lineament und den grie­chisch nachempfundenen Helmen Assoziationen zu Franz von Stucks Amazone auf mehreren Secessions­Plakaten wachrufen (Abb. 9). Bemerkenswert ist jedoch die eher märchenhafte Auf­fassung der Figuren wie auch ihre Verdoppelung, die, zusammen mit der Stoßrichtung nach links, entgegen der Leserichtung, eine gesteigerte Streitbarkeit, Energie und Dynamik zum Ausdruck bringen. In den folgenden ›Phalanx‹­Ausstellungen wurden unter anderem Lovis Corinth, der fin­nische Symbolist Akseli Gallen­Kallela und der Münchner Jugendstil­Künstler Carl Strathmann, die Zeichner Alfred Kubin und John Jack Vrieslander sowie Félix Valloton, Paul Signac und Henri Toulouse­Lautrec vorgestellt. Für die VII. Ausstellung, die erstmals Werke von Claude Monet in München präsentierte, schuf Kandinsky ebenfalls ein Plakat. Bis in die Schriftzüge hinein lässt es nochmals deutlich den Einfluss des Münchner Jugendstils erkennen. Das ungewöhnliche Bild­motiv jedoch, mit den auf einem gewundenen Fluss still dahingleitenden »Wikinger«­Schiffen, die wie Boten einer fernen, vorgeschichtlichen Zeit wirken, verrät seine gleichzeitige Beschäftigung mit einer fantastischen Welt altrussischer oder mittelalterlicher Szenerien, die er – inspiriert vom russischen Symbolismus und Jugendstil – in den Jahren zwischen 1901 und 1907 neben seinen thematisch eher anspruchslosen und stilistisch ganz anders gearteten »kleinen Ölstudien« in einer Fülle von Holzschnitten und Temperabildern verarbeitete (vgl. Tafel 3, 4).

Kandinsky und gabriele münter begegnen sich

In der ›Phalanx‹­Schule unterrichtete Kandinsky die Malklasse und den sogenannten »Abendakt«. Anfang 1902 wurde Gabriele Münter, die im Frühjahr 1901 aus dem Rheinland nach München gekommen war, eine seiner Schülerinnen. Münter hatte 1898 eine Ausbildung in einer privaten Zeichenklasse in Düsseldorf abgebrochen, um sich nach dem Tod ihrer Eltern zusammen mit

Die ›Phalanx‹ 1901 bis 1904

Ab 1900 studierte Kandinsky, nachdem er im Jahr zuvor zunächst abgewiesen worden war, für ein Jahr an der Münchner Akademie bei Franz Stuck. 1906 geadelt, war Stuck nicht nur der bekann­teste Jugendstilmaler und neben Lenbach zweiter »Malerfürst« Münchens, sondern auch ein ein­flussreicher Akademie­Professor, zu dessen zahlreichen Schülern damals auch Hans Purrmann, Albert Weisgerber, Eugen von Kahler, Hermann Haller und wenig später auch Paul Klee gehör­ten. Doch ähnlich wie viele andere Künstler der Aufbruchsgeneration um die Jahrhundertwende fühlte sich Kandinsky vom akademischen Lehrbetrieb unbefriedigt, er zog es bald vor, weitgehend autodidaktisch vor der Natur seine sogenannten »kleinen Ölstudien« zu malen, wobei es ihm nach eigenen Äußerungen darauf ankam, die Farben »stark singen« zu lassen, also möglichst kräftig und modellierend auf den Malgrund aufzutragen. Charakteristisch für alle frühen Ölstudien Kandins­kys ist die Arbeit mit dem Spachtel, mit dem die Farbe pastos gestückelt »in farbigen Flecken und Streifen« aufgebracht wird und die Spachtelführung stets sichtbar bleibt. Auf diese Weise entstan­den zahlreiche kleinformatige Ansichten von Schwabing oder anderen Gegenden Münchens, die sich lediglich durch den sehr pastosen Farbauftrag und auch die Farb intensität vom Stil des Nach­impressionismus unterscheiden (Abb. 8).

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Bildhauerklasse von Wilhelm hüsgen in der

›Phalanx‹-schule, 1902(links: Wilhelm hüsgen,

gabriele münter)Foto: gabriele münter- und johannes eichner-

stiftung, münchen

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Wassily Kandinsky, nikolaiplatz in münchen – schwabing, 1901/02,Öl auf Pappe, städtische galerie im lenbachhaus, münchen

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Wassily Kandinsky, Plakat für die 1. ›Phalanx‹-ausstellung, 1901,Farblithografie, städti-sche galerie im lenbach-haus, münchen

Trotz dieser bescheidenen Anfänge gründete Kandinsky, obgleich noch unbekannt und weit­gehend auf sich selbst gestellt, im Mai 1901 zusammen mit den Bildhauern Wilhelm Hüsgen und Waldemar Hecker, den Zeichnern und Bühnenbildnern Ernst Stern und Alexander von Salz­mann – die alle auch für die oben erwähnte Kabarettbühne der ›Elf Scharfrichter‹ tätig waren – und weiteren Persönlichkeiten der progressiven Schwabinger Kunstszene einen kleinen privaten Ausstellungsverein mit angegliederter Kunstschule, die sogenannte ›Phalanx‹. »Wir mieteten ein ziemlich geräumiges und anspruchsvolles Ausstellungslokal im Hause der Frau Prof. Lossen an der Finkenstraße, dicht beim Wittelsbacherplatz, in deren Räumen sich auch der Verlag des ›Kunstwart‹, Callwey, befand. Ein an der Ecke des Platzes aufgestelltes Plakat wies den Interes­senten den Weg zum Eingang«, erinnert sich Gustav Freytag, ein Sohn des gleichnamigen Schrift­stellers, der damals als junger Medizinstudent der einzige Nicht­Künstler unter den ›Phalanx‹­Mitgliedern war. Das dezidierte Anliegen, mit dem Verein ›Phalanx‹ den beteiligten Künstlern auch Ausstellungs­ und Auftragsmöglichkeiten zu eröffnen, kehrt auf einer anderen Ebene der Entwicklung ebenso in der Gründung der ›Neuen Künstlervereinigung München‹ acht Jahre

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seitdem in ihrem Frühwerk bis 1908 eine auch quantitativ wichtige Stellung einnehmen sollte. Der Aufenthalt in Kallmünz inspirierte Kandinsky unter anderem dazu, neben seinen altrussischen oder biedermeierlichen Fantasien auch vermehrt altdeutsche, mittelalterliche Straßen­ und Kostüm­szenen in seine von ihm selbst so genannten »farbigen Zeichnungen« aufzunehmen (Abb. 14), das heißt in die fleckenhafte Temperamalerei auf tonigem, meist dunklem Grund, die in seinen berühm­ten Bildern aus der Pariser Zeit einen Höhepunkt und Abschluss finden (vgl. Tafel 3, 4).In Kallmünz »verlobten« sich Kandinsky und Münter, was die Situation in München für Kan­dinsky, seit 1892 mit seiner russischen Cousine Anja Semjakina verheiratet, die ihn auch nach Deutschland begleitet hatte, zunehmend unhaltbar erscheinen ließ. Der Grund für das unstete Wander leben, das Kandinsky und Münter ab 1904 für mehrere Jahre begannen, war daher in ers­ter Linie privater Natur. Doch ebenso der mühevolle Einsatz für die ›Phalanx‹, die durch ihr ambi­tioniertes, jedoch nur wenig rezipiertes Ausstellungsprogramm in finanzielle Schwierigkeiten geraten war, mögen einen weiteren Ausschlag gegeben haben. Im Frühjahr 1904 legte Kandinsky den Vorsitz nieder, nicht ohne noch weitere Pläne gefasst zu haben, etwa die Aufnahme von Alexej Jawlensky als Mitglied in der nächsten Vereinsversammlung zu betreiben. Doch bald nachdem Kandinsky und Münter im Mai 1904 eine erste Reise nach Holland unternommen hatten, stellte die ›Phalanx‹ ihre Aktivitäten ein.Im Winter 1904/05 setzte das Paar seine Reisetätigkeit fort und hielt sich für mehrere Monate in Tunis auf. Dort befasste sich Kandinsky unter anderem noch einmal intensiv mit kunstgewerb­lichen Entwürfen, etwa zu Perlenstickereien oder Kleidern, wie dem für Münter entworfenen und gearbeiteten Reformkleid (Abb. 15). Im Sommer 1905 bezogen beide eine gemeinsame Wohnung in Dresden, wo Kandinskys Porträt von Gabriele Münter entstand (Abb. 16). Im Winter 1905/06 ließen sie sich für mehrere Monate in Rapallo an der italienischen Riviera nieder. Schließlich folgte ab Juni 1906 ein einjähriger Aufenthalt in Sèvres bei Paris, währenddem Münter zeitweilig ein eigenes Zimmer in Paris bewohnte und einen Kurs bei Théophile Steinlein belegte. Die un ­mittelbaren Anregungen des neuen französischen Holzschnitts, etwa von Valloton, Bonnard und Vuillard, die noch vor der Jahrhundertwende unter dem Eindruck des in Europa bekannt gewor­denen japanischen Farbholzschnitts eine Wiederbelebung dieser alten Technik, verbunden mit einem modernen Interesse an Flächenhaftigkeit und Formvereinfachung, eingeleitet hatten, führ­ten sie in ihrem eigenen druckgrafischen Werk zu früher Meisterschaft (Abb. 17). Im Anschluss an Paris wohnten Kandinsky und Münter bis zum Frühjahr 1908 in Berlin, bis sie nach einer letzten Reise im April 1908 nach Südtirol den Entschluss fassten, sich wieder dauerhaft in München nie­derzulassen. Während dieser ganzen Wanderjahre behielten Kandinsky und Münter in ihrer Ölmalerei den Stil der nachimpressionistischen Spachtelstudien bei, der in seiner reliefhaften und kleinteiligen Wiedergabe des Motivs insgesamt wenig Entwicklung erkennen lässt.

ihrer Schwester Emmy auf eine zweijährige Reise zu Verwandten nach Amerika zu begeben. Nach der Rückkehr 1900 entschloss sie sich, ihr Studium in München fortzusetzen. Da Frauen der Zugang zu den Kunstakademien damals noch verschlossen war, besuchte sie zunächst die Anfän­gerinnenklasse von Maximilian Dasio an der Schule des ›Künstlerinnen­Vereins‹, im Wintersemes­ter die Akt­Klasse von Angelo Jank. Eine Mitschülerin machte sie auf die Ausstellungen und An ­gebote der ›Phalanx‹ aufmerksam. Rückblickend beschreibt Münter diese Anfänge und ihren Eindruck von Kandinskys Unterricht in einer Notiz aus ihrem Nachlass, die bereits Johannes Eichner, der Gefährte ihrer späten Jahre, 1957 teilweise veröffentlicht hat: »Dann forderte mich eine Studentin in der Pension ›Bellevue‹ Theresienstr. 30 auf, die interessante Phalanxausst. in der Finkenstr. zu besuchen. Da gab es Kollektion vom Finnen Axel Gallen – Ich erinnere mich an das sonnige klare Bild Kandinsky[s] Die alte Stadt u. 2 Bildhauer Hecker und Hüsgen. die Masken der 11 Scharfrichter von Hüsgen gefielen mir sehr. Es zuckte mir in den Fingern – bildhauern wollte ich. Bald ging ich zur Phalanx­Schule u. meldete mich in der Bildhauerklasse Hüsgen an für nach­mittag [Abb. 10]. Dazu gehörte dann der Abendakt bei K. [Kandinsky] – ich ließ den Abendakt, den ich vorher besucht hatte, u. nahm die Gelegenheit mit. Da war dann ein neues künstlerisches Erlebnis, wie K., ganz anders, wie die andren Lehrer – eingehend, gründlich erklärte u. mich an ­sah, wie einen bewusst strebenden Menschen, der sich Aufgaben u. Ziele stellen kann. Das war mir neu u. machte Eindruck. – Es war außerdem sehr nett im III Stock der Hohenzollernstr. Pha­lanxschule.« (Abb. 11)Im Sommer 1902 folgte Münter einer Einladung Kandinskys zu einem Aufenthalt mit dessen Mal­klasse in Kochel. Hier begannen sich Kandinsky und seine Schülerin Gabriele Münter auch privat einander anzunähern, wobei ihre gemeinsame Vorliebe für das Radfahren – eine für die meisten Frauen damals noch unübliche Sportart – einen gewissen Freiraum dafür ließ (Abb. 12). 1903 folgte ein weiterer gemeinsamer Sommeraufenthalt der ›Phalanx‹­Malklasse in Kallmünz in der Ober­pfalz. Hier malte nun auch Münter, die sich bisher überwiegend auf die Zeichnung konzen triert hatte, eine Reihe kleinerer Landschaftsstudien in Öl, in denen sie sich ebenfalls des pastosen, kleinteiligen Farbauftrags mit dem Spachtel bediente, den Kandinsky seinen Schülern vermittelte (Abb. 13). Zudem begannen beide intensiv mit dem Farbholzschnitt zu experimentieren, der

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gabriele münter in einem von Kandinsky entworfenen Kleid, 1905Foto: gabriele münter- und johannes eichner-stiftung, münchen

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Wassily Kandinsky, gabriele münter, 1905, Öl auf leinwand,städtische galerie im lenbachhaus, münchen

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gabriele münter, Kandinsky, 1906, Farblinolschnitt,städtische galerie im lenbachhaus, münchen

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mitglieder der ›Phalanx‹-schule, münchen, 1902 (v. l. n. r.: olga meerson, emmy Dresler, Wilhelm hüsgen, gabriele münter, richard Kothe, maria giesler, Wassily Kandinsky)Foto: gabriele münter- und johannes eichner-stiftung

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Kandinsky mit seiner ›Phalanx‹-malklasse in Kochel, sommer 1902Foto: gabriele münter- und johannes eichner-stiftung, münchen

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gabriele münter, Kandinsky beim land-schaftsmalen, 1903,Öl auf leinwandkarton, städtische galerie im lenbachhaus, münchen

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Wassily Kandinsky, Das junge Paar (Der Brautzug), 1904,gouache auf grauem Karton, städtische galerie im lenbachhaus, münchen

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kurzem alle Kunsthistoriker Jawlenskys Darstellung. Dies führte zu vielen Fehlinterpretationen seines Lebens und seines Werks. Werefkins Tagebücher belegen für 1905 einen durchgängigen Aufenthalt in München. Nur kurzfristig kann das Paar in jenem Jahr die bayerische Metropole verlassen haben. Für eine Frankreichreise, die fast ein Jahr dauerte, gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt.« (Bernd Fäthke)Nicht zufällig beendete Werefkin, die diese Reise organisiert hatte, im Februar 1906 ihre seit 1901 in französischer Sprache verfassten, tagebuchartigen Aufzeichnungen »Lettres à un Inconnu« (Briefe an einen Unbekannten), deren persönlicher Bekenntnischarakter die Krisen und Arbeits­störungen der letzten Jahre spiegelt. Denn dieser zweite Frankreich­Aufenthalt gab auch für sie den Anstoß, ihre Malerei nach beinahe zehnjähriger Unterbrechung wieder aufzunehmen. Aus Paris und der Provence zurückgekehrt, datieren ihre ersten Bilder in neuem Stil in das Jahr 1906/07. Mit ihnen entwickelt sie die Errungenschaften der französischen Avantgarde und auch Anregungen der »Seelenmalerei« von Edvard Munch zu einem eigenwilligen, spezifischen Symbo­lismus, der ihr gesamtes weiteres Werk prägen wird (Abb. 19). Die Rückreise führte beide Künst­ler über die Schweiz, wo sie Ferdinand Hodler in Genf besuchten.Für Jawlensky war diesmal in Frankreich nicht nur die vertiefte Begegnung mit der Kunst van Goghs hinzugekommen, dessen Spuren sie in der Provence, unter anderem in Arles, verfolgten, sondern zuvor in Paris der große Eindruck der »wilden« Farbmalerei der ›Fauves‹ um Henri Matisse. Im Oktober 1906 erhielt er zudem erstmals die Gelegenheit, in der russischen Abteilung auf dem ›Salon d’automne‹ in Paris auszustellen. Diese Abteilung war von Sergej Djaghilew or ­ganisiert worden, den Jawlensky noch in St. Petersburg durch Marianne von Werefkin kennen­gelernt hatte. Kurz nach der Rückkehr aus Frankreich begegnete Jawlensly im Januar 1907 im Münchner Kunstverein wiederum dem holländischen Maler und Benediktinermönch Willibrord Verkade, den er ein halbes Jahr in seinem Atelier arbeiten ließ. Dieser machte ihn erneut intensiv mit der Schule der ›Nabis‹ um Maurice Denis vertraut und ermöglichte ihm die persönliche Bekanntschaft mit Paul Sérusier, der seinen Freund in München besuchte. Der ›Salon‹ von Jaw­lensky und Werefkin in der Giselastraße hatte sich unterdessen endgültig zu einem zentralen Treffpunkt der progressiven Kunstszene, für Maler, Musiker, Tänzer, Literaten insbesondere aus Russland und Osteuropa sowie durchreisende Verwandte und Bekannte aus ihrem Heimatland, entwickelt.

Die Wende in murnau 1908/09

Der Entschluss Kandinskys und Münters im Frühjahr 1908, wieder dauerhaft in München sess­haft zu werden, führte nicht nur zu einer Konsolidierung ihrer privaten Situation, sondern sollte auch bald die entscheidenden Weichen für neue, bislang kaum geahnte Möglichkeiten ihrer künst­lerischen Entwicklung stellen. Auf einem ihrer Ausflüge in die Umgebung Münchens, auf der Suche nach einem geeigneten Ort für das Malen im Freien, entdeckten sie den Marktort Murnau im oberbayerischen Voralpenland, unweit von Kochel an der alten Handelsstraße von München nach Garmisch gelegen. Seine malerische Lage auf einer Erhöhung über dem flach gedehnten Murnauer Moos vor der unvermittelt aufsteigenden »blauen« Kette der Alpen und die bunt gestri­chenen Häuser des Ortes selbst begeisterten sie, und sie berichteten ihren Malerkollegen Alexej Jawlensky und Marianne von Werefkin davon. Diese fuhren daraufhin selbst nach Murnau und mieteten sich im Gasthof Griesbräu an der Oberen Hauptstraße ein. Nun waren sie es, die wie­der um die Freunde voller Enthusiasmus aufforderten, hier zu einem gemeinsamen Malaufenthalt mit ihnen zusammenzutreffen. (Abb. 20)Die nun folgenden, gemeinsam verbrachten Malwochen im August und September 1908 in Mur­nau wurden zu einem Wendepunkt im Schaffen von Kandinsky, Jawlensky, Münter und mittelbar auch von Werefkin. »Murnau 1908«, so sei es schlagwortartig formuliert, bedeutete den Durch­bruch zu einer neuartigen, expressiven Malerei; dieser Wendepunkt leitete die unmittelbare

jawlensky und Werefkin auf reisen

1903 fuhr Marianne von Werefkin, im Bestreben, sich aus der Beziehung mit Jawlensky zu eman­zipieren, mit dem aus Georgien stammenden Maler und Zeichner Alexander von Salzmann – übri­gens auch er ein Mitglied in Kandinskys Künstlervereinigung ›Phalanx‹ – in die Normandie. Noch hatte sie selbst ihre praktische künstlerische Arbeit nicht wieder aufgenommen, doch wurde sie zweifellos durch die Beziehungen Salzmanns zur Schule von Pont­Aven in der Nachfolge Paul Gauguins intensiv mit diesen künstlerischen Einflüssen konfrontiert. Später folgte ihnen Jaw­lensky nach Nordfrankreich, gemeinsam reiste man auf dem Rückweg nach Paris. Dies war der Beginn der entscheidenden Anregungen, die Jawlensky in den nächsten Jahren von der französi­schen Avantgarde, zunächst insbesondere von der Malerei van Goghs, empfing. Im Sommer 1904 verbrachte das Künstlerpaar einen für Jawlensky produktiven, dreimonatigen Malaufenthalt in Reichertshausen an der Ilm, Anfang 1905 hielten sie sich in Füssen südlich von München auf.

Unter anderem entstand hier Jawlenskys Ansicht der verschneiten Burganlage am Rand der Alpen, die den expressiven Pinselduktus des verehrten Vorbilds van Gogh aufgreift (Abb. 18). »Nach der erfreulichen Erfahrung in Reichertshausen entstand offenbar der Wunsch, sich außerhalb Münchens dauerhaft auf dem Lande niederzulassen. Ein Brief des Münchner Architekten Albert Hornig vom 1. September 1905 verrät, dass um diese Zeit ein geeignetes Objekt im südlich von München gelegenen Murnau im Gespräch war.« (Brigitte Salmen) Dabei ging es um das von Emanuel von Seidl im Jahre 1900 errichtete Schloss Seeleiten am Südufer des Staffelsees. Der Kauf kam zwar nicht zustande, doch vieles spricht dafür, dass Jawlensky und Werefkin Murnau spätestens seit dieser Zeit kannten.Doch der entscheidende Durchbruch auch zu einer intensiven Farbigkeit erfolgte erst auf einer ausgedehnten Reise in die Bretagne, nach Paris und in die Provence im Jahr 1906. Dieser wich­tige, beinahe zehnmonatige Aufenthalt ist, durch die zeitlich unpräzisen Lebenserinnerungen Jawlenskys irregeführt, lange auf 1905 datiert worden. »Zu Genüge ist bekannt, daß die Angaben in Jawlenskys Werkverzeichnis äußerst kritisch zu betrachten sind, aber auch Daten, die der Maler selbst in seinen Lebenserinnerungen nennt. Sein ganz großer Irrtum ist, daß er die viel zitierte Frankreichreise, die ihn mit Werefkin von der Bretagne über Paris ›nach Südfrankreich in die Provence und Sausset am Mittelmeer‹ führte, ›1905‹ datierte. Über Jahrzehnte glaubten bis vor

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alexej jawlensky, Füssen, 1905,Öl auf Pappe, städtische galerie im lenbachhaus, münchenDauerleihgabe der gabriele münter- und johannes eichner-stiftung

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marianne von Werefkin, interieur mit sitzendem Paar, um 1907,gouache und Farbstift auf Papier, städtische galerie im lenbachhaus, münchen

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kurz darauf wieder »beim Münchner Triumphbogen. Er [Kandinsky] sprang von seinem Rade herab, wir fingen gleich über Fragen, die uns beide interessierten, zu sprechen an. Da es gleich klar wurde, daß wir einander sehr gut verstanden, obwohl er ein Maler und ich ein Componist war, beschlossen wir uns am selben Abende noch zu treffen. Es stellte sich heraus, daß Kandinsky auch seine Wohnung in der ruhigen Ainmillerstraße hatte. Und von der Zeit an sahen wir uns beinahe jeden Abend« (zitiert nach Jessica Horsley). Dabei arbeitete Kandinsky zusammen mit Thomas von Hartmann erstmals Pläne für Bühnenstücke aus, in denen nach seinen Ideen Farbe und Licht, Musik und Sprache, Aktion, Bewegung und Tanz zu einer Einheit verschmelzen sollten. Gabriele Münter berichtet in ihrer rückblickenden Tagebuchaufzeichnung vom Mai 1911 relativ ausführ­lich über diese frühe, meist wenig beachtete Beschäftigung Kandinskys mit der Bühnenkunst als Medium eines neuen Gesamtkunstwerks und vermerkt dabei, Kandinsky habe ihr im Winter 1908 die erste Bühnencomposition – (Schwarz­Weiß­Bunt) diktiert. Weiter heißt es: »In Kochel so 14 Tage bei Hartmanns. Hartmann entwarf (sehr interessant – sehr talentvoll) mit K. zusammen die Musik zu den Riesen. […] Aus dieser Arbeit wurde dann nichts obgleich sich K. sehr damit beschäftigt u. für Proben eine kl. Bühne (ca. 60 cm) Gestell machen ließ. und alle Dekorationen (ebenso auch zu einem Märchen) entworfen hatte.« Die Riesen sollten die erste Vorarbeit für Kan­dinskys bekannte Bühnenkomposition Der Gelbe Klang werden, die er im Herbst 1911 als Manu­skript für den Almanach Der Blaue Reiter ausarbeitete und zu der es Musikfragmente von Hart­mann gibt. Eng in diese Zusammenarbeit miteinbezogen war auch der Tänzer Alexander Sacharoff, der seit seiner Bekanntschaft mit Jawlensky und Werefkin im Jahr 1905 eng mit ihnen befreundet war und bis zum Ausbruch des Krieges fast täglich in ihrem Salon aus und ein ging. Auch Sacha­roff, 1886 ebenfalls in der Ukraine geboren, war noch sehr jung, als er knapp 20­jährig 1905 nach München kam. Nach einem kurzen Kunststudium in Paris hatte er sich unter dem Eindruck der großen Schauspielerin Sarah Bernhardt der Bühne zugewandt. In München nahm er bald Unter­richt in Ballett und Akrobatik und konnte 1910 hier sein offizielles Bühnendebüt als Tänzer im Königlichen Odeon feiern. Dank des Engagements von Karl Ernst Osthaus, dem Gründer des Folkwang Museums in Hagen, erhielt Sacharoff zahlreiche Auftrittsmöglichkeiten in Deutsch­land. Die androgyne Erscheinung des Tänzers verstörte das Publikum, machte ihn aber zugleich zu einem beliebten Motiv für seine Künstlerfreunde (vgl. Tafel 95). Ab 1913 tanzte er mit Clotilde von Derp, die zuvor im Ensemble von Max Reinhardt tätig war.1909 wurde für die beiden Künstlerpaare Kandinsky und Münter, Jawlensky und Werefkin noch einmal zu einem intensiven Murnauer Jahr. Schon im Frühjahr fanden sie sich dort gemeinsam wieder ein und wohnten bis zum Juni in einem Privatquartier in der Pfarrgasse bei der Fa mi­lie Echter, deren Großmutter sowohl von Werefkin als auch von Münter in bäuerlicher Tracht porträtiert wurde. Von dort zogen Kandinsky und Münter in eine erst kurz zuvor durch den Schrei­nermeister Streidel zur Vermietung an Feriengäste neu gebaute kleine Villa in erhöhter Lage am Westrand des Ortes gegenüber dem Schloss­ und Kirchhügel, »in die sich Kandinsky auf den ersten Blick verliebt hat«. Auf sein Drängen hin kaufte Münter dieses Haus im August 1909 von

künstlerische Vorgeschichte des ›Blauen Reiter‹ ein. Intensive, stark leuchtende, meist großflächig und ungemischt nebeneinandergesetzte Farben, die sich vom Naturvorbild zu lösen beginnen, verbinden sich mit einer flächenhaften Strukturierung des Bildaufbaus und einer Vereinfachung der Formen bis hin zu einem abstrahierenden Konzentrat des Gesehenen. Damit befreien sich die Murnauer Bilder, die die Künstler nun spontan direkt vor dem Motiv, in großer Anzahl und in einer Art rauschhafter Farbexplosion auf die Malpappe bringen, endgültig von den Zwängen der herkömmlichen realistischen Gegenstandsbeschreibung – der letztlich auch der Impressionismus noch verpflichtet war –, und gewinnen ein dynamisches, expressives Eigenleben (Abb. 21). Gabriele Münter fasste diese Entwicklung in einem rückblickenden Tagebuch von 1911 in der prägnanten, viel zitierten Formulierung zusammen: »Ich habe da nach einer kurzen Zeit der Qual einen großen Sprung gemacht – vom Naturabmalen – mehr oder weniger impressionistisch – zum Fühlen eines Inhaltes – zum Abstrahieren – zum Geben eines Extraktes.« Ergänzend fügte sie noch hinzu: »Es war eine schöne, interessante, freudige Arbeitszeit mit viel Gesprächen über Kunst mit den begeis­terten ›Giselisten‹. Ich zeigte Jawlensky besonders gern meine Arbeiten – einerseits lobte er gern und viel und andererseits erklärte er mir auch manches – gab mir von seinem Erlebten u. Erwor­benen u. – sprach von ›Synthes‹. Er ist in netter College. Wir alle 4 strebten sehr und jeder ein­zelne entwickelte sich.«Van Gogh, Cézanne und Gauguin waren die »Väter« dieses weitreichenden Prozesses in der Male­rei der Moderne, und nicht zufällig war es Jawlensky, der durch die Erfahrungen seiner Frank­reich­Aufenthalte 1903 und 1906 der kleinen Gruppe damals wichtige Impulse geben konnte. Nach übereinstimmenden Erinnerungen Münters und Kandinskys gab Jawlensky in der Murnauer Anfangszeit freigebig seine Kenntnisse weiter, wobei er den Freunden neben dem Mut zum »wil­den«, unbekümmerten Umgang mit der Farbe besonders die ausdrucksstarke Flächenkunst der ›Nabis‹ und die Auffassung von einer zusammenfassenden »Synthese« des Bildes zu einer unab­hängigen Formeinheit vermittelte. Vor allem Münter übernahm, insbesondere in ihren Land­schaften und Stillleben von 1909, die von Gauguin herrührende Technik des sogenannten Cloison­nismus, das heißt das Zusammenziehen der Bildelemente auf wenige farbige Flächen, die von schwarzen Konturen eingeschlossen werden (cloisonné), und folgte Jawlensky auch in der Redu­zierung der einzelnen Gegenstände auf ein bisweilen fast geometrisches Formengerüst (vgl. Tafel 61, 62, 99, 100).Im Februar 1909 besuchten Kandinsky und Münter den befreundeten russischen Komponisten und Musiker Thomas von Hartmann und seine Frau Olga in Kochel, wo sie eine Reihe von Ansich­ten des tief verschneiten Ortes und Friedhofs malten (Abb. 22, vgl. Tafel 6, 69). Zeitweilig kam auch Jawlensky herüber und bildete mit seinen Landsleuten ein munteres Trio oder Quartett, wovon eine Serie Fotos von Gabriele Münter zeugt (Abb. 23). Thomas von Hartmann, 1885 in der Ukraine geboren, hatte bereits erste Erfolge als Komponist und Musiker in St. Petersburg und Moskau gehabt, bevor er ab 1908 vorübergehend bei dem Wagner­Schüler Felix Mottl in Mün­chen studierte. Hier traf er erstmals bei Werefkin und Jawlensky mit Kandinsky zusammen und

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gabriele münter beim malen in Kochel, 1909

Foto: gabriele münter- und johannes eichner-

stiftung, münchen

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alexej jawlensky mit thomas und olga von

hartmann in Kochel, 1909

Foto: gabriele münter- und johannes eichner-

stiftung, münchen

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alexej jawlensky, marianne von Werefkin, andreas jawlenskyund gabriele münter in murnau (v. l. n. r.), 1908Foto: gabriele münter- und johannes eichner-stiftung, münchen

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Wassily Kandinsky, Dorf, 1908, Öl auf Pappe,städtische galerie im lenbachhaus, münchen

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Avantgarde – etwa durch die Einbeziehung von Kunst afrikanischer und ozeanischer Kulturen bei den französischen Kubisten oder den ›Brücke‹­Expressionisten – eine spezifische, volkstümliche Note ein.In Murnau fanden sie besonders in der religiösen, populären Hinterglasmalerei wegweisende Impulse und neuartige, vereinfachende Stilmittel für ihre eigene Kunst. Alexej Jawlensky war der Erste gewesen, der die Freunde spätestens im Frühjahr 1909 auf die über tausend Hinterglas­bilder meist bayerischer und böhmischer Herkunft umfassende Sammlung des Murnauer Bier­brauers Krötz aufmerksam machte, die sich heute im Heimatmuseum von Oberammergau befin­det. Zunächst begann Gabriele Münter, Werke dieser Art nach alten Vorlagen zu kopieren und lernte die Technik der Hinterglasmalerei bei Heinrich Rambold, einem der letzten damals noch in Murnau tätigen Glasmaler. Bald gestaltete auch sie Hinterglasbilder nach ihren eigenen Ent­würfen und regte Kandinsky an, ebenfalls in dieser Technik zu arbeiten. Dabei war es besonders die Formvereinfachung der schlichten, oft schematisierten Umrisszeichnung durch schwarze Konturen und die unvermischt nebeneinanderstehenden, klar leuchtenden Farbflächen, die die Künstler neben der scheinbaren Ursprünglichkeit und Innerlichkeit von Ausdruck und Form in ihren eigenen künstlerischen Bestrebungen inspirierten und bestätigten (Abb. 27). Bald waren die Wände und Tische in ihrem Murnauer Haus, aber auch in der Ainmillerstraße in München, mit volkstümlichen und eigenen Hinterglasbildern und populärem Kunstgewerbe bedeckt (Abb. 28, 29, 30). Im Nachlass Münters und Kandinskys, heute in der Gabriele Münter­ und Johannes Eich­ner­Stiftung, haben sich beinahe hundert ältere Hinterglasbilder erhalten, ebenso religiöse Schnit­zereien wie Muttergottes­, Heiligen­ und Krippenfiguren und weiteres Kunsthandwerk, die heute teilweise in der Ausstellungsstätte des »Münter­Hauses« in Murnau an ihrem ursprünglichen Ort zu sehen sind.

einem Teil ihres elterlichen Erbes (Abb. 24). 1908 durch den Architekten Ernst Hegemann mit leichten Jugendstil­Einflüssen auf einfacher Grundstruktur erbaut, besaß das Haus nach dama­liger Gepflogenheit noch keinerlei Komfort, etwa fließendes Wasser oder elektrisches Licht; für die Beleuchtung sorgte man mit Petroleumlampen und Kerzen. Der schnell beschlossene Haus­kauf sollte die Bindung des Paares an Murnau besiegeln. Sehr bald begannen sie, die roh ge ­zimmerten Möbel für die oberen Räume mit einfachen, volkstümlichen Motiven zu bemalen; ins Obergeschoss führte eine geschwungene hölzerne Treppe, deren Laibung Kandinsky 1911 mithilfe einer Schablone mit bunten, nach oben sprengenden Reitern, Blumen und Sonnen schmückte. Ein bereits 1909 entstandenes Gemälde Münters zeigt ihr eigenes Zimmer im Murnauer Haus mit Durchblick auf das Schlafzimmer Kandinskys, in dem der Gefährte in seinem schmalen Bett liegt. Der Rucksack und die derben Sandalen am Boden verraten das Bemühen, sich auch in Kleidung und Tätigkeit dem Landleben anzupassen (Abb. 25, 26). Auf dem Regal links ist unter anderem eine volkstümliche Madonnenfigur zu erkennen, die auf einen weiteren wich­tigen Einfluss der Murnauer Zeit hinweist. Kandinsky und Münter begannen hier, regionales Kunsthandwerk und religiöse Volkskunst zu sammeln, insbesondere Hinterglasbilder und geschnitzte Madonnen­ und Heiligenfiguren, die sie zum Teil in Murnau, aber auch in München auf dem traditionellen Flohmarkt der Auer Dult und ab 1910 auch in Moskau kauften. Auf diese Weise schufen sie in ihrem Murnauer Haus, ebenso wie in ihrer Münchner Wohnung in der Ain­millerstraße, einzigartige Ensembles von Hinterglasbildern und Schnitzereien. Damit brachten sie in den größeren Zusammenhang der Entdeckung »primitiver« Kunst durch die zeitgenössische

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gabriele münter, Votivbild, um 1908/09,

hinterglasstädtische galerie im

lenbachhaus, münchen

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Das esszimer im mur-nauer haus, Wand mit hinterglasbildern von

Kandinsky und münter, 1913

Foto: gabriele münter- und johannes eichner-

stiftung, münchen

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Wand mit hinterglas-bildern in der ainmiller-

straße 36 in münchen, um 1911

Foto: gabriele münter- und johannes eichner-

stiftung, münchen

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sofaecke in der ain millerstraße 36 in

münchen, mit hinterglas-bildern Kandinskys und

einer Perlenstickerei münters, 1913

Foto: gabriele münter- und johannes eichner-

stiftung, münchen

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Das münter-haus in murnau, 1909Foto: gabriele münter- und johannes eichner-stiftung, münchen

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gabriele münter, inte-rieur im ›russen-haus‹, 1909, Öl auf Pappe,gabriele münter- und johannes eichner-stiftung, münchen

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Kandinsky im garten des münter-hauses in murnau, um 1909Foto: gabriele münter- und johannes eichner-stiftung, münchen

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einer schicksalhaften Macht agieren: Auch wenn es sich wie bei der nächtlichen Ansicht von Mur­nau nur um ein einsames Gefährt handelt, scheint die menschliche Existenz und ihr Ausgeliefert­sein an unsichtbare Kräfte innerer oder äußerer Natur ein geheimes Bildmotiv zu sein. (Abb. 31) Dabei war Werefkin die Einzige aus dem Umkreis des ›Blauen Reiter‹, die bisweilen konkret die menschliche Arbeitswelt thematisierte, etwa in Kalkofen, Fabrik oder Eisengießerei bei Obersdorf. Auch die Landschaft bildet in ihren Kompositionen stets einen spannungsvoll bewegten »Schick­salsrahmen«, wobei ihr die eindrucksvolle Bergkulisse der Alpen zahlreiche Motive lieferte.

Die ›neue Künstlervereinigung münchen‹ 1909 bis 1912

Nach dem künstlerischen Wendepunkt in Murnau im Spätsommer 1908, der auf alle Beteiligten wie eine Befreiung wirkte, für jeden von ihnen zu einer Phase höchster Produktivität und nicht zuletzt zu einem neuen Gemeinschaftsgefühl führte, dachte man offenbar bald daran, zusammen auch in der Öffentlichkeit wirksam zu werden. Schon für den Dezember 1908 sind Aktivitäten in München bezeugt, die auf die Gründung einer Künstlervereinigung hinweisen; wie etwa ein Brief von Adolf Erbslöh an seinen Freund und Verwandten Oscar Wittenstein erkennen lässt, beide wurden wenig später Mitglieder der Gruppe. Die Gründungsurkunde der ›Neuen Künstler­vereinigung München‹ wurde am 22. Januar 1909 von Gabriele Münter handschriftlich abgefasst. Zu den Mitgliedern der ersten Stunde gehörten neben Kandinsky, Jawlensky, Münter, Werefkin, Erbslöh und Wittenstein auch der eng mit Erbslöh befreundete Alexander Kanoldt sowie Paul Baum, Wladimir von Bechtejeff, Moissey Kogan, Alfred Kubin, Karl Hofer, Thomas von Hart­mann und die beiden – allerdings bald wieder ausgeschiedenen – Kunstmaler Hugo Schimmel und Charles Palmié. Im Laufe des Jahres trat auch der Tänzer Alexander Sacharoff bei. (Abb. 32) Der aus Wuppertal­Barmen stammende Adolf Erbslöh war 1904 von der Karlsruher Kunstakade­mie an die Münchner Akademie gewechselt. Spätestens 1908 war er Schüler in dem kleinen Lehr­studio von Jawlensky, das dieser in seiner Atelierwohnung seit dem Tod des verehrten Lehrers Anton Ažbe 1905 auf privater Basis weiterführte. Alexander Kanoldt, Sohn des Landschaftsmalers Edmund Kanoldt und Erbslöhs Studienfreund an der Karlsruher Kunstakademie, besuchte ihn häufig in München und nahm ebenfalls privaten Unterricht bei Jawlensky, bevor er Anfang 1909

Für Kandinsky trat durch die Beschäftigung mit Hinterglasmalerei und volkstümlicher Kunst ein weiterer wichtiger Einfluss hinzu: Ab 1911 tauchen zunehmend religiöse Motive, zum Teil mit russischen Elementen verschmolzen, in seinen Werken auf, die in oft verschlüsselter Symbolik zu zentralen Motiven auch seiner großen, halb abstrakten Gemälde werden. In seinen an der Darstel­lung älterer Vorbilder orientierten Hinterglasbildern treten diese religiösen Symbole noch in kla­rer, wenig verhüllter Gegenständlichkeit zutage, wobei ihn an den Vorbildern auch ihre ausgespro­chen antinaturalistische Darstellung reizte, die – wie es auch Wilhelm Worringer in seiner Schrift Abstraktion und Einfühlung zu begründen suchte – auf ihre Weise zur Abstraktion tendierte (vgl. Tafel 37, 38, 39). Schon in seiner russischen Zeit hatte ihn die volkstümliche Kunst und Bauern­malerei auf einer Studienreise 1889 in das Gouvernement Wologda stark beeindruckt, wo er, den Erinnerungen seiner Rückblicke zufolge, das Gefühl hatte, in Bauernstuben wie in einem gemal­ten Bild herumzugehen: »Ich habe viel skizziert – diese Tische und verschiedene Ornamente. Sie waren nie kleinlich und so stark gemalt, dass der Gegenstand sich in ihnen auflöste.« Insgesamt gelang Kandinsky in den ersten Murnauer Jahren eine Verschmelzung der bislang getrennt gehal­tenen Bereiche seiner symbolischen, figürlichen Welt in der Temperamalerei und Druckgrafik mit den Landschaftselementen seiner Ölgemälde. Autonome Farbe, eine weiterentwickelte, verrät­selte Symbolwelt, die formal zunehmend verschleiert wird, und der Einsatz grafischer Chiffren gehen in seinen Gemälden eine neue Einheit ein, die zugleich den Weg zur Abstraktion und dem damit verbundenen Bruch mit herkömmlichen Bildinhalten eröffnete.

Auch Jawlensky legte sich eine umfangreiche Sammlung von regionalen Hinterglasbildern an; sein Interesse an diesen Objekten geriet weitgehend in Vergessenheit, da er, anders als Münter, Kan­dinsky und wenig später auch Franz Marc, August Macke und Heinrich Campendonk, nicht selbst in dieser Technik gearbeitet hat. Doch es ist durch einige Äußerungen bezeugt – etwa durch die Erinnerungen von Elisabeth Erdmann­Macke oder von Lily Klee, die die Wohnung von Jawlensky und Werefkin in der Schwabinger Giselastraße während des Ersten Weltkriegs betreut hat –, dass auch hier die Wände mit Hinterglasbildern förmlich bedeckt waren. Zudem fügte Jawlensky, ähn­lich wie Gabriele Münter, Glasbilder und religiöse Volkskunst als Motive in einige seiner gemalten Stillleben ein (vgl. Tafel 67, 68). Auch Marianne von Werefkin befasste sich in den Jahren um 1909 intensiv mit Murnauer Motiven, wie unter anderem ihr umfangreicher Zyklus farbiger Skizzen­buch­Zeichnungen zeigt. In ihrer Malerei behielt sie als Einzige der kleinen Gruppe die Tempera­technik auf Karton oder Papier bei, die für Jawlensky und Kandinsky nur in deren Frühwerk eine größere Rolle gespielt hatte. Häufig weisen ihre Temperamalereien in dunkel glühenden Farben eine additive Reihung von Figuren in Straßen­ oder Landschaftsszenerien auf, die gleichsam unter

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marianne von Werefkin und alexej jawlensky (oben) mit alexander sacharoff (l.), dessen schwester und einem Freund, vorn helenenesnakomoff, münchen, 1909Foto: Privatstiftung schloßmuseum murnau

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marianne von Werefkin, abend in murnau, 1907/10,tempera auf Karton, schloßmuseum murnau

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ganz in die bayerische Hauptstadt übersiedelte (Abb. 33). Auch Wladimir von Bechtejeff, bereits seit 1902 in München und noch von St. Petersburg her mit Jawlensky und Werefkin befreundet, wurde durch diesen Kontakt von der Gruppe angezogen, nachdem er sich ab 1906 über zwei Jahre lang zum Studium in Paris aufgehalten hatte. Kandinskys Vermittlung brachte unter anderem den Kom ponisten Thomas von Hartmann und den jungen österreichischen Zeichner Alfred Kubin in die Vereinigung ein. Kubin, der 1904 eine umfangreiche Ausstellung seiner Blätter in der ›Pha­lanx‹ zeigen konnte und dessen Werk Kandinsky in den Münchner Jahren hoch schätzte – ein­schließlich des Anfang 1909 erschienenen und mit Illustrationen Kubins versehenen, fantastischen Romans Die andere Seite –, war spätestens ab 1905 auch mit Jawlensky und Bechtejeff bekannt. Kubins Frau Hedwig, mit der er 1906 nach Zwickledt in Oberösterreich übersiedelte, war noch kurz vor ihrem Weggang aus München von Jawlensky porträtiert worden (vgl. Tafel 94). Auch die aus Kroatien stammende Malerin Erma Bossi, die im Laufe des Jahres 1909 ebenfalls als Mitglied beitrat, verkehrte offenbar schon seit geraumer Zeit im Salon von Jawlensky und Werefkin. Dieser viel fältigen Verbindungen wegen war anfänglich Jawlensky als 1. Vorsitzender der neuen Vereini­gung vorgesehen, nach kurzer Diskussion einigte man sich jedoch auf Kandinsky, »da es sonst niemand konnte«, wie Münter notierte; unter anderem spielten dabei offenbar auch die mangeln­den Deutschkenntnisse Jawlenskys eine Rolle. Dieser wurde zum 2. Vorsitzenden bestimmt; Erbs­löh selbst wurde für die nächsten beiden Jahre zum »I. Schriftführer«, das heißt zum Sekretär der Gruppe, ernannt.Der wohlorganisierten und geschäftsmäßigen Struktur der ›Neuen Künstlervereinigung München‹ entsprach das zunächst eher pragmatische Ziel, das die Gründungsurkunde mit knappen Worten formulierte: »Das Ziel dieser Vereinigung ist, Kunstausstellungen in Deutschland, wie im Ausland zu veranstalten.« Das Anliegen, im Rahmen eines offiziellen Vereins mit ihren neuen Werken an die Öffentlichkeit zu treten, ausgestattet mit einer organisatorischen Struktur und finanziellen Mitteln, war also ein zentrales Motiv für die Gründung der Gruppe, die sich im März 1909 auch eine ausführliche, in einer achtseitigen Broschüre abgedruckte Satzung gab. Doch bald fügte das im Frühjahr 1909 von Kandinsky verfasste ›Gründungszirkular‹ der ›NKVM‹ der pragmatischen Zielformulierung auch eine programmatische Erklärung hinzu: »Ew. Hochwohlgeboren! Wir er ­lauben uns, Ihre Aufmerksamkeit auf eine Künstlervereinigung zu lenken, die im Januar 1909 ins

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adolf erbslöh und alexander Kanoldt, Karlsruher akademie, 1902Foto: städtische galerie im lenbachhaus, münchen, archiv

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adolf erbslöh, märz-sonne, 1909, Öl auf

leinwandstädtische galerie im

lenbachhaus, münchen, Dauerleihgabe aus

Privatbesitz

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adolf erbslöh, großer Park in calenberg, 1912,Öl auf leinwand, städti-

sche galerie im lenbach-haus, münchen

Dauerleihgabe der gabriele münter-

und johannes eichner-stiftung

36

alexander Kanoldt, eisackbrücke, 1911,

Öl auf leinwand, städti-sche galerie im lenbach-

haus, münchen

37

marianne von Werefkin, Ballszene, um 1908,

tempera, Ölkreide auf Pappe, städtische

galerie im lenbachhaus, münchen

38

erma Bossi, interieur mit lampe, 1909,

Öl auf Pappe, städtische galerie im lenbachhaus,

münchen

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erma Bossi, zirkus, 1909, Öl auf Pappe,

städtische galerie im lenbachhaus münchen,

Dauerleihgabe aus Privatbesitz

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erma Bossi, im café, 1910,

Öl auf Pappe, städtische galerie im lenbachhaus,

münchen

41

emmy Dresler, spielende Kinder, um 1907,

tempera auf Pappe, städtische galerie im

lenbachhaus, münchen

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Pierre-Paul girieud, Porträt emilie charmy,

1908, Öl auf Pappe,städtische galerie im

lenbachhaus, münchen,Dauerleihgabe der gabriele münter-

und johannes eichner-stiftung

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Wladimir von Bechtejeff, rossebändiger, 1912,

Öl auf leinwand, gabriele münter-

und johannes eichner-stiftung

Leben getreten ist und die Hoffnung hegt, durch Ausstellen ernster Kunstwerke nach ihren Kräf­ten an der Förderung künstlerischer Kultur mitzuarbeiten. Wir gehen aus von dem Gedanken, dass der Künstler ausser den Eindrücken, die er von der äusseren Welt, der Natur, erhält, fortwäh­rend in einer inneren Welt Erlebnisse sammelt; und das Suchen nach künstlerischen Formen, welche die gegenseitige Durchdringung dieser sämtlichen Erlebnisse zum Ausdruck bringen sol­len – nach Formen, die von allem Nebensächlichen befreit sein müssen, um nur das Notwendige stark zum Ausdruck zu bringen – kurz, das Streben nach künstlerischer Synthese, dies scheint uns eine Losung, die gegenwärtig wieder immer mehr Künstler geistig vereinigt. Durch die Gründung unserer Vereinigung hoffen wir diesen geistigen Beziehungen unter Künstlern eine materielle Form zu geben, die Gelegenheit schaffen wird, mit vereinten Kräften zur Öffentlichkeit zu spre­chen. Hochachtungsvollst Neue Künstlervereinigung München.«»Mit ›Synthese‹, um die sich die Bemühungen der Künstler zentrieren, wurde jener Begriff ins Programm aufgenommen, den Jawlensky ständig im Munde führte. In ihm kristallisierten sich offenbar die kunsttheoretischen Diskussionen des Kreises um Jawlensky und Werefkin. Die Bedeutung des seinerzeit geradezu inflationär verwendeten Begriffs ist dabei vielfältig und teil­weise widersprüchlich. Oft galt er lediglich als Synonym für künstlerische Einheit, harmonische Komposition, Einheit der Konzeption, Kohärenz von Farben und Formen usw. Durch die Ausstel­lung der ›Groupe impressioniste et synthetiste‹, die 1890 in Paris stattfand, gewann er Aktualität und beschäftigte die Gemüter so nachhaltig, dass Gauguin eine seiner kunstgewerblichen Arbei­ten mit dem Motto ›Vive la sintaize!‹ zierte. Der von Jawlensky in die Diskussion gebrachte Begriff wurde deshalb so wichtig, weil er auf etwas abhob, was auch verschiedene französische Künstler in den Mittelpunkt stellten: die Durchdringung von äußeren Eindrücken und inneren Erlebnissen und das Streben nach Formen, die sich von der Natur lösen […]« (Armin Zweite). Durch diese »Synthese« von Form und Inhalt konnten nun auch neue Dimensionen des Seelischen, Geistigen und Fantastischen mit stilistischen Mitteln zum Ausdruck gebracht werden, die über bisherige Strömungen wie etwa den Symbolismus weit hinausgingen.Auch die Werke der nicht unmittelbar zur »Murnauer Kolonie« gehörenden Mitglieder der ›NKVM‹  – in diese eher scherzhafte Bezeichnung bezog Kandinsky in einem brieflichen Gruß auch die ehemalige ›Phalanx‹­Schülerin und Kollegin Emmy Dresler ein, die im Juni 1909 zu Be ­such in Murnau war  – zeigen eine ähnliche Tendenz zur vereinfachenden »Synthese« des Bildgegen standes (Abb. 41). So etwa der 1909 noch in eher verhaltenen, aufgelichteten Farben arbeitende Adolf Erbslöh, dessen Bild Märzsonne in der Struktur von Vorder­ und Hintergrund noch seine vorangegangene Beschäftigung mit dem Neoimpressionismus verrät, und der bald dar­auf in seinen farbstarken, von kräftigen schwarzen Konturen umrissenen weiblichen Akten und Landschaften zu einer weiteren Intensivierung von Farbe und formaler Vereinfachung gelangt (Abb. 34, 35). Sein Studienfreund Alexander Kanoldt begann 1909 mit einer Reihe von lapidaren Porträts und Figurendarstellungen, in denen einfache Farbflächen von schlichten dunklen Kontu­ren zusammengefasst werden. Im Sommer 1911 hielt er sich bei Klausen in Südtirol auf, wo er zu einer Art tektonischem Kubismus fand, der in dunkel leuchtenden Blau­, Grün­ und Rosatönen seine Naturvorbilder eher zu kompakten Massen zusammenfügt als sie im Sinne des klassischen Kubismus zur Mehransichtigkeit (Abb. 36) aufzusplittern.Ebenso zeigen Erma Bossis Interieur mit Lampe oder Zirkus mit ihren großzügigen Flächen, der ornamentalen, fast schmuckhaften Figuration und der suggestiven, hermetischen Farbwirkung eine in der Diktion der Künstler und Künstlerinnen »synthetische« Steigerung des Ausdrucks (Abb. 38, 39, 40). Auch Marianne von Werefkin arbeitete dezidiert mit dem Ausdruckswert ihrer oft in mannigfachen Mischtönen glühenden Farben. In ihrem Bild Ballszene verweisen die rät selhaften Beziehungen der Hauptfiguren und die Reihung und Vervielfachung ähnlichen Personals im Hin­tergrund auf weitere typische Stilmittel ihres sehr persönlichen Symbolismus, mit dem sie in ihren großformatigen Temperabildern dieser Jahre zu einem Höhepunkt gelangt (Abb. 37).In einer Notiz von 1910 versuchte Kandinsky, die Eigenarten verschiedener Mitglieder der ›NKVM‹ unter anderem mit folgenden Worten zu beschreiben: »Manche stellen sich direkt vor die

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Kandinskys. Im Anschluss an die Münchner Station wanderte die 1. ›NKVM‹­Ausstellung unter anderem nach Brünn, Elberfeld, Barmen, Hamburg, Schwerin und Frankfurt am Main, wobei das revolutionär Neuartige ihrer Bilder besonders in der rheinischen Kunstszene auf ein erstes Ver­ständnis stieß.Ungeachtet der negativen Aufnahme in München setzte die ›NKVM‹ ihre Arbeit auch im folgen­den Jahr 1910 fort, in dem die Franzosen Pierre­Paul Girieud und Henri Le Fauconnier ihren Beitritt zu der Vereinigung erklärten. Girieud war bereits an der 1. Ausstellung mit zwei Werken beteiligt gewesen, darunter mit einem den Pressekritiken zufolge farblich sehr kühnen Porträt (Abb. 42). Sowohl Girieud, den Adolf Erbslöh im Frühsommer 1910 in Paris zur Vorbereitung der 2. Ausstellung besuchte, als auch Le Fauconnier wurden zu aktiven Verbindungsmännern der Gruppe in Paris. Girieud stellte offenbar unter anderem den Kontakt zu Picasso her, während Le Fauconnier, Vizepräsident der ›Indépendants‹, unter der Pariser Avantgarde die Werbetrommel für die ›NKVM‹ rührte, was durch seine guten Verbindungen auch zur russischen Künstlerkolonie in Paris wie derum bis nach Moskau drang.Die 2. ›NKVM‹­Ausstellung, die vom 1. bis 14. September 1910 ebenfalls in der Galerie Thann­hauser gezeigt wurde, unterschied sich von der ersten Schau durch die bedeutende Beteiligung ausländischer Gäste, wobei die Auswahl der französischen Avantgarde mit Braque, Derain, van Dongen, Picasso, Rouault und de Vlaminck besonders hervorzuheben ist. Besonders mit den Wer­ken von Braque und Picasso wurden erstmals, kurz nach der ›Sonderbund‹­Ausstellung in Düssel­dorf im Sommer 1910, Bilder des frühen Kubismus in Deutschland vorgestellt. Auch von russi­scher Seite waren auf Betreiben Kandinskys in letzter Minute, zum Teil als Addenda im Katalog, die »Stars« der dortigen Avantgarde, die malenden und schreibenden Brüder David und Wladimir Burljuk sowie Wassily Denisoff, eingeladen worden, ferner der Prager Eugen von Kahler.

Einen Monat nach dieser Ausstellung reiste Kandinsky im Oktober 1910 nach Moskau und konnte dort seine Beziehungen zur russischen Kunstszene persönlich vertiefen. Zunächst knüpfte er in tensive Kontakte zur musikalischen Avantgarde der russischen Hauptstadt, die ihm offenbar Thomas von Hartmann vermittelt hatte, darunter zu Boleslaw Jaworsky und Leonid Sabanejew, die wie Hartmann selbst Schüler bei Sergej Tanejew am Moskauer Konservatorium waren. Bezüg­lich der malerischen Avantgarde revidierte beziehungsweise erweiterte Kandinsky hier sein bis­heriges Bild. Zum einen bedauerte er, den noch ganz dem Jugendstil verpflichteten Denisoff in die ›NKVM‹­Ausstellung aufgenommen zu haben, zum anderen lernte er Nikolaj Kulbin kennen,

Natur und ändern sie, dem seelischen Bedürfnis folgend (Jawlensky, Münter, Kanoldt, Erbslöh). Andere behandeln die Natur ebenso, haben sie aber gar nicht vor Augen im Moment der Arbeit (Werefkin, Bossi). Wieder andere machen Sachen, die sie größtenteils in realer Form nie gesehen haben (Kubin, Dresler, Kandinsky).«Schon ab dem Frühjahr 1909 versuchte die frisch gegründete ›NKVM‹ mit einer gemeinsamen Ausstellung an die Öffentlichkeit zu treten, stieß jedoch zunächst auf Schwierigkeiten. In dieser Situation wandte sich Kandinsky an Hugo von Tschudi, den gerade nach München neu berufenen Generaldirektor der bayerischen Museen, der kurz zuvor wegen seiner fortschrittlichen Ankaufs­politik von seinem Posten an der Nationalgalerie Berlin entlassen worden war. In seinem fast 30 Jahre später geschriebenen Erinnerungstext an Franz Marc von 1936 schreibt Kandinsky dazu: »Ohne einen ›Deus ex machina‹ wäre aber aus allen diesen begeisterten Plänen nichts geworden, da wir für unsere Ausstellung einen Kunsthändler brauchten und keinen bekamen. Zu diesem kritischen Augenblick hörten wir, daß Geheimrat Hugo von Tschudi als Generaldirektor der sämt­lichen bayerischen Museen berufen wurde. Es war natürlich ziemlich kühn (manche sagen ›leicht­sinnig‹, manche – ›frech‹), diesen großen Mann um Hilfe zu bitten.« Kandinsky aber antichamb­rierte tatsächlich bei Tschudi. »Da er fast keinen von uns kannte, […] bat er, für ihn eine kleine Ausstellung unsrer Werke privatim zu veranstalten […], H. v. Tschudi erschien auf die Minute und blieb in der kleinen Ausstellung mindestens eine Stunde. Seine Bemerkungen waren trefflich.« »Er setzte sich für uns mit Tat ein, und diese Tat fiel ihm nicht leicht, da Kunsthändler als Geschäftsmenschen gezwungen sind, an Verdienste zu denken. Heinrich Thannhauser hatte damals vielleicht die schönsten Ausstellungsräume in ganz München, und diese Räume erzwang Tschudi bei ihm. Seine nicht nur offizielle, sondern vielmehr rein menschliche Autorität, seine – ich kann ruhig sagen  – idealistische Überzeugungskraft hat Thannhauser zu einer tatsächlich ›heroischen‹ Tat gebracht. Diesen Heroismus hatte er bald bereut, vielleicht verflucht. Ich nehme ihm das nicht übel, weil wir, die ›Bösewichte‹, in unseren Ateliers blieben, und der arme Mann ganz allein den ganzen Sturm der Empörung über sich ergehen lassen mußte. Die Presse ließ ihre ganze Wut gegen die Ausstellung los, das Publikum schimpfte, drohte, spuckte […] auf die Bilder. Ich gebe gern zu, daß unsere Bilder im Gegensatz zur offiziellen ›Sezession‹, zur stillen ›Scholle‹, wie eine Bombe wirken mußten und daß die Erregung eine natürliche war.«Heinrich Thannhauser hatte 1905 zusammen mit Josef Brakl, ehemaliger Opernsänger und Büh­nenbildner, in der Goethestraße 64 die sogenannte »Moderne Kunsthandlung« gegründet, die ein Forum der gemäßigten Moderne der ›Münchener Secession‹ und des ›Scholle‹­Kreises um Leo Putz und Fritz Erler wurde. Vier Jahre später trennte sich Thannhauser jedoch von seinem Part­ner und eröffnete im November 1909 – erst kurz vor der 1. Ausstellung der ›NKVM‹ – eine eigene Galerie in bester Innenstadtlage im Arcopalais an der Theatinerstraße 7, Ecke Maffeistraße. (Abb. 44)Dort fand im repräsentativen, sogenannten »Oberlichtsaal« im Erdgeschoss, der sich im Atrium in der Mitte über 250 Quadratmeter erstreckte und mit einem flachen Glasdach überdeckt war, dann vom 1. bis 15. Dezember 1909 die 1. Ausstellung der ›Neuen Künstlervereinigung München‹ statt. Sie zeigte mindestens 128 Werke folgender Mitglieder und Gäste: Paul Baum, Wladimir von Bechtejeff, Erma Bossi, Emmy Dresler, Robert Eckert, Adolf Erbslöh, Pierre Girieud, Karl Hofer, Alexej Jawlensky, Wassily Kandinsky, Alexander Kanoldt, Moissey Kogan, Alfred Kubin, Gabriele Münter, Carla Pohle und Marianne von Werefkin. Diese 1. Ausstellung erntete, wie von Kandinsky eindrücklich geschildert, äußerst negative Kritiken in der Münchner Presse, wobei besonders die »Farbenorgien« Kandinskys und Jawlenskys, aber auch die ungewohnte Schlichtheit der Darstel­lungen etwa von Münter und Kanoldt Zielscheiben gehässigen Spotts waren. Auch im Publikum löste die Ausstellung einen Sturm der Entrüstung aus und Heinrich Thannhauser war nahe daran, seine Galerie zu schließen. »Für uns Aussteller war die Empörung unverständlich. Wir standen bereits mit beiden Füßen im Geist der erwachten Kunst und lebten in diesem Geist mit Seele und Leib. Wir wunderten uns nur, dass in der ›Kunststadt‹ München mit Ausnahme von Tschudi aus keiner Stelle ein Sympathiewort an uns gerichtet wurde«, heißt es dazu in den Erinnerungen

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moderne galerie hein-rich thannhauser, der

sogenannte »oberlicht-saal« im erdgeschoss

der galerieFotografie aus dem

eröffnungskatalog der galerie, herbst 1909

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Auch diese 2. ›NKVM‹­Ausstellung im Herbst 1910 rief heftigste und höchst abfällige Polemiken in der lokalen Presse hervor, wobei sich insbesondere der Kritiker der Münchner Neuesten Nach­richten, M. K. Rohe, mit Bemerkungen wie »unheilbar irrsinnig«, »schamlosen Bluffern« und »Sensationsbedürfnis« hervortat und damit die von ihm so genannte »Münchner Vereinigung öst­licher Europäer« jenseits der Grenzen der Kritik beleidigte.In dieser Situation jedoch erhielt die ›NKVM‹ von unvermuteter Seite einen Beistand, der für den weiteren Verlauf der Entwicklung sehr folgenreich werden sollte. Die Ausstellung hatte auch Franz Marc gesehen, der die neuen Aktivitäten der ›NKVM‹ von Anfang an aus der Ferne beobachtet und als verwandte Bestrebungen begrüßt hatte. In ihren persönlichen Erinnerungen weist Maria Marc mit Nachdruck darauf hin, dass Franz Marc nicht erst – wie lange angenom­men  – diese 2. ›NKVM‹­Ausstellung gesehen hatte und auf die Gruppe aufmerksam geworden war, sondern bereits die 1. Ausstellung Ende 1909 einen entscheidenden Eindruck auf ihn gemacht hatte, der ihn zusammen mit einer weiteren Begebenheit zu Beginn des Jahres 1910 aus seiner privaten und künstlerischen Isolierung herausführen sollte. »Im Herbst dieses Jahres 1909 sah man in München an den Anschlägen sonderbare Plakate  – sehr farbige und außer­ordentlich auffallende Formen – für eine Ausstellung der Neuen Künstler­Vereinigung München. [Abb. 45] F M. war sprachlos, dass es so etwas geben sollte. Diese Sprachlosigkeit verwandelte sich bald in hellste Begeisterung, nachdem er die Ausstellung gesehen hatte. Er wäre am liebs­ten gleich zu den Leuten hingelaufen – um sie kennen zu lernen. Aber bittere Erfahrungen mit Kollegen hatten ihn zurückhaltend gemacht, er wartete also ab und ärgerte sich sehr über die blöden Kritiken, die die Zeitungen brachten. Es war die erste Ausstellung der N. K. V. M. mit Kandinsky, Jawlensky, Werefkin, Bechtejeff, Kanoldt, Erbslöh, Münter, Bossi  – Die Wirkung war ungeheuerlich – u. die Begeisterung, in die Franz geriet, verlieh ihm einen großen Schwung und er fühlte sich ermutigt, den Ideen, die er für sich schon lange hatte, mehr Raum in sich zu geben.«Als dann die 2. Ausstellung ein Jahr später ebenfalls die übelsten Anwürfe der Presse über sich ergehen lassen musste, fühlte sich Franz Marc jetzt veranlasst, auf eigene Initiative eine positive Gegendarstellung zu schreiben und sandte das Manuskript an den Galeristen Thannhauser, der es dem damaligen Sekretär der Gruppe Erbslöh weiterleitete. Hocherfreut über diesen Zuspruch, bat die ›NKVM‹ darum, Marcs Kritik zusammen mit dem Pamphlet des Kritikers Rohe in einer Gegenüberstellung als kleine Broschüre drucken zu dürfen und dem Katalog beizulegen, was für die weiteren Stationen des ›Turnus‹ der Ausstellung durch Karlsruhe, Mannheim, Hagen, Berlin, Dresden und Weimar auch tatsächlich geschah.Die sehr interessanten kunsttheoretischen Implikationen von Marcs Text, der als »leidenschaft­liche Verteidigungschrift« (Klaus Lankheit) bezeichnet worden ist, können hier nur am Rande gestreift werden. Marc bemüht sich darin, die dem Publikum noch ungewohnte, neuartige Beson­derheit der ›NKVM‹­Bilder zu beschreiben: »[…] die völlig vergeistigte und entmaterialisierte Innerlichkeit der Empfindung, der im ›Bild‹ beizukommen unsere Väter, die Künstler des neun­zehnten Jahrhunderts, nie auch nur versuchten. Dies kühne Unterfangen, die ›Materie‹, an der sich der Impressionismus festgebissen hat, zu vergeistigen, ist eine notwendige Reaktion, die unter Pont­Aven unter Gauguin begann und bereits unzählige Versuche aufweist.« In seinen Erörterun­gen dazu erwähnt er insbesondere Kandinsky – »Welche künstlerische Einsicht birgt dieser sel­tene Maler! Die grosse Konsequenz seiner Farbe hält seiner zeichnerischen Freiheit die Waage – ist dies nicht zugleich eine Definition der Malerei?« –, aber auch Wladimir von Bechtejeff. Wie oben erwähnt, war Bechtejeff 1878 in Moskau geboren, auf Anraten Jawlenskys um 1902 zum Studium der Kunst nach München gekommen und hatte auf der 1. Ausstellung der ›NKVM‹ 1909 eine Amazonenschlacht ausgestellt, die Marc ebenfalls als beispielhaft dafür lobte, »geistige Stim­mungen auszulösen, die mit der Materie des Dargestellten wenig zu tun haben, aber einer neuen, sehr vergeistigten Ästhetik den Boden bereiten«. Um 1912 schuf Bechtejeff, nun in stärkerer Rezeption der Farbigkeit Kandinskys, seinen Rossebändiger, dessen Wirkung ebenfalls auf einer stark ornamentalen und flächenhaft abstrahierenden Struktur beruht. (Abb. 43)

den St. Petersburger Künstler, Musiktheoretiker, Arzt und 1909 Gründer der Künstlervereinigung ›Treugolnik‹ (›Dreieck‹), der Ende 1911 aus dem noch unveröffentlichten Manuskript von Kandins­kys Über das Geistige in der Kunst vor dem Allrussischen Künstlerkongress in St. Petersburg vor­lesen sollte. Kulbin, Förderer des Kubofuturismus, gehörte jedoch zur Partei der westlich orientierten Avantgarde Russlands. Darüber hinaus lernte Kandinsky jetzt in Moskau auch die oppositionellen Künstler wie Michail Larionow, Natalja Gontscharowa und Aristarch Lentulow per­sönlich kennen, die das Gewicht der Rückbesinnung auf die russische Volkskunst weitaus radikaler und die Hinwendung zu einer neuen Form des Primitivismus vertraten. Die letztgenannten Künst­ler waren ihm kurz zuvor durch David Burljuk für die 2. ›NKVM‹­Ausstellung empfohlen worden, zu diesem Zeitpunkt aber hatte Kandinsky ihre Einladung nach München noch abgelehnt. Nun aber erkannte er das Potenzial des Neoprimitivismus und stellte den Kontakt zu deren neu gegrün­deter Gruppe ›Bubnovi Valet‹ (›Karo­Bube‹) her. Schon im Dezember 1910 öffnete die erste Aus­stellung von ›Bubnovi Valet‹ ihre Pforten in Moskau. Neben den Russen Larionow, Gontscharowa, David und Wladimir Burljuk, Lentolow, Malewitsch und Maschow waren dort an der Seite von Kandinsky und Jawlensky weitere Mitglieder der ›Neuen Künstlervereinigung München‹, wie Münter, Werefkin, Erbslöh, Kanoldt und Bechtejeff, vertreten. Im November 1910 fuhr Kandinsky nach Odessa weiter, wo er bereits im Vorfeld auf eine Beteiligung der ›NKVM‹­Künstler am ›2. Salon Internationale Kunstausstellung‹ von Wladimir Isdebsky hingewirkt hatte. Durch Isdebsky, der um 1903 in München studiert und im ›Salon‹ der »Giselisten« Werefkin und Jawlensky verkehrt hatte, lernte Kandinsky bei dieser Gelegenheit auch die Brüder Burljuk persönlich kennen.Diese hatten wiederum für die 2. ›NKVM‹­Ausstellung in der Galerie Thannhauser im Herbst in München ein Vorwort geliefert, denn dem Katalog waren diesmal, auch um den internationalen Anspruch des Unternehmens zu betonen, insgesamt vier Vorworte vorangestellt worden, neben Kandinsky und seinen russischen Kollegen waren auch die Franzosen Henri Le Fauconnier und Odilon Redon mit einem Text vertreten.Kandinskys Vorwort verlässt dabei am radikalsten den Boden bisheriger Kunsttheorie, wenn er von dem »tiefen Riß« handelt, »durch Zusammenstoß des Geistigen mit dem Materiellen verur­sacht«. Nicht nur theoretisch, auch in seiner künstlerischen Arbeit hatte sich Kandinsky zu diesem Zeitpunkt von der Mehrzahl seiner Mitstreiter entfernt, wobei besonders seine farbenglühende, die gegenständliche Darstellung schon weit überschreitende Komposition II auf der Ausstellung auch für die gemäßigten Mitglieder innerhalb der ›NKVM‹ ein Stein des Anstoßes wurde.

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Wassily Kandinsky, Plakat für die 1. ausstellung der ›neuen Künstler-vereinigung münchen‹, 1909, Farblithografie,städtische galerie im lenbachhaus, münchen

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den modernen Franzosen, den Impressionisten und Matisse ausgebildet und um 1909 erstmals einen eigenen Stil kompakter, homogener Farbflächen entwickelt hatte, war im Herbst 1909, damals erst 22­jährig, mit seiner jungen Frau Elisabeth von Bonn für ein Jahr an den Tegernsee gezogen, um sich hier ungestört seiner Malerei zu widmen. Elisabeth Macke stammte aus einer wohlhabenden Bonner Familie, ihr Onkel Bernhard Koehler, ein vermögender Berliner Fabrikant und Kunstsammler, war zu einem Gönner und Förderer des jungen Macke geworden, der Koehler seinerseits auch auf gemeinsamen Paris­Reisen half, dessen umfangreiche Sammlung bedeu­tender und qualitätvoller Werke der fran zösischen und deutschen Avantgarde aufzubauen (vgl. Tafel 76). Welch eine wichtige Rolle Bernhard Koehler wenig später als Mäzen des ›Blauen Reiter‹ und besonders auch für Franz Marc spielen sollte, konnte damals noch niemand ahnen. In den ersten Januartagen 1910 war sein Sohn Bernhard Koehler jun. zusammen mit August Mackes Vet­ter, dem angehenden Maler Helmuth Macke, in Tegernsee zu Besuch. Auf einem Bummel durch die Kunsthandlungen Münchens wurden alle drei bei Josef Brakl auf Lithografien von Franz Marc aufmerksam und waren davon so begeistert, dass sie den ihnen bislang unbekannten Maler per­sönlich in seinem Atelier in der Schwabinger Schellingstraße aufsuchten. Von dieser ersten Begeg­nung, der sehr bald ein Gegenbesuch von Franz und Maria Marc in Tegernsee folgte, hat sich eine sehr lebendige, viel zitierte briefliche Schilderung von Franz Marc an seine Gefährtin erhalten. In ihren 1950 durch Klaus Lankheit veröffentlichten Erinnerungen bezieht sich Maria Marc darauf und fügt in Bezug auf den Atelierbesuch hinzu: »Es gab viel Berührungspunkte durch Paris, das Aug. Macke u. FM. genau kannten u. beide sehr liebten. […] Es kam für FM. eine Schicksals­wende  – denn nun war er nicht mehr allein. Ausserdem vermittelte der junge Koehler einige Verkäufe durch seinen Vater, sodass F M. auch äusserlich es wieder leichter hatte. Auch Macke hatte die Ausstellung der N. K. V. M. mit grossem Interesse gesehen u. es gab einen nicht enden wollenden Gesprächsstoff, wenn die neuen Freunde beisammen waren und es gab für Beide einen grossen Ansporn für neue Arbeitsideen.«

Zwischen Macke und Marc entwickelte sich rasch eine intensive, künstlerisch befruchtende Freundschaft, die sich auch nach Mackes Rückkehr von Tegernsee nach Bonn im Herbst 1910 in einem regen Briefwechsel fortsetzte, der hochinteressante Einblicke in ihre künstlerische und kunsttheoretische Diskussionen gewährt. Wie von Maria Marc erwähnt, lernte Franz Marc bald auch Mackes Onkel, Bernhard Koehler sen., kennen, der dem Künstler bei einem Besuch in Mün­chen im Februar 1910 spontan dabei half, seine erste Einzelausstellung in der Kunsthandlung Josef Brakl zu hängen und gleich einige Werke aus der Ausstellung kaufte. (Abb. 47)Neben der entscheidenden Künstlerfreundschaft mit August Macke, seiner ersten Einzelausstel­lung in München und der bald einsetzenden Förderung durch einen generösen Sponsor trat für Franz Marc zu Beginn des Jahres 1910 noch eine weitere wichtige Begegnung hinzu: Ebenfalls noch im Februar lernte er den Verleger Reinhard Piper kennen. Er hatte Piper aufgesucht, weil dieser als einer der ersten Käufer bei Brakl eine Lithografie von ihm erworben hatte und jeder der damals noch spärlichen Verkäufe dem Künstler aufgefallen war. Piper nahm bei dieser ersten persönlichen Begegnung kurz entschlossen noch eine Abbildung von Franz Marcs Bronzeplastik Zwei Pferde in sein gerade in Arbeit befindliches Buch Das Tier in der Kunst auf und bat den Künstler zugleich um eine schriftliche Stellungnahme. Auf diese Weise schrieb Marc seinen ers­ten kunsttheoretischen Text mit der berühmt gewordenen Passage: »Meine Ziele liegen nicht in der Linie besonderer Tiermalerei. Ich suche einen guten, reinen und lichten Stil, in dem wenigs­tens ein Teil dessen, was wir moderne Maler zu sagen haben werden, restlos aufgehen kann. Ich suche mein Empfinden für den organischen Rhythmus aller Dinge zu steigern, suche mich pan­theistisch einzufühlen in das Zittern und Rinnen des Blutes in der Natur, in den Bäumen, in den Tieren, in der Luft […]. Ich sehe kein glücklicheres Mittel zur ›Animalisierung‹ der Kunst, wie ich es nennen möchte, als das Tierbild. […] Meine Plastik ist ein tastender Versuch nach derselben Richtung. Das Kreisen des Blutes in den beiden Pferdekörpern, ausgedrückt durch die mannig­faltigen Parallelismen und Schwingungen in den Linien.«

Franz marc wird mitglied der ›neuen Künstlervereinigung münchen‹

Franz Marc, 1880 als Sohn des Malers Wilhelm Marc in München geboren, hatte an der Münch­ner Akademie bei Gabriel Hackl und Wilhelm von Diez studiert, die ihren Schülern einen gemä­ßigten Naturalismus und tonige Freiluftmalerei vermittelten. Bald darauf aber begann er, ähnlich wie Kandinsky in seinen Anfängen, auf sich selbst gestellt vor der Natur zu arbeiten und hielt sich zu diesem Zweck immer wieder im bayerischen Alpenvorland auf, ab 1902 zunächst in Lenggries, später auf der Staffelalm oberhalb von Kochel. Bis zu seiner endgültigen Übersiedlung nach Sin­delsdorf im Frühjahr 1910 hatte er in München relativ isoliert für sich gearbeitet, sieht man von seinen Kontakten zu einzelnen Künstlern der ›Scholle‹ und zu privaten Kunst­ und Kunstgewer­beschulen ab, denen er aus chronischem Geldmangel in diesen ersten Jahren seinen Unterricht anbot. Früh schon konzentrierte sich Franz Marc auf das Tierbild, das für ihn zunehmend eine Metapher für kreatürliche Reinheit und Unschuld wurde, mit der er auch eine Läuterung für die künstlerische Gestaltungsweise zu finden hoffte.

Nach Jahren des künstlerischen und auch des persönlichen Suchens – unter anderem war er 1907 mit Marie Schnür, der Lehrerin seiner Freundin Maria Franck an der Schule des ›Münchner Künstlerinnen­Vereins‹, eine kurzfristige Ehe eingegangen – bedeutete der Sommeraufenthalt in Lenggries 1908 eine erste entscheidende Wende in seiner Malerei. Daneben kam es auch zu einer weiteren persönlichen Stabilisierung und Annäherung an Maria Franck (Abb. 46). In Lenggries hellte sich Marcs Palette, an van Gogh während einer zweiten Frankreichreise 1907 erneut geschult, deutlich auf, und über Monate hinweg entstand nun das erste große Bild einer rhyth­misch bewegten Pferdegruppe in der Landschaft – eine Kompositionsidee, mit der sich der Künst­ler nun mehrere Jahre beschäftigen sollte. Gerade in den schwingenden Linien seiner Pferde­gruppen versuchte Marc neben einer Verallgemeinerung und Abstrahierung der Form seinem Ziel der »Animalisierung«, das heißt Verlebendigung, der Kunst näherzukommen.Anfang 1910 kam es dann zu einer ersten Begegnung mit August Macke, die Marcs weiterer künst­lerischer Entwicklung die entscheidenden Impulse gab. Macke, der sich bislang überwiegend an

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Franz und maria marc in lenggries, 1908Foto: gabriele münter- und johannes eichner-stiftung, münchen

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Franz marc, zwei Katzen, Plakat für die erste einzelausstellung von Franz marc, moderne Kunsthandlung josef Brakl, münchen, 1910,Farblithografie, städtische galerie im lenbachhaus, münchen

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jetzt einen (sehr guten) Kanoldt kaufen und bat mich, wegen Preis etc mit ihm zu reden«, schreibt Marc am 28. Januar 1911 an seine Gefährtin. Für Franz Marc selbst war ab diesem Zeitpunkt eine materielle Unterstützung durch Bernhard Koehler abgemacht: der Sammler, der sich in Marcs Atelier in Sindelsdorf über »solche ›Riesenschritte‹ in der Entwickelung in kaum einem Jahr!« fast nicht beruhigen konnte, setzte dem Maler nun eine monatliche Leibrente aus, die gegen regel­mäßige Bilderkäufe verrechnet wurde und ihm ein zwar nicht üppiges, doch ausreichendes Ein­kommen sicherte.Eine Woche später, am 4. Februar 1911, erfolgte dann der Besuch einer Delegation der ›NKVM‹ – bestehend aus Jawlensky, Werefkin und Erbslöh – in Sindelsdorf, um endlich auch die Malerei des neuen Künstlerfreundes in dessen Atelier zu begutachten, die man bislang noch gar nicht kannte. Als Ergebnis dieses außerordentlich enthusiastisch und freundschaftlich verlaufenen Besuchs wurde Marc unmittelbar darauf »einstimmig zum Mitglied und dritten Vorsitzenden« der Ver­einigung gewählt. In dieser Funktion wurde er bald zu einem noch engeren Bundesgenossen für Kandinsky, der seinerseits einige Wochen zuvor, am 10. Januar, seinen Posten als 1. Vorsitzender in einem förmlichen Brief an Jawlensky niedergelegt hatte. In diesen bewegten Wochen zu Beginn des Jahres 1911, in denen sich die schwelenden Konflikte zwischen den gemäßigten und den pro­gressiven Mitgliedern der Vereinigung verschärft hatten, begannen Kandinsky und Marc sich bald eng aneinanderzuschließen und ließen dabei ein tiefes gegenseitiges Verständnis für ihr künstle­risches Streben erkennen. So berichtete Marc etwa seiner Freundin Maria kurz nach seiner Auf­nahme in die ›NKVM‹ in einem Brief vom 10. Februar von einem erneuten Aufenthalt in Mün­chen unter anderem von einem gemeinsamen Mittagessen mit Kanoldt bei dem wohlhabenden Ehepaar Erbslöh und fährt fort: »Am anderen Morgen wanderte ich zu Kandinsky! Die Stunden bei ihm gehören zu meinen denkwürdigsten Erfahrungen. Er zeigte mir viel, ältere und neueste Sachen. Letztere alle ungeheuer stark; im 1. Moment fühle ich die große Wonne seiner starken, reinen, feurigen Farben, u. dann beginnt das Gehirn zu arbeiten; man kommt nicht los von diesen Bildern u. wenn man fühlt, dass einem der Kopf zerspringt, wenn man sie ganz auskosten will. […] Kandinsky hofft sehr auf eine gute Nachbarschaft im Sommer Murnau­Sindelsdorf. Darauf freue ich mich auch.« Tatsächlich kam es in der Folgezeit zu regen Besuchen und Gegenbesuchen in Sindelsdorf, Murnau und München, durch die sich der Kontakt zwischen beiden Künstlern weiter intensivierte. Bei einem seiner Besuche im Hochsommer 1911 fotografierte Kandinsky das befreundete Künstlerpaar in seiner Gartenlaube in Sindelsdorf (Abb. 48).In einem äußerst wichtigen Brief an Marc vom 19. Juni 1911 äußerte Kandinsky erstmals die Idee, zusammen mit Franz Marc einen Kunst­Almanach herauszugeben, der das aktuelle Kunstleben auf verschiedenen Gebieten widerspiegeln sollte: »Nun! ich habe einen neuen Plan. Piper muss

Nach Marcs oben erwähnter, schriftlicher Parteinahme für die ›NKVM‹ im September 1910 kam es bald darauf auch zu den ersten persönlichen Treffen, zunächst mit Adolf Erbslöh, Alexej Jaw­lensky und Marianne von Werefkin. Maria Marc schreibt dazu in ihren Erinnerungen: »Es ergab sich nun ganz natürlich ein persönliches Bekanntwerden. F M. besuchte Erbslöh – Jawlensky; und lernte die übrigen Mitglieder kennen – mit Ausnahme von Kandinsky, der damals verreist war. Man war gegenseitig erfreut und begeistert voneinander.« Wassily Kandinsky hielt sich zu dieser Zeit, von Oktober bis Dezember 1910, auf der längeren Reise in seiner Heimatstadt Moskau und in Odessa auf, wo er, wie im vorigen Abschnitt geschildert, Kontakte und Ausstellungsbeteiligun­gen für die ›NKVM‹ bei russischen Künstlervereinigungen und dem ›Salon Isdebsky‹ vermittelte. Erst nach seiner Rückkehr Weihnachten 1910 trafen Kandinsky und Franz Marc am Neujahrs­abend 1911 im Salon von Jawlensky und Werefkin zusammen. Sie hatten den neuen Künstler­freund eingeladen, er kam in Begleitung von Helmuth Macke, dem jungen Vetter von August Macke und angehenden Maler, der um die Jahreswende 1910/11 aus dem Rheinland nach Sindels­dorf umgezogen war, zunächst für drei Monate, um ebenfalls in ländlicher Zurückgezogenheit zu leben und zu arbeiten. Er blieb fast ein ganzes Jahr und bildete nach der Rückkehr von Maria Franck, die sich zu dieser Zeit bei ihren Eltern in Berlin aufhielt, nach Sindeldorf mit ihr und Franz Marc ein freundschaftliches »Kleeblatt«. Beeindruckt und beflügelt von der ersten persön­lichen Begegnung mit Kandinsky berichtete Marc am 2. Januar 1911 Maria nach Berlin: »Gestern abend war ich mit Helmut [sic] [Macke] bei Jawlensky und hab mich den ganzen Abend mit Kan­dinsky und Münter unterhalten – fabelhafte Menschen. Kandinsky übertrifft alle, auch Jawlensky an persönlichem Reiz; ich war völlig gefangen von diesem feinen innerlich vornehmen Menschen, und äußerlich patent bis in die Fingerspitzen. Dass den die kleine Münter, die mir sehr gefiel, ›glühend‹ liebt, das kann ich ganz begreifen.« Voller Vorfreude auf den künftigen Umgang, der sich bald mit überraschender Intensität verwirklichen sollte, fährt er fort: »Sie wollen mich und Helmut nun alle in Sindelsdorf besuchen, desgleichen wir Kandinsky und Münter in Murnau. Ach, wie freue ich mich, später mit Dir mit diesen Leuten zu verkehren, du wirst Dich sofort wohlfühlen, auch mit Münter, glaube ich.« – Mit diesen fast prophetischen Worten beginnt das Jahr 1911 und mit ihm eine der folgenreichsten Künstlerfreundschaften, die die Malerei des 20. Jahrhunderts nachhaltig verändern und prägen sollte und noch vor Ablauf desselben Jahres zur Bildung des ›Blauen Reiter‹ führte.

almanach Der Blaue reiter

Das Jahr 1911 begann mit intensiven Kontakten der neuen und älteren Künstlerfreunde unter­einander. Am 2. Januar, einen Tag nach dem gemeinsam verbrachten Neujahrsabend, besuchte die ›NKVM‹ zusammen mit Franz Marc ein Konzert von Arnold Schönberg in München, unter dessen Eindruck Kandinsky kurz darauf sein berühmtes Bild Impression III (Konzert) malte (vgl. Tafel 17). Das große Interesse, auf das die neuartige Musik Schönbergs bei Kandinsky stieß, veranlasste den Maler, dem ihm persönlich unbekannten Komponisten wenig später einen Brief zu schreiben und dabei ohne Umschweife eine inhaltliche Diskussion zu beginnen, in der seine These von der Ver­wandtschaft der »Dissonanzen in der Kunst«, in der aktuellen Malerei wie in der musikalischen Komposition, von Schönberg aus Wien ebenso lebhaft erwidert und fortgesetzt wurde.Ebenfalls noch im Januar dieses Jahres, kurz bevor er selbst als Mitglied in die ›NKVM‹ aufgenom­men wurde, vermittelte Marc wiederum einen Besuch seines neuen Gönners Bernhard Koehler bei den Kollegen der Vereinigung, der höchst erfolgreich verlief »Dann zu Erbslöh! Es waren viele Sachen von Kanoldt und Bossi herbeigeschafft; Erbslöh und Kanoldt benahmen sich außerordent­lich taktvoll und geschickt; der Eindruck bei Köhler war von vornherein sympathisch und vielver­sprechend. Wir waren mehrere Stunden dort, kramten alles durcheinander; Köhler erwärmte sich immer mehr bis zu wirklicher Begeisterung und schied mit vielem Händedrücken und freut sich jetzt schon, im Mai (zu m. Ausstellung!) wiederzukommen, u. a. Jawlensky etc. zu besuchen. Er will

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Franz und maria marc in der laube in

sindelsdorf, 1911Foto: gabriele münter- und johannes eichner-

stiftung, münchen

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am Almanach einen entscheidenden Schritt von der Gruppe entfernt. Doch noch lebte die ›NKVM‹, und als Gabriele Münter den Sommer, getrennt von Kandinsky, mehrere Wochen auf Besuch bei ihren Verwandten in Berlin, Herford und Bonn verbrachte, versuchten Kandinsky und Marc mit Briefen aus Murnau und Sindelsdorf sie mit beinahe jungenhafter Begeisterung dazu anzufeuern, auf ihrer Reise bei den fortschrittlichen rheinischen Museumsleuten, etwa in Essen, Wuppertal, Barmen, Düsseldorf und Köln, für die ›NKVM‹ Werbung zu machen. In Berlin stattete Münter Bernhard Koehler einen Besuch ab und lernte in Bonn bei ihrem Bruder Carl auch August Macke persönlich kennen. Beide waren zunächst begeistert voneinander und fuhren unter ande­rem gemeinsam in den Gereonsclub nach Köln, dem kleinen progressiven Ausstellungslokal von Emmy Worringer, die ein halbes Jahr später die 1. ›Blauer Reiter‹­Ausstellung übernahm. Wäh­rend dieses Aufenthaltes entstand Gabriele Münters Foto von August und Elisabeth Macke mit dem Sohn Walter im Garten ihres Hauses in Bonn (Abb. 49).Kandinsky hatte den sehr heißen Sommer 1911 fast ausschließlich in Murnau verbracht, wo er sich neben der Gartenpflege in seiner künstlerischen Tätigkeit intensiv mit den Themen der Auferste­hung und des Jüngsten Gerichts in Hinterglasbildern, Holzschnitten und in großen Gemälden beschäftigte. Im September, nach Münters Rückkehr, begann ein konzentriertes Arbeiten am Almanach, der aus dem Stadium der Planungen mit einer Fülle von Aktivitäten in die Phase der Umsetzung überführt wurde. Unter anderem schrieb man an die Gebrüder Burljuk nach Russ­land, an Max Pechstein wegen eines Beitrags über die ›Brücke‹, an Alfred Kubin nach Zwickledt, an Le Fauconnier in der Hoffnung, dass er »einen Franzosen besorge«, und mehrfach an Girieud wegen eines schriftlichen Beitrags, verbunden mit dem Wunsch, er möge Beispiele aus seiner Sammlung volkstümlicher ›Images d’Épinal‹ als Illustrationen zur Verfügung stellen.Auch für die Einbeziehung der zeitgenössischen Musik, die Kandinsky von Anfang an als not­wendigen Bestandteil skizziert hatte, setzte man sich nun intensiv ein. Unter den Textbeiträgen des fertigen Almanach, bei denen wegen der Säumigkeit der Korrespondenten einige Abstriche gemacht werden mussten, befinden sich immerhin vier wichtige Beiträge zu diesem Bereich: die Aufsätze von Arnold Schönberg Das Verhältnis zum Text, Thomas von Hartmann Über die Anarchie in der Musik, Leonid Sabanejew ›Prometheus‹ von Skrjabin und Nikolaj Kulbin Die freie Musik, ferner Notenbeilagen von Kompositionen Arnold Schönbergs und seiner Schüler Alban

Verlag besorgen und wir beide […] die Redakteure sein. Eine Art Almanach (Jahres =) mit Repro­duktionen und Artikeln nur von Künstlern stammend. In dem Buch muss sich das ganze Jahr spiegeln, und eine Kette zur Vergangenheit und ein Strahl in die Zukunft müssen diesem Spiegel das volle Leben geben.« Von Anfang an benennt Kandinsky in diesem Brief auch die Gegenüber­stellung bisher heterogen gesehener Kunsterzeugnisse verschiedener Zeiten und Gattungen sowie von »Hochkunst« und primitiver Kunst als ein tragendes Prinzip des geplanten Buches: »Da brin­gen wir einen Ägypter neben einem kleinen Zeh [gemeint ist eine Kinderzeichnung], einen Chi­nesen neben [Henri] Rousseau, ein Volksblatt neben Picasso u. drgl. noch viel mehr! Allmählich kriegen wir Litteraten und Musiker. Das Buch kann ›Die Kette‹ heißen oder auch anders.« Es ist sicher nicht übertrieben, wenn Klaus Lankheit, der schon 1965 eine kommentierte, seitdem mehr­fach aufgelegte Neuausgabe des Almanach herausgab, dazu schreibt: »Dieser Brief vom 19. Juni 1911 ist die Geburtsurkunde des ›Blauen Reiters‹.« Seither ist über die Pläne zum Almanach und die Publikation selbst, deren Werden sich unter anderem im Briefwechsel von Kandinsky und Marc detailliert verfolgt lässt, unendlich viel geschrieben worden. In den Grundzügen ist die Be ­sonderheit dieser Publikation, die nach längeren Vorarbeiten der Herausgeber schließlich im Mai 1912 erschien, bereits in Klaus Lankheits Kommentar nachgezeichnet und betont worden: »Auf Kandinsky, der Marc an Lebensalter und Erfahrung weit voraus war, muss die erste Idee zurück­geführt werden. Sie enthält bereits wesentliche Grundgedanken der Veröffentlichung: die Einset­zung der beiden Malerfreunde als Redaktion, die Auswahl der Autoren aus der Künstlerschaft, das Einbeziehen neuester ausländischer Arbeiten, aber auch der ägyptischen und ostasiatischen Kunst, der Volkskunst, Kinderkunst und Laienmalerei. Besonders hervorzuheben ist dabei das Prinzip der vergleichenden Gegenüberstellung von Werken der verschiedenen Bereiche und Epochen.«Das Neuartige dieser Art der Gegenüberstellung verschiedenster Kunstwerke in der Fülle der Illustrationen des Almanach, »seine sprunghafte, unruhig bewegte Art« (Franz Marc), die bis heute eine lebendige und unkonventionelle Wirkung auf den Betrachter entfaltet, kann hier nur summarisch nachgezeichnet werden. Als programmatische Erklärung soll hier die weitgehend in Vergessenheit geratene Äußerung Kandinskys aus seinem Erinnerungstext an Marc 1936 zitiert werden, die das Anliegen des Buches in eigener Authentizität zusammenfasst: »Marc und ich hat­ten uns in die Malerei gestürzt, aber die Malerei allein genügte uns nicht. Ich hatte dann die Idee eines ›synthetischen‹ Buches, welches alte, enge Vorstellungen auslöschen und die Mauern zwi­schen den Künsten zu Fall bringen sollte, zwischen der offiziellen Kunst und der nicht zugelasse­nen Kunst, und das endlich beweisen sollte, daß die Frage der Kunst nicht eine Frage der Form, sondern des künstlerischen Gehaltes ist. […] Meine Idee war also, an einem Beispiel zu zeigen, daß der Unterschied zwischen der ›offiziellen‹ Kunst und der ›ethnographischen‹ Kunst keine Lebensberechtigung hatte; daß die verderbliche Gewohnheit, unter den verschiedenen äußer­lichen Formen nicht die innere organische Wurzel der Kunst im allgemeinen zu sehen, zum tota­len Verlust der Wechselbeziehung zwischen der Kunst und dem Leben der menschlichen Gesell­schaft führen konnte. Und gleicherweise der Unterschied zwischen der Kunst des Kindes, dem ›Dilletantismus‹ und der ›akademischen Kunst‹ – die Gradunterschiede der ›vollendeten‹ und der ›nicht vollendeten‹ Form überdeckten die Kraft des Ausdrucks und die gemeinsame Wurzel. Marc war begeistert von diesem Plan, und wir beschlossen, uns gleich ans Werk zu machen. Es war eine wunderbare Arbeit, und in einigen Monaten hatte ›Der Blaue Reiter‹ seinen Verleger gefunden. Er erschien im Jahr 1912. Wir hatten zum ersten Mal in Deutschland die Kunst der ›Wilden‹ in einem Kunstbuch gezeigt, die bayerische und russische Volkskunst (die Hinterglasmalerei, die Ex­voto, die Lubki – d. h. russische Bilderbogen), die ›Kinderkunst‹ und die ›Dillettantische‹ Kunst. Wir hatten eine Faksimileausgabe von ›Herzgewächse‹ von Arnold Schönberg herausgegeben, die Musik seiner Schüler Alban Berg und Anton von Webern, und wir zeigten die alte Malerei Seite an Seite mit der modernen.«Den Sommer über reiften die Pläne zu diesem Almanach, mit dem sich auch Franz Marc sofort begeistert und voller Tatkraft identifizierte. – In diesen Monaten hatten sich Kandinsky und Marc nicht nur wegen verschiedener Missstimmigkeiten in der ›NKVM‹, sondern vor allem durch Arbeit

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august und elisabeth macke mit ihrem sohn Walter im garten in Bonn, 1911Foto: gabriele münter- und johannes eichner-stiftung, münchen

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bleibt aber nur diese Woche ausgestellt. Es ist so glücklich fein, dass es jetzt so verschiedene Klänge gibt. Und zusammen ist es die Symphonie des XX. Jahrhunderts.«In diesen Herbstwochen des Jahres 1911 muss auch der Titel Der Blaue Reiter für die geplante Publikation gefunden worden sein. Von den mindestens elf Aquarell­Entwürfen, die Kandinsky Mitte September in rascher Folge für den Umschlagtitel des Almanach schuf und von denen sich zehn im Besitz des Lenbachhauses erhalten haben, weisen zwei bereits die Aufschrift ›Der Blaue Reiter‹ auf. Beinahe alle zeigen einen triumphierend nach oben sprengenden Reiter, über seinem Haupt auf ausgestreckten Armen ein flatterndes Tuch, mit seinem vorwärts drängenden Elan ein Symbol für die sieghafte Kraft des Geistes (Abb. 50). Für die endgültige Fassung des Umschlag­bildes löste sich Kandinsky jedoch von diesen Versuchen und entschied sich für ein Motiv, das in eindringlicher Symbolik die Intentionen des Buches zu einem bildlichen Ausdruck bringt. Auf dem letzten Aquarellentwurf erscheint die Figur eines bewaffneten Reiters in der Gestalt des hl. Georg, des christlichen Drachentöters, der als Überwinder des Bösen und Befreier gilt, wobei die Art der Darstellung deutlich den Einfluss der volkstümlichen Hinterglasmalerei aufweist (Abb. 51). Bei dieser endgültigen Fassung hält sich Kandinsky zwar weitgehend an die überlie­ferte religiöse Ikonografie und nutzt dabei geschickt die Aura des christlichen Reiter­Heiligen. Doch mit ihrer eigenwilligen Stilisierung und der blauen Färbung – seit der Romantik die Farbe der Sehnsucht und des Geistes, für Kandinsky »die typisch himmlische Farbe« – wird seine Figur weit mehr als etwa der Heilige der populären Hinterglasmalerei zum Träger einer universellen Bedeutung. Die Heils botschaft einer kommenden Epoche des »Großen Geistigen«, wie sie in ers­ter Linie Kandinsky, aber auch Marc vor dem Ersten Weltkrieg visionär erhofften und an der die Künste und die gesamten kulturellen Äußerungen der Zukunft ihren Anteil haben würden, ver­kündet der Almanach an vielen Stellen. In diesem Sinne ist auch der Titel Der Blaue Reiter, der bald zum Sammelnamen der Bewegung wurde und nach dessen Bedeutung häufig gefragt wird, zu verstehen. Dieser damalige spirituelle Anspruch ging weit über die oft zitierte, recht prosaische Äußerung hinaus, die Kandinsky zwanzig Jahre später machte. 1930 bemerkte er in einem kurzen Rückblick auf den ›Blauen Reiter‹ und seine Zusammenarbeit mit Franz Marc, den er auf Bitten Paul Westheims für dessen Zeitschrift Das Kunstblatt schrieb, mit einer gewissen Ernüchterung und fast ironischer Beiläufigkeit: »Den Namen ›Der Blaue Reiter‹ erfanden wir am Kaffeetisch in der Gartenlaube in Sindelsdorf; beide liebten wir Blau, Marc – Pferde, ich – Reiter. So kam der Name von selbst. Und der märchenhafte Kaffee von Frau Maria Marc mundete uns noch besser.«

Berg und Anton von Webern, und schließlich Kandinskys eigener, berühmt gewordener Beitrag Der Gelbe Klang (eine Bühnenkomposition), worin er erstmals seine Vision eines Gesamtkunst­werks aus Malerei, Musik und Bühnenkunst in einem noch heute höchst unkonventionell an ­mutenden Text publizierte. Um Arnold Schönberg bemühte sich Kandinsky als Redakteur des Almanach besonders, er versuchte den Wiener Komponisten während seines Sommeraufenthalts am Starnberger See nach Murnau und auch nach Sindelsdorf einzuladen, »wo mein guter Freund Franz Marc (Maler) und seine Frau leben, die sich sehr für Sie interessieren«. Mehrfach verzö­gerte sich der Termin dieses ersten persönlichen Treffens, das schließlich Anfang September am Starnberger See zwischen Kandinsky und Schönberg allein stattfand und von Kandinsky in seinem letzten Brief an Schönberg vom 1. Juli 1936 aus der Erinnerung so eindrücklich beschrieben wurde: »Erinnern Sie sich noch, lieber Herr Schönberg, wie wir uns kennen lernten – am Starn­berger See – ich kam mit dem Dampfer und kurzer Lederhose an und sah eine schwarz­weisse Grafik – Sie waren ganz weiss angezogen und nur das Gesicht war tief schwarz.« Auch bei diesem Treffen hatte man über die großen Pläne zum Almanach und über Schönbergs Beteiligung gespro­chen. Bereits in seinem ersten Antwortbrief zu Beginn ihrer Korrespondenz hatte Schönberg Kan­dinsky anvertraut, dass er selbst auch male, und ihm wenig später Fotografien seiner Werke geschickt, auf die Kandinsky begeistert reagierte. Deshalb wartete die Redaktion des Almanach nicht nur auf einen musiktheoretischen Aufsatz, sondern auch auf die Lieferung von Gemälden Schönbergs, um sie unter den Abbildungen zu reproduzieren und auch für die geplante 3. ›NKVM‹­Ausstellung bereitzuhalten. Doch Schönberg war nach seinen Sommerferien zum zweiten Mal von Wien nach Berlin übergesiedelt, um dort am Stern’schen Konservatorium eine Dozentur wahrzu­nehmen, und zeigte sich insbesondere mit dem erbetenen Textbeitrag säumig. Schließlich aber traf auch dieser Anfang des Jahres 1912 in München ein.

Am 8. September 1911 schrieb Franz Marc dann an seinen Freund August Macke einen oft zitier­ten Brief, der zugleich Aufschluss über den Stand der Ideen und hochgesteckten Ziele zu diesem Zeitpunkt gibt: »Wir wollen einen ›Almanach‹ gründen, der das Organ aller neuen echten Ideen unserer Tage werden soll. Malerei, Musik, Bühne etc. Er soll zugleich in Paris, München und Moskau erscheinen, mit vielen Illustrationen. In Paris sollen Le Fauconnier und Girieud die erste Mitarbeiterschaft übernehmen, an Musikern haben wir Schönberg und einige Moskauer, ausser­dem dort die Burljuks. – Es soll vor allem durch vergleichendes Material viel erklärt werden. – Deine alten Pläne, vergleichende Kunstgeschichte zu treiben, haben hier ihren Platz. Wir werden alte Glasbilder, französische und russische Volksblätter bringen, neben fremden und eigenen neuen Sachen, zuweilen dazwischen einmal ›Münchner moderne Malerei‹ zum Vergleich. Wir erhoffen soviel Heilsames und Anregendes davon, auch direkt für die eigene Arbeit, zur Klärung der Ideen, dass dieser Almanach unser ganzer Traum geworden ist.« Einiges von diesen Ideen, unter anderem der entlarvend gemeinte Vergleich von sogenannter »Münchner Moderne« und »echter Avantgarde« – ein Konzept, das Franz Marc ähnlich bereits im Frühjahr dieses Jahres für die Antwort auf den Protest deutscher Künstler, der konservativen Kampfschrift des Malers Carl Vinnen vorgeschlagen hatte –, ist später nicht verwirklicht worden.Ein Schreiben Kandinskys an Franz Marc vom 9. Oktober, in dem auch erstmals von Reproduk­tionen nach Bildern Robert Delaunays die Rede ist, spiegelt etwas von den fieberhaften Aktivi­täten dieser Monate und der Fülle der Anregungen wider, die die Redakteure aufgriffen: »Von Matisse sehr nette Antwort: ich darf alles reproduzieren, was ich will; schreiben kann er nicht: ein x gemacht und geschworen, es nicht zu wiederholen (›Man muss Schriftsteller sein, um so was zu können‹).Von Délonné [sic!] eine Tour Eiffel gekommen. Das bringen wir schon. Ich will alle Reproduktionen bestellen, um mit ruhigem Gewissen nach Murnau gehen zu können. Ich bin ganz sicher, dass Sie da (Délonné) mitstimmen werden: intereßant, ausdrucksvoll ist die Sache jedenfalls, wenn sie auch etwas zu theoretisch riecht. So was muss notiert werden. Gestern durch [Louis] Moillet den Klee kennen gelernt. Da sitzt schon etwas in der Seele. Collektion [Eugen von] Kahler bei Thannhauser sehr intereßant! Pulsiert! Ich möchte so gerne, dass Sie es sehen! Es

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Wassily Kandinsky, entwurf für den um -schlag des almanach

Der Blaue reiter, 1911, tuschpinsel, aquarell, Deckweiß, städtische

galerie im lenbachhaus, münchen

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Wassily Kandinsky, end-gültiger entwurf für den umschlag des almanach

Der Blaue reiter, 1911, aquarell, tusche, Bleistift,

städtische galerie im lenbachhaus, münchen

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Unmittelbar nach diesen gemeinsamen Tagen in Murnau, als die rheinischen Gäste noch bei Franz und Maria Marc in Sindelsdorf wohnten, schlug die Sendung eines Buches mit Abbildungen des »naiven« Zöllners Henri Rousseau, die Kandinsky gerade von Reinhard Piper erhalten hatte – dies darf so formuliert werden – wie eine Bombe ein. Dabei handelte es sich um eine Publikation von Wilhelm Uhde, des in Paris lebenden deutschen Kunstschriftstellers und Sammlers, der als einer der Ersten Rousseau und auch Picasso entdeckt hatte und in gutem Einvernehmen mit Sonia Delaunay­Terk stand, seiner 1905 von ihm geschiedenen Ehefrau, die in zweiter Ehe Robert Delaunay geheiratet hatte. Am 29. Oktober schrieb Kandinsky unter anderem überschwenglich an Franz Marc: »Was für ein wundervoller Mensch dieser Rousseau war! Und natürlich mit dem ›Jen­seits‹ in Verbindung gewesen. Und was für eine Tiefe in den Bildern liegt! Gerade vor ein paar Tagen habe ich gedacht: No 1 des ›B. R.‹ und kein Rousseau! Da sollten die Redakteure violett werden! Und jetzt wurde ich wie gepeitscht, ganz erschüttert. Ach Gott! Da ist ja die Wurzel des Realismus, des Neuen Realismus! Dieses Stillleben! Und das letzte – diese Cigarrenkistenmalerei! Ich habe gestern sofort an Delonnay [sic!] geschrieben und gefragt, was er meint, ob Uhde uns Cliches gibt.«Auch Marc, der neben August und Elisabeth Macke noch Helmuth Macke und Heinrich Cam­pendonk im Haus hatte und »große allgemeine Glasbilderfabrikation« aus Sindelsdorf nach Mur­nau meldete, reagierte begeistert: »Meine (resp. unser aller) Gedanken kreisen immer um diesen Rousseau, ich hab sein Selbstporträt in einem Glasbild verewigt, etwas unqualifizierbar, gut, dass es der arme Rousseau nicht mehr sieht.« (Abb. 53) Als Vorlage für dieses mit Silberstaniol hinter­legte Glasbild, auf dem der gelbe Schein einer Lampe wie ein Heiligenschein über dem Haupt des Zöllners steht, diente das Selbstbildnis mit Lampe von Rousseau aus dem besagten Band von Wil­helm Uhde, den Kandinsky sofort an Marc weitergeschickt hatte. Dieses Selbstbildnis Rousseaus wiederum war eines von insgesamt sechs Werken des Künstlers, das die Herausgeber schließlich im Almanach Der Blaue Reiter reproduzierten und damit den französischen »Vater der Naiven« prominent herausstellten.In seinem umfangreichen Textbeitrag Über die Formfrage für den Almanach äußerte sich Kan­dinsky ausführlich über die beiden Pole der »großen Abstraktion« und »großen Realistik«, die er als grundlegend für die Malerei der Zukunft sah, für die Fragen der äußeren Form gegenüber der »inneren Notwendigkeit« irrelevant würden. Beispielhaft unter den Pol der »Realistik« ordnet er in erster Linie den »naiven« Franzosen, aber auch andere Künstler aus seinem zeitgenössischen Umkreis: »Ich finde, dass Rousseau zur Gesellschaft gehört: Kahler, Kubin, Epstein, Schönberg, Münter. Meine Antipoden! Ist das der Grund, warum ich sie alle so liebe und schätze?«, schrieb er in einem Brief an Franz Marc während der Hochphase der Almanach­Vorbereitungen. In Über die Formfrage erklärt er auch sein Verständnis für Arnold Schönbergs autodidaktische »Nurmalerei« in ihrer unmittelbaren, fast rohen Direktheit im Zusammenhang mit der neuen, »keimenden großen Realistik«. Mit weniger komplizierten theoretischen Worten als in seinem Almanach­Beitrag, oder auch im entsprechenden Kapitel Formen­ und Farbensprache seines im Dezember 1911 ebenfalls im Piper Verlag erschienenen Buches Über das Geistige in der Kunst, äußerte sich Kandinsky gegenüber Schönberg brieflich in seiner ersten, temperamentvollen Reaktion auf Foto grafien von dessen Bildern über diesen Zusammenhang: »Ich bin direkt begeistert für Ihre Bilder: eine natür­liche Notwendigkeit und ein feines Gefühl sind ihre Quelle. Ich ahne schon lange, dass unsere doch große Zeit nicht eine, sondern viele Möglichkeiten bringen wird. In einer Schrift, die manchen gut gefällt, die aber noch kein Verleger bei mir abnehmen wollte [Über das Geistige in der Kunst], spreche ich u. a. davon, dass in der Malerei die Möglichkeiten so reich werden können, dass sie nicht nur beide extremsten Grenzen berühren wird, sondern beinahe überschreiten. Und diese weit, weit voneinander stehenden Grenzen (= 2 Polen) sind: volle Abstraktion und die reinste Rea­listik. Ich für meine Person neige immer mehr zur ersten. Die zweite aber ist mir ebenso willkom­men. Und auf das Erscheinen der zweiten warte ich mit Ungeduld. Ich meine: es kommt morgen!«In der Konfrontation des »eigentlich Künstlerischen« von Werken unterschiedlicher Ausdrucks­formen, Gattungen und Epochen war er sich offenbar stets mit Franz Marc, dem zweiten Heraus­

Von seinem letzten Aquarell­Entwurf, auf dem die Worte Almanach Der Blaue Reiter zu lesen sind, schuf Kandinsky als Vorlage für den Druck des Bucheinbandes mehrere Farbholzschnitte. Auf einer Redaktionssitzung im Piper Verlag am 21. September 1911, als bereits die Struktur des Almanach im Wesentlichen feststand, die ersten Beiträge und Fotos für die Kalkulation vorlagen und sich Kandinsky etwas beklommen »Wie vor einer anziehenden, riesig intereßanten Bergtour« vorkam, wandten sich der Verleger Reinhard Piper und sein Hersteller mit Nachdruck gegen das Wort Almanach auf dem Titel: »Piper und Hammelmann sind beide sehr gegen das Wort ›Alma­nach‹ und mit Recht. So will ich dieses Wort vom Holzstock herausschneiden«, berichtete Kan­dinsky dazu an Franz Marc – was auch tatsächlich im endgültigen Holzschnitt geschehen ist. Auf einem etwas unscharfen Foto präsentieren die beiden Freunde stolz den Titelholzschnitt auf dem Balkon von Kandinskys und Münters Wohnung in Schwabing, hier ist noch das Wort »Almanach« zu sehen (Abb. 52). Die Entscheidung für den Wegfall des Begriffs Almanach, das auf den ur ­sprünglichen Plan zu einem Jahres­Almanach in fortgesetzer Folge hinweist, sollte sich im Nach­hinein von der Entwicklung bestätigt sehen, denn, obwohl man noch bis 1914 an die Herausgabe eines zweiten Bandes dachte, blieb es bei dem einen großen Wurf des ersten Almanach Der Blaue Reiter, der schließlich im Mai 1912 erschien und 1914 eine zweite Auflage erlebte.Doch noch steckten die Herausgeber und ihre Mitarbeiter mitten in den Vorarbeiten. Ende Okto­ber kam es zu der legendären, mehrtägigen Redaktionssitzung in Murnau im Haus von Gabriele Münter und Wassily Kandinsky, an der auch, durch Franz Marc herbeigerufen, August und Elisa­beth Macke teilnahmen. »Wir vier [die Paare Macke und Marc] reisten also hin«, heißt es in den leicht idealisierenden Erinnerungen von Elisabeth Erdmann­Macke, »wurden von Kandinsky in einem großen Haus in der Nähe sehr gut einlogiert, und jetzt wurde der ›Blaue Reiter‹ in langen Sitzungen mit Kunstdebatten, Aufrufen, Vorschlägen für Vorworte usw. geboren. Es waren unver­gessliche Stunden, als jeder der Männer sein Manuskript ausarbeitete, feilte, änderte, wir Frauen es dann getreulich abschrieben. Es kamen Beiträge an von den zur Mitarbeit aufgeforderten Künstlern, Vorschläge zu Reproduktionen. Alles wurde gesichtet, diskutiert, angenommen oder abgelehnt, nicht ohne kleine Streitigkeiten und Reibereien.« Nach Franz Marc, dessen wichtige schriftliche Beiträge Geistige Güter, Die ›Wilden‹ Deutschlands und Zwei Bilder bereits weit­gehend fertiggestellt waren, legte nun auch August Macke seinen Aufsatz Die Masken endgültig fest, dessen melodisch schwingende Anfangszeile »Ein sonniger Tag, ein trüber Tag, ein Perser­speer, ein Weihgefäß« auf den poetisch­assoziativen Charakter dieses Textes verweist. Doch auch Macke war sich in seiner These, die echte künstlerische Form, so unterschiedlich sie durch alle Völker und Zeiten sein möge, sei »Ausdruck von geheimnisvollen Kräften«, mit Kandinsky einig, dem er auf den Murnauer Redaktionssitzungen erstmals persönlich begegnete.

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Franz marc und Wassily Kandinsky mit dem titelholzschnitt für den almanach Der Blaue reiter auf dem Balkon der ainmillerstraße 36Foto: gabriele münter- und johannes eichner-stiftung, münchen

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Franz marc, Porträt henri rousseau, 1911, hinterglas, städtische galerie im lenbachhaus, münchen

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Man mag sich dem darin anklingenden Vorwurf des Idealismus und Irrationalismus, mit dem die Redakteure das »Echte« in aller Kunst suchten, anschließen, der auch als »falsches Bewusstsein« (Armin Zweite) Kandinskys und Marcs bezeichnet worden ist. Oder aber man mag der Begeis­terung für die immer noch revolutionäre Wirkung dieses Buches folgen und darin »geradezu einen utopischen Zug«, »ein Programm der modernen Ästhetik« (Klaus Lankheit) erkennen. Festzu halten bleibt, dass es eine äußerst moderne Tat war, wie die Redakteure mit ihrem Begriff des »eigentlich Künstlerischen«, sicherlich im Anschluss an Traditionen des Idealismus und der Romantik und in Opposition zum Materialismus des 19. Jahrhunderts, den Ausdruckswert eines Kunstwerks von jedem Formenkanon lösten. Damit waren sie geistige Wegbereiter für den Plura­lismus der Moderne im 20. Jahrhundert, ebenso wie für die Entgrenzung der Gattungsschranken zwischen den Künsten. Auch das Prinzip des Internationalen, das die Redakteure bei der Auswahl der Beiträge für den Almanach und bald parallel dazu auch für die 1. Ausstellung des ›Blauen Rei­ter‹ verfolgten, war wegweisend für die Zukunft. Fest steht, dass sie sich an der Schwelle einer neuen Epoche fühlten, wie es in vielen ihrer Texte und auch in Kandinskys Werbekarte für den Almanach formuliert ist: »Die große Umwälzung; Das Verschieben des Schwerpunktes in der Kunst, Literatur und Musik; […] – das ist das Ziel, welches zu erreichen ›Der Blaue Reiter‹ sich bemühen wird.« (Abb. 56)

Die 1. ausstellung des ›Blauen reiter‹ 1911

Die Vorarbeiten für den Almanach ließen die künstlerischen Widersprüche zwischen den progres­siv gesinnten und den gemäßigten Mitgliedern der ›NKVM‹ immer deutlicher werden und vertief­ten die Spannungen innerhalb der Gruppe. Die Ansichten darüber, wie die neue Kunst auszuse­hen habe und ihrem Wesen nach zu definieren sei, gingen zunehmend auseinander. Eine Spaltung zwischen den Parteiungen, wie sie in einem berühmt gewordenen Brief von Franz Marc voraus­gesehen wurde, zeichnete sich bereits im Sommer ab. In einem Brief vom 10. August 1911 beschwört Marc den Bonner Freund, doch ebenfalls der ›NKVM‹ beizutreten, damit die Partei um ihn und Kandinsky eine solide Verstärkung erhielte: »Ich schreibe Dir dies alles, damit Du klar siehst, nicht aber, um Dir, mein Lieber, das Wegbleiben zu erleichtern. Im Gegenteil: sieh doch zu, möglichst bald Dich zu uns zu schlagen, und zwar aus folgendem Grunde: Ich sehe, mit Kan­dinsky, klar voraus, dass die nächste Jury (im Spätherbst) eine schauderhafte Auseinandersetzung geben wird und jetzt oder das nächste Mal eine Spaltung, respektive Austritt der einen oder ande­ren Partei; und die Frage wird sein, welche bleibt. Wir wollen die Vereinigung nicht aufgeben,

geber des Almanach, einig. Dieser hat auch mit seinem praktischen Engagement entscheidend zur Realisierung des Buches beigetragen, etwa mit der Vermittlung an Reinhard Piper, der dem Pro­jekt überhaupt erst eine Plattform in einem Verlag eröffnete, sowie den erfolgreichen Bemühun­gen, Bernhard Koehler zur Zeichnung der Garantie­Summe für die Publikation zu bewegen. Im fer tigen Almanach schließlich sind herausragende Werke der Zeitgenossen in den Zusammenhang der Konfrontation unterschiedlicher Ausdrucksformen eingebunden; unter den Reproduktionen finden sich unter anderem van Goghs Bildnis des Dr. Gachet, Kokoschkas Bildnis Elsa Kupfer, La Danse und La Musique von Matisse, Picassos kubistische Frau mit Guitarre, Münters Stillleben mit Heiligem Georg und schließlich die berühmt gewordene Gegenüberstellung von Delaunays Tour Eiffel und El Grecos St. Johannes (Abb. 54) – beides Bilder aus der Sammlung Bernhard Koehlers, in dessen Besitz sich auch die abgebildete gotische Holzskulptur aus dem Rheinland, der spanische Marientod, der Halbakt von Girieud und ein Stillleben von Cézanne befanden. Unter der »primitiven« Kunst wählten die Redakteure etwa neben ozeanischer Plastik, Stickereien aus Alaska und Kinderkunst nicht weniger als elf volkstümliche bayerische und böhmische Hinter­glasbilder aus, die damit erstmals in die Kunstgeschichte eingeführt wurden.In der jüngeren kunsthistorischen Diskussion zum Almanach geriet das Prinzip der vergleichen­den Gegenüberstellung von Werken älterer und neuerer Kunst, das die Redakteure eventuell aus der zeitgenössischen Ausstellungspraxis übernommen haben könnten, erneut ins Blickfeld. Denn das Prinzip der Konfrontation unterschiedlichster künstlerischer Produkte löste in einem sehr modernen Sinn die Kunstwerke aus ihrem bisherigen Zusammenhang und machte sie variabel. Nicht genug damit, beschnitten Kandinsky und Marc zahlreiche Bildvorlagen – etwa die russi­schen Volksbögen oder die bayerischen Votivtafeln um ihre Texte – oder isolierten Figuren aus ihrem Kontext. Für die Statuette Mutter und Kind aus Bali etwa, deren Foto man aus dem Histo­rischen Museum Bern bekommen hatte, umrahmte Kandinsky die Figur mit weißer Farbe, weil er sie »freigestellt«, das heißt auf der weißen Buchseite ohne Hintergrund, drucken lassen wollte, und ließ das männliche Pendant ganz weg. (Abb. 55) »So hatte der Bildvergleich zwei Seiten: Auf der einen Seite bot er als selbst gesetzte Tradition Rückendeckung für die Formexperimente der Moderne. Auf der anderen Seite wirkte er, so paradox es angesichts der Zurückweisung eines kon­sistenten Stilbegriffs klingen mag, normierend. Das Kriterium war freilich nicht formaler, sondern inhaltlicher Art. Es war das entwicklungsgeschichtlich nicht Erklärte, das von ›äußeren‹ Vorbildern Unbeeinflusste, das nur sich selbst und seinem inneren Gesetz Gehorchende, kurz: das ›Echte‹ an der neuen Kunst, für das die Vergleichsbeispiele Pate standen.« (Magdalena Bushardt)

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Werbekarte für den almanach, 1911,Die große umwälzung, text von Wassily Kandinskystädtische galerie im lenbachhaus, münchen

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robert Delaunay, tour eiffel, 1911, und el greco, st. johannes, 1600/10, Doppelseite aus dem almanach Der Blaue reiter

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statuetten aus Bali, bemaltes holz, Bernisches historisches museum, original-Foto-cliché aus dem nachlass Kandinskys, rückseitig von seiner hand beschriftetFoto: gabriele münter- und johannes eichner-stiftung, münchen

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vom 2. Dezember, auch zahlreiche andere Hinweise bezeugen die Eile, mit der die Hauptakteure erst unmittelbar nach diesem Datum eine eigene Ausstellung vorbereiteten. Auch die Aufforde­rung Marcs an seinen Freund Macke vom 7. Dezember, umgehend Bilder für eine ›Gegenausstel­lung‹ zu schicken, belegt, dass es sich hier tatsächlich um einen irrtümlichen Poststempel mit nicht vorgestelltem Monatsdatum handeln muss. In Eile ging man nun auch bei gleichgesinnten Künst­lern, die man schon für die 3. ›NKVM‹­Ausstellung im Auge gehabt hatte, auf die Suche, um sie für die eigene Veranstaltung zu gewinnen. Zuerst fragte Kandinsky bei Albert Bloch an, dem ame­rikanischen Maler deutsch­böhmischer Abstammung, der seit Anfang 1909 in München arbeitete und, ähnlich wie Marc, durch die Ausstellungen und Kataloge auf die ›NKVM‹ aufmerksam gewor­den war (vgl. Tafel 110). Unter anderem um Blochs Person war noch im Oktober ein Streit mit dem Vorsitzenden Adolf Erbslöh ausgetragen worden, der darauf beharrte, dass die nächste Aus­stellung nach dem Beschluss der Vereinssitzung vom Februar 1911 »klein und intern« sein, das heißt ohne auswärtige Gäste stattfinden sollte. Dennoch hatte insbesondere Kandinsky un ­beeindruckt von diesem Beschluss im Vorfeld der Dezember­Ausstellung mit Albert Bloch, Arnold Schönberg, Elisabeth Epstein, Eugen von Kahler, den Gebrüdern Burljuk und Hans Bolz über eine eventuelle Beteiligung verhandelt.

sondern unfähige Mitglieder müssen eben raus.« Als voraussichtliche Gruppierungen listet er dem Freund auf der einen Seite »Kandinsky Münter Marc Jawlensky Werefkin«, auf der anderen »Erbslöh Kanoldt Dr. Wittenstein Dr. Schnabel Frl. Kanoldt« auf, als unentschieden dazwischen­stehend, doch zur konservativen Seite hin neigend, platziert er »Kogan Bechtejeff«. Aber auch die Stimmen von Jawlensky und Werefkin, so Marc, seien für die eigene Partei nicht sicher, wobei er finanzielle Abhängigkeiten andeutet; der wohlhabende Adolf Erbslöh hatte unter anderem eine Anzahl von Bildern Jawlenskys gekauft.Als nun Monate später, am 2. Dezember 1911, die Jury­Sitzung für die zum Ende des Jahres geplante 3. Ausstellung der ›NKVM‹ stattfand, kam es zum vorausgesehenen Eklat. Auf dieser Sitzung wurde eines der von Kandinsky eingereichten Bilder, seine Komposition V, von der Mehr­heit der Jury­Mitglieder um Erbslöh, Kanoldt, Wittenstein und Schnabel mit dem fadenscheini­gen Argument zurückgewiesen, es sei zu groß. Über das schon gänzlich abstrakte, dem Thema des Jüngsten Gerichts gewidmete Bild peitscht eine große schwarze Linie wie der Gestalt gewordene Klang einer Posaune hinweg, in der Mitte ist auf einer Art Bergkuppe ein Reiter vor stürzenden Türmen zu erkennen – dasselbe Emblem für den Sieg des Geistigen über das Materielle, das Kan­dinsky wenig später als Titelvignette für sein Buch Über das Geistige in der Kunst wählte.Nachdem die Komposition V von der Jury­Mehrheit zurückgewiesen worden war, erklärten Kan­dinsky, Marc und Gabriele Münter nach einer erregten, beinahe in Handgreiflichkeiten aus­artenden Diskussion ihren Austritt aus der ›NKVM‹. Über die einzelnen Vorgänge dieser Aus­einandersetzung schrieb Maria Marc aufgeregt noch am Abend des 2. Dezember einen ausführlichen Brief an die Freunde August und Elisabeth Macke nach Bonn. Darin wird unter anderem sehr deutlich, dass Jawlensky und Werefkin, wiewohl künstlerisch auf der Seite Kandins­kys, den Austritt nicht mitvollzogen: »Darauf erklärten Kandinsky, Münter, Franz ihren Austritt und gingen fort. Die Gegenpartei hatte ihren Willen, aber die Baronin [Werefkin] sagte, als die drei fort waren: ›So, meine Herren, jetzt verlieren wir die beiden würdigsten Mitglieder, dazu ein wundervolles Bild, und wir selbst werden bald Schlafmützen auf dem Kopf haben.‹ Dass Jawlensky und die Baronin nicht mit austraten, hat persönliche, menschlich vollauf begreifliche Gründe, die wir respektieren. Sie haben sich vollkommen solidarisch mit unseren Ansichten erklärt und die Baronin, die noch abends zu Kandinsky kam, liess keinen Zweifel darüber, dass sie die Zukunft der Vereinigung für verloren hält.« An August Macke als Künstlerkollegen gewandt, fährt Maria Marc fort: »Nun werden Ausstellungen von der Redaktion des Blauen Reiters gemacht; Du hörst bald näheres – halte Dich bereit. Die werden sich noch ›fiess‹ wundern, die anderen, die Jüngeren, die nicht den Sprung wagen, den die Reiferen tun. Das war wohl noch nie da, dass die Jungen die Älteren aufhalten wollten.«Gabriele Münter wiederum schrieb am selben Abend des 2. Dezember 1911 an Alfred Kubin, der damit als externes Mitglied der ›NKVM‹ im oberösterreichischen Zwickledt umgehend von der Spaltung der Gruppe informiert und zum Mitaustritt aufgefordert wurde: »Lieber Herr Kubin! Passen Sie mal auf! Ich stelle Ihnen hiermit 3 frische u. sich sehr frisch fühlende Nicht­Mitglieder der N. K. V. M. vor: Kandinsky, Marc, Münter. Wir sind ausgetreten nach fruchtlosen Auseinander­setzungen aus dem Anlasse von Verschiedenheiten über Kunst Ansichten u. über die Tätigkeit der Jury. Es eilt sehr, dass Sie dies erfahren, drum schreibe ich es Ihnen, da Kandinsky ausgehen musste. Wir bitten Sie sehr, an Kandinsky telegraphisch Ihren Mitaustritt aus der Vereinigung mitzuteilen, um zu helfen, diesen Austritt pompös zu gestalten.« »Sehr möglich, dass wir sehr bald unsere eigne, interessante Ausstellung (bei Thannhauser!) arrangieren werden  – im Laufe des Winters ganz sicher.« Kubin reagierte sofort und wurde auf diese Weise neben Kandinsky, Marc und Münter eines der Mitglieder der ersten Stunde im Kreis des ›Blauen Reiter‹. Schließlich erklärte noch Thomas von Hartmann, steter Mitstreiter Kandinskys auf dem Gebiet der Zusam­menarbeit von experimenteller Malerei und Musik, seinen Austritt aus der ›NKVM‹. Die noch namenlose neue Gruppe ließ am 8. Dezember 1911 eine kurze Zeitungsnotiz absetzen: »Folgende Künstler sind aus der Neuen Künstler­Vereinigung München ausgetreten: Hartmann, Kandinsky, Kubin, Le Fauconnier, Marc, Münter.« (Abb. 57)

Schon unmittelbar nach dem Eklat vom 2. Dezember dachte die neu formierte Gruppe daran, eine eigene Ausstellung zu organisieren, die als eine Art Gegenveranstaltung parallel zur 3. Aus­stellung der ›NKVM‹ gezeigt werden sollte. Auf einer Postkarte von Marc an Kandinsky vom 4. Dezember 1911 wird das Programm dieser Schau im Telegrammstil und voller Tatendrang skiz­ziert, wobei sowohl in der Auswahl der Künstler wie der zusätzlichen Ausstellungsstücke die Nähe zu den Ansätzen des Almanach Der Blaue Reiter unübersehbar ist: »L. K., bei Thannhauser einen eigenen Saal für Dezember 2. Hälfte, neben der Vereinigung bekommen, in dem wir 2 ausstellen dürfen, was wir wollen. Also los und Ernst damit. In Eile Fz M«. Und als Nachtrag: »Mein Pro­gramm: Burljuk, Campendonk, August [Macke], eigene Glasbilder, Schönberg, Bloch, und wenn irgend möglich einen Rousseau (nicht zu groß). Dann Delaunay und eventuell zwei drei alte Sachen (Reisbilder, Glasbilder, Votiv). Es muss was feines werden.« Der Zeitpunkt der Entstehung dieser nicht datierten Postkarte, die den Poststempel vom 4. November 1911 trägt und damit ein Beleg gewesen wäre, dass Marc und Kandinsky bereits Wochen vor dem Eklat der Jury­Sitzung eine eigene Ausstellung geplant hätten, war längere Zeit in der kunsthistorischen Forschung umstritten. Doch nicht nur die Bemerkungen Maria Marcs und Gabriele Münters in ihren Briefen

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auf dem Balkon von Kandinskys und münters

Wohnung in der ain-millerstraße 36,

um 1911/12v. l.: maria und Franz

marc, Bernhard Koehler sen., heinrich campen-

donk, thomas von hart-mann, sitzend: Wassily

KandinskyFoto: gabriele münter- und johannes eichner-

stiftung, münchen

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auf Papier aufgenommen worden war. Kurz nach Eröffnung dieser Ausstellung, als sich Kandinsky im Herbst 1910 in Russland aufhielt, vermittelte Epstein auch die persönliche Bekanntschaft zu Kahler, indem sie ihn bei Gabriele Münter in der Ain millerstraße vorbeischickte. »Ich habe mir erlaubt, liebes Fräulein Münter«, schreibt sie am 15. November 1910 aus Paris, »den Maler Eugen Kahler, der z. Zt. in München ist, Ihnen zu empfehlen, aber ich weiß nicht, ob und wann er Sie besucht, da er sehr wie es scheint viel von seinen Bildern in Anspruch genommen ist. Hoffentlich habe ich damit nichts Ihnen Unangenehmes getan, denn es ist ein sympathischer intelligenter Mensch u. Maler, den Sie ja schon aus seinen Bildern kennen.«

Kandinsky schätzte an Kahler das Mystisch­Visionäre der mit wimmelnden Fantasiegestalten bevölkerten Welt seiner Bilder, die inhaltlich sehr eigenständige, sich aus der jüdischen Kabbala­Tradition speisende Motive mit dichtem, vegetabilem Formgewebe verbanden (Abb. 59). Im Oktober 1911 erhielt Kahler, wiewohl durch seine Lungenkrankheit fast ständig ans Krankenlager gefesselt und nicht selbst in München anwesend, eine Einzelausstellung in der Galerie Thann­hauser, über die sich Kandinsky gegenüber Marc begeistert äußerte. Im Sommer traf er von einem Kuraufenthalt im Rheinland aus Gabriele Münter in Bonn und schrieb an Kandinsky, von Elisa­beth Epstein über die Neuigkeiten in den künstlerischen Bestrebungen hinsichtlich einer neu bewerteten ›Realistik‹ unterrichtet: »[…] ich möchte gern Näheres hören, wie Sie mit den alten Styl­Künstlern, der Glasmalerei und dem Holzschnitt Ihren modernen malerischen Ideen nahe kommen. Es wäre interessant, wenn diese Art Kunst mit beschränkten Ausdrucksarten zu einer festen modernen Ausdrucksweise führen könnte, als die weiche Ölfarbe.« Kandinsky bezeugte seine Wertschätzung für den bereits am 11. Dezember 1911 verstorbenen Kollegen, indem er zwei farbige Blätter Eugen von Kahlers in die Ausstellung des ›Blauen Reiter‹ aufnahm und ihm schließ­lich einen kurzen Nachruf im Almanach widmete. Und auch Bilder der Brüder David und Wladi­mir Burljuk, die Kandinsky bereits als ausländische Gäste auf die 2. ›NKVM‹­Ausstellung eingela­den hatte, wurden in die ›Blauer Reiter‹­Ausstellung aufgenommen. Dabei handelte es sich um Werke, die sie bereits im Juni 1911 nach Aufforderung Kandinskys vorsorglich für die 3. ›NKVM‹­Ausstellung von Russland aus eingeliefert hatten, wie die Korrespondenz zwischen ihnen und Kandinsky belegt. In der Regel zeigen sie eine Art radikalisierten Kubismus, der wieder zur Flä­che zurückkehrt und nur das schwere Gerüst der Gegenstände stehen lässt, zum Teil in kräftigen, kontrastreichen Farben, teilweise auch »nebelig, flach gehalten, matt« – wie Münter einmal im Vergleich mit einem eigenen Bild ein Werk von Wladimir Burljuk charakterisierte (vgl. Tafel 111).Vonseiten Franz Marcs wurden, außer August Macke, noch Heinrich Campendonk und Jean­Bloé Niestlé herangezogen. Der junge Schweizer Künstler Niestlé war seit 1904 mit Marc befreundet und teilte mit diesem die Liebe zur Tiermalerei und den Rückzug in die Natur, die sich für ihn jedoch zunehmend in eine Art Weltflucht steigerte. Seit 1907 hatte er mit Franz Marc das Loisach­moos bei Sindelsdorf auf gemeinsamen Malausflügen entdeckt, die entscheidend dazu beitrugen,

Am 4. Dezember nun, am gleichen Tag, als Marc seine Postkarte mit der Skizzierung der Ausstel­lung versandte, schrieb Kandinsky an den Freund: »Mein lieber Marc. Die ganze Geschichte geht mir noch sehr stark durch den Kopf, weckt mich, regt mich nachts auf. Zwei starke Gefühle habe ich dabei, die von zwei Arten menschlicher und künstlerischer Handlungsweise stammen. Der Abscheu gegen die Art unserer ›Gegner‹ wächst im selben Maße, wie die Freude und Dank an Ihrer Handlungsweise. Es wird mir immer klarer, wie uneigennützig Sie für den Verein gearbeitet haben und wie Sie verstanden, in Ihrem Streben nach Wahrheit auf alles zu verzichten, was Ihr Vorteil sein könnte. Mein ›gesetztes Alter‹ gibt mir das Recht so zu sprechen.« Am Schluss fügt er hinzu: »Bei Bloch war ich. Große Augen hat er gemacht. Sagte aber: ›Ganz unerwartet ist es nicht.‹ Tut mit uns. – Viele herzliche Grüße an Sie beide von uns beiden Ihr Kandinsky.«Eine weitere Ansprechperson war Elisabeth Epstein, die russische Malerin und ehemalige Schüle­rin Kandinskys, die in München mit einem polnischen Arzt verheiratet war und nun in Paris lebte. (Abb. 58) Der erhaltene Briefwechsel zwischen ihr, Kandinsky und auch Münter belegt, dass sie von ihnen nicht nur als auswärtiger Gast für die 3. Ausstellung in Betracht gezogen wurde, sondern bereits zur Beteiligung an der 1. ›NKVM‹­Ausstellung 1909 eingeladen worden war, diese jedoch nicht wahrnehmen konnte. Nun forderte Kandinsky Elisabeth Epstein nach der Spaltung ebenfalls auf, sich an der geplanten Gegenausstellung zu beteiligen. Ihre Bilder, überwiegend Stillleben und Porträts, schienen Kandinsky, ähnlich wie die Arnold Schönbergs unter dem Aspekt der »Nurmale­rei«, in ihrer schlichten und doch magischen Wirkung zu gefallen. Kandinsky kaufte ein heute verschollenes Porträt von ihr, eines der beiden Bilder, mit denen Epstein schließlich an der Ausstel­lung des ›Blauen Reiter‹ teilnahm. Darüber hinaus war die Malerin eine wichtige Mittelsperson für die Aktivitäten des Almanach­Kreises. Sie, die in Paris eng mit Sonia Delaunay­Terk befreundet war, hatte Kandinsky die Fotos nach Gemälden von Robert Delaunay zugeschickt und wiederum über Delaunay und Wilhelm Uhde mittelbar den Zugang zu Bildern von Henri Rousseau eröffnet. Und sie war es auch, die nachhaltig den Kontakt mit Eugen von Kahler herstellte, dem deutsch­sprachigen Prager Maler jüdischer Abstammung, der zwar von 1901 bis 1903 in München studiert hatte, aber damals nur flüchtig Bekanntschaft mit dem Kreis um Albert Weisgerber, Rudolf Levy und Alfred Kubin im Café Stefanie machte. Kahler hielt sich 1909 in Paris auf und Epstein empfahl ihn für die 2. ›NKVM‹­Ausstellung 1910, in die er damals noch kurzfristig mit vier seiner Arbeiten

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elisabeth epstein in Paris, um 1909,Fotografie aus dem nachlass von robert Delaunaystädtische galerie im lenbachhaus, münchen, archiv

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eugen von Kahler, liebesgarten, 1910/11,Deckfarben und tusch-feder auf Papier, städti-sche galerie im lenbach-haus, münchen

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moderne galerie heinrich thannhauser, herrenzimmer im ober-geschoss mit Blick in die angrenzenden räume, Fotografie aus dem eröffnungskatalog der galerie, herbst 1909

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nannte sich mit vollem Titel Die Erste Ausstellung der Redaktion Der Blaue Reiter und nahm so explizit auf das Unternehmen des Almanach Bezug. Sie zeigte etwa 50 Werke von Albert Bloch, David und Wladimir Burljuk, Heinrich Campendonk, Robert Delaunay, Elisabeth Epstein, Eugen von Kahler, Wassily Kandinsky, August Macke, Franz Marc, Gabriele Münter, Jean­Bloé Niestlé, Henri Rousseau und Arnold Schönberg. Faktisch wurde die Ausstellung wohl erst am 19. Dezem­ber eröffnet – auch die froh gestimmte Postkarte, die Kandinsky, Münter, Franz und Maria Marc, Albert Bloch und Bernhard Koehler von der Eröffnungsfeier im Restaurant Schottenhamel an Robert Delaunay schickten, trägt ebenfalls dieses Datum. Die vier großen Bilder von Delaunay kamen nachweislich erst am 18. Dezember in München an, was Kandinsky ihm an diesem Tag bestätigte: »Zum Glück ist alles in Ordnung: wir hängen heute – gerade heute sind Ihre vier Bilder eingetroffen.« Laut Zeitungsnotiz wurde die Ausstellung bis zum 3. Januar 1912 verlängert.Von dieser legendär gewordenen 1. Ausstellung der ›Redaktion Der Blaue Reiter‹ haben sich sechs Fotografien Gabriele Münters von hohem dokumentarischen Wert erhalten, die zusammen mit der Katalogliste und den dort abgebildeten Werken eine Rekonstruktion dieser Schau möglich machen, die zu einem Meilenstein in der Entwicklung der modernen Kunst in Deutschland geworden ist. Um die genaue Auswertung der Fotos, einschließlich der handgeschriebenen Listen der Künstler und der Verkäufe während der Ausstellung, hat sich besonders Mario­Andreas von Lüttichau verdient gemacht, der für die Beschreibung der Installation umfangreicher zitiert wer­den soll: »Im ersten Raum hing Kandinskys Impression Moskau, die Bernhard Koehler, Berliner Fabrikant, Onkel von Mackes Frau Lisbeth und wichtigster Mäzen und Sammler des ›Blauen Reiter‹, gleich am ersten Tag der Ausstellung kaufte. Zudem hatte Koehler an der Hängung der Ausstellung mitgewirkt. Daneben erkennt man die verschollenen Fittislaubsänger [wieder auf­gefunden, Privatbesitz Berlin] von Niestlé, eine Leihgabe Koehlers, und den Kopf von Bloch [Abb. 61]. Links der Tür […] hingen oben der Abend, ein verschollenes Bild von Gabriele Münter, darunter Mackes Stilleben – Blumenstrauß mit Agave und Häuser und Schornsteine von Bloch. An der Längswand folgten Schönbergs Nächtliche Landschaft, die im Ausstellungskatalog nicht ver­zeichnet ist, von Gabriele Münter die Reiflandschaft und La Ville No. 2 von Delaunay [Abb. 62]«. »Links neben Delaunay findet sich die ›Rousseau­Gedächtnis­Ecke‹: eine Kopie von Marc nach Rousseaus Selbstporträt mit Lampe auf Glas, die Marc Kandinsky zu Weihnachten schenkte, sowie La Basse­Cour von Rousseau selbst, das Kandinsky durch Vermittlung Elisabeth Epsteins von Delaunay hatte erwerben können und das bereits als sein Privatbesitz in der Ausstellung hing. Dieses kleine, unscheinbare Bild zierte auch den Informationsprospekt für den Almanach des ›Blauen Reiter‹. Unter den beiden Bildern hing als Zeichen der Bewunderung und tiefen Vereh­rung für den 1910 in Paris gestorbenen Künstler ein Lorbeerkranz. In der Ecke stand ein kleiner Tisch, auf dem Prospekte ausgelegt waren und vermutlich Kandinskys Buch Über das Geistige in der Kunst, das nachweislich in der Ausstellung verkauft wurde.An der folgenden Querwand mit Durchgang zu Raum 5 hingen das Springende Pferd von Cam­pendonk und die Drei Pierrots von Bloch; rechts neben der Tür folgte Gabriele Münters Dunkles

dass sich Marc wenige Jahre später entschloss, ganz aus München nach Sindelsdorf, im Alpen­vorland zwischen Murnau und Kochel gelegen, überzusiedeln. 1910 zog Niestlé zusammen mit seiner Freundin, der französischen Kunststudentin Marguerite Legros, in die Nähe seines ver­ehrten Freundes Franz Marc ebenfalls nach Sindelsdorf um. Hier entwickelte er seine spezielle Art der Tiermalerei zu einem Höhepunkt, in der sich äußerste Präzision und Naturbeobachtung mit sensibler Feinmalerei verbinden, die an japanische Miniaturen erinnert. Niestlés einfühlende Darstellung des Tieres als belebtes Wesen, das gleichsam aus seiner kreatürlichen Mitte heraus in seiner natürlichen Umgebung erfasst wird, berührte sich dabei mit Absichten, wie sie auch Franz Marc mit ganz anderen bildnerischen Mitteln in seinen Tierbildern verfolgte. Der rheinische Maler Heinrich Campendonk wiederum, ein Studienfreund von Helmuth Macke, war im Oktober 1911 ebenfalls nach Sindelsdorf in die Nähe von Franz Marc gezogen, nachdem dieser sich auf Vermittlung August Mackes und ohne ihn persönlich zu kennen für seine Bilder bei Kunsthänd­lern und Ausstellungsmachern eingesetzt hatte. Campendonk, der mit seiner Freundin und späte­ren Frau Adda wie Niestlé bis 1914 in direkter Nachbarschaft zu Marc lebte, wurde unmittelbar nach seiner Ankunft in Sindelsdorf in den Kreis des Almanach und die Ausstellungen des ›Blauen Reiter‹ einbezogen (vgl. Tafeln 91, 92).Die 1. Ausstellung des ›Blauen Reiter‹ wurde nach offiziellen Angaben vom 18. Dezember 1911 bis zum 1. Januar 1912 im Obergeschoss der Galerie Thannhauser gezeigt, parallel zur 3. Aus­stellung der ›NKVM‹ im spektakulären Oberlichtsaal im Erdgeschoss. Im Obergeschoss seiner Galerie hatte Thannhauser nach dem Prinzip der »intimen Wohnräume«, das er bereits mit sei­nem ehemaligen Partner Brakl entwickelt hatte, kleiner proportionierte, teilweise möblierte Aus­stellungsräume mit privatem Wohncharakter eingerichtet, zu denen die Besucher mit einem Fahrstuhl gelangten (Abb. 60). Hier konnten Kandinsky, Marc, Münter und ihre Mitstreiter ihre kurzfristig zusammengestellte Schau in drei Räumen zeigen; dafür ließen sie die Möbel ent­fernen und die Wände mit dunklen, vermutlich schwarzen Papierbahnen verkleiden. Die Schau

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1. ausstellung des ›Blauen reiter‹, 1911/12; raum 2 (v. l. n. r.): Franz marc, Die gelbe Kuh; arnold schönberg, selbstporträt (von hin-ten); Wassily Kandinsky, heiliger georg ii; Wladi-mir Burljuk, Por trätstudie (oben); gabriele münter, landstraße im Winter (unten); marc, reh im Walde i; (rechts ange-schnitten) Kandinsky,Komposition VFoto: gabriele münter- und johannes eichner-stiftung, münchen

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1. ausstellung des ›Blauen reiter‹, 1911/12; raum 3 (v. l. n. r.): Franz marc, landschaft (steini-ger Weg); robert Delau-nay, tour eiffel; elisabeth epstein, Porträt (oben); heinrich campendonk, Frau und tier (unten)Foto: gabriele münter- und johannes eichner-stiftung, münchen

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1. ausstellung des ›Blauen reiter‹, 1911/12; raum 1 (v. l. n. r.): gabriele münter, Dunkles stillleben (geheimnis) (angeschnitten; siehe tafel 67); Wassily Kandinsky, Komposition V, 1911 (im an -grenzenden raum); albert Bloch, Drei Pierrots; heinrich campendonk, sprin-gendes Pferd; henri rousseau, la Basse-cour; Franz marc, Porträt henri rousseau (siehe abb. 53); robert Delaunay, la Ville no. 2 (angeschnitten)Foto: gabriele münter- und johannes eichner-stiftung, münchen

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1. ausstellung des ›Blauen reiter‹, galerie thannhauser, münchen 1911/12; raum 1: jean-Bloé niestlé, Fittislaubsänger (links oben); albert Bloch, Kopf (unten); Wassily Kandinsky, impression moskauFoto: gabriele münter- und johannes eichner-stiftung, münchen

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1. ausstellung des ›Blauen reiter‹, 1911/12; raum 1 (v. l. n. r.): robert Delaunay, la Ville no. 2; arnold schön-berg, nächtliche landschaft (oben); gabriele münter, reiflandschaft (unten); august macke, stilleben – Blumenstrauß mit agave; münter, abend (oben); albert Bloch, häuser und schornsteineFoto: gabriele münter- und johannes eichner-stiftung, münchen

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(seite 63, erstes Bild von links)1. ausstellung des ›Blauen reiter‹, 1911/12: raum 2 (v. l. n. r.): gabri-ele münter, stilleben (rosa) (angeschnitten); august macke, indianer auf Pferden (oben, siehe tafel 82); robert Delau-nay, st. séverin no. 1 (unten); David Burljuk, Pferde (über der tür);Franz marc, landschaft mit tieren und regen-bogen (oben); Wassily Kandinsky, mit sonne (unten, siehe tafel 37); Kandinsky, improvisation 22Foto: gabriele münter- und johannes eichner-stiftung, münchen

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lung nicht eine präzise und spezielle Form zu propagandieren [im Nachdruck geändert in: propa­gieren], sondern wir bezwecken in der Verschiedenheit der vertretenen Formen zu zeigen, wie der innere Wunsch der Künstler sich mannigfaltig gestaltet« – ein zentrales Anliegen, das Kandinsky und Marc in manchen anderen ihrer schriftlichen Äußerungen bereits präziser formuliert hatten.Schon bald nach Eröffnung konnte die Ausstellung Verkaufserfolge nennen, so wurden gleich drei Bilder Robert Delaunays verkauft  – der Tour Eiffel an Bernhard Koehler, St. Séverin an Adolf Erbslöh und La Ville No. 1 an Alexej Jawlensky.Insgesamt wurden neun Bilder auf der Ausstellung gekauft, davon allein vier durch den Sammler Bernhard Koehler. Kandinsky erwarb zwei Bilder Henri Rousseaus, La Basse­Cour und Le peintre et son modèle, sowie das Porträt von Elisabeth Epstein, die Zeichnung La Tour wurde ihm von Delaunay geschenkt. Bis auf diese kleine Bleistiftzeichnung Delaunays enthielt die 1. ›Blauer Reiter‹­Ausstellung keinerlei Arbeiten auf Papier, was wohl auch ein Grund dafür ist, dass Alfred Kubin und auch der im selben Winter zu dem Kreis hinzugestoßende Paul Klee an diesem Unter­nehmen nicht beteiligt waren. Während der Zeit der Ausstellung um die Jahreswende 1911/12, als auch Bernhard Koehler noch in München war, dürften die bekannten Fotos auf dem Balkon von Kandinskys und Münters Schwabinger Wohnung aufgenommen worden sein, auf dem sich einige Beteiligte aus dem engsten Kreis des ›Blauen Reiter‹ der Kamera der Gastgeber stellten (Abb. 67, vgl. Abb. 57).Neben kleineren Differenzen innerhalb der Ausstellenden gab es auch Annäherungen zwischen den »feindlichen« Parteien der alten ›NKVM‹ und des ›Blauen Reiter‹. Sichtbarer Ausdruck dafür waren die Bilderkäufe Erbslöhs und Jawlenskys von Delaunay, während Maria Marc in ihren lan­gen »Klatschbriefen« an das Ehepaar Macke unter anderem zu berichten wusste, Werefkin und Jawlenksky würden nun Kandinsky wieder »in schauderhafter Weise nachlaufen«. Vorwegneh­mend lässt sich sagen, dass sich die Fronten im Laufe der Entwicklung des nächsten Jahres 1912 zunehmend annäherten, als die ›Blauer Reiter‹­Ausstellung auf Tournee ging und weitere Vor­gänge innerhalb der ›NKVM‹ schließlich zu deren Auflösung führten.In seinem im November 1911, kurz vor der Abspaltung von der ›NKVM‹, für den Almanach ge ­schriebenen Artikel Die ›Wilden‹ Deutschlands hat Franz Marc ihre Geschichte aus seiner Sicht zusammengefasst; gegen Ende fallen hier seine berühmten Sätze, die für das Streben nach einem »Geistigen in der Kunst« viel zitiert worden sind:»Die ersten und einzigen ernsthaften Vertreter der neuen Ideen waren in München zwei Russen [Kandinsky und Jawlensky], die seit vielen Jahren hier lebten und in aller Stille wirkten, bis sich ihnen einige Deutsche anschlossen. Mit der Gründung der Vereinigung begannen dann jene schö­nen, seltsamen Ausstellungen, die die Verzweiflung der Kritiker bildeten. Charakteristisch für die Künstler der ›Vereinigung‹ war ihre starke Betonung des Programms; einer lernte vom anderen; es war ein gemeinsamer Wetteifer, wer die Ideen am besten begriffen hatte. Man hörte wohl manch­mal zu oft das Wort ›Synthese‹. Befreiend wirkten dann die jungen Franzosen und Russen, die als Gäste bei ihnen ausstellten. Sie gaben zu denken, und man begriff, dass es sich in der Kunst um die tiefsten Dinge handelt, dass die Erneuerung nicht formal sein darf, sondern eine Neugeburt des Denkens ist. Die Mystik erwachte in den Seelen und mit ihr uralte Elemente der Kunst. Es ist unmöglich, die letzten Werke dieser ›Wilden‹ aus einer formalen Entwicklung und Umdeutung des Impressionismus heraus erklären zu wollen. […] Die schönsten prismatischen Farben und der berühmte Kubismus sind als Ziel diesen ›Wilden‹ bedeutungslos geworden. Ihr Denken hat ein anderes Ziel: Durch ihre Arbeit ihrer Zeit Symbole zu schaffen, die auf die Altäre der kommenden geistigen Religion gehören und hinter denen der technische Erzeuger verschwindet.«Mit diesem dezidiert spirituellen Anspruch unterschied sich der ›Blaue Reiter‹ in der Tat von anderen Avantgarde­Bewegungen, etwa dem Kubismus, Futurismus oder auch dem ›Brücke‹­Expressionismus. Trotz aller Heterogenität der Bewegung des ›Blauen Reiter‹ und seiner 1. Aus­stellung im Winter 1911 teilt sich auch heute noch etwas von diesem Sendungsbewusstsein und seinem innovativen Beitrag zur Moderne mit, der in den besten Werken seiner Protagonisten seine jeweils eigene Gestalt gewonnen hat.

Stillleben (Geheimnis) [Abb. 63]. Im zweiten Raum hingen die verschollene Improvisation [Nr. 22] von Kandinsky, links daneben zwei nicht im Katalog verzeichnete Hinterglasbilder: oben Marcs groß formatige Landschaft mit Tieren und Regenbogen, darunter Kandinskys Mit Sonne, über der Tür die Pferde von David Burljuk, daneben Mackes Indianer auf Pferden, das von Koehler gekauft wurde, und St. Séverin No. 1 von Delaunay. [Abb. 64] Dieses Bild erwarb erstaunlicherweise noch während der Ausstellung Adolf Erbslöh, Mitglied der ›NKVM‹ und einer der Hauptkontrahenten Kandinskys während des Jurystreits. An der Längswand waren drei großformatige Bilder gehängt: ein verschollenes Stillleben (rosa) von Gabriele Münter, Kandinskys Komposition  V, der Zank­apfel, der zur Trennung von der ›NKVM‹ geführt hatte, und von Marc Reh im Walde I. An der Querwand folgten Wladimir Burljuks Porträtstudie und Gabriele Münters Landstraße im Winter, daneben, kaum sichtbar, ein weiteres im Katalog nicht verzeichnetes Hinterglasbild, Kandinskys Heiliger Georg II. Links vom Durchgang zu Raum 6 folgten Schönbergs Selbstporträt (von hinten) und Die gelbe Kuh von Marc [Abb. 65].Im Durchgang zu Raum 6 sind drei Bilder zu erkennen: oben die Kreuztragung von Bloch, darun­ter Sturm von August Macke, links davon, auf der Querwand, durch den Türstock fast verdeckt, Delaunays La Ville No. 1. Dieses heute verschollene Bild kaufte Alexej Jawlensky, ebenfalls Mit­glied der ›NKVM‹, der während des Jurystreits eine indifferente Haltung eingenommen hatte. Daneben hingen von rechts nach links ein verschollenes Porträt von Elisabeth Epstein, das Kan­dinsky kaufte, ein verschollenes Bild von Campendonk, Frau und Tier, Tour Eiffel von Delaunay, das Koehler gleich zu Beginn der Ausstellung erwarb, und von Marc die Landschaft (Steiniger Weg) [Abb. 66]. Auf den historischen Fotos nicht sichtbar sind weitere Werke von Bloch, Burljuk, Schönberg, Epstein und Kahler. Über die 43 im Katalog verzeichneten Bilder hinaus wurden

mindestens fünf, wahrscheinlich aber sieben Werke außer Katalog gezeigt; neben den bereits erwähnten wie Schönbergs Nächtliche Landschaft und den Hinterglasbildern von Marc und Kan­dinsky war dies unter anderem der Affenfries von Marc, den Bernhard Koehler noch kurzfristig aus seiner Sammlung für die Ausstellung zur Verfügung gestellt hatte.« (von Lüttichau)Die deklarierte Verschiedenartigkeit, das Heterogene der Ausstellung mit ihrem Ziel, den eigent­lich künstlerischen Bestrebungen ein Forum zu bieten, wurde auch noch einmal auf dem Vorsatz­blatt der kleinen Katalogbroschüre formuliert, die in aller Eile im Bruckmann Verlag gedruckt und erst etwa eine Woche nach Eröffnung ausgeliefert wurde: »Wir suchen in dieser kleinen Ausstel­

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gabriele münter, maria marc, Bernhard Koehler, thomas von hartmann, heinrich campendonk, vorn sitzend: Franz marc, auf dem Balkon der ainmillerstraße 36, münchen, 1911/12Foto: gabriele münter- und johannes eichner-stiftung, münchen

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Farbe wegen ihrer Irrationalität noch immer entgleite: »malen kann ich eben immer noch nicht, trotz meiner strengen Tonwertbeachtung und trotz meiner raffinierten Art, das Maß der Hell­dunkel stufungen zu treffen.« (Abb. 68) Doch die auf sehr intellektuellem Wege erzielte, schein­bare Einfachheit von Klees Zeichnungen entsprach auf ganz eigene Weise dem Anliegen, ›Geisti­ges‹ in der Kunst anschaulich werden zu lassen. Schon seine frühen Arbeiten weisen damit auf das reiche Spätwerk hin, in dem dieses Anliegen in zahlreich variierten Möglichkeiten des bildne­rischen Formens vertieft und zu einem zentralen Beitrag in der Kunst des 20. Jahrhunderts wurde. Auf den Künstlerkreis in seiner Nachbarschaft durfte Klee nicht zuletzt durch Alfred Kubin auf­merksam geworden sein. Bereits Ende 1910 hatte Kubin den Wunsch geäußert, ein Blatt von Klee zu erwerben, und er besuchte den ihm bis dahin unbekannten Künstler tatsächlich von Zwickledt aus Anfang 1911 in dessen Schwabinger Atelier und kaufte ihm die Zeichnung Kanalhafen bei München ab. Ein Gegenbesuch von Paul Klee in Zwickledt erfolgte im Sommer 1912, wobei er seine gerade fertiggestellten Candide­Illustrationen für das gleichnamige Buch von Voltaire mit­brachte, die auf Kubin einen tiefen Eindruck machten. Die Rezeption der gedehnten, transparent Die jahre 1912 bis 1914

Wiewohl Kandinsky und Marc sich in diesem Glauben an eine besondere, spirituelle Botschaft der Kunst prinzipiell einig waren, war es doch Kandinsky, der diesen Anspruch mit besonderer Radi­kalität vertrat. Dies zeigte sich bald auch in kleineren Differenzen während der Vorbereitung für die 2. ›Blauer Reiter‹­Ausstellung, die am 12. Februar 1912 in der Kunsthandlung Hans Goltz in München eröffnet wurde und bis Mitte April zu sehen war. Sie zeigte unter dem offiziellen Titel Die Zweite Ausstellung der Redaktion Der Blaue Reiter. Schwarz­Weiss diesmal ausschließlich Grafik, das heißt Aquarelle, Zeichnungen und Druckgrafiken, und war mit über 315 Blättern sehr umfangreich. Neben den Bildern der ›Blauer Reiter‹­Künstler bezog sie diesmal auch zahlreiche Werke der internationalen Avantgarde mit ein, unter anderem der Franzosen André Derain, Pablo Picasso und Maurice de Vlaminck, der Russen Natalia Gontscharowa, Michail Larionow und Kasimir Malewitsch, der Schweizer Hans Arp und Oscar Lüthy sowie der ›Brücke‹­Künstler Ernst Ludwig Kirchner, Otto Müller, Max Pechstein, Georg Tappert und Emil Nolde. Gerade um die Beteiligung der letztgenannten Künstler hatte sich besonders Franz Marc bemüht, als er sich zu Jahresbeginn 1912 mit seiner Frau Maria in Berlin aufhielt und viele der neuen Expressionisten persönlich in ihren Ateliers aufsuchte. Seine Offenheit für den ›Brücke‹­Expressionismus und den Futurismus, die er mit lebhaftem Interesse begrüßte, machte Kandinsky schließlich seinem Freund Marc in verhaltener Form zum Vorwurf, indem er einen Verrat an den eigenen Ideen witterte. Auch einige andere Querelen, ausgelöst durch Empfindlichkeiten Gabriele Münters, die sich von Marc und Macke nicht höflich genug behandelt fühlte, überschatteten in diesem Früh­jahr vorübergehend das gute Einvernehmen zwischen den Hauptbeteiligten des ›Blauen Reiter‹. Andererseits hatte die zweite Schwarz­Weiss­Ausstellung einen weiteren wichtigen Zuwachs für die Gruppe erbracht: Neben Alfred Kubin war erstmals auch Paul Klee, der damals noch über­wiegend als Zeichner und Grafiker arbeitete und erst nach 1914 zur Ölmalerei kommen sollte, mit der recht hohen Anzahl von 17 Blättern vertreten. Klee, der in unmittelbarer Nachbarschaft zu Kandinsky in der Ainmillerstraße wohnte, hatte diesen im Oktober 1911 durch den Schweizer Künstler Louis Moilliet kennengelernt, wobei man sich zunächst »in einem öffentlichen Lokal der Stadt« traf. »Dan[n] verabredeten wir, auf der Trambahn nach Hause fahrend, weitere Pflege von Beziehungen. Im Laufe des Winters schloss ich mich dann seinem blauen Reiter an«, notierte Klee dazu in seinem Tagebuch. Entsprechend bemerkte Kandinsky in seinem oben zitierten Brief vom 9. Oktober 1911 an Franz Marc: »Gestern durch Moilliet den Klee kennengelernt. Da sitzt schon was in der Seele.« Paul Klee war nach einem kurzen Studium in München um 1900 bei Heinrich Knirr und Franz von Stuck 1906 mit seiner Frau Lily wieder nach München gezogen. In diesen Jahren beschäftigte er sich ausschließlich mit grafischen Techniken und näherte sich nur vorsichtig der Farbe. Exemplarisch stehen dafür seine um 1908/09 entstandenen Schwarzaqua­relle, in denen er die »unendlichen Komplikationen« der Natur in grauen, schwarzen und weißen Tonwerten zu erfassen suchte. Noch um 1910 bekannte er in seinen Tagebüchern, dass ihm die

gezeichneten Candide­Figurinen Klees mit ihrer expressiven Gestik lässt sich in zahlreichen Zeichnungen Kubins dieser Jahre beobachten, etwa auch in seinem farbigen Blatt Der Luftgeist, das er Gabriele Münter zum Geschenk machte (vgl. Tafel 118). Auf der 2. Ausstellung des ›Blauen Reiter‹, Schwarz­Weiss, hatte Kubin unter anderem Tuschzeichnungen aus seinem bedeutenden Mappenwerk Sansara. Ein Zyklus ohne Ende von 1911 gezeigt, darunter Der Orgelmann und Schlangen in der Stadt. Auch der Ballsaal ist eine Originalzeichnung für die Reproduktionen der Sansara­Mappe; sie alle weisen mit ihrem feinen Liniengespinst den flüssigen, gleichsam kalli­grafischen Tuschfederstil auf, der für Kubins gesamtes weiteres Schaffen charakteristisch werden sollte (Abb. 69).Unterdessen war die 1. Ausstellung des ›Blauen Reiter‹ auf eine ausgedehnte Tournee gegangen, zunächst bis Ende Januar 1912 nach Köln in den Gereonsclub, anschließend nach Berlin in die ›Sturm‹­Galerie von Herwarth Walden, der nach der Schau in Köln spontan angefragt hatte, mit Übernahme der Ausstellung sein neu gegründetes Ausstellungslokal in der Tiergartenstraße zu eröffnen. Hier wurde sie in der Kombination ›Der Blaue Reiter, Franz Flaum, Oskar Kokoschka, Expressionisten‹ mit einem neuen Katalog von März bis April 1912 gezeigt. Der Kontakt mit Herwarth Walden (Abb. 70), seit 1910 Herausgeber der Zeitschrift Der Sturm, der sich zum rüh­rigsten Gale risten des nächsten Jahrzehnts entwickelte, sollte für die Künstler des ›Blauen Reiter‹

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herwarth Walden, Berlin, um 1910

Foto: gabriele münter- und johannes eichner-

stiftung, münchen

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Paul Klee, Vorstadt (münchen-nord), 1913,tuschfeder, laviert, Deckweiß, städtische galerie im lenbachhaus, münchen

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alfred Kubin, Ballsaal, 1909/10,tusche auf Kataster-papier, städtische galerie im lenbachhaus, münchen, Kubin-archiv

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er ihm erneut im Juni 1913 schrieb: »Ich glaube, dass wir kaum schon in der nächsten Winter­saison mit dem 2. Band ausrücken werden. Wo soll man das Material finden, vor allem gute Arti­kel? […] Und Bildmaterial? Ich habe bis jetzt nur eine Idee, die ich Sie bitte vorläufig vollkommen im Geheimen zu halten – mit Ausnahme Ihrer Frau natürlich. Das sind alte Geschäftsschilder und Reklamebilder, zu welchen ich die Budenmalerei rechne (z. B. Oktober – Wiese). Ich möchte ver­suchen, hier an die Grenze des Kitsches zu gehen (oder wie viele meinen werden, über diese Grenze). Im Zusammenhang damit Naturaufnahmen, besonders einzelne Gegenstände und Teile der Gegenstände. Usw. Aber die neuen Bilder? Die neue Kunst?« Hier sehe er nur wenige origi­nelle, lebendige Ansätze, etwa »die Bilder von einem jungen Holländer«, Adriaan Korteweg, der damals vorübergehend in München arbeitete und bereits 1917 in Indien starb (vgl. Tafeln 112, 113). Marc teilte zwar die Ansicht über den Zustand der aktuellen Kunst, drängte jedoch gleich­wohl auf die Herausgabe eines zweiten Bandes, zu dem er bereits ein Vorwort schrieb. An Kan­dinsky gewandt äußerte er noch im März 1914: »Ich habe das bestimmte Gefühl, dass gerade heute von uns etwas gesagt werden müsste, gerade weil das Material fehlt. Wenn es einmal nicht mehr fehlen wird, werden andere und mit mehr Recht das Material zeigen.«Herwarth Waldens wichtiger ›Erster Deutscher Herbstsalon‹ im September 1913 in Berlin ver­einte noch einmal die Mitglieder des ›Blauen Reiter‹ neben zahlreichen anderen Avantgarde­Künstlern aus dem In­ und Ausland, darunter auch erstmals Lyonel Feininger, der auf Vermittlung Alfred Kubins mit Walden und dem Kreis des ›Blauen Reiter‹ in Kontakt gekommen war. Diese Ausstellung, bei deren Hängung Franz Marc und August Macke in Berlin assistiert hatten, ver­stärkte unter anderem die Opposition, die Macke schon seit der 1. ›Blauer Reiter‹­Ausstellung besonders gegen Kandinsky in dem Maße empfunden hatte, wie seine Begeisterung für die neu­esten Bilder Robert Delaunays, für dessen Serien der Fenêtres und Formes circulaires, gewachsen war. Im Zusammenhang mit dem ›Herbstsalon‹ entstand Mackes Aquarell Persiflage auf den Blauen Reiter, das Franz Marc auf dem Kutschbock zeigt, Kandinsky vornehm in der Kutsche sitzend, dahinter das nervöse Profil Herwarth Waldens, Macke selbst aber klein und unbedeutend am Rand. Das Ganze ist bedeckt von fließenden Linien und Farbflecken im karikierenden Stil von Kandinskys abstrakten Gemälden (Abb. 71). Dieser internen, auch künstlerischen Differenzen ungeachtet gelang besonders Kandinsky und Marc, mit ihren großen, auf dem ›Herbstsalon‹ ge ­zeigten Werken wie Komposition 6, Bild mit weißem Rand, Improvisation 31 sowie den Tier­schicksalen, Turm der Blauen Pferde und Tirol der Durchbruch zur öffentlichen Anerkennung und zu einem positivem Verständnis seitens der Presse­ und Kunstkritik.Im Frühjahr 1913 hatte es Pläne für die Herausgabe einer illustrierten Bibel­Ausgabe des ›Blauen Reiter‹ gegeben, an der sich neben Kandinsky und Marc auch Alfred Kubin, Erich Heckel, Oskar

sehr folgenreich werden. Nicht nur waren sie 1913 allesamt an dem großen Unternehmen des ›Ersten Deutschen Herbstsalon‹ in Waldens ›Sturm‹­Galerie beteiligt, sondern Walden vermittelte auch die meisten anderen Stationen der Tournee der 1. ›Blauer Reiter‹­Ausstellung, die 1912 noch in Bremen, Hagen, Frankfurt am Main und Hamburg zu sehen war, 1913 in Budapest und 1914 auf einer Tour durch Skandinavien in Oslo, Helsinki, Trondheim und Göteborg. Darüber hinaus organisierte Walden Ende 1912 auch die erste große Einzelausstellung von Kandinsky, in deren Katalog erstmals der umfangreiche Text seiner berühmt gewordenen autobiografischen Rück­blicke veröffentlicht wurde, ferner im Anschluss daran die erste Einzelausstellung Gabriele Mün­ters und in den Folgejahren entsprechende Kollektiv­Ausstellungen der anderen Künstler wie Paul Klee, Franz Marc und Albert Bloch, die Walden bis in die Nachkriegsjahre hinein unermüd­lich in wechselnder Kombination präsentierte.In Waldens ›Sturm‹­Galerie wurde auch bald nach der Übernahme der 1. ›Blauer Reiter‹­Aus­stellung im Frühjahr 1912 eine weitere ›Blauer Reiter‹­Ausstellung gezeigt, die zudem die Fronten zwischen der Kerngruppe und den in der ›NKVM‹ verbliebenen Kollegen Alexej Jawlensky und Marianne von Werefkin wieder entscheidend einander annäherte. Denn im Mai 1912 hatte die bedeutende ›Sonderbund‹­Ausstellung in Köln ihre Pforten geöffnet, die wichtigste offizielle Aus­stellung internationaler Avantgarde vor dem Ersten Weltkrieg, zu der auch der Münchner Kreis eingeladen worden war. Nach erheblichen Differenzen im Vorfeld mit den Kommissaren des ›Son­derbundes‹, bei denen August Macke vor Ort (jedoch nicht zur Befriedigung aller Kollegen) zu vermitteln suchte, fühlten sich die Künstler des ›Blauen Reiter‹ hier schließlich als Gruppe nicht genügend vertreten und sahen sich ebenso durch die Zurückweisung einiger ihrer Bilder gekränkt. Als Reaktion darauf organisierten sie – wieder in erster Linie auf Betreiben von Marc und Kan­dinsky – eine Ausstellung der »Refüsierten des Sonderbundes« mit dem schlichten Titel Der Blaue Reiter, für die Herwarth Waldens ›Sturm‹­Galerie ab Juni 1912 ein Forum bot und die diesmal auch Paul Klee und insbesondere sechs wichtige Gemälde von Alexej Jawlensky, darunter Grüne Augen, Federhut und Prerow, sowie drei aktuelle Bilder von Marianne von Werefkin miteinbezog.Diese verspätete Einordnung beziehungsweise Integration in den Kreis des ›Blauen Reiter‹ wurde durch die Tatsache bestärkt, dass Jawlensky und Werefkin Ende des Jahres 1912, also ein Jahr nach der Abspaltung des ›Blauen Reiter‹, ebenfalls ihren Austritt aus der ›Neuen Künstlervereinigung München‹ erklärten. Die dritte ›NKVM‹­Ausstellung war ebenso auf Tournee gegangen, zunächst nach Zürich und Bremen, wo sie pikanterweise parallel zur Wanderausstellung des ›Blauen Reiter‹ gezeigt wurde. Im November kam schließlich die Publikation Das Neue Bild des noch 1911 der ›NKVM‹ beigetretenen Kunsthistorikers Otto Fischer heraus, ein aufwendig aus gestattetes Buch, in dem in einer Einleitung die Geschichte der ›NKVM‹ und in kurzen Texten und Tafeln die einzel­nen Künstler der restlichen Gruppe vorgestellt wurden. Aus Empörung über Fischers einleitende, besonders gegen die »unverständlichen« und »abstrakten« Werke Kandinskys geäußerte Polemik und die verständnislosen Kommentare zu den in der ›NKVM‹ verbliebenen Künstlern verließen nun auch Werefkin und Jawlensky, gefolgt von Wladimir Bechtejeff, Moissey Kogan und Alexander Mogilewski die ›NKVM‹, die damit praktisch zu existieren aufhörte. In einem langen, sehr persön­lich gehaltenen Brief an den Leiter des Kunstvereins Barmen und wichtigen Ansprechpartner der ›NKVM‹ wie des ›Blauen Reiter‹, Richard Reiche, begründete Werefkin diesen Schritt und rekapi­tulierte dabei noch einmal die Ereignisse des vorausgegangenen Jahres: »[…] seitdem glänzende künstlerische Kräfte von uns geschieden waren, war jedes Vertrauen in die Wahrhaftigkeit der künstlerischen Überzeugungen der Verbliebenen für immer vernichtet.« Die unangemessenen Kommentare in Otto Fischers Buch besonders über die Kunst Kandinskys hätten sie dann »wie ein Peitschenhieb« getroffen und mit ihrem Austritt das Ende der Gruppe besiegelt.Der ›Blaue Reiter‹ hingegen setzte seine gemeinsamen Aktivitäten bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs fort, wobei allerdings vieles nur bei Plänen blieb und nicht mehr mit dem begeisterten Antrieb und der Durchschlagskraft der Anfangszeit verfolgt wurde. So wurde die Fortsetzung des Almanach in einem zweiten Band immer wieder verschoben, für den durchaus einige Artikel vor­lagen. Besonders Kandinsky zögerte und vertröstete Marc in seinen Plänen immer wieder, wobei

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august macke, Persiflage auf den ›Blauen reiter‹, 1913, aquarell, Bleistift,

Kreide, städtische galerie im lenbachhaus,

münchen

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Franz marc, geburt der Pferde, 1913Farbholzschnitt,

städtische galerie im lenbachhaus, münchen

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August Macke und Franz Marc wurden beide nach Kriegsausbruch zum Militärdienst an der fran­zösischen Front eingezogen, Macke fiel bereits im September 1914 in der Champagne, er galt einige Wochen lang als vermisst, sein Freund Marc widmete ihm schließlich einen erschütternden Nachruf, in dem es unter anderem heißt: »August Macke, der ›junge Macke‹, ist tot. Wer sich in diesen letzten, ereignisvollen Jahren um die neue deutsche Kunst gesorgt hat, wer etwas von unserer künstlerischen Zukunft ahnte, der kannte Macke. Und die mit ihm arbeiteten, wir, seine Freunde, wir wußten, welche heimliche Zukunft dieser geniale Mensch in sich trug. Mit seinem Tode knickt eine der schönsten und kühnsten Kurven unsrer deutschen künstlerischen Entwick­lung jäh ab: keiner von uns ist im Stande, sie fortzuführen. Jeder zieht seine eigene Bahn; und wo wir uns begegnen werden, wird er immer fehlen.« Marc selbst war erst einige Monate vor Kriegs­ausbruch, im April 1914, von Sindelsdorf in ein eigenes Haus in Ried bei Benediktbeuern um ­gezogen. Über den Sommer dieses Jahres berichtet Maria Marc in ihren Aufzeichnungen: »In jenen letzten Tagen vor dem Kriege besuchte uns Kandinsky noch in Ried – in schwerer, bedrück­ter Stimmung – als ob er ahnte, was kommen würde. Sie haben es wohl Beide vorausgesehen – Kand. – Franz – dass sie sich nie mehr wiedersehen würden. Wir begleiteten ihn nach Kochel – der Abschied war schwer u. düster. Diesen Abend sassen wir allein in Ried in tief betrübter u. bedrückter Stimmung.« Die anfängliche Kriegsbegeisterung Marcs, der erst am 30. August von einer Münchner Kaserne aus an die französische Front ausgerückt war, wich schon bald unter dem Eindruck des verlustreichen Vormarsches einer Einsicht in das Grauen und die Sinnlosigkeit des Gemetzels, die er allerdings Briefpartnern wie Elisabeth Macke oder Bernhard Koehler weit mehr als seiner Ehefrau mitteilte. Am 24. Oktober 1914 schrieb er aus Hageville: »Lieber Kandinsky, ich habe das traurige Gefühl, daß dieser Krieg wie eine große Flut zwischen uns beiden strömt, die uns trennt; der eine sieht den anderen kaum am fernen Ufer. Alles Rufen ist vergeblich – vielleicht auch das Schreiben. […] Nach den ersten vier Wochen unsäglicher Strapazen, die ich in den Voge­sen durchzumachen hatte, nach allen Schrecknissen und Schreckbildern des Krieges bin ich seit Anfang Oktober in große Ruhe gekommen.« Die vorübergehende Ruhe im Lager in Elsass­Loth­ringen nutzte Marc für den Beginn seiner letzten Texte, Die 100 Aphorismen. Das zweite Gesicht. Im Juli und November 1915 konnte er jeweils einen Heimaturlaub von der Front in Ried und München verbringen (Abb. 73). Marc fand Anfang März 1916 den Kriegstod auf einem Patrouil­lenritt bei Verdun.

Kokoschka und Paul Klee beteiligen sollten. Im Rahmen dieser Vorbereitungen führte Marc erneut eine umfangreiche Korrespondenz und teilte unter anderem Paul Klee die charakteristi­sche Wahl der einzelnen Künstler mit: »Kubin schreibt, dass er den Propheten Daniel belegt. Kokoschka Hiob, Heckel ein Evangelium. Kandinsky Apokalypse, ich Buch Mosis, die übrige Welt steht Ihnen offen!« Klee wählte daraufhin das Thema der Psalmen und beschäftigte sich, wie auch die anderen Beteiligten, in einer Reihe von Werken mit dem biblischen Themenkreis. So entstan­den auch Marcs letzte Druckgrafiken, die Holzschnitte wie Schöpfungsgeschichte I, Schöpfungs­geschichte II und Geburt der Pferde von 1914, im Zusammenhang mit seiner Beschäftigung mit dem Bibel­Projekt (Abb. 72). Doch bis zum Ausbruch des Krieges hatte lediglich Alfred Kubin seine zwölf Illustrationen zum Buch Daniel fertiggestellt, die er 1918 in einem eigenen Band im Münchner Georg Müller Verlag herausgab.Schließlich schlossen sich einige Künstler des ›Blauen Reiter‹, in erster Linie Kandinsky, Marc und Kubin, im Frühjahr 1914 der Initiative des jungen Schriftstellers und Damaturgen Hugo Ball zur Neubelebung des »Münchner Künstlertheaters« an. Von einer aktiven Umsetzung entspre­chender Pläne und Bühnenbilder distanzierten sie sich aber bald wieder, da sie ihnen offenbar nicht weit genug gingen. Die angestrebten Reformen zur Bühnenkunst sollten daraufhin in einem Band mit dem geplanten Titel Expressionistisches Theater oder Das neue Theater zusammen­gefasst werden, dessen Autorenverzeichnis stark an die Beteiligten des Almanach erinnerte. Auch dieses Buch konnte nicht mehr realisiert werden, zeigte jedoch, dass Hugo Ball sich »jetzt inten­siver mit den Bühnenideen des ›Blauen Reiter‹ befasst zu haben« schien. »So wollte Ball zunächst noch Bechtejeff beteiligen, aber später wurde er nicht mehr erwähnt, und das provisorische Inhaltsverzeichnis enthielt überwiegend Mitarbeiter des ›Blauen Reiter‹, Texte von Kandinsky über das Gesamtkunstwerk, von Hartmann über ›Anarchie der Musik‹ und von Jewreinoff ›Über das Psychologische‹, dazu Entwürfe von Marc zum Sturm [Marc hatte zwei Figurinen für die Auf­führung von Shakespeares Sturm angefertigt], von Klee zu den Bacchantinnen des Euripides und von Kubin zu dem Stück Der Floh im Panzerhaus sowie von Kokoschka, der mit Abbildungen im Almanach ›Der Blaue Reiter‹ vertreten war, Szenen und Dramen. Hinzu kamen Texte von Michail Fokin über Ballett, von Ball über Expressionismus und Bühne sowie von Erich Mendelsohn über Bühnenarchitektur. Bei Hartmann scheint an eine Übernahme des Textes aus dem Almanach gedacht worden zu sein, ebenso wie zunächst bei Kandinskys Gedanken Über Bühnenkomposition und seinem Gelben Klang. Später bot Kandinsky sein neues Stück Violett an.« (Andreas Hüneke) Im April 1914 unternahmen zudem August Macke, Paul Klee und Louis Moilliet die später legen­där gewordene Tunis­Reise, die für alle zu einem entscheidenden künstlerischen Erlebnis wurde (vgl. Tafel 87, 88). Vor allem für Klees Schaffen bedeutete die Tunisreise den endgültigen Durch­bruch zur Farbe, hier notierte er für die Nachwelt in sein Tagebuch: »Die Farbe hat mich. Ich brauche nicht nach ihr zu haschen. Sie hat mich für immer, ich weiß das. Das ist der glücklichen Stunde Sinn: ich und die Farbe sind eins. Ich bin Maler.«

epilog

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 setzte allen diesen Aktivitäten ein Ende und riss den Kreis des ›Blauen Reiter‹ auseinander. Kandinsky und Münter kehrten überstürzt aus Murnau nach München zurück und reisten bereits am 3. August gemeinsam in die Schweiz aus. Einige Monate später, im November 1914, trennten sie sich in Zürich. Kandinsky kehrte in sein Heimatland zurück und verbrachte die Kriegs­ und Revolutionsjahre in Moskau. Im Winter 1915/16 kam er auf Bitten Münters für drei Monate nach Stockholm, um einander im neutralen Ausland wiederzutreffen. Hier sahen sich beide zum letzten Mal (Abb. 74). 1917 heiratete Kan­dinsky in Moskau die junge Russin Nina Andrejewskaja und kehrte mit ihr Ende 1921, einem Ruf von Walter Gropius an das Bauhaus in Weimar folgend, nach Deutschland zurück.

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maria und Franz marc während dessen Front-urlaubs, juli 1915Foto: Privatbesitz, nachlass Franz marc

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Wassily Kandinsky und gabriele münter in stockholm, 1916Foto: gabriele münter- und johannes eichner-stiftung, münchen

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Über siedelung des Bauhauses von Dessau nach Berlin mit, bevor er 1933 nach Paris emigrierte. In einem Aufsatz für die Paul Klee zu dessen Weggang aus Dessau 1931 gewidmete Nummer der Zeitschrift bauhaus schlägt Kandinsky noch einmal einen Bogen von der gemeinsamen Zeit in München, Weimar und Dessau und lässt dabei neben der persönlich gehaltenen Form der Erin­nerung nochmals die geistige Verwandtschaft zwischen ihnen aufscheinen: »Was mich persönlich anlangt, erlaube ich mir, auch etwas Subjektives auszusprechen. Vor mehr als 20 Jahren zog ich in München in die Ainmillerstraße und erfuhr bald, dass der junge Maler, der gerade mit erstem Erfolg in der Galerie Thannhauser debütierte, Paul Klee, fast Haus an Haus neben mir wohnte. Wir blieben bis zum Ausbruch des Krieges Nachbarn und aus dieser Zeit stammt der Anfang uns­rer Freundschaft. Der Krieg sprengte uns auseinander. Erst nach acht Jahren führte mich das Schicksal ans Bauhaus in Weimar und so wurden wir – Klee und ich – zum zweiten Mal Nachbarn: fast nebeneinander lagen unsre Ateliers im Bauhaus. Bald wieder eine Sprengung: das Bauhaus flog mit einer Geschwindigkeit aus Weimar, um die es ein Zeppelin beneiden könnte. Diesem Flug verdanken Klee und ich die dritte und die engste Nachbarschaft: über fünf Jahre lang wohnten wir dicht aneinander. Nur eine Brandmauer trennt unsre Wohnungen, wir können uns aber trotz der Mauer und ohne das Haus zu verlassen besuchen – ein kurzer Gang durch den Keller. Bayern – Thüringen – Anhalt. Was weiter? Aber auch ohne Kellergang bleibt die geistige Nachbarschaft bestehen.« (Abb. 77)

Gabriele Münter blieb bis Anfang der 1920er­Jahre in Skandinavien und ließ sich, nach Jahren persönlicher Krisen mit Aufenthalten in Murnau, München und Elmau, Köln, Berlin und Frank­reich, 1931 wieder dauerhaft in Murnau nieder. Damit war Münter die Einzige, die nach langen Jahren des Wanderlebens an die Orte ihres gemeinsamen Aufbruchs, nach Murnau und München, zurückkehrte. Mit der Schenkung der von ihr gehüteten Werke an das Lenbachhaus hinterließ sie der Stadt des ›Blauen Reiter‹ ein einzigartiges Vermächtnis.

Werefkin, die wegen der schwierigen Beziehung zu Jawlensky in der Münchner Zeit wiederholt nach Russland beziehungsweise Litauen gereist war, kehrte von einem Aufenthalt bei ihrem Bru­der in Wilna erst Ende Juli 1914 zurück, wenige Tage vor Kriegsausbruch. Nun mussten sie und Jawlensky, zusammen mit Helene Nesnakomoff und dem Sohn Andreas, bei Kriegsausbruch eben­falls in großer Eile München verlassen und emigrierten zunächst nach St. Prex am Genfer See (Abb. 75). Später wechselten sie von dort über Zürich nach Ascona, wo die Beziehung zwischen Jawlensky und Werefkin 1920 endgültig zerbrach. Jawlensky heiratete Helene Nesnakomoff und zog mit ihr und dem gemeinsamen Sohn nach Wiesbaden, wo Emmy Scheyer 1921 eine Ausstel­lung von ihm organisiert hatte und einige Sammler Anknüpfungspunkte für dringend benötigte Einkünfte versprachen. Marianne von Werefkin, die ähnlich wie Kandinsky durch die Russische Revolution fast ihr gesamtes Vermögen verloren hatte, entschied sich in Ascona zu bleiben und verbrachte dort den Rest ihres Lebens in sehr eingeschränkten materiellen Verhältnissen, inte­griert in die örtliche Künstlerkolonie.Paul Klee blieb in München und wurde erst zwei Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs in den Kriegsdienst eingezogen. Zunächst verrichtete er in Landshut und auf der Flugwerft Schleiß­heim, ab 1917 dann bei der Fliegerschule in Gersthofen bei Augsburg Tätigkeiten in der Schreib­stube. Für Klee, der bis zu Marcs Tod mit diesem in engem Briefwechsel stand, wurden jene Jahre und auch die unmittelbare Nachkriegszeit zu einer künstlerisch äußerst produktiven Phase; ab 1919 entstand nun auch eine große Anzahl an Gemälden. In diesem Jahr mietete er sich ein Atelier im Schlösschen ›Suresnes‹ in Schwabing, den Sommer 1921 – bereits nach Antritt seiner Lehr­tätigkeit am Bauhaus – verbrachte er in Possenhofen am Starnberger See (Abb. 76).Am Bauhaus in Weimar trafen Kandinsky, Klee und Lyonel Feininger wieder zusammen, doch nun unter den Vorzeichen einer gänzlich veränderten Zeit. Um 1929 schlossen sich Kandinsky, Klee, Feininger und Jawlensky noch einmal zu dem losen Verband ›Die Blaue Vier‹ zusammen, der von Galka Scheyer in erster Linie für den Vertrieb ihrer Kunst und die Organisation von Ausstellungen angeregt worden war und das Werk der vier Künstler besonders in Amerika bekannt machte.Schon 1925 musste das Bauhaus wegen nationalsozialistischer Repressionen von Weimar nach Dessau ausweichen. Klee war dann der Erste aus dem Kreis, der das Bauhaus 1931 unter dem wachsenden Druck der Nationalsozialisten verließ, um zunächst eine Professur an der Düssel­dorfer Akademie anzutreten, bis er nach dem Lehrverbot 1933 in seine Schweizer Heimat zu rückkehrte. Kandinsky machte noch die 1932 auf Betreiben der Nationalsozialisten erfolgte

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marianne von Werefkin, sacharoff und jawlensky auf dem Balkon in st. Prex am genfer see, 1917/18, gouache, tempera und Bleistift,städtische galerie im lenbachhaus, münchen

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Paul Klee in Possenhofen am starnberger see, 1921Foto: grete eckert, münchen, städtische galerie im lenbachhaus, archiv

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Paul Klee und Wassily Kandinsky im garten ihrer ›meisterhäuser‹

in Dessau, um 1927Foto: Bibliothèque Kandinsky, centre

Pompidou, Paris

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BilDtaFeln

mit Kommentaren vonannegret hoberg

Die Bezeichnung »Öl auf Leinwand« dominiert bis heute in Katalogen und Verzeichnissen, obwohl sie meist nicht die tatsächliche Maltechnik definiert. Jüngste Forschungsergebnisse zeigen, dass die Künstlerinnen und Künstler des ›Blauen Reiter‹ einen experimentellen Umgang mit verschiedensten Farbsystemen bevorzugten, um ihre neue Bildsprache umsetzen zu können. Zu Beginn des Jahr­hunderts drängten einerseits zahlreiche Farbenhersteller mit neuen Tubenfarben auf den Markt, andererseits experimentierten Kandinsky und seine Künstlerkollegen auf der Suche nach Ausdruck und Haltbarkeit selbst mit historischen Herstellungsmethoden: Sie rieben Pigmente an und probier­ten Rezepte aus. Kandinsky betrachtete die Bezeichnung »Öl auf Leinwand« gar als »irreführend«. Trotzdem verwendeten er und andere Künstler diese teilweise selbst, obgleich sie nicht nur mit Öl malten. Dies geschah vermutlich auch, um die mit dem Begriff »Öl« verbundene Vorstellung von Wertigkeit aufrechtzuerhalten. Mit dem Aufbruch in die Moderne lösen sich in der Malerei allgemein auch die Technikgattungen auf, »Öl auf Leinwand« bedeutet seitdem nicht mehr zwangsläufig Öl als Bindemittel. Insbesondere die Maltechnik des ›Blauen Reiter‹ ist demnach als ebenso komplex, inno­vativ und modern einzustufen wie seine Malerei.

Iris Winkelmeyer, Leitende Restauratorin, Lenbachhaus

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Wassily Kandinsky wurde am 4. Dezember 1866 als Sohn einer großbürgerlichen Familie in Moskau geboren und wuchs nach der Scheidung seiner Eltern ab 1871 in Odessa auf. 1886 kehrte er zum Stu­dium der Rechte und Nationalökonomie nach Moskau zurück und heiratete 1892 seine Cousine Anja Semjakina. Trotz einer aussichtsreichen Universitätskarriere entschloss sich Kandinsky 1896 im Alter von 30 Jahren, zum Studium der Malerei nach München zu gehen, und besuchte hier zunächst vier Jahre lang die Malschule von Anton Ažbe, wo er seinen Landsmann Alexej Jawlensky kennenlernte. Ab 1900 studierte er ein Jahr an der Akademie bei Franz von Stuck und gründete 1901 die Künstler­vereinigung ›Phalanx‹, die Ausstellungen veranstaltete und eine Kunstschule betrieb. Hier wurde Ga briele Münter Anfang 1902 seine Schülerin. 1903 wurden beide ein Paar und begannen ab 1904 ein ausgedehntes Wanderleben, das sie nach Holland, Tunis, Dresden, Rapallo und 1906 /07 nach Sèvres bei Paris führte. 1908 ließen sie sich wieder dauerhaft in München nieder. Im Spätsommer dieses Jahres verbrachten sie mit Jawlensky und Marianne von Werefkin einen produktiven Malaufenthalt in Murnau im bayerischen Alpenvorland, der den Durchbruch zu einer farbintensiven und expressiven, im Falle Kandinskys auch abstrakten Malerei brachte. Ab 1909 begann er, in seinen größeren Bildern »Eindrücke innerer Natur« zu gestalten, die nicht nur motivisch, sondern mit der Auflösung der Gegenständlichkeit auch formal der bildenden Kunst neue Dimensionen und Darstellungsinhalte eröffneten.1909 gehörte Kandinsky mit Jawlensky, Werefkin und Münter zu den Gründungsmitgliedern der ›Neuen Künstlervereinigung München‹. Anfang 1911 lernte er Franz Marc kennen und plante mit ihm bald die Herausgabe eines Almanachs, der neue künstlerische Bestrebungen vereinigen sollte. Nach Konflikten mit den gemäßigten Mitgliedern der ›NKVM‹ traten Kandinsky, Marc und Münter im Dezember 1911 aus der Gruppe aus und organisierten die 1. Ausstellung des ›Blauen Reiter‹ in der Münchner Galerie Thannhauser, ab Februar 1912 die 2. Ausstellung Schwarz­Weiss in der Galerie Hans Goltz, die ausschließlich Grafik zeigte. Im Oktober 1912 richtete Herwarth Walden in seiner Galerie ›Der Sturm‹ in Berlin Kandinskys erste Einzelausstellung aus, die im Winter 1912 /13 von Goltz in München übernommen wurde. Auch auf Waldens ›Erstem Deutschen Herbstsalon‹ 1913 war Kandinsky mit großformatigen Kompositionen vertreten.

Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs trennte sich Kandinsky von Münter Ende 1914 in der Schweiz und kehrte nach Moskau zurück. Im Winter 1915 /16 traf sich das Paar ein letztes Mal in Stockholm. In Moskau war Kandinsky in verschiedenen revolutionären Künstler­Gremien tätig, bevor er 1921 einem Ruf von Walter Gropius an das Bauhaus folgte und nach Deutschland zurückkehrte. Hier lehrte er als Leiter der Werkstatt für Wandmalerei an der Seite von Paul Klee, Lyonel Feininger und Oskar Schlemmer zunächst in Weimar, ab 1925 in Dessau. Nach Schließung des Bauhauses durch die Natio­nalsozialisten 1933 emigrierte Kandinsky nach Paris, wo sein von biomorphen Strukturen geprägtes Spätwerk entstand. Er starb am 13. Dezember 1944 in Neuilly­sur­Seine.

WassilY KanDinsKY

1866 moskau

1944 neuilly-sur-seine

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78 Wassily Kandinsky

Wassily Kandinsky, der große Wegbereiter der modernen Kunst, begann erst im Alter von 30 Jahren zu malen und behielt sich dann über ein Jahrzehnt des Suchens und Experimentierens vor, ehe er zu dem gelangte, was man mit dem Begriff »Durchbruch zur Abstraktion« als seine bahnbrechende Leis­tung bezeichnet. Nach mehrjährigem Unterricht an der privaten Malschule von Anton Ažbe und einem Jahr Studium an der Münchner Akademie bei Franz von Stuck zog Kandinsky es vor, frei von den akademischen Zwängen selbstständig vor der Natur zu malen, zunächst an verschiedenen Plätzen Münchens, bald auch auf Ausflügen in die Umgebung und später auf Reisen im Ausland. München – Die Isar ist eines der ersten von zahlreichen Freilichtbildern, die in den Jahren von 1901 bis 1907 entstanden und von Kandinsky selbst als »kleine Ölstudien« bezeichnet wurden. Bei seiner »Pleinair«­Malerei knüpft er zunächst an die Tradition des Nachimpressionismus an. Charakteristisch für alle frühen Landschaftsbilder Kandinskys ist die Arbeit mit dem Spachtel, durch die die Farben bald pas­toser, bald dünnflüssiger aufgetragen werden und die Spachtelführung stets sichtbar bleibt. Während die Komposition der vorliegenden kleinen Isar­Ansicht mit einer gewissen Tiefenwirkung des Bild­aufbaus und der Spiegelung der Brückenpfeiler im Wasser noch traditionell ist, wird die Kohärenz des Motivs durch die kräftigen, gegeneinander isolierten, verschiedenfarbigen Spachtelzüge im Vorder­grund aufgebrochen; stellenweise scheint zwischen den einzelnen Farbzonen die unbehandelte graue Leinwand durch. Der Einsatz des Spachtels lässt zunächst an van Gogh, einen der großen Vorgänger Kandinskys und »Väter der Moderne«, denken. Doch die Wirkung dieser Technik ist bei beiden Künst­lern unterschiedlich: Was für van Gogh Steigerung der Expressivität durch die kreisende, ausdrucks­starke künstlerische Handschrift bedeutet, ist bei Kandinsky der Versuch, die Stärke der malerischen Mittel und den malerischen Vorgang als solchen zu betonen. Ansatzweise kündigt sich damit ein zen­trales Anliegen Kandinskys an, auch wenn die frühen Landschaften, für sich allein betrachtet, die Komplexität seiner späteren Werke noch nicht vermuten lassen.

1 mÜnchen – Die isar 1901Öl auf leinwandkarton,

32,5 x 23,6 cmBez. u. r.: Kandinsky

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Im Park von Saint Cloud, während des einjährigen Aufenthaltes von Kandinsky und Gabriele Münter 1906 in Paris entstanden, weist im Wesentlichen den gleichen Stil und die Spachteltechnik seiner »kleinen Ölstudien« seit 1901 auf, doch ist hier der Einsatz der Mittel um einiges weitergetrieben. In den Landschaftsbildern vom Ende dieser Periode bis 1907, die man als Kandinskys Frühwerk be ­zeichnet, tendieren die auffällig modellierten, äußerst pastosen Spachtelzüge und ­flecken dazu, sich zu verselbstständigen und den Bildgegenstand durch Farbe beinahe zu verdecken. In diesem Bild ist die herbstlich bunte Allee nur noch an der Grundstruktur der Bäume und des Bodens zu erkennen, farbige Tupfer im Vordergrund aus Orange, Altrosa und Gelbgrün sowie längere blaue Streifen lassen sich mit Naturformen wie Laub und Schatten assoziieren, während sich links im Bild Gelb, Zinnober­rot und Dunkelbraun zu glühender, ›abstrakter‹ Farbanhäufung verdichten.Bei diesem frappierenden kleinen Bild, dessen Besonderheit etwa auch im Vergleich zu Gabriele Münters Allee im Park von Saint Cloud (Tafel 59) deutlich wird, sei noch einmal an Kandinskys Stel­lung zu seinem künstlerischen Umfeld und dessen Voraussetzungen erinnert. Oft hat man den Neo­impressionismus Seurats und die Technik des Pointillismus als Vorbild benannt. Kandinsky selbst hat in einer grundsätzlichen Äußerung die Art seines Interesses am Neoimpressionismus ausgesprochen: »Das ›Licht­ und Luftproblem‹ der Impressionisten interessierte mich sehr wenig […] Wichtiger erschien mir die Theorie der Neoimpressionisten, die im letzten Grunde von der Farbenwirkung sprach und die Luft in Ruhe ließ.« In der Weiterführung des Impressionismus, dem es bei der opti­schen Teilung der Farbe vorrangig um die Wiedergabe des natürlichen Lichts und den atmosphä­rischen Augeneindruck ging, hatten seine Erben – in erster Linie van Gogh und die Neoimpressionis­ten – in ihrer Malerei das Licht durch die Farbe absorbiert und ihr eine unabhängige, auf eigenen Regeln gegründete Rolle im Bildkontext zugewiesen. Auf die dort erreichte Spaltung und isolierte Nutzung der Farben kann sich Kandinsky nun stützen, und er erkennt zweifellos diese besondere Errungenschaft seiner jüngsten Vorgänger an, wenn er feststellt, dass der Neoimpressionismus bei aller Dogmatisierung seiner Farbtheorie und seinem letztlich beibehaltenen Naturalismus der Dar­stellung »zur selben Zeit ins Abstrakte greift«. Kandinskys letzte in der Spachteltechnik gemalten Ölstudien wie Park von Saint Cloud zeigen, dass es ihm weniger auf den Gegenstand der Naturstudie ankommt als auf dessen Charakterisierung durch das Material der Farben und ihre wachsende künst­lerische Eigenmächtigkeit.

1906Öl auf Karton, 23,6 x 37,7 cm

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2 im ParK Von st. clouD – herBst ii

Wassily Kandinsky

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Das Reitende Paar gehört in die große Gruppe jener Frühwerke Wassily Kandinskys, in denen er mit märchenhaften, frei erdachten Szenerien eine poetische Bilderwelt voll rätselhafter Vielfalt beschwört. Der Zauber ferner, lang vergangener Zeiten, in die solche Szenen stets versetzt sind, erhöht dabei den Eindruck geheimnisvoller Irrealität. Neben biedermeierlichen Figurengruppen und mittelalterlichen Rittergestalten in altdeutschem Ambiente sind es besonders Bilder mit altrussischen Themen, die zu einem Schwerpunkt werden und zugleich einen Schlüssel für viele der Vorstellungen und Gegen­standsassoziationen in seinen späteren Werken liefern.Das Reitende Paar entstand am Ende dieser frühen Periode im Winter 1906 –1907 während Kandins­kys Aufenthalt in Sèvres bei Paris. Eine querformatige Temperastudie und einige Bleistiftskizzen gin­gen der endgültigen Fassung voraus. Aus juwelenhaft leuchtenden Farbpartikeln entsteht das Bild eines jungen, eng umschlungenen Paares in russischer Tracht, das zwischen stilisierten Birkenstäm­men und unter dem goldenen Netz ihrer Blätter im dunklen Vordergrund entlangreitet. Hinter ihm ist der Bogen eines stillen, bunt funkelnden Flusses sichtbar, auf dem die weißen Segel zweier Schiffe wie Boten einer unbestimmbar frühgeschichtlichen Zeit wirken. Jenseits des Flusses taucht die Silhouette einer altrussischen Kremlstadt mit bunten Kuppeln und Türmen wie eine Erscheinung über dem Wasser auf.Zahlreiche Einflüsse mögen in dieses Bild wie auch in andere Werke Kandinskys aus jenen Jahren eingegangen sein. Der Symbolismus, der überall in Europa um die Jahrhundertwende auch in der bildenden Kunst den Glauben an die Manifestation von abstrakten, geistigen Inhalten verfocht, spielt für die Auffassung und den poetischen Charakter des Reitenden Paares ebenso eine Rolle wie die preziöse Ästhetik des Jugendstils. Auch unter den zeitgenössischen russischen Märchenillustrationen, ihrerseits stark geprägt von den artifiziellen Formen des Symbolismus und Jugendstils, lassen sich verwandte Darstellungen als Vorlagen für das Reitende Paar finden. Ebenso macht Kandinsky sich hier die Errungenschaften des Neoimpressionismus zuNutze, der zu einer Spaltung der Gegenstands­farbe und der pointillistischen Setzung einzelner Farbelemente gekommen war. Kandinsky benutzt die Farbe als Mittel zur Verschleierung des Bildinhalts. Dies ist einer der wichtigsten Züge seines künstlerischen Ansatzes; in einer seiner frühen Notizen für seine Schrift Über das Geistige in der Kunst heißt es: »Der Farbenreichtum im Bild muss den Betrachter mächtig anziehen und zugleich den tiefer liegenden Inhalt verbergen.« Die einzelnen Elemente des Reitenden Paares – Schmuck und Zaumzeug des Pferds, die Gewänder der Figuren, die Strukturen von Himmel und Erde – sind in unzählige Farbpartikel zerlegt, in denen sich die Konturen der Gegenstände auflösen und vermischen.

1907Öl auf leinwand,

55 x 50,5 cmBez. r. u.: Kandinsky

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3 reitenDes Paar

Wassily Kandinsky

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Das große, vielfigurige Temperabild Das bunte Leben, Anfang des Jahres 1907 in Sèvres gemalt, ist das letzte von Wassily Kandinskys frühen poetischen Bildern und kann durch seine Bedeutung und das anspruchsvolle Format als das Hauptwerk dieser Gruppe gelten. Mit einer Fülle von altrussischen Figuren breitet der Maler hier ein vielfältiges Panorama von Situationen des menschlichen Lebens aus und zieht damit gleichsam eine Summe der märchenhaft­fantastischen, rückwärts gewandten Motive seines Frühwerks. Im emaillehaft leuchtenden Mosaik der einzelnen Farbpartikel verharren die Figu­ren wie Chiffren für Geburt und Tod, Glaube und Kampf, Liebe und Abschied seltsam gebannt vor dem flächigen Grund, der die räumlichen Verhältnisse im Unbestimmten lässt. Im Hintergrund thront hoch über dem Fluss auf rundem Berg die Kremlstadt.Einzelne der typisierten altrussischen Figuren sind wie Versatzstücke bereits auf früheren Bildern und Holzschnitten, etwa dem Bewegten Leben von 1903, vorgekommen. Kandinsky selbst hat in einer Äußerung seiner Rückblicke sein Gemälde Das bunte Leben mit dem Temperabild Ankunft der Kauf­leute von 1905 und der wichtigen späteren Komposition II von 1910 in Beziehung gesetzt: Alle drei hätten auf verschiedene Weise und zunächst unbewusst die Essenz einer frühen Fiebervision zum Ausdruck gebracht. Während die Ankunft der Kaufleute ein ähnlich buntes, erzählerisch noch präziser motiviertes Gemisch russischer Figuren zeigt, ist der Hinweis auf die beinahe ungegenständliche, formal völlig anders geartete Farbenmalerei der Komposition II zunächst überraschend. Doch auch hier beherrschen Glück und Untergang, die Gegensätze des Lebens, mit nur noch angedeuteten figür­lichen Zeichen das Bild. Das bunte Leben war für Kandinsky offensichtlich ein Schritt hin zu neuen formalen Ausdrucksmitteln. Er schrieb später darüber: »Im Bunten Leben, wo die lockende Hauptauf­gabe war, ein Durcheinander der Massen, Flecken und Linien zu bringen, habe ich die ›Vogelperspek­tive‹ angewendet, damit ich die Figuren übereinanderstellen konnte. Um die Fleckenverteilung und die Anwendung der Striche nach meinem Wunsch zu ordnen, musste ich jedes Mal einen perspek­tivischen Vorwand bzw. eine Entschuldigung finden …« Dies beweist, dass er sich mit den märchen­haften Farbteppichen solcher Fleckenmalerei auf dunklem Grund in quasiabstrakten Sehweisen übte. Auch die traumverlorene Disparatheit und Vereinzelung der Figuren tragen dazu bei, traditionelle formale und inhaltliche Bildzusammenhänge aufzulösen. Wichtig ist dabei, dass die Auflösung der Formen für Kandinsky auch später stets mit komplexen Inhalten voller Symbolik gekoppelt ist. Einige Grundmotive seiner frühen Bilder, wie der Reiter, das Boot, die Kremlstadt, die unbestimmte Begeg­nung von Figuren, leben in vielfältiger Verrätselung und Transformation in seinen abstrakten Ge ­mälden fort. Sie werden zu verschlüsselten Zeichen, die den abstrakten Werken Kandinskys ihre merkwürdige Aura von geheimnisvoller Durchkomponiertheit und Suggestion verleihen.

1907tempera auf leinwand,

130 x 162,5 cmBez. i. u.: Kandinsky 1907

Dauerleihgabe der Bayerischen landesbank

4 Das Bunte leBen

Wassily Kandinsky

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Nach Jahren eines unsteten Wanderlebens waren Wassily Kandinsky und Gabriele Münter 1908 nach Bayern zurückgekehrt und hatten im Sommer den kleinen Ort Murnau im oberbayerischen Alpen­vorland für sich zum Malen entdeckt. Nachweislich war Kandinsky bereits 1904 einmal in Murnau gewesen, auf einer Radtour über »Murnau–Oberammergau–Oberau nach Partenkirchen«, wie sich in seinen Briefen und Postkarten an Münter vom August dieses Jahres detailliert ablesen lässt. Unter anderem wollte er russischen Verwandten bei der Suche nach einer Sommerfrische in Garmisch behilflich sein und von dort auch eine gemeinsame Bergtour mit seinem ehemaligen Studienfreund aus der Ažbe­Schule Nikolaj Seddeler und seiner Frau unternehmen, die in Garmisch Quartier be ­zogen hatten. Offenbar hatte Kandinsky dabei in Murnau im Bahnhofshotel übernachtet, wie eine Postkarte an Münter belegt. Am 25. August 1904 folgt die wunderbare briefliche Beschreibung seiner Radtour von Murnau nach Garmisch bei heftigem Regenwetter: »Und doch war es schön! Unglaublich schöne Sachen habe ich im Gebirge gesehen: diese ganz tief liegende und sich langsam bewegende Wolken, der düstere dunkelviolette Wald, die blendendweisse Gebäude, Sammettiefe Dächer der Kir­chen, das sattgrüne Laub habe ich immer noch vor den Augen. Habe sogar von den Sachen geträumt.« Auch Jawlensky und Werefkin kannten Murnau offenbar seit 1905, spätestens jedoch seit 1907; auf den Herbst dieses Jahres ist ein Skizzenbuch Werefkins mit Ansichten des Ortes datiert.Der gemeinsame Sommeraufenthalt 1908 aller vier Künstler bedeutete nun besonders für Kandinsky, Münter und Jawlensky den Durchbruch zu einer freien, expressiven Malerei und einen Bruch mit ihrem bisherigen Frühwerk. Der neue Malstil wird jetzt bestimmt von einer flächigen, auf die Grund­formen reduzierten Darstellungsweise und intensiv leuchtenden, kontrastreichen Farben, die sich vom Naturvorbild zu lösen beginnen. Dies lässt sich bereits in einem der ersten von Kandinsky hier gemalten Bilder, dem Blick aus dem Fenster des Griesbräu, beobachten, das die Aussicht aus dem Fenster des Gasthofs an der Oberen Hauptstraße zeigt, in den sich die vier Künstler eingemietet hat­ten. Die lang gezogenen, breiten Pinselzüge weisen ebenso wie die modellierten Details der bunten Häuser noch einen Hauch Jugendstil auf, bald werden sich in seinen zahlreichen Murnau­Ansichten Farbe und Form weiter zu einem »Extrakt« verdichten, wie es auch Münter für ihre eigenen Bilder dieser Periode beschrieben hat (vgl. Tafel 61).

1908Öl auf Pappe, 49,8 x 69,6 cm

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5 murnau – BlicK aus Dem Fenster Des griesBräu

Wassily Kandinsky

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Mit dem ersten Murnauer Aufenthalt 1908 setzte für Wassily Kandinsky und Gabriele Münter eine Phase höchster Produktivität und rascher künstlerischer Fortentwicklung ein. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 verbrachten beide Künstler hier regelmäßig den Sommer und weitere Wochen jener arbeitsreichen Jahre. Insbesondere zwischen 1908 und 1910, aber noch bis 1913 schuf Kan­dinsky in Murnau eine Fülle von Landschaftsbildern vor der Natur, an denen sich der Wandel zu einer neuen Auffassung und zu den neu entwickelten Formen gut beobachten lässt.Friedhof und Pfarrhaus in Kochel entstand im Februar 1909 bei einem Aufenthalt im Nachbarort Kochel, wo Kandinsky und Münter das russische Musiker­Ehepaar Thomas und Olga von Hartmann besuchten. Die großzügigen Flächen der sonnengelben Häuser und das kräftige, dünn verstrichene Blauviolett des Himmels treten mit den lebhaften Partien des blau verschatteten Schnees und der Büsche vorne rechts in ein reizvolles Wechselspiel. An den Wintermotiven des Jahres 1909 mit ihren unwirklichen Farb­ und Formveränderungen, wie den blauschwarzen Schatten im Schnee, erprobte Kandinsky in immer neuen Ansätzen eine Ablösung von der realistischen Sichtweise auf die Natur.

1909Öl auf Pappe, 44,4 x 32,7 cm

Bez. r. u.: Kandinsky gms 43

6 Kochel – FrieDhoF unD PFarrhaus

Wassily Kandinsky

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Im Spätsommer 1909 kaufte Gabriele Münter auf Wassily Kandinskys Anraten ein Haus in Murnau, das bald von den Einheimischen »Russen­Haus« genannt wurde (Tafel 73). Hier erlebten sie ihre pro­duktivste Zeit, hier begannen wenig später die lebhaften Besuche und Gegenbesuche von Franz Marc aus dem benachbarten Sindelsdorf, hier fanden 1911 die legendären Redaktionssitzungen für den Almanach Der Blaue Reiter statt. Dicht unterhalb des Murnauer Grundstücks führte die Bahnlinie München–Garmisch entlang, der vorbeidampfende Zug war ein täglicher Anblick. In Eisenbahn bei Murnau von 1909 hält Kandinsky diesen Eindruck fest. Zusammen mit der ähnlichen, zeitgleich ent­standenen Landschaft bei Murnau mit Lokomotive (Solomon R. Guggenheim Museum, New York) ist es eines der wenigen Bilder Kandinskys, welche die moderne Technik zum Thema haben. Doch anders als gleichzeitige Maler, etwa des Expressionismus in Dresden und Berlin oder die französischen Impressionisten, bringt Kandinsky den vorbeifahrenden Zug wie eine verkleinerte, von Geisterhand bewegte Erscheinung ins Bild. Auffallend ist der naive, fast humoristische Zug der Darstellung. Wie eine schwarze Riesenschlange mit der spielzeughaften, eifrigen Lokomotive an der Spitze durchquert die Bahn die Landschaft. Ihre schlichte, dunkle Silhouette ist deutlich gegen die ineinander ver­schmolzenen Farbfelder ihrer Umgebung abgegrenzt. Das rote flackernde Sonnenlicht unter ihren Rädern, der weiße Rauch und das flatternde Tuch des winkenden Mädchens am linken Bildrand lassen den Eindruck von Bewegung entstehen; die beiden Leitungsmasten scheinen von dieser Dynamik miterfasst zu werden.Möglicherweise ist hier ein latenter Einfluss der von Kandinsky, Münter und den anderen Künstler­freunden neu entdeckten naiven Volkskunst und Hinterglasmalerei feststellbar. Der schlichte Realis­mus ihrer Darstellungen widersprach dabei den Intentionen Kandinskys einer Auflösung des Gegen­standes nicht. Das »eigentlich Künstlerische« konnte in seinen Augen sowohl realistisch als auch abstrakt sein: Auch in seinem Essay Über die Formfrage im Almanach hält Kandinsky die »große Realistik« und die »große Abstraktion« als gleichberechtigte Pole gegeneinander und feiert dabei den naiven Maler Henri Rousseau, auf den er allerdings erst 1911 aufmerksam wurde. Ein Bild wie Eisen­bahn bei Murnau beleuchtet die Nähe dieser scheinbar unvereinbaren Positionen.

1909Öl auf Pappe,

36 x 49 cmgms 49

7 eisenBahn Bei murnau

Wassily Kandinsky

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Die Grüngasse in Murnau malte Wassily Kandinsky im Sommer 1909. Ihre strahlenden, ›naturfernen‹ Farben scheinen hier auf den ersten Blick von dem Eindruck der sonnendurchtränkten Stille der Gasse und dem tiefen Klang ihrer Schatten motiviert zu sein. Doch durch den Einsatz der Farbe erscheint das Bild der Grüngasse wie aus einem einzigen, malerisch strukturierten Guss. Triumphie­rend leuchtende Kontraste von Gelb, Blau und warmem Himbeerrot gliedern es in ein flächiges Muster von dichter formaler Präsenz. Schmale schwarze Konturen, die für viele Landschaftsbilder seit 1908 charakteristisch sind, geben den Hauptelementen des Bildes noch ihre Begrenzung und Erkenn­barkeit. Aber auch hier beginnt ein Spiel mit den rein durch Farbe konstruierten Formen, die gleich­berechtigt neben die Gegenstände treten, wie bei dem blauen Schlagschatten am Boden und den farbigen Verschattungen auf den Hauswänden.Noch ist durch die vorn ins Bild führende Gartenhecke und die Anordnung der Häuser eine gewisse Räumlichkeit gegeben, doch die Gesetze der Perspektive und des dreidimensionalen Sehens sind außer Kraft gesetzt worden zugunsten einer wohlorganisierten, homogenen Behandlung aller Teile.

1909Öl auf Pappe, 33 x 44,6 cm

auf der rückseite von der hand münters:

Kandinsky gms 42

8 murnau – grÜngasse

Wassily Kandinsky

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Immer wieder hat Wassily Kandinsky die Ansicht Murnaus mit seiner Kirche, den bunten Dächern und dem aufragenden Giebel des mittelalterlichen Schlosses gemalt, wie sie sich ihm vom Fenster seines Hauses bot, das er mit Gabriele Münter bewohnte. Ähnlich wie in Murnau mit Kirche I aus dem folgenden Jahr (Tafel  15) öffnet auch hier die bunte Allee der Bäume den Bildraum, die über die Talsenke zum Ortskern führte, und macht seine gegenständlichen Formen verständlich. Vorrangig ist aber das Interesse an der Kraft der Farben, dem dunklen Bunt der herbstlichen Landschaft mit ihren tief leuchtenden, warmen und kalten, reinen und vermischten Tönen. Wie bereits in seinen frühen »kleinen Ölstudien« schneidet Kandinsky auch hier den Horizont am oberen Bildrand ab und dämpft damit den Eindruck von Perspektive oder einer illusionistischen Raumausdehnung. Die Erscheinung der Landschaft und ihre expressive Dimension wird allein durch den spontanen Duktus des Pinsel­strichs und den Klang der Farben hervorgerufen.

1909Öl auf Pappe, 31,5 x 44,7 cm

Bez. i. u.: Kandinsky gms 40

9 murnau – schloss unD Kirche

Wassily Kandinsky

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Kochel – Gerade Straße zeigt eine rigorosere Vereinfachung des Gegenständlichen als alle hier vor­gestellten, vorausgehenden Bilder Kandinskys. Schnurgerade führt eine hellblaue Straße auf die spitze, dunkelblaue Dreiecksform eines Berges in der Bildmitte zu. Die Formationen der Landschaft sind auf ihre geometrischen Grundstrukturen reduziert und zu wenigen flächenhaften Elementen zusammengezogen.In keiner anderen Periode ihrer künstlerischen Entwicklung waren sich die Bilder der Weggenossen Kandinsky, Gabriele Münter und Alexej Jawlensky so ähnlich wie in den Murnauer Jahren um 1909. Eine verwandte Auffassung von der »Synthese« des Bildes – der Ausdruck stammt von Jawlensky –, von der Reduktion der Einzelformen und der Abkürzung und Intensivierung der Mittel zum »Geben eines Extrakts« (Münter) zeichnet insbesondere ihre Landschaftsstudien aus. Naturstudie in Murnau I von Kandinsky lassen sich etwa die Murnauer Landschaft Jawlenskys von 1909 (Tafel 97) und Münters verschiedene Versionen der Geraden Straße von 1910 vergleichend zur Seite stellen.Während auch für sie die Verwendung von dunklen Umrisslinien für die verschiedenen Bildelemente charakteristisch ist, sind in der vorliegenden Studie Kandinskys nicht nur die Berge im Hintergrund von braunen Konturen eingefasst, sondern ähnliche Linien verselbstständigen sich zu eigenen grafi­schen Kürzeln für Bäume und für die beiden Feldarbeiter links der Straße. Die Gleichwertigkeit der Linie als beschreibende Kontur und als eigene Figur, die Kandinsky hier bereits einführt, wird später zu ihrer völligen Unabhängigkeit im bildnerischen Prozess führen. Auch in dem freien, die straffe Organisation der Formen unterlaufenden Farbauftrag findet sich ein irrationaler Zug, der Kandinskys Landschaftsstudien von denen seiner Künstlerfreunde unterscheidet. Die Nähe von Kandinskys Land­schaftsmalerei um 1909 bis 1913 zu seinen anspruchsvoll verschlüsselten, abstrakten Gemälden demonstriert auch die »Hauptfigur« des Bildes: der bedeutungsvoll aufragende blaue Berg mit der weißen Flanke, der, leicht aus der Symmetrie gerückt, mit knapp vom Bildrand überschnittener Spitze die Mitte des Bildes besetzt. In ähnlich hieratischer Form findet er sich nicht nur in weiteren Murnauer Landschaftsbildern, sondern auch im rätselhaften Berg von 1909 (Tafel 12) oder noch als schwaches Echo in Kandinskys Impression VI (Park) von 1911 (Centre Georges Pompidou, Paris).

1909Öl auf Pappe, 32,9 x 44,6 cm

gms 45

10 Kochel – geraDe strasse

Wassily Kandinsky

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Seit seiner Ankunft in München Ende 1896 hatte Kandinsky, zunächst zusammen mit seiner Frau Anja Semjakina, in wechselnden Wohnungen in Schwabing gelebt. Ihre erste Unterkunft befand sich in der Georgenstraße 62 – unweit der Malschule von Anton Ažbe mit der Hausnummer 40 –, wenig später in der Giselastraße 28 in der Nachbarschaft von Jawlensky und Werefkin, 1899 erneut in der Georgen­straße, diesmal im Haus Nr. 35. Schließlich konnte sich das Ehepaar Kandinsky in einer geräumigen Atelierwohnung in der Friedrichstraße 1 etablieren und nun auch aus Moskau umfang reichen Hausrat nachkommen lassen. Im Oktober 1904, am Beginn der jahrelangen Reisetätigkeit mit Gabriele Mün­ter und kurz vor der mehrmonatigen Reise mit ihr nach Tunis, zog Kandinsky aus der Friedrichstraße aus; seine engen Kontakte zu seiner Frau und Cousine während der Münchner Zeit blieben bestehen.Im August 1905, nach der Rückkehr von einem Sommeraufenthalt mit Münter in Dresden, mietete sich Kandinsky vorübergehend eine eigene Wohnung in Schwabing, ganz in der Nähe der Universität. Brieflich berichtete er der Freundin nach Bonn: »Eben habe ich ein Atelier + Zimmer gemiethet bis 1. Okt. Amalienstr. 72 Rgb I, 1. Zimmer nach Osten und in einen ruhigen schattigen Garten der Aus­blick. Überhaupt ist es da riesig ruhig. Und ich sehne mich da nach Ruhe.« Doch schon bald brachen er und Münter wieder von München aus auf, diesmal für einen fast halbjährigen Auf enthalt in Rapallo an der italienischen Riviera; ab Juni 1906 lebten sie für ein Jahr in Sèvres bei Paris. Münter hatte wäh­rend ihrer ganzen frühen Studien­ und Wanderjahre in München, bis auf eine kurze Zeit in einer eigenen kleinen Atelierwohnung in der Schackstraße 4 am Siegestor, in wechselnden Pensionen in Schwabing gewohnt, unter anderem in der Pension »Bellevue« in der Theresienstraße, später meist in der Pension »Stella« in der Adalbertstraße, ein Tipp ihrer Studienfreundin Emmy Dresler.Als Kandinsky 1908 beschloss, sich wieder endgültig in München niederzulassen, begann er noch wäh­rend seines Malaufenthalts in Murnau mit Jawlensky und Werefkin eine Wohnung zu suchen. Am 4. Sep tember 1908, noch von Murnau aus, mietete er sich wieder eine eigene Wohnung in München, diesmal im Rückgebäude der Ainmillerstraße 36 in Schwabing, zunächst im ersten, dann im dritten Stock; sie sollte in den Jahren bis 1914 zu einem Zentrum des Freundeskreises werden. Während das Paar in Murnau zusammenwohnte und Münter dort im Sommer 1909 ein Haus kaufte (vgl. Tafel 73), lebte sie in München noch ein weiteres Jahr in der Pension »Stella«, bevor auch sie im September 1909 in die Ainmillerstraße 36 zog. Auch die Stadtwohnung statteten Kandinsky und Münter engagiert und mit künstlerischer Handschrift aus, im Laufe der Jahre bedeckten sich die Wände zunehmend mit Bil­dern der verschiedensten Art. Das Gemälde Interieur (Mein Eßzimmer) malte Kandinsky 1909. Es spiegelt in seinen harmonischen, lebendigen Proportionen und Farben, besonders dem wundarbaren Zusammenklang von dominierendem Altrosa mit mittleren Blautönen, etwas von der persönlichen Atmosphäre der geliebten Wohnung wieder, die ihnen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein Heim war.

1909Öl auf Pappe, 50 x 65 cm

Bez. u. r.: KanDinsKYgms 52

11 interieur (mein esszimmer)

Wassily Kandinsky

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Wie schon das zuvor behandelte Gemälde schuf Wassily Kandinsky auch dieses erstaunliche Bild mit dem lapidaren Titel Berg im Jahr 1909. Mit seinen nahezu gegenstandslosen, halluzinatorischen und emotional besetzten Formen scheint es Kompositionsweisen von Kandinskys stürmischer ›abstrakter‹ Phase kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs vorwegzunehmen. Mit Mühe erkennt der Betrachter die bis zur Unkenntlichkeit verwischten Schemen zweier Figuren vor dem farbigen Kegel eines Ber­ges. Der grüne Berghang ist weiß ›aufgerissen‹ und wird von einem dominierenden blauen Mantel umgeben, an den sich weiter außen wie ein Echo eine rote Energiezone anschließt. Die figürlichen Chiffren des Bildes erschließen sich bei näherer Betrachtung als Reminiszenzen bereits bekannter Symbole. Unten begegnen sich ein Reiter auf weißem Pferd und eine ihm unbestimmt entgegen­gewandte Figur, sekundiert von einer Zackenlinie und einer dunkel geneigten Form am linken und rechten Bildrand. Oben in den Gipfel des Berges ist ein Formennachhall des bereits aus Kandinskys Frühwerk vertrauten Motivs einer kuppelreichen russischen Kremlstadt eingeschrieben.Auch hier mag ein Vergleich mit verwandten Bildschöpfungen des Künstlers zum Verständnis bei­tragen. In erster Linie ist hier das 1908/09 entstandene Bild Der Blaue Berg heranzuziehen (Solomon R. Guggenheim Museum, New York). Vor einem ähnlich zentral postierten blauen Berg ziehen drei Reiter auf Schimmeln nach rechts. An den äußeren Bildrändern steht je eine Figur, die rechte ver­gleichbar geneigt wie die dunkle Form in Berg. Über ihnen wölben sich zwei riesige Baumkronen von leuchtendem Gelb und Rot. Auch hier ist das Thema trotz der Erkennbarkeit der Figuren ebenso rätselhaft wie in Berg.Fest steht lediglich, dass die Landschaft in Verbindung mit dem Motiv des Reiters mehr als je zuvor spirituelle Qualitäten gewinnt. Auch die Farben nehmen an dieser Verwandlung teil. Blau, bereits in der Romantik eine symbolische Farbe, ist für Kandinsky die »typisch himmlische Farbe«, die im Men­schen die Sehnsucht nach dem Reinen und Unendlichen weckt. Rot ist für ihn, nach der Farbtheorie in seinem Buch Über das Geistige in der Kunst, in der richtigen Schattierung eine warme, reife Farbe voller Energie und zielbewusster Kraft. Das Weiß hingegen, unter dessen Herrschaft die Figuren von Berg gesetzt sind, wirkt wie ein absolutes Schweigen. Wenn wir aber, so Kandinsky, »hinter die Mauer geblickt« haben, so erscheint es voller ungeahnter Möglichkeiten.Auch wenn das Thema des Berges auf einen realen Landschaftseindruck zurückgehen mag  – auf­schlussreich ist der Vergleich mit der annähernd symmetrischen und spitzen Kegelform des Berges in Kochel – Gerade Straße (Tafel 10) –, so verschmelzen Landschaft und Figürliches in einem Bild wie Berg erstmals zu einer neuen Einheit. Bislang getrennte Gattungen im Œuvre Kandinskys – die »Ölstudien« vor der Natur und die rätselvollen »Figurenbilder« in anderen Techniken – werden jetzt erstmals in großen Gemälden zusammengeführt: für Kandinsky der Durchbruch zu seinen eigenen, in der Theorie bereits lange antizipierten Ausdrucksmitteln.

1909Öl auf leinwand,

109 x 109 cmBez. i. u.:

Kandinsky 1909gms 54

12 Berg

Wassily Kandinsky

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Die Improvisation 6 (Afrikanisches) zeichnet sich gegenüber den ihr zeitlich nahestehenden anderen ›Improvisationen‹ durch eine auf den ersten Blick klarere kompositionelle Ordnung und die genauere Definition einzelner Elemente aus. Ihr Thema, Afrikanisches, geht mit einiger Sicherheit auf die Ein­drücke der Tunisreise zurück, die Kandinsky mit Gabriele Münter im Winter 1904 /05 unternommen und die er damals in einer Fülle von Skizzen und »farbigen Zeichnungen« verarbeitet hatte. Im Vordergrund des Bildes präsentieren sich zwei Figuren mit weiten kaftanartigen Gewändern und Tur banen, die linke steht dabei vor einem weißen Rechteck, das mit dem Kubus eines arabischen Hauses assoziiert werden kann. Die Gewänder der Figuren erlauben durch Öffnen und Schließen ein or namentales Linienspiel, das durch die schmalen schwarzen Konturen, in die die flüssigen Farben gleichsam eingeschmolzen sind, besonders betont wird. Kandinsky benutzt die ganze Skala von Grund­farben, deren leuchtendes Rot, Gelb, Blau und Grün dem matten Weiß in der linken Bildhälfte die Waage halten.Auf der vorderen Zone liegt, ähnlich wie in anderen frühen Improvisationen, noch ein atmosphä­rischer Abglanz des Symbolismus – Kandinsky selbst hat die Symbolisten, besonders Arnold Böcklin und Giovanni Segantini, »Sucher des Geistigen im Materiellen« genannt –, in der stilisierten Linien­führung mögen auch noch Einflüsse des Münchner Jugendstils nachklingen. Im Hintergrund jedoch werden die Formen immer undeutlicher; immer unruhiger mischen sich die entgrenzten Farben und erlauben keine gegenständliche Entschlüsselung mehr. Wahrscheinlich sind die beiden geduckten Formen hinter den Figuren ebenfalls als Personen zu deuten.Auch in solch einer vergleichsweise wenig abstrakten, objektivierbaren ›Improvisation‹ sucht Kan­dinsky offensichtlich die Gegenstände teilweise zu verbergen, damit ihr »innerer Klang« neben dem äußeren, gegenständlichen Motiv zum Tragen kommt. Einige Jahre später, 1914, schrieb Kandinsky in Mein Werdegang: »Ich löste also auf demselben Bild die Gegenstände mehr oder weniger auf, damit sie nicht alle auf einmal erkannt werden können und damit diese Mitklänge allmählich, der eine nach dem anderen, vom Beschauer erlebt werden können.«

1909Öl auf leinwand,

107 x 95,5 cmBez. i. u.:

Kandinsky 1909 gms 56

13 imProVisation 6 (aFriKanisches)

Wassily Kandinsky

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Orientalisches geht auf ähnliche Erinnerungen zurück wie Improvisation 6 (Afrikanisches) aus dem­selben Jahr (Tafel 13). Der mehrmonatige Aufenthalt 1904 /05 in Tunesien, wo sich Afrika und Orient kreuzen, wird auch Anregungen für dieses Bild von exotischer Farbenpracht gegeben haben. Mehr noch als in Improvisation 6 herrscht Rot mit all seiner sinnlichen Pracht neben Gelb und Blau. Grün setzt sparsame Akzente, während Weiß besonders in der Mitte konzentriert ist und wie ein zusätz­licher prächtiger Schmuck des Bildes wirkt.Im Breitformat sind mehrere friesartig aufgereihte Figuren zu erkennen, hockend oder in Bewegung und durch ihre langen, eckig ausgestreckten Glieder miteinander verschränkt. Hinter ihnen erheben sich neben zwei hohen weißen Minaretten vier kegelförmige Berge, bekrönt mit kuppelreichen Kremlburgen, die uns schon so häufig in Kandinskys Werk begegnet sind. Orientalische und russische Eindrücke vermischen sich hier, wohl nicht zuletzt vereinigt durch das intensive Farb­Erleben, das Kandinsky wiederholt als für seine russische Heimat typisch beschrieben hat.Kandinsky hat das Motiv auch in einem Farbholzschnitt von 1911 verarbeitet, in dem Figuren und Fläche vollends miteinander verwoben sind und das ganze Bild zu einem vibrierenden rotgelben Mus­ter wird. Diesen Farbholzschnitt wählte er noch 1913 für seinen Gedichtband Klänge aus, den er mit 12 farbigen und 44 Schwarz­Weiß­Holzschnitten illustrierte.

1909Öl auf Pappe, 69,5 x 96,5 cm

gms 55

14 orientalisches

Wassily Kandinsky

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Murnau mit Kirche I gehört zu den berühmtesten Ansichten, die Kandinsky von dem kleinen Marktort im bayerischen Alpenvorland schuf. In der Tat nimmt es unter den Murnauer Landschaftsbildern bis 1910 eine Sonderstellung ein, weil hier bei aller Treue zum Motiv und zur Gattung der Landschafts­malerei die Auflösung des Gegenstandes am weitesten getrieben und eine freie Handhabung der spontan eingesetzten Farbe erreicht ist, die Kandinsky in jener Zeit auch in seinen freien »Fantasie«­Bildern anstrebte. Einzelne, die Gegenstände markierende Signale sind im Gewoge der Farben gerade noch zu erkennen, besonders der hoch aufragende weiße Kirchturm mit der blauen Kuppel und die schemenhafte Anhäufung der Häuser links.Einige eng verwandte Bilder, etwa Murnau mit Kirche II (Stedelijk Van Abbemuseum, Eindhoven), zeigen die Ansicht topografisch viel genauer und schildern mit den dunklen Höhenlinien der Berge hinter dem Kirchturm die Räumlichkeit der Landschaft noch ausführlicher. In dieser Studie evoziert lediglich die Verdichtung der Farben im Zentrum des Bildes eine gewisse Tiefe. Das dynamische Kip­pen der erkennbaren Elemente im steilen Hochformat des Bildes steigert zusammen mit dem locke­ren Farbauftrag, der an einigen Stellen den hellbraunen Grund der Pappe durchscheinen lässt, die Lebhaftigkeit der Malerei. Welch eine überlegte, unabhängige Komposition Murnau mit Kirche I trotz aller Unmittelbarkeit ist, wird jedoch deutlich, wenn etwa die ausgewogene Verteilung von Blau und Weiß bewusst wird.Dieses oder ein ähnliches Bild war es vielleicht, das Kandinsky während seiner Arbeit in Murnau zu einer ebenso irritierenden wie fruchtbaren Erkenntnis verhalf: Als er eines Abends in der Dämme­rung in seinem Atelier ein von ihm selbst gemaltes Bild auf die Seite gekippt stehen sah, so schildert er es in Rückblicke von 1913, konnte er dessen Gegenstand nicht sogleich erkennen, es kam ihm viel­mehr fremd und geheimnisvoll vor. Er fühlte, dass dieser Eindruck seiner Vorstellung eines ›wahren‹ ab strakten Bildes nahekam, doch ebenso wurde ihm bewusst, dass der Weg dorthin für ihn immer noch weit war. Die Überwindung der Perspektive, die Übertragung grafischer Elemente in die Öl ­malerei und die Befreiung der Farbe von der Gegenstandsbeschreibung sollten für Kandinsky wich­tige Etappen auf dieser Suche bilden.

1910Öl auf Pappe, 64,7 x 50,2 cm

gms 59

15 murnau mit Kirche i

Wassily Kandinsky

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Im Bild der Kuh wendet Kandinsky ähnlich aufgelöste Strukturen wie in Murnau mit Kirche I (Tafel 15) aus demselben Jahr an, die hier allerdings als Mittel einer absichtsvollen Verschleierung und Verfrem­dung des Gegenstands eingesetzt werden. Im Vordergrund steht nach rechts gewandt eine mächtige weiß­gelbe Kuh, die von einer jungen Bäuerin gemolken wird. Das Tier verschmilzt mit seiner Umge­bung fast bis zur Unkenntlichkeit, da Weiß und Gelb auch in seiner Nähe die dominierenden Farben sind. Besonders auffallend ist der weiße Berg hinter ihm, der die Rückenlinie der Kuh erhöhen und nachzuzeichnen scheint. Umgeben von einem blauen Streifen, deutet seine charakteristische ange­spitzte Kegelform erneut auf die archetypische Grundgestalt des Berges (vgl. Tafel 12), die bis 1913 in zahlreichen Varianten in Kandinskys Bildern auftaucht. Seine Spitze ist von einer weißen Mauer bekrönt, die vage an die Murnauer Burgmauer erinnern mag, dahinter allerdings wird eine Vielzahl offensichtlich griechisch­orthodoxer Kuppeltürme sichtbar. Wieder taucht eine mit spezifisch russi­scher Empfindung gefärbte Vision in die oberbayerische Landschaft versetzt auf, deren Kirchen und Kapellen in Kandinsky, wie er rückblickend schrieb, einen ähnlich starken Klang erzeugten wie die sakralen Bauten seiner Heimat. Zudem finden sich links im Mittelgrund Anklänge an die klassizis­tischen Fassaden russischer Adelspaläste, auch dies ein motivisches Versatzstück, das bereits in Kan­dinskys Frühwerk eine Rolle spielt.Wie die Formen der Kuh sind auch diese Mauern und Türme flächenhaft in die Farbenvielfalt ihrer Umgebung einbezogen. Kandinsky geht es in diesem Bild offensichtlich mehr um die Analogiebildung von Strukturen und um die Entgrenzung des Stofflichen als um das Verbergen einer tieferen Bedeu­tung.

1910Öl auf leinwand,

95,5 x 105 cmBez. i. u.:

Kandinsky 1910 gms 58

16 Die Kuh

Wassily Kandinsky

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Impression III (Konzert) entstand kurz nach dem Besuch eines Konzertes mit Werken von Arnold Schönberg, das Wassily Kandinsky am 2. Januar 1911 zusammen mit Franz Marc und anderen Mit­gliedern der ›Neuen Künstlervereinigung‹ in München gehört hatte. Beeindruckt von den kühnen Neuerungen des Konzerts, die bald darauf in die Zwölftonmusik führen sollten, nahm Kandinsky einen regen Briefwechsel mit dem Komponisten auf, der u. a. dazu führte, dass sich Schönberg Ende des Jahres mit seinen autodidaktischen Bildern an der Ausstellung ›Der Blaue Reiter‹ beteiligte und auch einen Artikel zum Almanach beitrug.Kandinsky bezeichnete das faszinierende Bild Konzert als ›Impression‹, als »direkten Eindruck von der ›äußeren Natur‹«. Dies beweist, dass er unter ›Impressionen‹ keineswegs nur optische, sondern sinn­liche Eindrücke aller Art verstand, die er ohne die herkömmliche abbildende Manier zu veranschau­lichen suchte. Impression III (Konzert) beruht auf einem akustischen Erlebnis und verkörpert dessen Umsetzung in Malerei. Gelb und Schwarz, in entscheidenden Akzenten auch Weiß, dominieren das Bild. In diagonaler Position voller Energie lagert das Schwarz als unregelmäßiges Dreieck in der obe­ren Bildhälfte, unter ihm entfaltet sich das Gelb in ausladender, verströmender Geste. In schwingen­der Bewegung scheint es hin und her zu fluten und bezieht dabei die bunten Flecken in der linken Bildhälfte und ihre linearen Arabesken in seinen Bannkreis ein. Bei näherer Betrachtung offenbart sich das Bild als die Essenz eines Konzerterlebnisses: Man erkennt den schwarzen Konzertflügel und die geduckten, zu ihm hingerissenen Rücken der Zuschauer vor ihm. Zwei vorbereitende Bleistift­skizzen (Centre Georges Pompidou, Paris) zeigen deutlich die sitzenden und zum Teil an der Wand des Saales stehenden Zuhörer; doch auch dort ist schon die weiße vertikale ›Teilung‹ des Hügels zu sehen, die sich, eventuell von einem Architekturelement des Raumes ausgehend, im Bild in eine weiße ›Klangsäule‹ zu verwandeln scheint.Beherrschend ist der ›gelbe Klang‹, die Emanation des Toneindrucks, dessen Strömen das Bild selbst zu einem umfassenden, beinahe symphonischen Erlebnis macht. Die Farbe Gelb schien Kandinsky ganz besonders mit musikalischen Eindrücken zu assoziieren, so verfasste er bereits 1909 den Entwurf zu einem Bühnenstück mit Musik, das später als Der gelbe Klang im Almanach veröffentlicht wurde.Kein anderes Bild Kandinskys berührt so unmittelbar den Zusammenhang der Synästhesie. In seinem Buch Über das Geistige in der Kunst schreibt er ausführlich über die Entsprechungen von Farben zu bestimmten Instrumenten oder Tönen. Doch die Analogie zur Musik beruht für ihn wesentlich auf der abstrakten Kompositionsweise, die er auch für die neue, gegenstandslose Malerei der »Epoche des großen Geistigen« als vorbildlich ansieht: »Die Malerei hat in dieser Beziehung die Musik ein­geholt, und beide bekommen eine immer wachsende Tendenz, ›absolute‹ Werke zu schaffen, d. h. vollkommen ›objektive‹ Werke, die den Naturwerken gleich rein gesetzmäßig als selbstständige Wesen ›von selbst‹ erwachsen.«

1911Öl auf leinwand,

77,5 x 100 cmBez. r. u.:

Kandinsky 1911 gms 78

17 imPression iii (Konzert)

Wassily Kandinsky

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Impression IV (Gendarme) gehört ebenso wie Impression III (Konzert) (Tafel 17) für Kandinsky in die Kategorie der »direkten Eindrücke der ›äußeren Natur‹«, die er neben den ›Improvisationen‹ und den großen, durchgearbeiteten ›Kompositionen‹ für seine Werke aufgestellt hatte. Insgesamt malte Kan­dinsky sechs ›Impressionen‹, alle im Jahre 1911. Bereits das Entstehungsdatum – im Vergleich etwa zu den 1909 einsetzenden Improvisationen  – zeigt an, dass es sich bei ihnen nicht um wertende Ka ­tegorien im Sinne einer Höherentwicklung von gegenständlich­sinnlichen zu abstrakt­vergeistigten Stufen handelt. Seine ›Impressionen‹ können durchaus auch einen nahezu ungegenständlichen Cha­rakter haben, wie das Konzert (Tafel 17) oder auch Impression V (Park) (Centre Georges Pompidou, Paris) beweist. Wichtig ist vielmehr, dass Kandinsky seine Bilder nach der Art des Entstehungsprozes­ses und nicht, wie bisher üblich, nach Darstellungsinhalten einteilt, wie besonders Johannes Langner darlegte. Dies bedeutet einen grundlegenden Wandel in der traditionellen Auffassung von den Gegen­ständen der Malerei und ihren verschiedenen Gattungen. Auch indem er die Malerei nach Kriterien des Formprozesses bezeichnet, erweist sich Kandinsky daher als ein revolutionärer Künstler. Jeder der sechs ›Impressionen‹ ist ein Untertitel beigegeben, neben Gendarme heißen sie Fontäne, Moskau, Konzert, Park, Sonntag. Diese Bezeichnungen deuten auf eine Welt der bürgerlichen Existenz hin, auf das Erlebnis oder den Genuss zivilisierter Umgebung.Impression IV (Gendarme), früher irrtümlich Impression III (Fackelzug) genannt, zeigt im Vorder­grund in schwarzen, kräftigen Konturen ein quer stehendes riesiges Pferd mit den schwarzen Sche­men eines Reiters. Zwei links und rechts nach oben verlaufende Diagonalen verspannen diese schwar­zen Strukturen flächenhaft in die Gesamtkomposition. Links vor dem gebeugten Kopf des Pferdes salutieren zwei schwarz gekleidete Passanten mit Hüten, auf der Gegenseite ist verschwommen eine Menschenmenge zu erkennen, über deren Köpfen bunte Lampions, umgeben von kräftigen dunklen Ringen, schweben. In der Mitte hinter dem Reiter wird eine portalartige Architektur mit drei Säulen sichtbar, die mit ebenso energischen dunklen Strichen und Querbalken markiert ist. Besonders diese Architektur verweist auf ein antikisierendes Gebäude an einem öffentlichen Platz, auf dem die Men­schenmenge und berittene Gendarme offensichtlich zu einem offiziellen Anlass versammelt sind.Vermutlich liegt der Impression IV das Ereignis eines Lampionumzuges zum Königsplatz in München anlässlich des 90. Geburtstags des Prinzregenten Luitpold am 12. März 1911 zugrunde. Zu diesem Zweck waren auf dem Platz auch Pylone mit Fackeln errichtet worden, von denen man einen hinter dem Reiter zu erkennen glaubt.

1911Öl auf leinwand,

95 x 107 cmgms 85

18 imPression iV (genDarme)

Wassily Kandinsky

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Auch das Thema der Impression VI (Sonntag) gehört in das Umfeld bürgerlichen Müßiggangs und strahlt, mehr noch als die Impression IV (Gendarme) (Tafel 18), etwas von dessen Atmosphäre aus. Ein sonntäglich gekleidetes Paar, er im dunklen Anzug mit rundem, steifem Hut, sie im langen, taillen­betonten Kleid und eleganten Damenzylinder, schreitet dem Betrachter entgegen. Ein weißes Hünd­chen läuft ihnen voraus, hinter ihnen verschwimmt die bunte Kulisse eines Parks, in dem man unter anderem ein Kind auf der Schaukel vermuten möchte. Obgleich nur in Umrissen angedeutet, verweist uns das promenierende Paar durch seine Tracht in die Belle Époque am Ende des 19. Jahrhunderts. Schon zu Beginn von Wassily Kandinskys malerischer Entwicklung diente ihm diese Zeit, ebenso wie die des späten Biedermeier, zur Charakterisierung seiner figürlichen Themen. Zu Kandinskys frühes­ten ›erfundenem‹ Öl­ und Temperabildern zählen Helle Luft von 1901 (Centre Georges Pompidou, Paris) mit promenierenden Reifrock­Damen des Second Empire sowie Im Park, um 1902 (Städtische Galerie im Lenbachhaus), das eine Dame in der Mode dieser Zeit mit Hündchen in einem Schloss­garten zeigt. Diese frühen Eindrücke und ihre Stimmung scheinen in Impression VI (Sonntag) in mondäner, leicht französisierter Form wieder aufzutauchen. Auffallend ist hier, ebenso wie in Impres­sion IV (Gendarme) und auch in Impression V (Park) (Centre Georges Pompidou, Paris), die Reduk­tion der Figuren auf ein Gerüst mehr oder weniger kräftiger schwarzer Konturen, meist auf ihren Umriss. Mit der Undeutlichkeit der subjektiven Wahrnehmung, wie sie den ›Impressionen‹ eigen ist, werden die Figuren entkörperlicht und durchlässig für die autonome Farbe. Auf diese Weise ver­schmelzen sie mit ihrer Umgebung, ohne ihrerseits ihre Existenz aufzugeben. Sie agieren als grafische Chiffren weiter, die sich in Kandinskys Bildentwürfen ab 1911 zunehmend als eigengewichtige Ele­mente emanzipieren.

1911Öl auf leinwand,

107,5 x 95 cmgms 57

19 imPression Vi (sonntag)

Wassily Kandinsky

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Das Jahr 1911 bedeutet einen Höhepunkt für Wassily Kandinskys intensive Beschäftigung mit dem Thema der christlichen Eschatologie, wozu er unter anderem durch die volkstümliche religiöse Hin­terglasmalerei in Murnau angeregt wurde. Es entsteht eine Fülle von Gemälden, Hinterglasbildern, Aquarellen und Holzschnitten, in denen die religiösen Figuren mit teilweise bereits antizipierten Symbolen aus der Vorstellungswelt Kandinskys zu einer in der modernen Kunst einzigartigen Ikono­grafie verschmelzen. Auch das vorliegende Gemälde Allerheiligen II fußt auf einem Hinterglasbild (Tafel 39), das Kandinsky selbst in zwei Briefen an Gabriele Münter im Sommer 1911 als Ausgangs­punkt bezeichnet. In verhüllter und teilweise modifizierter Form gibt das Gemälde die Darstellung des Hinterglasbildes wieder. Bildbeherrschend rahmen zwei posaunende Engel mit riesigen Instru­menten von oben das Geschehen ein, wobei die goldene Trompete des linken weit in das Bild hinein­fährt. Dies ist ein für den gesamten Themenkomplex entscheidendes Motiv: Das Allerheiligenthema wird auf eigenwillige Weise mit dem des Jüngsten Gerichts kombiniert und damit in einen endzeit­lichen Zusammenhang gerückt.In der Mitte stehen drei Heilige mit ausladenden Gesten, die eventuell als Basileus, Gregor und Johannes Chrysostomos zu deuten sind. Die weibliche Halbfigur vor ihnen ist als hl. Walburga, die Schutzpatronin Bayerns, gedeutet worden. Über einer Gruppe von Gläubigen mit Kerzen und einem Segelboot mit Walfisch – Symbol der Christenheit und ebenso der Jonaslegende – erscheint mit hoch gereckten Armen der hl. Wladimir, der Schutzheilige Russlands. Über ihm fährt Elias mit dem Feuerwagen, gezogen von drei weißgoldenen Rössern, gen Himmel: ein spannungsvolles Emblem, das als ›Troika­Motiv‹, oft nur noch von den drei gebogenen Linien der Rösser angedeutet, in vielen abstrakten Kompositionen Kandinskys fortlebt. Am rechten Bildrand, neben einem Auferstehenden mit abgetrenntem Haupt, steht offenbar der Evangelist Johannes, Chronist der Apokalypse, und blickt mit nach oben gewandtem Gesicht zu einem der Posaunenengel empor, der mit richtend erhobener Hand über dem Geschehen schwebt. Im Zentrum des Bildes befindet sich wieder die Kremlstadt mit schwankenden Türmen auf hohem runden Hügel, daneben der Reiter. Genau dieses Motiv, das auch in den verwandten Hinterglasbildern und Holzschnitten zu finden ist, hat Kandinsky als Vignette auf das Titelblatt seines Buches Über das Geistige in der Kunst gesetzt. Damit erweist sich der »stehende und stürzende Turm mit Reiter« als ein komprimiertes Symbol für die erwartete Apokalypse und die folgende Erneuerung in einem Zeitalter des Geistigen, als dessen Künder und Mittler Kandinsky sich verstand.

1911Öl auf leinwand,

86 x 99 cmgms 62

20 allerheiligen ii

Wassily Kandinsky

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Die Romantische Landschaft von 1911, von Kandinsky weder als »Impression« noch als »Improvisa­tion« bezeichnet, ist keine reine Landschaftsdarstellung, sondern bildet eine Kategorie für sich. Wäh­rend ihre Form atemberaubend offen und spontan ist, behält ihre Bilderfindung einen hermetischen Zauber. Der Eindruck bewegter Unmittelbarkeit rührt in erster Linie von den drei dahinstürmenden Reitern her, die, aus einer Zone dichter Farben herausbrechend, von rechts nach links den Abhang herab sprengen. Im raschen Tempo nur angedeutet sind die blaue Schräge des Hügels, die beiden aufragenden Formen links und rechts, die blutig rote Sonne und die farbigen Kleckse, die sichtbarer Ausdruck der regen Kräfte der Landschaft zu sein scheinen. Ihre kaum gebändigte, disparate Energie sammelt sich in den drei Punkten der lang gestreckten Pferde und ist dort eindrucksvoll präsent. Die Schräge des Stürmens der Reiter wird im Bild durch zahlreiche Strichlagen aufgegriffen, die die Dynamik der Bewegung an alle Elemente der umgebenden Landschaft weitergeben. Dabei wirkt der steile hellbraune Fels vorn wie eine latente Bedrohung, an der die Reiter aber offensichtlich vorbei­stürmen werden. Die dunkle Form gegenüber, die die Gruppe hinter sich lässt, scheint eine Art Gegenpol zu bilden. Dagegen steht die Offenheit des Weiß, in das die Elemente der Romantischen Landschaft mit leichter Hand hineingestreut sind, die grafische Sparsamkeit der Mittel und die Har­monie der Töne.Kandinsky hat sich viele Jahre später, in einem Brief an Will Grohmann von 1930, noch einmal zu der besonderen Eigenart dieses Bildes geäußert: »Ich habe 1910 eine Romantische Landschaft gemalt, die mit der früheren Romantik nichts zu tun hatte. Ich habe die Absicht, wieder einmal so eine Bezeich­nung zu verwenden  … Wo sind die Grenzen zwischen Lyrik und Romantik?  … Die kommende Romantik ist tatsächlich tief, inhaltsvoll, sie ist ein Stück Eis, in dem eine Flamme brennt. Wenn die Menschen nur das Eis spüren und die Flamme nicht, desto schlimmer für sie.« In der Romantischen Landschaft von 1911 hatte Kandinsky die flackernden Rätsel der Improvisationen, der »inneren Ein­drücke« von der Natur, in den weiten Raum der lyrischen Freiheit transponiert.

1911Öl auf leinwand,

94,3 x 129 cmBez. r. u.:

Kandinsky 1911 gms 83

21 romantische lanDschaFt

Wassily Kandinsky

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Neben den christlichen Motiven von Allerheiligen und Jüngstem Gericht, die um 1911 mit Macht in das symbolische Vokabular Kandinskys eindringen, gewinnt für ihn zur gleichen Zeit die Figur des hl. Georg  – des christlichen Drachentöters und Siegers über das Böse  – zentrale Bedeutung. (Zur spezifischen Symbolik dieses Heiligen, der jetzt im Werk Kandinskys mit der für ihn seit jeher wich­tigen Gestalt des Reiters verschmilzt, vgl. die Tafeln 36 und 38). Die St.­Georgs­Darstellungen gehö­ren zu einer dichten Reihe von Bildern, die Kandinsky dem christlichen Ritter widmete. Neben drei Hinterglasbildern, von denen eines nahezu identisch mit dem berühmten Titelholzschnitt des Al ­manachs Der Blaue Reiter ist, entstanden u. a. drei Ölgemälde zum hl. Georg. Diese Bilder haben eine nahezu halluzinatorische Qualität. St. Georg I (Privatbesitz, Schweiz) zeigt die schemenhafte Figur des Heiligen, wie er zwischen numinosen weißen Bergkulissen auf den Drachen zu seinen Füßen ein­sticht. St. Georg II (Eremitage, St. Petersburg) ist eine fast abstrakte Darstellung von Pferd und Reiter hinter der expressiven Diagonalen der heiligen Lanze. In St. Georg III ist der Ritter kaum mehr erkennbar und nach links gerückt. Senkrecht stößt er seine Lanze dem unter ihm liegenden Drachen ins Maul. Dessen heller flächiger Leib diffundiert wie in Auflösung begriffen in seine Um gebung, der Schwanz schlägt hoch über das ganze Bild. Die Verschleierung, die Kandinsky hier über die Darstel­lung legt, wird in erster Linie durch den dominierenden Einsatz der weißen Farbe erzielt. St. Georg, der Drache wie auch der Hintergrund sind überwiegend weiß, unterbrochen nur vom Gelb und Rosa des Drachenleibes und dem korrespondierenden Blau und Grün der Aura des Heiligen. Damit wird die formale Beschaffenheit des Bildes, wie in anderen wichtigen Werken Kandinskys, zu einem zwei­ten Bedeutungsträger, fast wichtiger als sein Motiv.Zur Farbe Weiß bemerkt Kandinsky in seiner Schrift Über das Geistige in der Kunst, sie komme in der Natur nicht vor und wenn man sie benutze, dann wegen der »Übersetzung der Natur« für die »innere Impression«. Das Charisma von Kampf, Untergang und Erlösung, das den Charakter von St. Georg III prägt, scheint eine geheime Beziehung zur entrückten Zone des Weiß zu besitzen. »Bei der näheren Bezeichnung ist das Weiß, welches oft für eine Nichtfarbe gehalten wird«, schreibt Kandinsky, »wie ein Symbol einer Welt, wo alle Farben, als materielle Eigenschaften und Substanzen, verschwunden sind. Diese Welt ist so hoch über uns, dass wir keinen Klang von dort hören können. Es kommt ein großes Schweigen von dort, welches, materiell dargestellt, wie eine unübersteigliche, unzerstörbare, ins Unendliche gehende kalte Mauer uns vorkommt. Deswegen wirkt auch das Weiß auf unsere Psyche als ein großes Schweigen, welches für uns absolut ist … Es ist ein Schweigen, welches nicht tot ist, sondern voll Möglichkeiten. Das Weiß klingt wie Schweigen, welches plötzlich verstanden werden kann.« – Ein Abglanz des Georgsritters wiederum steht im Mittelpunkt eines der wichtigsten abstrak­ten Gemälde Kandinskys vor dem Ersten Weltkrieg, dem Bild mit weißem Rand von 1913 (Solomon R. Guggenheim Museum, New York).

1911Öl auf leinwand,

97,5 x 107,5 cmBez. i. u.:

Kandinsky 1911 gms 81

22 st. georg iii

Wassily Kandinsky

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Die Improvisationen boten Wassily Kandinsky ein weites Experimentierfeld für die zunehmende Ver­unklärung des Bildgegenstandes, die für ihn ein wichtiges Mittel im Ringen um das abstrakte Bild war. Abstrakte Malerei, die seinem Bestreben nach neue, immaterielle ›geistige‹ Inhalte zum Ausdruck bringen sollte, erhält im Schaffen Kandinskys ihre bedeutungsvolle Färbung stets über einen kom­plizierten Prozess der Ablösung vom Gegenstand und den Rudimenten seines »inneren Klangs«. Daher lehnte Kandinsky den viel näherliegenderen Weg der geometrischen oder ornamentalen Ab ­straktion ab.Auch in einem Gemälde wie Improvisation 18 (mit Grabstein) bleiben figürliche Reste erhalten, sie werden jedoch immer weiter in eine Unkenntlichkeit zurückgenommen, gleichsam in tiefere Schich­ten eingelassen und ihrer konkreten äußeren Gestalt wie auch Bedeutung entkleidet. Einzig ihr »inne­rer Klang«, der – wie der scheinbar absurd losgelöste Sinn eines wiederholt gesprochenen Wortes – als Echo zurückbleibt, lebt fort und füllt das Bild mit einer Vielzahl kaum greifbarer, doch latent vor­handener, erregender Implikationen.Das Gemälde ist ein beunruhigendes, in Diagonalen übereinandergetürmtes Konglomerat nicht deut­barer Formen, zwischen denen leere, fahle Zonen die Reste einer Landschaft andeuten mögen. Am rechten unteren Bildrand meint man in einer schmutzig grauen Fläche drei flache Grabsteine zu erkennen, in der Höhe links scheinen ihnen drei vornübergeneigte Gestalten in zurückweichendem Verharren zu antworten. In der Mitte gibt es offenbar eine weitere zusammengedrängte Figuren­gruppe. Vage könnten sich Assoziationen mit der mittelalterlichen Legende der drei Ritter und ihrer Begegnung mit drei Gräbern einstellen, die Kandinsky sicher geläufig war. Doch die konkrete ikono­grafische Bedeutung ist nicht mehr wichtig, sondern die geänderte Funktion des Bildes, der auch die Verunklärung der Form dient. In seinem Ergänzung genannten Text vom Januar 1913 schrieb Kan­dinsky: »Meine persönliche Eigenschaft ist die Fähigkeit, durch das Beschränken des Äußeren das Innere stärker herausklingen zu lassen. Knappheit ist mein liebster Modus. Deshalb treibe ich auch die rein malerischen Mittel nicht auf die Spitze. Das Knappe verlangt das Unpräzise (also keine zu stark wirkende malerische Form – sei es Zeichnung oder Malerei).« Diese Mittel des Abkürzens, der Verschleierung, selbst der gegenseitigen Aufhebung der Farbwirkung setzt Kandinsky in vielen ›Improvisationen‹ und auch ›Kompositionen‹ dieser Jahre ein.

1911Öl auf leinwand,

141 x 120 cmBez. r. u.:

Kandinsky 1911 gms 77

23 imProVisation 18 (mit graBstein)

Wassily Kandinsky

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Wie kein anderes der hier vorgestellten Bilder erhellt Improvisation 19 einen weiteren wichtigen Aspekt der von Kandinsky erreichten Emanzipation vom traditionellen Bildgegenstand. Sixten Ring­bom und andere Forscher konnten nachweisen, dass Kandinsky sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg intensiv mit philosophischem und mystischem Gedankengut beschäftigte. Seine Kenntnis der Vorträge und Schriften Rudolf Steiners ist belegt, in München pflegte er Kontakte zum Kreis um Stefan George, Karl Wolfskehl und Ludwig Klages; in seiner Bibliothek befanden sich theosophische Handbücher, reich illustriert mit Abbildungen übersinnlicher Erscheinungen und Phänomenen der Parapsychologie.Durchsichtige, lediglich von einfachen schwarzen Umrissen bezeichnete Figuren scheinen in Impro­visation 19 in den Bann eines unbekannten Geschehens gezogen. Links rückt ein Zug kleinerer dicht gedrängter Gestalten gegen den vorderen Bildrand heran. Ihre hohlen Körper lassen die frei fließen­den Farben des Hintergrundes durchscheinen. Ihnen ist helles Rot, Gelb, etwas Grün und Weiß zu ­geordnet; in Weiß auch setzen sich die Schemen weiterer Gefolgschaft hinter ihnen fort – das Weiß der ungeahnten, noch nicht konkretisierten Möglichkeiten. Der größte Teil des Bildes aber ist von tief leuchtendem, lebendig schattiertem Blau erfüllt. Dieses Blau durchleuchtet auch die ins Profil ge ­wandte Gruppe großer Gestalten in der rechten Bildhälfte, die sich auf ein Ziel außerhalb des Bildes hinzubewegen scheint. Zwischen beiden Gruppen schiebt sich von oben eine länglich abgerundete Form ins Bild, deren diaphanes Farbenspiel von einer kräftigen schwarzen Grenze umgeben ist.Offensichtlich handelt es sich bei den Farberscheinungen um Auren, die als Ausdruck von Gedanken­ und Gefühlslagen durch die Menschen hindurchgehen und von ihnen abstrahlen. Die bunte längliche Form über ihnen ist als Manifestation einer übersinnlichen Erscheinung zu verstehen. Während ›irdische‹ Farben den Zug der links Herankommenden begleiten, ist Blau die Farbe einer Sphäre von Spiritualität und Idealismus. Das Violett an den Köpfen der ›Eingeweihten‹ scheint Erlöschen, Über­gang in eine höhere Stufe darzustellen. Kandinsky strebte hier eine bildliche Materialisierung des nur spirituell Existenten an. Semiabstrakte Formen besaßen für ihn die Fähigkeit, Phänomene der Ima­gination und des Bewusstseins zu gestalten. Die beinahe messianische Heilserwartung, die sich im unbekannten Ritual des Bildes mitteilt, erstreckte sich für ihn auf die Entwicklung der Kunst und »aller anderen Reiche« insgesamt: Wir stehen, so schreibt Kandinsky in Über das Geistige in der Kunst, »an der Schwelle der ›Dritten Offenbarung‹, der ›Epoche des großen Geistigen‹«.

1911Öl auf leinwand,

120 x 141,5 cmgms 79

24 imProVisation 19

Wassily Kandinsky

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Mit der Improvisation 19 a führt Wassily Kandinsky einmal mehr vor Augen, wie sehr sich seine Male­rei von den Gesetzen der äußeren Natur gelöst hat und zunehmend ihr eigenes System aufbaut. Im Wogen der Farben, ihren heftigen und dennoch unpräzisen Bewegungen, sind die Unterschiede zwischen Körper und Raum nicht mehr dingfest zu machen. Trotz der bunten Vielfalt liegt ein dunkler Gesamtton über dem Bild, der die dramatische Stimmung eines Kampfes  – auch den der Mischung allzu vieler gegensätzlicher Farbeffekte – zu betonen scheint. Die Mittel seiner Malerei, die Kandinsky lange als zu schwach für sein Bedürfnis nach transzendentem Ausdruck empfunden hatte, sind jetzt in irritierender Weise entwickelt. In seinen Rückblicken schreibt der Künstler dazu: »Es mussten viele Jahre vergehen, bis ich durch Fühlen und Denken zu der einfachen Lösung kam, dass die Ziele (also auch die Mittel) der Natur und der Kunst wesentlich, organisch und weltgeschichtlich verschieden sind – und gleich groß, also auch gleich stark.« Doch noch immer spielt die »hidden ima­ginary«, wie Rose­Carol Washton­Long sie nennt, eine entscheidende Rolle in diesem Prozess der Transmission. Sie gibt dem nahezu ungegenständlichen Bild seine »innere Vibration« und die sug­gestiven Reize verformter Nichterkennbarkeit. Dem Gesamtaufbau von Improvisation 19 a, mit den spitzen blauen ›Bergen‹ links im Hintergrund sowie der Auf teilung der ›Hügel‹, mag eine ferne Erin­nerung an die Murnauer Landschaft zugrunde liegen. Rechts oben auf dem ›Hügelrand‹ befinden sich zwei geneigte Gestalten sowie zwei weitere, die sich etwas zureichen. Am auffälligsten ist die gewölbte, aufschießende und wie im Sturzbach wieder nieder gehende dunkelgelbe Form im Vordergrund, die man auch wegen ihrer schwarzen ›Leibeshöhle‹ als nach rechts gekehrten, kegelförmig abgerundeten Körper lesen kann.Vergleiche mit anderen Werken Kandinskys, etwa mit Improvisation 7 (Staatliche Tretjakow Galerie, Moskau), die besonders in der Bewegungsrichtung der Elemente Ähnlichkeiten aufweisen, helfen nur sehr begrenzt weiter. In beiden Fällen scheint es sich um ein schicksalhaftes Treiben von Menschen in einer aufgewühlten Landschaft zu handeln. Wichtig ist jedoch die unruhige Bewegung des Gesamt­eindrucks und die Verfremdung des wie immer gearteten Geschehens, das damit auf eine neue, uni­versale Ebene gehoben wird. Nicht nur das Unpräzise der Formen, sondern auch ihr undefiniertes Nebeneinander, das bereits im Frühwerk Kandinskys zu beobachten ist, bricht dabei die üblichen Sinnzusammenhänge ab. Johannes Langner charakterisiert das Prinzip der Metamorphose zum offe­nen, abstrakten Bild bei Kandinsky wie folgt: »In einem Beieinander der Motive, das nicht mehr in einer Aktion, sondern nur noch in Sinnbezügen, nicht mehr in verifizierbarer Tatsächlichkeit, sondern nur noch in Stimmungswerten begründet ist, tritt an die Stelle kausaler Verknüpfungen die freie Asso­ziation.«

1911Öl auf leinwand,

97 x 106 cmgms 84

25 imProVisation 19 a

Wassily Kandinsky

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Die Improvisation 21 a von 1911 wurde von dem kleinen Hinterglasbild Mit Sonne angeregt (Tafel 37). Mit ihr eng verwandt ist das Bild Kleine Freuden (Solomon R. Guggenheim Museum, New York), das Kandinsky etwa anderthalb Jahre später, im Sommer 1913, malte. Im Hinblick auf Kleine Freuden und Improvisation 21 a schreibt Kandinsky, die delikaten Farben des Hinterglasbildes, sein Gold, Silber und seine spiegelnden Stellen, hätten ihn zu diesen größeren Kompositionen angeregt. Das Hinter­glasbild gibt die einzelnen Elemente wesentlich deutlicher zu erkennen: In der Mitte zwei Hügel, bekrönt von russischen Kuppeltürmen, links ein im scharfen Winkel zurückgelehntes Paar, darüber drei die Hügel hinaufsprengende Reiter, ganz oben die Sonne. Rechts befinden sich zwei große ge ­bogene Formen, ein Boot mit drei Ruderern, darüber eine dunkle Wolke. In Improvisation 21 a sind alle figürlichen Angaben bis zu einem gewissen Grad verwischt, die bunten leuchtenden Farben des Hinterglasbildes sind unterdrückt und von weißlichem Grau überzogen.Dennoch bleibt auch hier die Gesamtaussage des Bildes vollständig erhalten, gewinnt vielmehr durch die erweiterten Assoziationsmöglichkeiten an Intensität. Viele Interpreten Kandinskys, besonders Rose­Carol Washton­Long, betonen den dramatischen Gegensatz der beiden Bildhälften, die Kon­frontation von Sonne und dunkel drohender Wolke über dem in der aufgewühlten See kämpfenden Boot. Durch diesen Konflikt und den Vergleich mit dem bekannten Figurenvokabular Kandinskys jener Zeit, das auch in Bildern wie Allerheiligen, Jüngstes Gericht und schließlich Sintflut auftaucht, rücken Washton­Long und Sixten Ringbom auch dieses Bild in die Nähe apokalyptischer Visionen, als System von Hoffnung und Zerstörung, Vernichtung und Erneuerung.Kandinsky selbst beschreibt den Schaffensprozess der Kleinen Freuden ganz anders, viel mehr von den formalen Eigenarten ausgehend, die das Bild trotz heterogener Elemente in einem »großen Gleichgewicht« hielten. Er bezeichnet den Hintergrund des Bildes als »geistig«, als »idealen Spiel­platz« für kleine Freuden. Denn: »Mein Ziel war ja – sich gehen zu lassen und eine Menge kleiner Freuden auf die Leinwand zu schütten.« Die dunkle Wolke füge einen ernsteren Ton hinzu, aber in Form eines »feinen inneren Kochens« und von »Überfließungen« subtiler Art. Doch dieser melan­cholische Begleitton bleibt im Hintergrund, als leichte Vibration des Bildes, oder, wie Kandinsky es ausdrückt: »Aber überall bleibt das alles im Bereich der kleinen Freuden und bekam keinen schmerz­lichen Beiklang.« Auch an dieser Äußerung überrascht die komplexe Denkweise Kandinskys, der Bild­elemente neu und widersprüchlich handhabt und damit der traditionellen ikonografischen Analyse entzieht.

1911Öl auf leinwand,

96 x 105 cmBez. i. u.:

Kandinsky 1911 gms 82

26 imProVisation 21 a

Wassily Kandinsky

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Der Untertitel dieser Improvisation bezeichnet den Gegenstand des Bildes. Der mit den ambivalen­ten Bildmitteln Kandinskys bereits vertraute Betrachter erkennt die Schemen eines Bootes mit aus­gelegten Rudern und gebeugt darin sitzenden Gestalten, das schwerelos über eine schillernde Farb­fläche dahingleitet. Das Motiv des Bootes gehört in den innersten Kreis von Kandinskys figürlichem Kosmos und taucht seit seinen früheren Werken, etwa in Das Bunte Leben (Tafel 4), in vielfältigen Zusammenhängen auf. Armin Zweite wies die verschiedenen Konnotationen dieses Motivs nach, das Abschied und Aufbruch bedeuten, aber auch wie der Reiter eine Metapher für Befreiung sein kann. Es ist möglich, dass solche Bedeutungsaspekte im Bild der Improvisation 26 (Rudern) mitspielen, dessen großfiguriges Einzelmotiv für Kandinskys Werke dieser Jahre ungewöhnlich ist. Ebenso inter­essant aber ist die formale Eigenart des Bildes, die es zu einem exemplarischen Meisterwerk Kan­dinskys aus der Phase des entscheidenden Umbruchs seiner Malerei macht. Linie und Farbe haben sich nun völlig getrennt, um eine neue Einheit einzugehen. Der offene Bogen des runden Bootsleibes ist von dem gleichen Krapplackrot wie die Wellenlinie in der oberen Zone des Bildes, die man anhand eines der zugehörigen Aquarelle als Hügellinie definieren kann. Die energischen schwarzen Diago­nalen der Ruder und die gebeugten Rückenlinien der Bootsleute gewinnen eine eigene physische Kraft, die ohne körperliche Gestalt auskommt.Dem Eigenwert der Linie steht die konstruktive Kraft der autonomen Farbe gegenüber. Ein traum­hafter, schwebender Raumzustand zwischen Tiefe und Fläche ist in Improvisation 26 erreicht, der allein auf der Auswahl und Verteilung der Farben beruht. Abgesehen von deren psychischen Wirkun­gen, die für Kandinsky über die reine Physik der Wahrnehmung hinaus seelische Vibrationen erzeu­gen können, gelingt ihm hier mit Farbe die Konstruktion eines ideellen Raums. In seiner Schrift Über das Geistige in der Kunst geht Kandinsky auch auf die Experimente der Kubisten mit der Dekon­struktion der traditionellen Perspektive und dem Schaffen eines neuen Bildraums ein. Dagegen hält er andere Möglichkeiten, etwa die Farbe, die, richtig angewendet, vor­ oder zurücktreten und vor­ oder zurückstreben kann und das Bild zu einem in der Luft schwebenden Wesen machen kann, was der malerischen Ausdehnung des Raumes gleichbedeutend ist. Trotz des flächigen Nebeneinanders von Farben ohne feste Grenzen entsteht die Tiefe eines weiten Bildraums. Zu diesem Vorgang, der auf einem überlegten Spiel mit gegenläufigen Wirkungen beruht, äußerte sich Kandinsky im Kölner Vortrag 1914: »Die Farben, die ich später anwendete, liegen wie auf einer und derselben Fläche, ihr inneres Gewicht war verschiedener Art. So kam das Mitwirken verschiedener Sphären von selbst in die Bilder […] Diese Verschiedenheit der inneren Fläche gab meinen Bildern eine Tiefe, die die frü­here perspektivische Tiefe glänzend ersetzte. Die Gewichte zerstreute ich so, dass sie kein architek­tonisches Zentrum zeigten […] Ebenso behandelte ich die einzelnen Farbtöne, die warmen abküh­lend, die kalten erwärmend, so dass schon eine einzelne Farbe zu einer Komposition erhoben wurde.«

1912Öl auf leinwand,

97 x 107,5 cmBez. r. u.:

Kandinsky 1912 gms 66

27 imProVisation 26 (ruDern)

Wassily Kandinsky

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Das weite, zu Beginn des 20. Jahrhunderts neu erschlossene Reich der Tiefenpsychologie und angren­zender Wissenschaften eröffnete auch Kandinsky Erkenntnis­ und Gestaltungsmöglichkeiten, die sei­nem Streben nach dem Ausdruck des Immateriellen entgegenkamen. In die Geheimsprache seiner abstrahierenden Bildformen nahm er Elemente aus diesen Bereichen auf. Belegt ist, dass Kandinsky theosophische Schriften wie die 1908 von Annie Besant und Charles W. Leadbeater veröffentlich­ten Gedankenformen und die darin abgebildeten Fotos bestimmter übersinnlicher Phänomene und »Auren« von Gedanken­ und Gefühlszuständen kannte. In Berlin hatte er 1908 eine Vortragsreihe von Rudolf Steiner gehört und sich mit dessen im selben Jahr in zweiter Auflage erschienener Theosophie auseinandergesetzt, in München kam er offenbar auch mit den parapsychologischen Sitzungen des Nervenarztes und Psychiaters Albert von Schrenck­Notzing in Berührung, von dessen experimen­tellen Sitzungen ebenfalls aufsehenerregende Fotos erschienen waren.»Es gibt in Kandinskys Œuvre ein Bild, in dem die Auseinandersetzung mit dem Übersinnlichen so offenkundig wird wie in keinem anderen – wir sprechen von der Dame in Moskau, die der Künstler in drei verschiedenen Techniken ausführte: als Aquarell, in Öl und als Hinterglasbild.« Auf den ersten Blick fällt in diesem Gemälde der Gegensatz von der nahezu naiv­figürlichen Darstellung der Frauen­gestalt im Vordergrund vor einem bunten Moskauer Straßenprospekt und den abstrakten Phäno­menen auf, die sie, losgelöst von der quasi­realistischen Szene, als irrationale Elemente schwebend im Raum umgeben: eine graue Aura, ein roter Kreis und ein großer schwarzer Fleck. »Auf einer Mos­kauer Straße steht unter einer gelben Sonne eine Frau, die den Betrachter anblickt. Sie hält eine Rose und streichelt einen Hund auf dem Tisch neben sich. Insofern wirkt die ganze Szenerie, obwohl ein klein wenig bizarr, recht normal. Doch es gibt drei Motive, die bei diesem Bild ins Auge fallen: der graue Schatten, der die Dame umgibt, die nebelhafte rosafarbene Form unten rechts und ein großer, scharf umrissener, schwarzer Fleck oben, der das Bild völlig beherrscht. Diese Motive stehen, wie schon längst bekannt, für bestimmte Auraphänomene und Gedankenformen.« (Sixten Ringbom) Der graue Schemen um die Figur wird in Leadbeaters Der sichtbare und der unsichtbare Mensch als »Gesundheitsaura« bezeichnet, der lebendig vibrierende rosa Kreis bedeutet wohl Zuneigung und Liebe, doch werden diese Ausstrahlungen durch den großen schwarzen Fleck bedroht. Man hat Dame in Moskau auch als lebensgeschichtliches Drama vor dem Hintergrund von Kandinskys Situation im Jahr 1912 zu deuten versucht. Fest steht, dass er sich mit dem Motiv des schwarzen Flecks zu dieser Zeit auch in anderen Werken beschäftigt hat, etwa in einem Holzschnitt und in einem gleichnamigen Ölbild (Russisches Museum, St. Petersburg).

1912Öl auf leinwand, 108,8 x 108,8 cm

Bez. auf der rückseite eigenhändig:

Dame in moskaugms 72

28 Dame in mosKau

Wassily Kandinsky

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Die Improvisation Sintflut ist eine der vielen vorbereitenden Arbeiten zu Wassily Kandinskys großer Komposition VI (Eremitage, St. Petersburg), der das Thema der Sintflut zugrunde liegt. Kandinsky hat sich über die Entstehung dieser Komposition ausführlich geäußert. Ausgangspunkt war ein heute verschollenes Hinterglasbild mit Motiven des biblischen Strafgerichts, »das ich mehr zu meinem Vergnügen gemacht habe. Hier sind verschiedene gegenständliche Formen gegeben, die teilweise lustig sind (es machte mir Spaß, die ernsten Formen mit lustigen äußeren Eindrücken zu vermengen): Akte, Arche, Tiere, Palmen, Blitze, Regen usw.«. Es dauerte jedoch noch über eineinhalb Jahre, bis Kandinsky sich, wie er schrieb, vom konkreten Bild der Sintflut lösen konnte zugunsten einer un ­abhängigen Formvorstellung, in der nicht der »äußere Klang« des Gegenstands, sondern sein »innerer Klang« vorherrschen sollte.Die Improvisation Sintflut ist ein aufgewühlter Strudel von Farben, mit zum Teil kompakten, durch mehrfache Übermalung reliefhaft wirkenden, zum Teil flach verwischten Partien, die in der Mitte von weißen Strahlen durchkreuzt sind. Der Eindruck eines dramatischen Geschehens, durchaus der einer großen Naturkatastrophe wie Flut und Untergang, drängt sich auf, ohne dass dafür ein gegenständ­licher Anhaltspunkt auszumachen wäre. Von dem figürlichen Personal des oben erwähnten Hinter­glasbildes ist keine Spur zu finden. Dagegen heben sich zwei Zentren heraus, die Kandinsky auch im Hinblick auf die Endfassung der Komposition VI anspricht: »1. links das zarte, rosige, etwas ver­schwommene Zentrum mit schwachen unsicheren Linien in der Mitte, 2. rechts (etwas höher als das linke) das grobe, rot­blaue, etwas missklingend, mit scharfen, etwas bösen, starken, sehr präzisen Linien«. Vergleicht man jedoch die Improvisation Sintflut mit der großen Komposition VI, so scheint es sich wiederum um einen ganz anderen Bildentwurf zu handeln. Die Farben sind dort viel dünn­flüssiger ausgebreitet, kaltes Blau und Grün ziehen sich wellenförmig über das Bild, vor deren Grund grafische Chiffren das Drama auf einer weiteren Ebene aufführen. Links schwebt dort ein Boot mit ausgelegten Rudern, darüber ein Posaunenengel, zur Mitte hin der herumgewirbelte Leib eines Fisches. Die scharfen Diagonalen in der Bildmitte sind nun schwarz und können eindeutiger als ›Regenstreifen‹ oder auch Posaunenklänge verstanden werden. Diese Elemente machen die Bezie­hung der Komposition VI zum Thema der Sintflut erneut deutlich und verbinden das Gemälde mit den apokalyptischen Motiven des Weltgerichts. Doch der Künstler weist es ausdrücklich zurück, diese Komposition »zur Darstellung eines Vorgangs zu stempeln«. Dabei ist bemerkenswert, dass das für ihn wichtigste Element der Endfassung, ein drittes, verschwommenes Zentrum in der Mitte, in der vor­liegenden Improvisation Sintflut noch völlig fehlt. Kandinskys Schlusssatz zur Erläuterung seiner Komposition VI lautet: »Ein großer, objektiv wirkender Untergang ist ebenso ein vollständig und im Klang abgetrennt lebendes Loblied wie ein Hymnus der neuen Entstehung, die dem Untergang folgt.«

1913Öl auf leinwand,

95 x 150 cmgms 76

29 imProVisation sintFlut

Wassily Kandinsky

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Die große Komposition VII bedeutet einen Höhepunkt in Kandinskys Schaffen vor dem Ersten Welt­krieg, in ihr kulminieren seine Bestrebungen, die »unendliche Erlebnisse ermöglichende Fähigkeit des Erlebens des Geistigen in materiellen und abstrakten Dingen« durch eine Kunst neuer bild­nerischer Dimensionen zu wecken. Die anspruchsvolle Bezeichnung Komposition verlieh Kandinsky im Laufe seines Lebens lediglich zehn seiner Werke, von denen sieben vor 1914, eine während seiner Jahre am Bauhaus und zwei in seiner späten Pariser Periode nach 1933 entstanden sind. Rationale Konzeption, Imagination und Intuition wirken in diesen höchst komplexen Werken zusammen.Welche genaue Überlegung und Disposition Komposition VII zugrunde liegen, dokumentieren die zahlreichen Vorarbeiten für die 2 x 3 m große Endfassung des Werks (Staatliche Tretjakow Galerie, Moskau). Mit mindestens 21 Zeichnungen und Aquarellen sowie sechs größeren Ölstudien bereitete Kandinsky diese endgültige Fassung vor, die er schließlich in vier Tagen, vom 25. bis 28. November 1913, auf die große Leinwand übertrug.Das hier präsentierte Bild ist eine dieser vorbereitenden Ölstudien. Ähnlich wie die Improvisation Sintflut (Tafel 29) aus dem Umkreis der Komposition VI (Eremitage, St. Petersburg) mutet sie zunächst wie ein strudelndes Chaos von Farben und Formen ohne jede verständliche Strukturen an. Deshalb mag der Hinweis überraschen, dass hier ebenfalls eschatologische Motive zugrunde liegen und das Bild wie eine unterirdische Strömung beherrschen. Verunklärung, Desintegration und Mischung von Gegensätzen werden hier in einem kaum überbietbaren Maß gesteigert. In kosmischer Entrücktheit schweben Farben unterschiedlicher Konsistenz und Tiefe voreinander, bilden Anhäufungen oder werden von bunten und schwarzen Linienbündeln überlagert.Die innere Widersprüchlichkeit der Elemente und sein kompliziertes Vorgehen bei der Erstellung eines solchen Bildes versuchte Kandinsky in seinem Kölner Vortrag von 1914 zu erläutern: »Ich kürzte das Ausdrucksvolle durch Ausdruckslosigkeit ab. Ein an und für sich im Ausdruck nicht sehr klares Element unterstrich ich durch die äußere Lage, in die ich es stellte. Den Farben nahm ich ihre Deut­lichkeit im Klang, ich dämpfte auf der Oberfläche und ließ ihre Reinheit und ihre wahre Natur wie durch ein Mattglas herausleuchten. So ist die Improvisation 22 und die Komposition 5 gemalt, größtenteils auch die sechste. Die letzte bekam drei Zentrums und eine große Kompliziertheit der Komposition […]«In den vielen Entwürfen zu Komposition VII war das in der Mitte liegende Zentrum, ein konzen­trischer, von zwei Linien durchkreuzter Farbkreis, von Beginn an festgelegt, in einer Reihe von ihnen sind figürliche Reste apokalyptischer Motive erkennbar. Auffallend in unserem Entwurf 2 ist die matte Leere am unteren Bildrand. In der Moskauer Endfassung ist die Dynamik eines trichterförmigen Sogs, in den die Farbgebilde über ihm gezogen werden, noch stärker ausgeprägt. Dazu erscheint jedoch in der unteren linken Ecke deutlich erkennbar ein Ruderboot, ein eindeutiger Hinweis auf die eschatologischen Zusammenhänge der Komposition VII.

1913Öl auf leinwand,

100 x 140 cmgms 64

30 entWurF 2 zu KomPosition Vii

Wassily Kandinsky

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1914 erhielt Wassily Kandinsky durch Vermittlung des Kunsthändlers Arthur J. Eddy von Edwin R. Campbell, dem Gründer der Chevrolet Motor Company, den Auftrag, die Eingangshalle seines Apartmenthauses in New York mit Wandgemälden auszustatten. Kandinsky wurde von Campbell brieflich über die räumlichen Gegebenheiten der beinahe runden, durch drei Türen geöffneten Halle informiert und schuf dafür zwei schmale und zwei breitere, hochrechteckige Tafeln. Der Erste Welt­krieg verhinderte die pünktliche Lieferung der im Frühjahr 1914 in Murnau fertiggestellten Bilder; erst 1916 konnten sie Europa über Stockholm verlassen und im New Yorker Haus an der Park Avenue installiert werden. Alle vier Bilder hängen heute im Museum of Modern Art, New York.Seit ihrer Publikation durch Kenneth C. Lindsay wurden die vier Tafeln mit den Untertiteln Frühling, Sommer, Herbst und Winter versehen und damit als eine Art Zyklus der Jahreszeiten aufgefasst. Diese Namensgebung stammt jedoch nicht von Kandinsky und dient lediglich der Unterscheidung der ver­wirrend abstrakten Werke, die sich jeder traditionellen Kategorie entziehen. Hingegen mögen sich innerhalb der Serie gewisse Zuordnungen treffen lassen. Auf den beiden breiteren Formaten von Herbst und Winter spielt sich ein bunt schillerndes Drama in dynamischem Farbauftrag ab, während die schmalen Bilder des Frühlings und Sommers eher von der Feinstruktur der Linien geprägt sind, größere, zurücktretende Farbflächen und deutlicher herauskristallisierte Elemente aufweisen. Das vorliegende Bild ist eine Studie für Sommer. Weiße längliche Stangengebilde strecken sich wie Tenta­kel in die Höhe, die farbige Binnensprenkelung – das »innere Kochen in unklarer Form« (Kandinsky) – erfüllt die vordere von ihnen zusätzlich mit subtilem Leben. Gelb, Rot und Blau sind weitere Farben im Bild, im oberen Drittel dehnt sich ein schwarzer Fleck mit weißer ›Öffnung‹. Dieser wiederum rückt das Bild in die Nähe der Bedeutungsstrukturen von Kandinskys Bild mit schwarzem Bogen von 1912 (Centre Georges Pompidou, Paris), in dem Rot und Blau in antithetischem Gegeneinander ein­gesetzt sind und schwarze Linienspuren das Bild beherrschen. In der Studie des Sommers aus der Campbell­Serie kreuzen sich überall grafische Zeichen, die allesamt der Abglanz von etwas anderem zu sein scheinen. Doch mögen auch das schwarze Viereck mit den langen Strähnen in der Bildmitte eine Erinnerung an den Posaunenengel sein, die steil nach oben fahrenden, gebogenen Linien links oben an das ›Troika‹­Motiv des Elias oder der merkwürdige blaue Winkel rechts unten mit dem ›Auge‹ an das Gesicht des Johannes auf Patmos – wichtig an solchen Hinweisen scheint lediglich, dass die als Überreste zurückbleibenden Linien zu selbstständigen Ausdrucksträgern geworden sind. In seinem späteren Lehrbuch aus der Bauhaus­Zeit betont er die Zusammengehörigkeit von Grafik (der Linie) und Malerei (der Farbe), die im abstrakten Kunstwerk eine freie, unlösbare Einheit bildeten. Die Linie als Bildelement analysiert Kandinsky selbst am Bauhaus an keiner Stelle unter Zweck­ und Funktionsbegriffen, im Gegenteil, »neue Kunst«, meint er, »kann nur entstehen, wo Zeichen zu Sym­bolen werden«.

1914Öl auf leinwand,

99 x 59,5 cmgms 75

31 grosse stuDie zu einem WanDBilD FÜr eDWin r. camPBell (sommer)

Wassily Kandinsky

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Aus dem zusammenstürzenden Durcheinander der Improvisation Klamm, die wie viele Bilder Kan­dinskys von 1913 und 1914 den Eindruck eines aufgewühlten Naturphänomens vermittelt, kristallisie­ren sich bei näherem Hinsehen kleine, grafisch fein gezeichnete gegenständliche Elemente heraus, deren figürlicher Realismus in diesem Stadium von Kandinskys Malerei verblüffend wirkt. Hans Konrad Roethel beschreibt die durcheinandergewirbelten Motivreste wie folgt: »Das Bild ist von Kan­dinsky unmittelbar nach einem am 3. Juli 1914 gemeinsam mit Gabriele Münter unternommenen Ausflug in die Höllentalklamm bei Garmisch­Partenkirchen gemalt worden. Dieser Hinweis erleich­tert das Entschlüsseln des Dargestellten. Vorn erkennt man deutlich ein auf einem Bootssteg stehen­des Paar in bayerischer Tracht; unter dem Steg zwei Kähne und vier Ruder. Boote und Steg geben den Hinweis auf den See, der fast die ganze Mitte der Komposition einnimmt. Die Wasseroberfläche ist durch kleine, die Wellen andeutende Pinselstriche definiert. In der Mitte des Sees befindet sich ein Segelboot mit rotem Segel. Eingebettet ist der See in die gewaltige Landschaft des Tals. Eine Kette von Berggipfeln, Himmel und Wolken sowie die untergehende rote Sonne markieren den oberen Ab ­schluss des Gemäldes.« Bei dem aus feinen Linien bestehenden Gebilde vorne rechts handele es sich um einen der Wasserfälle des Tals, »rechts in der Mitte, wohl am Ufer des Sees, befindet sich ein rotes Haus mit schwarzen Fenstern; links davon ein Schienenstrang. Links im Bild scheint sich die mit dem Motiv der russischen Kapelle verschmolzene Kirche von Murnau verirrt zu haben, erkennbar an der dreifachen Wiederholung des gerundeten Turmes«. Darüber erhebt sich eine dunkelgrüne, zerzauste Tanne. Alle diese Elemente scheinen unter Verlust der Größenverhältnisse und fester Zuordnung in den chaotischen Wirbel eines Sturms geworfen, dessen Zentrum durch die Säule in der oberen Hälfte der Komposition markiert wird. Zur Deutung der Improvisation Klamm gibt Roethel einen weiteren wichtigen Hinweis: Am linken Bildrand erscheint der weiße Schemen eines dahinsprengenden Pfer­des, auf ihm ein apokalyptischer Reiter, der hoch über seinem Kopf eine Balkenwaage mit zwei ge ­waltigen, deutlich sichtbaren Schalen schwingt. Diese Figur wiederum taucht zusammen mit ganz ähnlichen Motiven – dem Paar auf dem Steg, den Booten und dem Wasserfall auf einer vom 22. Juni 1914 datierten Bleistiftskizze Kandinskys auf, die er mit dem russischen Wort für ›Sonnenuntergang‹ versah. Der Besuch in der Höllentalklamm scheint den Anstoß für das Gemälde gegeben zu haben. Auch dieses Bild mit den lustigen bunten Farben und Figürchen fügt sich, als ›Sonnenuntergang‹ begriffen und unter dem Regiment des apokalyptischen Reiters, in die Untergangsfantasien ein, die für viele Bilder Kandinskys vor dem Ersten Weltkrieg bestimmend sind.

1914Öl auf leinwand,

110 x 110 cmgms 74

32 imProVisation Klamm

Wassily Kandinsky

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Nach seiner Emigration aus Deutschland bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 und Ankunft in Moskau gegen Ende des Jahres konnte Kandinsky Anfang 1915 im oberen Stock seines 1913 errichteten Mietshauses in der Dolgystraße in der Nähe des Zubovsky­Platzes eine zufällig frei werdende 5­Zimmer­Wohnung beziehen. Erst im Juli 1913 hatte er ein anderes Haus aus familiärem Erbe verkauft und sich das große, sechsstöckige Mietshaus mit 24 Wohnungen am Zubovsky­Platz durch den Architekten Dimitri Michailowitsch Tschelichtschew errichten lassen. Im Januar 1917 ver­kaufte Kandinsky – um ohne Schulden in seine zweite Ehe mit Nina Andrejewskaja gehen zu können – dieses Haus, behielt sich aber das Wohnrecht für die obere Etage vor. Zudem erwarb er ein Nachbar­grundstück, in der Absicht, dort ein eigenes Haus mit Ateliergebäude errichten zu lassen. Doch durch die Oktoberrevolution 1917 verlor Kandinsky im Zuge der Enteignungen sein gesamtes Vermögen, einschließlich des kurz zuvor gekauften Grundstücks. Die weiteren Kriegs­ und Revolutionsjahre bis zu ihrer Rückkehr nach Deutschland Ende 1921 lebten er und seine Frau mit Einquartierungen wei­ter in der Wohnung hoch über dem Zubovsky­Platz, zeitweise waren Alexander Rodtschenko und Warwara Stepanowa mit ihren Ateliers dort einquartiert.In den ersten beiden Jahren nach der Rückkehr nach Moskau kam Kandinskys malerische Produktion fast gänzlich zum Erliegen, er beschränkte sich fast ausschließlich auf Aquarelle und Hinterglasbilder, in denen sich überraschend eine Rückkehr zur Gegenständlichkeit zeigt und ein teilweise figürlich­naiv gezeichnetes Personal aus Reifrock­Damen und russischen Märchenfiguren wie ein ›ricordo‹ aus lang vergangenen Zeiten durch schwebende Farbräume gewirbelt wird. Erst während seines Auf­enthalts in Stockholm 1916 entstanden wieder erste Ölgemälde, darunter das abstrakte Bild auf hellem Grund (Musée national d’art moderne, Centre Pompidou, Paris). Nach seiner Rückkehr malte er dann eine Serie von Ausblicken aus dem Fenster seiner Wohnung in gegenständlichem Stil mit locker zusammenfassenden Pinselstrichen und lichten, bunten, delikat abgestuften Farben, in denen Hell­blau, Türkis und Gelb dominieren.Meist wählte er wie in der vorliegenden Version von Zubovsky Platz einen engeren Ausschnitt, der den Blick auf die farbige Stadtlandschaft Moskaus in verhältnismäßig starker Aufsicht wiedergibt, oder auch eine leicht versetzte, weiträumigere Perspektive mit dem Blick hinüber zum Kreml. Am 21. Mai 1916 schrieb er Münter auf Französisch nach Stockholm: »Je travaille beaucoup. Je fais tous ce temps des paysages de mes fenêtres: soleil, nuit, ciel gris. Je trouve ca amusant et surtout utile j’enrichie ma palette et j’étudie des harmonies différentes. Et quand je pense que je devrais peutêtre quitter cette maison, ca me fait bien mal.« (»Ich arbeite viel. Ich mache die ganze Zeit Landschaften von meinen Fenstern aus: bei Sonne, in der Nacht, bei bedecktem Himmel. Ich finde das unterhaltsam und auch sehr nützlich, ich bereichere meine Palette und studiere die verschiedenen Farbharmonien. Und wann immer ich denke, ich sollte vielleicht einmal aus dem Haus gehen, fühle ich mich richtig schlecht.«)

1916Öl auf leinwand

auf Karton, 41,8 x 45,8 cm

g 18 267

33 zuBoVsKY Platz

Wassily Kandinsky

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Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte Kandinsky Deutschland verlassen und kehrte über die Schweiz in seine russische Heimat zurück. Seine künstlerische Produktion ging während der Kriegs­ und Revolutionsjahre stark zurück, stattdessen engagierte er sich in zahlreichen kulturpolitischen Gremien und Ämtern. Roter Fleck II markiert mit dem fundamentalen Wandel der Ausdrucksformen den Beginn einer neuen Phase in seinem Werk. Ohne die Berührung mit dem russischen Konstruk­tivismus, mit Kasimir Malewitsch, Wladimir Tatlin, Ljubow Popowa u. a., sind die präzisen Körper und Flächen, die geometrische Aufgliederung der Bildelemente und der geglättete Farbauftrag nicht denkbar. Die heftige Ausdrucksgewalt der Bilder vor dem Ersten Weltkrieg ist einem kühlen, schein­bar rationalen Kompositionsschema reiner Einzelformen gewichen.Dennoch hat sich Kandinsky stets vom Konstruktivismus distanziert. Auch lassen sich in einem so frühen, noch in Russland entstandenen Bild wie Roter Fleck II Unterschiede zu den Werken der Re ­volutionskünstler ausmachen. Kandinsky benutzt zwar geometrische Figuren wie Dreiecke, Kreise, Bögen und Linien, aber mit milden Begrenzungen und unregelmäßigen Zusammenstellungen. Ins­besondere fehlt seinem additiven Beieinander der logisch­konstruktive Aufbau, wie er für den Kon­struktivismus charakteristisch ist. Besonders auffallend in dieser Komposition ist die Ausmodellierung des großen roten Flecks, der wie ein »Herz« (Matthias Haldemann) auf dem offenen weißen Trapez vor einer bunten, ebenfalls plastisch wirkenden Hornform pulsiert, sekundiert von flacheren, mehr­fach überschnittenen farbigen Bögen und drei isoliert im Raum schwebenden Kreisen.Das Motiv des Kreises sollte für Kandinsky zu einem zentralen Element während der Jahre am Bau­haus werden. Kandinsky bedeutete er in dieser Phase die perfekte, spannungsreichste Form für sein bildnerisches Anliegen – »ich liebe den Kreis heute, wie ich früher z. B. das Pferd geliebt habe«. Der Wechsel zu geometrischen Formen setzt sein Streben nach immer reineren Formen, die keinerlei Erinnerungen an ablenkende Assoziationen hervorrufen, fort: »Die ›geometrischen‹ oder ›freien‹ Grenzen, die nicht an einen Gegenstand gebunden sind, rufen, wie die Farben, Erregungen hervor, die aber weniger präzise festgelegt sind als diejenigen eines Gegenstandes. Sie sind freier, elastischer, abstrakter.« Dass Kandinsky mit dieser Form der Abstraktion stets bei der Repräsentation von ›Figu­ren‹ blieb, seien sie nun gegenständlich oder abstrakt, unterscheidet ihn von anderen Abstrakten, etwa der reinen Farbfeldmalerei.

1921Öl auf leinwand,

131 x 181 cmBez. i. u.:

K [im Dreieck] 21 g 17 562

mit mitteln der hypo-Bank ag

erworben 1975 –1989

34 roter FlecK ii

Wassily Kandinsky

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Parties diverses ist ein charakteristisches Werk aus Kandinskys später Pariser Periode, die mit seiner Emigration nach der Schließung des Bauhauses in Berlin 1933 beginnt und 1944 mit seinem Tod endet. Noch einmal kommt es zu einer entscheidenden Wandlung seines Formenvokabulars. Immer wieder ist der organische, amöbenhafte Charakter seiner Kleinstrukturen und Mikroorganismen dieser Phase beschrieben worden. Doch die Formen sind quasi lebendig und werden von Kandinsky mit Distanz behandelt, indem er sie in künstlichen Figur­ und Bezugssystemen arrangiert und mit artifizieller, ›asiatischer‹ Farbigkeit versieht.Parties diverses sind dabei in verschiedenfarbige rechtwinklige Felder aufgeteilt, die das letztlich symmetrische Gefüge der einzelnen Elemente betonen. Dieser Doppelklang, der Dualismus zweier Hälften und Gegensätze, lebt hier als ein Grundzug von Kandinskys Schaffen wieder auf. Der Gegen­überstellung von Parties diverses oder Werken wie Wechselseitiger Gleichklang von 1942 gehen die ›konstruktiven‹ Klappstrukturen der dreißiger Jahre, etwa Entwicklung in Braun aus dem Jahr 1933, voraus (beide Centre Georges Pompidou, Paris). Es sind »Konflikte im Gleichgewicht«, wie Serge Vonboult formuliert, »die ganze Kunst Kandinskys kann in ihrem tiefsten Wesen nach definiert wer­den durch die Synthese geteilter, widerstreitender Kräfte«.Dieser Konflikt wird im Spätwerk Kandinskys nicht nur mit archetypischen, mikroskopischen Formen und einer Buntheit ausgetragen, die »etwas vom Geist des Ostens« vermittelt (Will Grohmann), son­dern auch in den Kunstfarben und dekorativen Formen der modernen Industrie und Lebenswelt. Darüber hinaus wirkt die Aufteilung des Hintergrunds in fünf rechteckige Zonen, zwischen denen es zu subtilen Überlappungen kommt, wie der Aufbau eines Klappaltars. Ihre monochromen Farben rufen mit Pistaziengrün, »rosa, lila«, Gelb und Weiß ferne Erinnerungen an Kandinskys Beschreibung Moskaus bei Sonnenuntergang in seinen Rückblicken von 1913 hervor.

1940Öl auf leinwand,

89 x 116 cmBez. i. u.: VK 40

Dauerleihgabe der gabriele münter-

und johannes eichner-stiftung

35 Parties DiVerses

Wassily Kandinsky

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Formal verrät die Figur deutlich den Einfluss der volkstümlichen Hinterglasmalerei, die Kandinsky und seine Gefährten in den Murnauer Jahren entdeckten. Ein mit dem Entwurf für den Almanach­Titel fast identisches Hinterglasbild Kandinskys, das ebenfalls der Sammlung des Lenbachhauses angehört, belegt diesen Zusammenhang auf schlagende Weise. Die Gestalt des hl. Georg, mit der sich Kandinsky 1911 und 1912 in verschiedenen Formen nachhaltig beschäftigt hat (vgl. Tafeln 22, 38), ist hier zwar weitgehend in das traditionelle ikonografische Schema des christlichen Heiligen gefasst, doch transportiert sie in ihrer eigenwilligen Stilisierung und spirituellen blauen Färbung weit mehr als etwa das volkstümliche Hinterglasbild Heiliger Georg I (Tafel  38) eine universale Bedeutung. Als ›Blauer Reiter‹ wird er zum Symbol einer Erneuerungsbewegung, die für die Überwindung und Erlösung der im Materialismus erstarrten Welt durch die reinigende Kraft des Geistes kämpft. Diese Heilsbotschaft einer neuen Epoche, an der die Künste und die gesamten kulturellen Äußerungen der Zukunft ihren Anteil haben würden, verkündet der Almanach vielfach. Der ›Blaue Reiter‹ wurde zum Sammelnamen der Bewegung, als Ende 1911 Kandinsky, Marc und ihre Weggenossen die ›Erste Aus­stellung der Redaktion Der Blaue Reiter‹ organisierten.

Im Laufe des Jahres 1911 fassten Wassily Kandinsky und Franz Marc, deren Sonderrolle in der ›Neuen Künstlervereinigung München‹ sich immer mehr zeigte, den Plan zu einem Kunstalmanach, für den sie wenig später den Namen Der Blaue Reiter fanden. Hier sollten ausschließlich Künstler – Maler, Schriftsteller und Musiker – aus dem In­ und Ausland zu Wort kommen, um die Ziele einer neuen Kunst zu formulieren. Erstmals werden in moderner Weise Werke aus unterschiedlichen Bereichen und Epochen in einer vergleichenden Gegenüberstellung miteinander konfrontiert, um zu beweisen, dass das »eigentlich Künstlerische«, so Kandinsky, »nicht eine Frage der Form, sondern des künst­lerischen Gehalts ist«.Für das Titelbild auf dem Einband dieses Almanachs schuf Kandinsky in rascher Folge insgesamt elf Entwürfe, von denen sich zehn im Besitz des Münchner Lenbachhauses befinden. Beinahe alle zeigen einen triumphierend nach oben sprengenden Reiter, über seinem Haupt auf ausgestreckten Armen ein flatterndes Tuch – in seinem vorwärts drängenden Elan ein Symbol für die sieghafte Kraft des Geistes. Für die endgültige Fassung löste sich Kandinsky jedoch von diesen Versuchen und entschied sich für eine Darstellung, die in sprechender, eingängiger Symbolik die Intentionen des Buches zum Ausdruck bringt. Auf dem letzten Aquarellentwurf für den Titelholzschnitt des Almanachs erscheint die Figur eines bewaffneten Reiters mit den Merkmalen des hl. Georg, des christlichen Drachen­töters, der als Überwinder des Bösen und Befreier gilt. Auf hochsteigendem Pferd sitzt der schild­bewehrte Ritter mit merkwürdigem Kopfputz, unter ihm windet sich der Drache, dessen schuppiger Schwanz die Rückenlinie des Reiters flankiert. Vorn rechts wendet sich die gefesselte Figur der Prin­zessin aus der biblischen Legende dem Befreier entgegen.

1911tusche und aquarell,

27,9 x 21,9 cmBez. r. u.: K [im Dreieck]

gms 608

36 enDgÜltiger entWurF FÜr Den umschlag Des

almanachs Der Blaue reiter

Wassily Kandinsky

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Dieses Hinterglasbild liegt dem Gemälde Improvisation 21 a (Tafel 26) sowie dem später entstande­nen Bild Kleine Freuden zugrunde (Solomon R.  Guggenheim Museum, New York). Die dort auf­tretenden Elemente sind hier in der stilisierten, beinahe naiven Zeichensprache der Hinterglas malerei vorbereitet. In der Mitte sieht man hintereinandergestaffelte Hügel, zwei von ihnen sind mit russi­schen Stadtsilhouetten bekrönt; links galoppieren drei bunte Reiter bergan. Unter ihnen befindet sich ein zurückgelehntes Menschenpaar, über ihnen die weiße Sonne. Über der rechten Bildhälfte hin­gegen lastet dräuend eine schwarze Wolke, darunter kämpft sich ein weinrotes Boot mit drei Ruderern durch dunkle Wellen, weiter unten ragen zwei halb organische Formen ins Bild. Die leuchtenden Farben der Figuren, insbesondere in Gelb, Rot und Blau, werden durch das schmutzige, vermischte Weiß der Hügel und Landschaftsformationen an ihrer ungetrübten Entfaltung gehindert.Die Interpretationsversuche dieser Bilderfindung als apokalyptische Vision wurden bereits in Verbin­dung mit Improvisation 21 a erwähnt. Angelica Zander Rudenstine referiert dazu: »Auch Ringbom stellt die Arbeit in den Zusammenhang mit Kandinskys Vorstellung der Apokalypse, derzufolge diese eine neue spirituelle Ära ankündige. Obwohl er auf die Darstellung im Gemälde nicht weiter ein­geht, sieht er den beherrschenden Hügel mit den Zwiebeltürmen – wie er auch in dem Umschlagbild Über das Geistige in der Kunst vorkommt – als einen direkten Reflex jener Passage des Buches, wo von einer ›großen Stadt‹ die Rede ist, ›fest nach allen architektonisch mathematischen Regeln gebaut, wel­che plötzlich von einer unermeßbaren Kraft geschüttelt wird‹; die Türme zittern und stürzen zusam­men, die Sonne verdunkelt sich, und man bemüht sich vergeblich um die Macht, die Dunkelheit zu bekämpfen […] Dieses zentrale Bild des Zusammenbruchs oder der Zerstörung einer Stadt ist, so argumentiert Ringbom, eine Metapher für die zerschlagene materialistische Welt unmittelbar vor der spirituellen Erneuerung.« Kandinskys spätere Aussagen zu dem Bild Kleine Freuden gehen jedoch in eine ganz andere Richtung, ironisieren den Ernst und lassen sich von den Ausstrahlungen der ver­schiedenen Teile leiten, die, offenbar formal wie gedanklich vom Einzelgegenstand gelöst, mit leichter Hand über das Bild verstreut werden.

1911hinterglasbild, 30,6 x 40,3 cm

rahmen von Kandinsky bemalt

gms 120

37 mit sonne

Wassily Kandinsky

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Im Hinterglasbild Heiliger Georg I begegnet uns eine frühe, noch sehr am Prototyp der religiösen Volkskunst orientierte Darstellung des christlichen Ritters, der in stärker abstrahierenden Darstellun­gen Kandinskys – in Hinterglas, Aquarell, Öl und Holzschnitt – zum Herold der Bewegung des ›Blauen Reiter‹ wird. In das bunt leuchtende Quadrat des kleinen Hinterglasbildes sind die beiden Diagonalen von Reiter und Lanze bildfüllend eingespannt. Der Heilige in grün­goldener Rüstung, vornüber­geneigt auf scheuendem Pferd, stößt seine mächtige Waffe unter sich in den gewundenen Leib des Drachens. Sein Pferd von tiefleuchtendem Königsblau, mit dem Gold des Ritters gefleckt, senkt tief den Kopf; hinter ihm werden ein dunkelroter Himmel und ein runder Baum sichtbar, der als ein Attri­but des Reitermotivs bereits in früheren Bildern Kandinskys vorkommt. Das Drama der Bewegung auf engstem Raum und das heftige Zurückstoßen deuten Kampf, aber auch Sieg an.Kandinsky steigert hier, besonders durch die märchenhafte Farbwahl für Glas und Rahmen, den Anti­naturalismus der populären bayerischen Hinterglasmalerei. Deren »Primitivität«, die direkte, schlichte Art der Darstellung und die Inbrunst der Empfindung hatten nicht nur der Arbeit Kandinskys wich­tige Impulse gegeben. Bereits im ersten Murnauer Jahr hatten er und Münter die bayerische Volks­kunst entdeckt. Kandinsky, Franz Marc und Gabriele Münter maßen diesen volkstümlichen Bildern eine beinahe magische Kraft zu und nahmen unter die Illustrationen des Almanachs später ein Dut­zend bayerischer Hinterglasbilder auf. Im Reiterheiligen und Drachentöter St. Georg, der gerade in Bayern besondere Verehrung genoss und in einer Vielzahl von Darstellungen verbreitet war, hatte Kandinsky offenkundig für das in seinem Werk so zentrale Motiv des Reiters eine zusätzliche sym­bolische Dimension gefunden. Zu der persönlichen Metapher, die seit den Bilderfindungen seines Frühwerks die Suche nach einer Erneuerung der Kunst und den Aufbruch des Geistigen bedeutete, treten nun noch die religiösen Konnotationen des reinen und heiligen Sieges über das Böse. Die zahl­reichen Werke zum hl. Georg aus dem Jahr 1911 (vgl. Tafeln 22, 36) belegen, wie intensiv sich Kandinsky mit diesem Thema auseinandersetzte.

1911hinterglas, 19 x 19,5 cm rahmen von Kandinsky

bemaltgms 105

38 heiliger georg i

Wassily Kandinsky

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Dieses Hinterglasbild, auf dem die Gemälde Allerheiligen I und Allerheiligen II (Tafel 20) beruhen, zeigt in exemplarischer Weise die Heiligengestalten und religiösen Motive, die ein fester Bestandteil von Kandinskys figürlichem und symbolischem Repertoire in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurden. Dabei waren es nicht nur die Einflüsse der bayerischen populären Hinterglas­ und Votiv­malerei, sondern auch Erinnerungen an die russische Volkskunst und Vorbilder altdeutscher Buch­illustrationen – etwa das Motiv des riesigen posaunenden Engels –, die mit ihrer naiven Ausdrucks­kraft und zwingenden Wahrhaftigkeit Kandinsky inspirierten. In einfachen Umrissen und bunten Farben, ohne Rücksicht auf Größenverhältnisse und räumliche Logik, stellt der Künstler die Figuren der Heiligen unter der gelben Posaune eines monumentalen Engels zusammen. Unter ihnen befinden sich St. Georg mit Schild und Lanze auf dem Schimmel, der hl. Wladimir, eine weibliche Heilige mit brennender Kerze und das große, einander umschlungen haltende Paar, vielleicht die beiden fürst­lichen Märtyrer der russischen Kirche, Boris und Gleb, möglicherweise die auch in Bayern verehrten Cosmas und Damian. Rechts neben ihnen stehen drei Trauernde; unter ihnen liegt die gebogene Gestalt eines toten Mönchs, die zusammen mit einer weiteren kauernden Figur die Versammlung wie in einem Nachen zusammenfasst.Die heilige Gesellschaft steht unter dem deutlichen Antagonismus von Helligkeit und Finsternis, Heil und Verderben, der im Kontrast der beiden Bildhälften zum Ausdruck kommt. Während links über der Posaune des Engels die Kremlstadt auf dem Hügel wie eine Engelsburg unter rot glühender Sonne erstrahlt, herrschen rechts ein dunkler Mond und Nacht, in die das Bild des Gekreuzigten emporragt. In diese Dualität von Licht und Finsternis, die auch in scheinbar ganz anders intendierten Bildern wie Improvisation 21 a, Mit Sonne oder Improvisation Sintflut von 1913 (Tafeln 26, 37, 29) auftritt, sind zugleich Motive der Erlösung einbezogen. Hier verweisen die Symbole der Taube über der Arche Noah, der Schmetterling und der Phönix darauf, dass sich mit dem Drama des Zeitenendes die Hoffnung auf Erlösung und Erneuerung verknüpft.

1911hinterglas,

34,5 x 40,5 cm rahmen von

Kandinsky bemaltgms 107

39 allerheiligen i

Wassily Kandinsky

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Franz Marc, geboren am 8. Februar 1880 als Sohn des Malers Wilhelm Marc, war der einzige Münch­ner aus dem Kreis des ›Blauen Reiter‹. Von 1900 bis 1902 studierte er an der Kunstakademie in Mün­chen, anschließend arbeitete er jahrelang zurückgezogen im bayerischen Voralpenland, meist auf der Staffelalm bei Kochel. Schon früh konzentrierte er sich auf sein bevorzugtes Sujet, die Tier­darstellung. Zwei Reisen nach Paris 1903 und 1907 brachten ihn mit den neuen Tendenzen der fran­zösischen Kunst in Berührung. Im Sommer 1908 hielt er sich mit seiner Gefährtin Maria Franck in Lenggries auf, wo er das Motiv der Pferdegruppe auf der Weide für seine Malerei entwickelte. Ab 1909 malte er häufig in Sindelsdorf, einem kleinen Ort zwischen Murnau und Kochel im bayerischen Alpenvorland, im Sommer 1910 gab Marc sein Atelier in München ganz auf und siedelte mit Maria Franck vollständig nach Sindelsdorf über. Die Begegnungen mit August Macke Anfang 1910, der ihm die Bedeutung der reinen Farbe vermittelte, und besonders mit Wassily Kandinsky zu Beginn des Jahres 1911 verhalfen ihm zur Ausbildung seines persönlichen Stils. Marc wurde zum engsten künst­lerischen Weggefährten von Kandinsky, zum Mitherausgeber des Almanachs und zum Gründungs­mitglied des ›Blauen Reiter‹. Auch an der 2. Ausstellung des ›Blauen Reiter‹ 1912, Schwarz­Weiss, war Marc mit der Auswahl der Künstler und eigenen Werken maßgeblich beteiligt. Ebenso beriet er zusammen mit August Macke den Galeristen Herwarth Walden bei der Auswahl und Hängung von dessen internationalem ›Ersten Deutschen Herbstsalon‹ 1913 in Berlin.In seinem expressionistischen Hauptwerk widmete sich Marc beinahe ausschließlich dem Tierbild, das er zu großer symbolischer Ausstrahlung steigerte. Der animalischen Kreatur maß er eine reine, unberührte Qualität zu, die seiner Suche nach Innerlichkeit und geistiger Läuterung in der Kunst entsprach. In der kurzen Spanne von 1911 bis 1914 schuf Marc ein bedeutendes Werk, formal berei­chert durch die Begegnung mit Robert Delaunay, den er 1912 zusammen mit Macke in Paris besuchte und dessen orphischer, farbiger Kubismus ihn ebenso anregte wie die rhythmischen Zersplitterungen der italienischen Futuristen. 1914 entstanden auch einige abstrakte Kompositionen, die ihren Ursprung in der organischen Welt jedoch nicht verleugnen. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 wurde Marc an die französische Front eingezogen, hier entstanden im folgenden Früh­jahr die 36 Zeichnungen seines Skizzenbuchs aus dem Felde. Marc fiel am 4. März 1916 auf einem Erkundungsritt bei Verdun.

Franz marc

1880 münchen

1916 bei Verdun

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158 Franz marc

Das Jahr 1910 markiert eine entscheidende Wende im Œuvre Franz Marcs. Tierdarstellungen, vor allem von Pferden, rücken zunehmend in den Mittelpunkt seines Schaffens. Seit seiner Studienzeit an der Münchner Akademie, 1900 bis 1903, hatte sich Marc jahrelang um eine eigene Ausdrucksform bemüht und war dabei immer wieder an die Grenzen einer dem Naturalismus verhafteten Malerei gestoßen. Auf einer Reise nach Paris im Jahr 1903 beeindruckte ihn das Werk van Goghs so stark, dass er nicht mehr an die Akademie zurückkehren wollte; seitdem arbeitete er autodidaktisch, meist in der freien Natur. Besonders Pferdestudien in der Landschaft dienten Marc dabei als Medium, in ihrer Bildgestalt zum Kern der Erscheinungen vorzudringen – ein hoher theoretischer Anspruch, den er selbst in diesen Jahren des Suchens als nicht eingelöst empfand.Das Motiv der weidenden Pferde in einer Landschaft wirkte in diesem künstlerischen Prozess gleich­sam wie ein Katalysator, um zu seinem eigentlichen Anliegen vorzudringen. Über drei Jahre rang Franz Marc um dieses Motiv in einer Serie größerer Bilder, an deren Ende die berühmten Wei­denden Pferde IV (Die roten Pferde, Busch­Reisinger Museum, Cambridge, Mass.) von 1911 stehen. Den Anfang bildete das Große Pferdebild Lenggries I (Verbleib unbekannt) von 1908, in dem er die Pferdekörper in naturalistischer Manier, doch auffallend gedrängt und ausschnitthaft, fast lebensgroß auf die Leinwand setzte. Auch in den beiden folgenden Jahren, nun in Sindelsdorf, beschäftigte er sich weiter mit dieser Komposition und ließ sich sogar auf der Pferdeweide einen Verschlag bauen, um seine überlebensgroßen Leinwände darin unterzubringen; teilweise zerstörte der Künstler diese Ver­suche jedoch wieder oder zerschnitt sie in einzelne Teile. Auch die Weidenden Pferde I verraten mit ihrer noch naturalistischen Auffassung der Tierkörper das intensive Naturstudium. Doch zugleich las­sen sie Marcs Bemühen um eine rhythmische Anordnung und kompositionelle Einheit erkennen, die besonders mit dem rückwärtig in die Landschaft gewandten Pferd auch eine neue Einbindung in die Umgebung bekommt. Über seine nächsten Pferdebilder gelangte Marc schließlich durch die Anglei­chung eines organischen Rhythmus von Tier und Landschaftsformationen, ebenso wie durch Verein­fachung der Formen und eine völlig neue, naturferne Farbigkeit, zu seinen bekannten Meisterwerken, wie den oben erwähnten Roten Pferden oder dem Blauen Pferd I von 1911 (vgl. Tafel 43).Gleichzeitig schied die Darstellung des Menschen als Teil einer metaphysisch gedeuteten Natur seit 1910 zunehmend aus Marcs Bildern aus. Allein das Tier in seiner Unschuld und Reinheit schien ihm würdig, das geistige Prinzip hinter dem Materiellen der Erscheinungen zu repräsentieren – ein An ­liegen, das Marc auf seine spezifische Weise neben Kandinsky zu einem Hauptvertreter des ›Blauen Reiter‹ machte.

40 WeiDenDe PFerDe i 1910Öl auf leinwand,

64 x 94 cmg 12 576

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Kurz nach der ersten Begegnung Franz Marcs mit August Macke sahen beide Künstler in der Galerie Thannhauser eine Ausstellung von Henri Matisse, die besonders Macke Anlass zu intensiven Studien bot. Aber auch Marcs Akt mit Katze weist eine neue, freie Handhabung der Farbe auf, die ohne den Fauvismus, das heißt den ›wilden‹ Farbeinsatz von Matisse, nicht zu denken ist. Der groß ins Bild­quadrat gesetzte, vornübergebeugt hockende und lebhaft modellierte Frauenakt mit feuerrotem Haar ist von kräftigen zinnoberroten, gelben und grünen Konturen gerahmt. Grüne Reflexe spielen über das Gesicht der Frau, die sich zu einem kleinen gelben Kätzchen herunterbeugt. Die diagonalen bun­ten Streifen des Teppichs beziehen die Figur in das farbige Muster ihrer Umgebung ein. Nur die pointierte, harmonische Umrisszeichnung des Körpers erinnert noch an die traditionelleren Anklänge vorangegangener Studien von Franz Marc, in dessen Skizzenbüchern sich bis 1910 /11 zahlreiche weibliche Aktstudien finden. Viele davon schuf er in Sindelsdorf von seiner Freundin und späteren Frau Maria Franck.

1910Öl auf leinwand,

88 x 82 cmg 12 762

41 aKt mit Katze

Franz marc

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Rehe im Schnee ist eines der ersten Werke, in denen sich Franz Marc vom Naturalismus seiner bishe­rigen Tierdarstellungen löst und eine entscheidende Abwendung von der realistischen Schilderung der Natur vollzieht. Während etwa die Rehe in der Dämmerung von 1909 (Städtische Galerie im Len­bachhaus) mit spätimpressionistischen Mitteln in ihrer individuellen Erscheinung charakterisiert wur­den, sind jetzt die hellbraunen, anmutigen Arabesken zweier Rehe in die entrückte Welt einer Schnee­landschaft eingeschlossen. Das zarte Spiel ihrer Körperlinien – des geneigten Rückens links und des empor­ und zurückgewandten Halses rechts – findet sein Echo in den kurvigen, tiefblauen und grünen Verschattungen der Schneepyramide hinter ihnen. Das Phänomen der reinen, quasi­abstrakten Farbe, welche die Erscheinung der Gegenstände transformiert, schildert Franz Marc in einem Brief an August Macke vom Februar 1911 anhand eines ähnlichen Versuchs, der Darstellung seines Hundes Russi: »Mit jedem Mal, mit dem die Farbe reiner wurde, verschwanden die farbigen Ränder am Hund immer mehr, bis endlich ein reines Farbverhältnis zwischen dem Gelb, dem kalten Weiß des Schnees und dem Blau darin hergestellt war […]«Die durchdachte Verschränkung der formalen Beziehungen, die schwingenden Rhythmen von Tier und Landschaft in einer geschlossenen Dreieckskomposition schaffen hier erstmals eine eigene, über das Zufällige hinausgehende Ordnung und beschwören zugleich die Vision eines Einklangs zwischen der Schöpfung und ihren Kreaturen. In der Komposition der Rehe im Schnee sucht Marc den Aus­druck und nicht das Abbild. In diesem Sinne schreibt er ebenfalls noch im Februar 1911 an seine Gefährtin Maria: »Bin sehr fleißig und ringe auch nach Form und Ausdruck. Es gibt keine ›Gegen­stände‹ und keine ›Farben‹ in der Kunst, sondern nur ›Ausdruck‹ … Dass es im letzten Grunde auf den ›Ausdruck‹ ankommt, habe ich auch schon früher gewusst. Aber beim Arbeiten fand ich ›Neben­gründe‹, z. B. ›die Wahrscheinlichkeiten‹, den schönen Klang der Farbe, die so genannte Harmonie etc. … Aber wir sollten nichts suchen als den Ausdruck im Bilde. Das Bild ist ein Kosmos, der ganz anderen Gesetzen unterliegt als die Natur.« Das entscheidende Stichwort von den eigenen Bild­gesetzen bleibt damit in unbewusstem Widerspruch zu Marcs Überzeugung, mit den »animalisierten« Formen seiner Kunst »die Symbolik, das Pathos und das Geheimnisvolle in der Natur« erfassen zu können.

1911Öl auf leinwand,

84,7 x 84,5 cmVon Frau elly Koehler

als Dank an hans Konrad roethel für seine

Verdienste um die Kunst des ›Blauen reiter‹ 1971

gestiftetg 14 641

42 rehe im schnee ii

Franz marc

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Das Blaue Pferd I ist mit seiner eindringlichen, vom Reiz des Neuanfangs verklärten Symbolkraft zu einem der bekanntesten Bilder Franz Marcs und des ›Blauen Reiter‹ geworden. Aufgerichtet und kantig­ungelenk steht ein Pferd von leuchtend blauer, transparenter Farbigkeit voll jugendlicher Kraft vor uns, den Kopf wie sinnend zur Seite geneigt. Während in den leicht gebrochenen Formen seines Leibes Weiß aufscheint, vertieft sich in Hufen und Mähne dunkelstes Marineblau. Das Bildganze wird beherrscht von einem Spannungsfeld komplementärer Kontraste, von Zinnoberrot und Grün unten über Karminrot und Gelb zu Violett, Blau und Orange in der oberen Zone. In selten reiner Weise wird hier die Farbtheorie Marcs anschaulich, die für viele seiner reifen Werke maßgeblich ist und die er im Dezember 191o August Macke ausführlich in einem Brief erläutert: »Blau ist das männliche Prinzip, herb und geistig. Gelb das weibliche Prinzip, sanft, heiter und sinnlich. Rot die Materie, brutal und schwer und stets die Farbe, die von den anderen beiden bekämpft und überwunden werden muss! Mischst Du zum Beispiel das ernste, geistige Blau mit Rot, dann steigerst Du das Blau bis zur uner­träglichen Trauer, und das versöhnende Gelb, die Komplementärfarbe zu Violett, wird unerlässlich. (Das Weib als Trösterin, nicht als Liebende!). Mischst Du Rot und Gelb zu Orange, so gibst Du dem passiven und weiblichen Gelb eine ›megärenhafte‹ sinnliche Gewalt, dass das kühle, geistige Blau wiederum unerlässlich wird, der Mann, und zwar stellt sich das Blau sofort und automatisch neben Orange, die Farben lieben sich. Blau und Orange, ein durchaus festlicher Klang. Mischst Du aber Blau und Gelb zu Grün, so weckst Du Rot, die Materie, die ›Erde‹, zum Leben, aber hier fühle ich als Maler immer einen Unterschied: Mit Grün bringst Du das ewig materielle, brutale Rot nie ganz zur Ruhe … Dem Grün müssen stets noch einmal Blau (der Himmel) und Gelb (die Sonne) zu Hilfe kom­men, um die Materie zum Schweigen zu bringen […]«Die Rolle der blauen Farbe als Symbol des Geistigen, des Sieges über das Materielle, ist hier klar ausgesprochen. Im Blauen Pferd I dringt Marc endgültig von der natürlichen »Erscheinungsfarbe« zur »Wesensfarbe« (Klaus Lankheit) vor. In seiner Gestalt verbinden sich der Adel des seit jeher vom Menschen hoch geschätzten Pferdes mit dem Streben nach Geistigem  – entsprechend dem Pro­gramm, dem sich auch Kandinsky mit seiner Symbolgestalt des ›Blauen Reiter‹ für das Titelblatt des berühmten Almanach verschrieben hat. Doch nicht nur durch seine ›geistige‹ Farbe, auch formal ist das Blaue Pferd ins Pathetische und Ausdruckshafte überhöht. Mit gesenktem Kopf verharrend, macht das Tier den Eindruck eines empfindenden Wesens. Johannes Langner konnte überzeugend nach­weisen, dass Marc vielen seiner Tierdarstellungen Haltungen und Kompositionsweisen des traditio­nellen Figurenbildes unterlegt – etwa die der sinnenden, in den Anblick der Natur versenkten Rücken­figur in Gemälden Caspar David Friedrichs – und dadurch das Tier mit menschlichen Zügen ausstattet. Diese spirituelle Präsenz fand in Marcs berühmtem Bild, dem seit dem Zweiten Weltkrieg verschol­lenen Turm der Blauen Pferde, ihre komplexeste und formal überzeugendste Gestalt.

1911Öl auf leinwand,

112 x 84,5 cmBernhard und elly

Koehler stiftung 1965g 13 324

43 Blaues PFerD i

Franz marc

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Bereits im Frühjahr 1910 war Franz Marc endgültig nach Sindelsdorf in Oberbayern übergesiedelt und widmete sich in der Folgezeit beinahe ausschließlich der Tierdarstellung. Im Sommer 1911, nach der Rückkehr von einer Reise aus London, die über eine Zwischenstation bei August Macke in Bonn geführt hatte, malte Marc eine erste Fassung von Reh im Wald. Dieses Bild wurde im Dezember 1911 auf der ersten Ausstellung des ›Blauen Reiter‹ in der Galerie Thannhauser gezeigt. Im folgenden Jahr schuf Marc die vorliegende zweite Version, in der die einzelnen Formen stärker herausgearbeitet sind und die expressive Diagonale eines schwarzen Baumstamms sich quer vor die geheimnisvolle Tiefe des nächtlichen, farbenglühenden Märchenwaldes schiebt. In einer Mulde zwischen den farbigen Facetten des Waldbodens liegt zusammengekauert ein schlafendes Reh, den zurückgebogenen Kopf an den Leib geschmiegt. Eingeschlossen in die ineinandergreifenden rötlichen Segmente der nach hinten ansteigenden Senke, durch Grün im Komplementärkontrast stabilisiert, scheint die sensible Gestalt des Rehs zugleich beschützt und ausgeliefert. Nachtblau dringt der Himmel oben ins Bild, weiße Zweige wehen herab, die schwarzen Schrägen der Fichten neigen sich gegen das Tier. Beson­ders dieses letztere Element hat Frederick S. Levine, der die Bilder Marcs auf eine verschlüsselte apokalyptische Symbolik untersuchte, als Zeichen der Bedrohung und Gefährdung gedeutet.Formal hat Marc besonders in dieser zweiten Fassung Anregungen des Kubismus verarbeitet, die es ihm erlaubten, die dargestellte Kreatur stärker in ihre Umgebung zu integrieren: Die Natur wird gleichsam von ihrem eigenen Mittelpunkt – mit den Augen des Tieres selbst – gesehen. Diesen Per­spektivenwechsel in der Sicht der Dinge mit dem Ziel, durch das nachempfundene Sein des Tieres die Erfahrung einer unbekannten – dem menschlichen Auge verschlossenen – seelischen Dimension aufzuschließen, hat Marc in ebenso eindringliche wie frappierende Worte gefasst: »Gibt es für einen Künstler eine geheimnisvollere Idee als die, wie sich wohl die Natur in dem Auge eines Tiers spiegelt? Wie sieht ein Pferd die Welt oder ein Adler, ein Reh oder ein Hund? Wie armselig, seelenlos ist unsere Konvention, Tiere in eine Landschaft zu setzen, die unsern Augen zugehört, statt uns in die Seele des Tieres zu versetzen, um dessen Bilderkreis zu erraten.« Die sanfte, versunkene Erscheinung des gel­ben Rehs im schwingenden Gewebe des nächtlichen Waldes vermittelt etwas von der Ahnung dieser Welt, die durch den Blick des Tieres und den Filter seiner Seele gesehen wird.

1912Öl auf leinwand,

110 x 81 cmBez. r. u.: marc

Bernhard und elly Koehler stiftung 1965

g 13 321

44 reh im WalDe ii

Franz marc

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Im Laufe des Jahres 1912 arbeitete Marc in seinen Tierbildern zunehmend mit kantig aufgesplitter­ten, kristallinen Formen, die die Kreaturen ihrer natürlichen Umgebung entrücken und in eine höhere Daseinsebene einordnen. Ein rotes und ein blaues Pferd scheinen sich in einer kristallinen Welten­landschaft zu befinden, in der sich vorn und in den Zwischenräumen klaffende Lücken wie Abgründe ins Unendliche auftun. Die gesenkten Köpfe der Pferde und die Konfrontation zwischen ihrem ›mate­riellen‹ Rot und ›geistigen‹ Blau (vgl. den Kommentar zu Tafel 43) vermitteln den Eindruck von Erge­bung und Konflikt, aber auch Kontemplation und Entrückung. Klaus Lankheit wies mehrfach darauf hin, dass die zum Typus geronnenen Tierdarstellungen Marcs keine Stilisierung bedeuten, sondern den Versuch, das Wesen der Gattung, hier des Pferdes, zu erfassen und die objektiven Gesetzmäßig­keiten der organischen Form herauszuarbeiten. Die moderne Form ergibt sich dabei aus dem An ­liegen Marcs, die Kunst zu ›animalisieren‹.Bereits in seiner ersten Veröffentlichung, in einem Beitrag für das von Reinhold Piper herausgege­bene Buch Das Tier in der Kunst von 1910, hatte Marc die weitgespannten Ziele seiner Tierdarstellun­gen erklärt: »Meine Ziele liegen nicht in der Linie besonderer Tiermalerei. Ich suche einen guten, reinen und lichten Stil, in dem wenigstens ein Teil dessen, was wir modernen Maler zu sagen haben werden, restlos aufgehen kann. Ich suche mein Empfinden für den organischen Rhythmus aller Dinge zu steigern, suche mich pantheistisch einzufühlen in das Zittern und Rinnen des Blutes in der Natur, in den Bäumen, in den Tieren, in der Luft – suche das zum Bilde zu machen, mit neuen Bewegungen und mit Farben, die unseres alten Staffeleibildes spotten […] Ich sehe kein glücklicheres Mittel zur Animalisierung der Kunst, wie ich es nennen möchte, als das Tierbild. Darum greife ich danach. Bei einem van Gogh oder einem Signac ist alles animalisch geworden, die Luft, selbst der Kahn, der auf dem Wasser ruht, und vor allem die Malerei selbst. Diese Bilder haben gar keine Ähnlichkeit mehr mit dem, was man früher ›Bilder‹ nannte.«

1912tempera, 26,3 x 34,3 cm

Bez. l. u.: Fz. marc gms 706

45 rotes unD Blaues PFerD

Franz marc

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Der Tiger ist eines der großartigsten Werke Franz Marcs aus der Periode bis Ende des Jahres 1912, bevor der Künstler unter dem Eindruck der simultanen, aktiv bewegten Farbe des Franzosen Robert Delaunay eine noch weiter gehende Formverschränkung abstrakter rhythmischer Bahnen und Farb­blöcke in seinem ›Spätwerk‹ von 1913 und 1914 entwickelte. Das annähernd quadratische Bildformat ist beherrscht von der mächtigen, kauernden Gestalt eines Tigers, der, in kantigen Umrissen wie aus Gestein gehauen, seinen schön geformten Kopf in kühnem Schwung zurückwendet. Die Facetten seines gelb aufleuchtenden Körpers fügen sich mit den transparenten, kubischen Formationen seiner Umgebung zu einer unauflöslichen Einheit, in der zwischen organischer und anorganischer Substanz nicht mehr unterschieden wird. Trotz der abstrahierenden Tendenzen ist hier das Wesen des Raub­tiers mit äußerster Präzision erfasst und zur essenziellen Form verdichtet: Gerade im straffen Gerüst der Formbezüge vermittelt sich das königliche Sein des Tiers, seine gebändigte, doch jederzeit ex ­plosive Energie, seine sprungbereite Kraft und Geschmeidigkeit. Das Bild Der Tiger ist die Frucht der jahrelangen Bemühungen Marcs, das Tier in seinen typischen Stellungen analytisch zu erfassen und damit zum Kern seines Wesens vorzudringen. Alle Einzelheiten dieses reifen Werks sind bereits in der kleinen Bronze eines Panthers von 1908 vorgebildet, die der bildhauerisch un erfahrene Marc damals mit erstaunlicher Sicherheit modellierte. Im Gemälde ist das Formengut des Kubismus, dem Marc bereits in Werken von Pablo Picasso und Georges Braque auf der zweiten Ausstellung der ›Neuen Künstlervereinigung München‹ begegnet war und den er auf der großen ›Sonderbund‹­Ausstellung in Köln 1912 erneut studieren konnte, demnach nur als zusätzliches Ausdrucksmittel für eine bereits konzipierte Urgestalt eingesetzt, seine Rezeption des Kubismus ist eine expressive Umgestaltung von dessen Techniken. Bezeichnenderweise leitet Marc seine berühmtesten Sätze zum Abschluss seines Aufsatzes »Die Wilden Deutschlands« im Almanach Der Blaue Reiter 1912 mit dem Hinweis ein, dass die Frage nach der fortschrittlichen formalen Entwicklung in der Malerei – vom Impressionismus bis zu den jüngsten Strömungen des Kubismus – gegenüber den höheren, auf geistige Werte gerichteten Zielen der ›neuen Kunst‹ zweitrangig sei: »Die schönsten prismatischen Farben und der berühmte Kubismus sind als Ziel diesen ›Wilden‹ bedeutungslos geworden. Ihr Denken hat ein anderes Ziel: Durch ihre Arbeit ihrer Zeit Symbole zu schaffen, die auf die Altäre der kommenden geistigen Reli­gion gehören und hinter denen der technische Erzeuger verschwindet.«

1912Öl auf leinwand,

111,5 x 101,5 cmBez. auf der rückseite:

Fz. marc / 12 Bernhard und elly

Koehler stiftung 1965g 13 320

46 Der tiger

Franz marc

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Kühe, gelb­rot­grün gehen zwei verwandte Versionen voraus, darunter das seinerzeit berühmt­berüch­tigte Gemälde Gelbe Kuh (Solomon R. Guggenheim Museum, New York), das Marc auf der ersten Ausstellung des ›Blauen Reiter‹ im Dezember 1911 ausgestellt hatte. Selbst unter den ehemaligen Kollegen der ›Neuen Künstlervereinigung München‹ rief es Unverständnis und Empörung hervor. So bezeichnete etwa Alexander Kanoldt das Bild als eine »ganz miserable Arbeit«. Tatsächlich hat die Darstellung einer springenden gelben Kuh wie kein anderes Werk von Franz Marc Kopfschütteln und Missbilligung unter den Zeitgenossen hervorgerufen, wie Klaus Lankheit belegen konnte. Es gab jedoch auch Zeugnisse expressionistischer Begeisterung, etwa die des Dichters Theodor Däubler, der in seinem Hymnus auf die Kuh sang: »Sie trägt einen Tropfen Sonne in der Seele.« Walter Mehring schrieb von dem »brüllenden Kuh­Gelb«. Es ließe sich kaum ein besserer Kommentar zu diesem Bild finden als Kandinskys Anmerkungen über das Wesen der Farbe Gelb in seinem Traktat Über das Geistige in der Kunst, der zur Zeit der 1. Ausstellung des ›Blauen Reiter‹ erschien: Gelb, Orange und Rot flößen »Ideen der Freude« ein, Gelb ist »die typisch irdische Farbe«, tönt grell wie eine »hoch­klingende Trompete«, wirkt »exzentrisch« und suggeriert »das Springen über die Grenze, das Zer­streuen der Kraft in die Umgebung«. Däubler deutet in dichterischer Umschreibung auch die Folgen dieser Farbwahl für die anderen Elemente des Bildes an: »Die gelbe Kuh sieht die Welt blau.«Auch für das hier zu sehende, später entstandene Bild Kühe, gelb­rot­grün scheint die Farbsymbolik eine konstituierende Rolle zu spielen. In dieser Version sind hinter die gelbe Kuh ein rotes Kalb und ein grüner Stier gestellt, der Landschaftsraum ist durch nachtschwarzes Dunkel ersetzt, vorn ziehen sich unbestimmte Bodenwellen von Orange, Blau – »ein durchaus festlicher Klang« (Marc) – und Kar­minrot entlang. Wie in vielen mehrfigurigen Tierbildern Marcs ist der Rhythmus der typisierten Tier­körper für die formale Struktur der Komposition entscheidend. In dem bereits zitierten Brief vom 22. Februar 1911 (vgl. Kommentar zu Tafel 42) schließt Franz Marc seine Ausführungen über den »Ausdruck« eines Bildes mit den Worten: »Die Natur ist gesetzlos, weil unendlich, ein unendliches Nebeneinander und Nacheinander. Unser Geist schafft sich selber enge, straffe Gesetze, die ihm die Wiedergabe der unendlichen Natur möglich machen.« Mit dem irrationalen Bildmotiv einer springen­den gelben Kuh hat Marc dabei einmal mehr alle Grenzen des traditionellen Genres der Tiermalerei auf provozierend eigenschöpferische Weise gesprengt.

1911Öl auf leinwand,

62 x 87,5 cmBez. r. u.: marc;

auf dem Keilrahmen: sindelsdorf marc

geschenk von gabriele münter 1961

g 13 140

47 KÜhe, rot, grÜn, gelB

Franz marc

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Das Bild des Äffchens zeigt erneut die eindringlichen Veränderungen, die Marcs Malerei vom ver­haltenen Naturalismus seiner 1910 in Lenggries entstandenen Pferde­ und Rehstudien bis zu dem experimentellen Stil eines tropischen Zauberwaldes mit dem kleinen, exotischen Geschöpf von 1912 mit bemerkenswerter Geschwindigkeit durchlaufen hat. Auch bei späteren Bildern arbeitete Marc noch fast ausnahmslos vor der Natur, er stellte sich »vor ›mein‹ Motiv«, wie er an August Macke schrieb, doch schuf er dabei vieles ganz aus der Kraft der Imagination. Das graue Äffchen kauert mit zurück­gewandtem Kopf und lang gebogenem Schwanz auf einem schrägen Ast im Zentrum des Bildes. Hin­ter seiner zierlichen Gestalt schimmern die farbenglühenden, gezackten Gewächse des Dschungels, schwül und funkelnd, wie die Teile eines rasch veränderbaren Kaleidoskops. Auch hier bilden das Tier und seine Lebenswelt eine Einheit, doch anders etwa als im mächtigen, ein Jahr später entstandenen Mandrill (Pinakothek der Moderne, München) und noch ganz in der Art des Affenfrieses von 1911 (Hamburger Kunsthalle) ist das Tier deutlich hervorgehoben, dazu ist sein weich gerundetes Köpf­chen und sein Ausdruck scheuer Wachsamkeit mit beinahe menschlichen Zügen versehen. Die aus dem dunklen Grün leuchtenden Blüten sind Reminiszenzen an das Werk Paul Gauguins, die auch in anderen Werken Marcs auftauchen – etwa in dem mit Macke hergestellten Paradiesfresko aus dem Jahre 1912 (Westfälisches Landesmuseum, Münster)  – und hier wie kostbare, fremdartige Manie­rismen wirken.Adolf Behne, einer der wenigen Kritiker, die 1913 anlässlich von Marcs Einzelausstellung in der Ber­liner Galerie ›Der Sturm‹ uneingeschränkt für ihn Partei ergriffen, schrieb über dessen Tierbilder: »Und doch hängen Marcs Bilder in ihren Wurzeln auf das tiefste und innigste mit der Natur zusam­men, ja ich muss gestehen, dass ich kaum einen zweiten Maler heute zu nennen wüßte, der so er ­greifend uns die Natur im Innersten und Tiefsten fühlen macht. Im Innersten und Tiefsten – das ist es! Die äußerliche Sichtbarkeit, die äußerliche Form, die äußerliche Richtigkeit der Natur – sie ist ihm nichts! Aber alles ist ihm das tiefe Ahnen, das innerste Leben, das Herzblut, der Pulsschlag der Natur! Hier schafft Franz Marc Wunder an Innigkeit der Empfindung und an Größe der Gestaltung!« Den­noch dürfen Äußerungen wie diese, die Marcs eigener Diktion sehr nahe kommen, nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in seinen Bildern im Gegenteil der Mensch ist, der das Tier zu sich erhöht, es mit anthropomorphen Zügen und ›Innerlichkeit‹ der Empfindung ausstattet, die letztlich einem tiefen Harmoniebedürfnis und der Flucht aus dem Materialismus der modernen Welt entspringen.

1912Öl auf leinwand,

70,4 x 100 cmBez. l. u.: marc;

auf der rückseite: marc sindelsdorf

Bernhard und elly Koehler stiftung 1965

g 14 664

48 Das äFFchen

Franz marc

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Reh im Klostergarten, das möglicherweise auf den Eindruck einer abendlichen Wanderung zurück­geht, auf der Franz Marc für einen kurzen Moment ein Reh im Mondlicht zwischen den hohen Gewächsen eines Klostergartens – etwa in Benediktbeuern – gesehen hat, ist ein für das Jahr 1912 stilistisch ungewöhnlich fortgeschrittenes Bild. Mehr noch als durch die kubischen Blöcke des Tigers (Tafel  46) sind hier die Bildelemente in einzelne, gegeneinander verschobene schmale Facetten zerlegt und zu einer neuen Wirklichkeit zusammengefügt. Auf geheimnisvolle Weise tragen die rudi­mentären Naturformen zur Entstehung des übergreifenden Ordnungssystems der Linienbündel bei, Gitterstrukturen, Kreissegmente und Dreiecke, die oft mehreren Gegenständen zugleich angehören. Im Zentrum des Bildes, eingepasst in eine abstrakte Winkelform und doch in seiner körperlichen Integrität nicht angetastet, steht ein Reh, den Kopf erhoben und zurückgewandt gegen die matte Kugel des Mondes, die, von Blau und Orange träge umfangen, das ruhigste Element in der aufgewühl­ten nächtlichen Landschaft darstellt.Zweifellos sind in diesem Gemälde Einflüsse der italienischen Futuristen spürbar, deren Werke Marc erstmals im Katalog der Berliner ›Sturm‹­Ausstellung vom Mai 1912 gesehen hatte. Marc, der anders als Kandinsky parallele Strömungen der jungen Kunst durchaus begrüßte und schätzte, hat hier die Bewegungsmetaphern des Futurismus für seine Zwecke umgewandelt. Doch von mindestens ebenso großer Bedeutung für das spannungsreiche, rhythmische Gefüge seiner reifen Werke von 1913 und 1914 war die Begegnung mit der Kunst Robert Delaunays. Im Oktober 1912 hatte Marc zusammen mit August Macke den französischen Künstler in seinem Pariser Atelier besucht. Ebenso wie Macke war er begeistert von den ›Fensterbildern‹ Delaunays und schrieb darüber an Kandinsky: »Er arbeitet sich zu wirklich konstruktiven Bildern durch, ohne jede Gegenständlichkeit, man könnte sagen: rein klangliche Fugen.« Selbst wenn Reh im Klostergarten nach Klaus Lankheit vor dem Besuch bei Delaunay im Herbst 1912 gemalt wurde, so kannte Marc doch bereits die »aufregenden« berstenden Eiffeltürme des Franzosen aus der 1. Ausstellung des ›Blauen Reiter‹ sowie ein Beispiel aus der Serie La Ville, das im Almanach 1912 zusammen mit einem Aufsatz zur Kunst Delaunays reproduziert worden war. Doch während in Delaunays transparenten Prismen die lichthaltige Farbe selbst, ihre formschaffenden Energien und Kontraste zum Thema der Malerei werden, dienen sie in den Bildern Marcs als Spiegel einer Innenschau der Dinge. »Mit den Augen des Tiers« gesehen ist dabei nur die Umschreibung für einen auf Transzendenz zielenden künstlerischen Standortwechsel. In Reh im Klostergarten kommt das Licht nicht nur von der Scheibe des Mondes, sondern Strahlen unbekannter Herkunft durchkreuzen das Bild. Frederick S. Levine sah darin den Einbruch einer latenten Bedro­hung. Tatsächlich tragen Marcs Werke in den letzten beiden Jahren vor dem Ersten Weltkrieg oft Züge einer tiefen Gefährdung.

1912Öl auf leinwand,

75,7 x 101 cmBez. r. u.: marc;

auf der rückseite: marc sindelsdorf

Bernhard und elly Koehler stiftung 1965

g 13 323

49 reh im Klostergarten

Franz marc

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Das Bild Im Regen stellt in motivischer und formaler Hinsicht eine Ausnahme in Marcs reifem Schaf­fen dar. Durch das schräge Gitter herabpeitschender Regentropfen gewahrt man die zerlegten Gestal­ten von zwei Menschen in zeitgenössischer Kleidung, rechts vor ihnen läuft ein großer weißer Hund. Marc hatte sich seit 1910 mit großer Entschiedenheit von der Darstellung des Menschen abgewandt, weil ihm das Tier in seiner kreatürlichen Unschuld als einzig würdiger Gegenstand einer »gereinigten« Kunst erschien. Hier nun schildert Marc, wie er und seine Frau Maria mit ihrem Hund Russi in einen schweren Regenschauer gerieten. Das Erlebnis der niederprasselnden Tropfen, gegen die sich die Menschen geduckt zu schützen versuchen, während der Hund ihnen beinahe entronnen ist, hat Marc zu einer besonders ausgeprägten Futurismus­Rezeption in diesem Bild geführt. Der vergleichbar ›modernistische‹ Eindruck geht neben der Bewegungsdarstellung nicht zuletzt auf die Kleider und Physiognomien des Paares zurück, die trotz der grafischen Kürzel deutlich erkennbar sind. Nach Marcs erstem Kontakt mit Bildern italienischer Futuristen im Katalog der Galerie ›Der Sturm‹ vom Frühjahr 1912 half er später nach Übernahme der Berliner Ausstellung durch den Kölner Gereons­club August Macke beim Hängen der Bilder; schließlich sah er sie nochmals in der Münchner Galerie Thannhauser im November 1912. Hatte er zunächst nach Kenntnis des Berliner Kataloges an Kan­dinsky geschrieben: »Ich komme in mir über den sonderbaren Zwiespalt nicht weg – dass ich ihre Ideen, zum größten Teil wenigstens, glänzend finde und für fruchtbar halten muss, aber über die voll­kommene Minderwertigkeit ihrer Bilder keinen Zweifel hege«, so erwärmte er sich an den Originalen zunehmend auch für die formalen Qualitäten dieser Werke. Anlässlich der Ausstellung futuristischer Malerei in München schrieb er nun begeistert an Macke: »Wirken großartig, viel, viel schöner als in Köln …«Obwohl Marcs in der Abgeschiedenheit des oberbayerischen Sindelsdorf gemalte Tierbilder oft höchst verschlüsselt, zuweilen versponnen wirken, war ihr Schöpfer doch ein bemerkenswert modern den­kender Maler, wie auch seine Aufsätze im Almanach Der Blaue Reiter mit ihrer Aufgeschlossenheit für andere ›Wilde‹ und Progressive der neuen Malerei verraten. Zudem trat er als praktischer Organisator nicht nur der Ausstellungen des ›Blauen Reiter‹, sondern auch der Kölner ›Sonderbund‹­Ausstellung 1912 und des ›Ersten Deutschen Herbstsalons‹ in Berlin 1913 hervor und war Mitglied des ›Sonder­bundes‹ und der Berliner ›Secession‹. Dies waren fruchtbare Gegensätze seiner künstlerischen Persönlichkeit, die auch in seinem Werk in der Ambivalenz moderner Formen und romantisch­idea­listischem Ideengut nicht zu übersehen sind.

1912Öl auf leinwand,

81 x 105,5 cmBez. r. o.: F. m.

Bernhard und elly Koehler stiftung 1965

g 13 322

50 im regen

Franz marc

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180 Franz marc

Auf Franz Marcs farbiger Skizzenbuchzeichnung Mandrill erscheint die erste Bildidee zu dem be ­rühmten gleichnamigen Gemälde von 1913, das sich ehemals in der Hamburger Kunsthalle befand, 1937 dort durch die nationalsozialistische Regierung beschlagnahmt wurde und heute in der Pina­kothek der Moderne in München hängt. Das relativ großformatige Blatt stammt aus Marcs bekanntem »Skizzenbuch Nummer XXX«, in dem sich viele farbige Entwürfe zu bedeutenden Gemälden seines Spätwerks befunden haben und das schon vor Jahrzehnten vollständig aufgelöst und in Einzelblättern verkauft wurde. Das Aquarell zeigt im Hochformat den titelgebenden exotischen Affen in artifiziell wirkender, blaugrüner Farbgebung. Landschafts­ und Himmelsfragmente sind mit zarten Bleistift­linien in stilisierten, zum Teil geometrisch­abstrakten Formen wie Kreis­ und Dreieckssegmenten angedeutet und in unterschiedlich starken Akzenten mit Wasserfarben aquarelliert. Die farbige Zeich­nung mit ihrer sensiblen Verzahnung aller Bildelemente gehört in die Gruppe der kostbaren späten Skizzenbuchblätter von Franz Marc, in denen er nicht nur erste Vorstudien zu Gemälden formuliert, sondern sie im Format des Skizzenbuchs schon bildhaft durchgestaltet hat. In der Endfassung des großen Gemäldes Mandrill hat Marc den Affen ins Querformat in einen farbig funkelnden Dschungel gesetzt, dessen Elemente in ein Kaleidoskop bunter Rauten und Splitter aufgefächert sind. Das Tier wird in diese Farbstrukturen vollständig einbezogen und bleibt dennoch in den charakteristischen Zügen seines Wesens erkennbar – eine Darstellungsweise, die Marcs reife Tierbilder unverwechsel­bar macht.

51 manDrill 1913aquarell, gouache

und Bleistift22 x 16,7 cm

gabriele münter- und johannes eichner-

stiftung und städtische galerie im lenbachhaus,

münchen aK 77 / g 18302

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Die Vögel gehören zu den bedeutendsten Werken aus der letzten Schaffensperiode von Franz Marc kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. In den bewegten Farbfacetten des Bildes ist im Schwirren und Flattern dreier mit grafischen Kürzeln gezeichneter Vögel zugleich ein magischer Moment von Stillstand und Ruhe zur Darstellung gelangt. Der abstrakte Farbfächer, der sich über das gesamte Bild spannt, greift das Motiv des Flügelschlags noch einmal metaphorisch auf. »Marcs eigenständige Aus­einandersetzung mit dem Futurismus und mit Delaunay verkörpert sich in diesem Werk auf ein­drucksvolle Weise und zeigt sich sowohl an den prismatisch gebrochenen Formen als auch an dem leuchtenden Kolorit. In die miteinander verschränkten Schrägen und spitzwinkligen, aufgesplitterten Dreieckselemente sind die Titel gebenden Lebewesen so integriert, dass sie Dynamik und Verhalten­heit, schwirrenden Flug, wachsames Spähen, aber auch den Übergang von der Ruhe zur Bewegung anschaulich machen […]« (Armin Zweite).Ein Bild wie Die Vögel zeigt augenfällig, wie sich Marc gegen Ende seines Schaffens zunehmend ungegenständlicher Formen bedient. Diese Tendenz zur Eliminierung der Gegenstände ist die schlüs­sige Konsequenz seines Strebens nach Erneuerung und Reinigung der Kunst, bei dem er schließlich selbst das »unschuldige« Tier als »unreines« und störendes Element begriff. Marcs eigene viel zitierte Worte, die er rückblickend 1915 aus dem Feld seiner Frau Maria schrieb, mögen diese Entwicklung am besten erklären: »Ich empfand schon sehr früh den Menschen als ›hässlich‹; das Tier schien mir schöner, reiner; aber auch an ihm entdeckte ich so viel gefühlswidriges und hässliches, so dass meine Darstellungen instinktiv, aus einem inneren Zwang, immer schematischer, abstrakter wurden. Bäume, Blumen, Erde, alles zeigte mir mit jedem Jahr mehr hässliche, gefühlswidrige Seiten, bis mir erst jetzt plötzlich die Hässlichkeit der Natur, ihre Unreinheit voll zum Bewusstsein kam. Vielleicht hat unser europäisches Auge die Welt vergiftet und entstellt; deswegen träume ich ja von einem neuen Europa.Tatsächlich nehmen Marcs letzte Bilder, etwa die des Skizzenbuchs aus dem Felde, abstrakte Formen an, die sich von aller Gegenständlichkeit befreit haben. Die Vögel versöhnen noch einmal mit sou­veräner Heiterkeit die Spuren der Kreatur mit einer neuen Dimension des Ungegenständlichen und ›Geistigen‹, die zur kommenden Reinigung und Wandlung der Kunst bestimmt war. Dieses span­nungsreich Zeitgemäße der Formen, das den Anspruch seiner Inhalte überdauert, erkannte der Künstler selbst in seinem Essay Zur Kritik der Vergangenheit: »Wie ist es nur möglich«, fragt Marc, »dass dieselben Menschen, die sich nicht über Dürers Arabesken oder die gotischen Gewandfalten zu wundern scheinen, wütend werden über die Dreiecke, Scheiben­ und Röhrenformen unserer Bilder? Müssen sie nicht voll sein von Drähten und Spannungen, von den wunderbaren Wirkungen des modernen Lichtes, von dem Geist der chemischen Analyse, die die Kräfte zerlegt und eigenmächtig verbindet? Das alles ist die äußere sinnliche Form unserer Bilder.«

1914Öl auf leinwand,

109 x 100 cmBez. r. u.: m

miteigentum der Bundes-republik Deutschland

g 17 489

52 VÖgel

Franz marc

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Unter dem schriftlichen Nachlass Franz Marcs befindet sich auch sein weit gestreuter Briefwechsel mit befreundeten Künstlern, Schriftstellern, Sammlern und Händlern, u. a. mit August Macke, Wassily Kandinsky, Gabriele Münter, Paul Klee, Alfred Kubin, Robert Delaunay, Lyonel Feininger, Else Lasker­Schüler sowie Bernhard Koehler, Herwarth Walden und Reinhold Piper (Archiv des Ger ma­nischen Nationalmuseums, Nürnberg). Während diese Briefe unschätzbare kunsthistorische Doku­mente darstellen, beinhalten die bemalten Postkarten, die Marc seit 1912 an seine verschiedenen Korrespondenzpartner verschickte, in Miniaturformat die Essenz seiner reifen Kunst. Der größte Teil dieser Postkarten entstand 1913, zuweilen fertigte Marc zwei bis drei an einem Tag. Der poetische Zauber, der von den kleinen, bildmäßig ausgeführten Darstellungen ausgeht, macht sie zu künst­lerischen Kleinodien der frühen Moderne. Inhaltlich nehmen die Illustrationen – bis auf die für Else Lasker­Schüler bestimmten Bilder  – meist keinen Bezug zum Text auf der Rückseite, der oft von praktischen Dingen handelt. Der Text auf der Rückseite der Vier Füchse lautet: »Lieber Kandinsky, Ihr Buch ist ganz wunderschön, auch vor allem der Text mir viel näher, als ich es früher beim Vorlesen fühlte; ich bin ganz begeistert. Vielen Dank nochmals für Buch und Aquarell und herzliche Grüße im [hier folgen ein gezeichnetes Quadrat, Kreuz und Kreis]. Ihr F Marc.« Möglicherweise handelt es sich bei dem genannten Buch um Kandinskys Gedichtband Klänge. Auf der Vorderseite hat Marc vier junge Füchse in einer Dreieckskomposition dicht um ihren Bau verteilt dargestellt. Die charakteristi­sche Art und Weise, wie sie mit einer Mischung aus Scheu und verspielter Gelassenheit in die Welt wittern, ist mit sparsamen Mitteln unnachahmlich erfasst.

1913aquarell, gouache und

tusche, 14 x 9 cmPostkarte an Kandinsky,

4. Februar 1913gms 746

53 Vier FÜchse

Franz marc

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Auf der Postkarte Zinnobergruss weiden ein rotes und blaues Rind auf einem schmalen Hügel­ausschnitt, der unter dem hohen schwarzen Himmel mit seinen unwirklichen Farben von giftigem Gelb, Orange und Grün wie im Wetterleuchten aufscheint. In diesem Fall ist der Text der Karte mit zinnoberroten Buchstaben in den dunklen Grund des Bildes hineingemalt und handelt von einer Ver­abredung mit dem amerikanischen Maler Marsden Hartley: »L. K., Hartley kommt Montag; ich hab mich Dienstag bei Goltz, wo er Bilder hat, zwischen 12 u. 1 Uhr zusammenbestellt, kommen Sie beide doch auch, vielleicht essen wir dann alle zusammen irgendwo. Wir fahren Mittwoch Abend zurück. Zinnobergruss. F. Marc.« Allein mit dem Wort »Zinnobergruss«, das eine Fülle von sinnlichen und poetischen Assoziationen birgt, wird ein Bezug zur verzauberten gemalten Welt der beiden Tiere unter diesen Zeilen hergestellt, von denen eines im Rot der Buchstaben gemalt ist. Darüber hinaus zeugt der Zinnobergruss von der Vertrautheit der beiden Weggenossen Marc und Kandinsky, die darauf bauen konnten, in Fragen des künstlerischen Fantasierens vom anderen intuitiv verstanden zu werden.

1913aquarell, gouache und

Bleistift, 14 x 9 cmPostkarte an Kandinsky,

9. april 1913gms 726

54 zinnoBergruss

Franz marc

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Die Postkarte mit der zauberhaften Landschaft mit rotem Tier wurde an den Zeichner Alfred Kubin verschickt, der nicht nur für Franz Marc, sondern auch für zahlreiche andere Persönlichkeiten ein anregender Briefpartner war. Kubin, obwohl zu dieser Zeit bereits nicht mehr in München, sondern in Zwickledt in Oberösterreich ansässig, war Ende 1911 auf briefliches Drängen Gabriele Münters einer der ersten Künstler, der nach dem Eklat um Kandinskys Komposition V aus der ›Neuen Künst­lervereinigung München‹ austrat und sich der neuen Gruppe des ›Blauen Reiter‹ anschloss.Der Text der Karte bezieht sich auf eine gemeinsame Bibelillustration, die die Künstler des ›Blauen Reiter‹ planten: »Lieber Herr Kubin, wie schön, dass Sie mitthun! Kokoschkas Zusage steht noch aus. Sie haben so recht mit dem; nicht umsonst. Es ist nur gut, wenn ein paar dabei sind, die ›harte Ansichten‹ haben, – Kandinsky und ich sind hier etwas pathologisch veranlagt [gemeint ist Kubins Bitte um ein Verlagshonorar]. Alles Nähere einmal mündlich. Gehetzt wird natürlich nicht. Herzlich Ihr F. Marc.« Eine Woche zuvor hatte sich Marc erstmals mit diesem Plan an Kubin gewandt: »Hätten Sie nicht Lust, die Bibel zu illustrieren, Großformat, in Einzelausgaben«, »Kandinsky nimmt die Apo­kalypse, ich das I. Buch Mose.« Als weitere Mitarbeiter konnten Paul Klee, der sich die Psalmen aus­suchte, Kokoschka – mit dem Buch Hiob – sowie Erich Heckel gewonnen werden. Kubin entschied sich für das Buch Daniel und war der einzige, der seine Blätter bis zum Frühjahr 1914 vorlegte. Der Erste Weltkrieg zerschlug das Projekt; Kubin gab 1918 sein Buch Daniel als selbstständige Publikation heraus.Franz Marc hatte sich in seinen letzten beiden Schaffensjahren, besonders in Zeichnungen und Holz­schnitten, mit der Schöpfungsgeschichte befasst. Zu den geplanten Illustrationen der Genesis trug er sogar noch in sein Skizzenbuch aus dem Felde ›Anregungen‹ ein. Die Landschaft mit rotem Tier hat etwas vom Zauber des Schöpfungsanfangs. Im Hintergrund, vor dem ›geistigen‹ Blau des Himmels, weidet ein einsames, rotes Reh auf einem braunen und grünen Hügel. In ungewisser räumlicher Aus­dehnung bricht das Land nach Art einer ›Weltenscheibe‹ in der mittelalterlichen Buchmalerei zu allen Seiten ins Leere ab. Seine ebenfalls 1913 gestaltete Postkarte Byzantinischer Heiliger an Kandinsky (Städtische Galerie im Lenbachhaus) beweist, dass entsprechende Anregungen, die auch in der stili­sierten Baumgestaltung ihren Nachhall finden, Marc geläufig waren. Kosmisches Aufgehobensein der irdischen Erscheinungen im All wird hier miniaturhaft anschaulich.

1913aquarell, gouache und

tusche, 9 x 14 cmPostkarte an alfred

Kubin, 18. märz 1913Kub. nr. 1

55 lanDschaFt mit rotem tier

Franz marc

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Zu diesem Postkartenmotiv wurde Franz Marc ebenfalls auf seiner Reise nach Südtirol im April 1913 inspiriert (vgl. Tafel 58), in diesem Fall von der mittelalterlichen Kirchenkunst des kleinen Ortes Lana, in dem sich auch Kandinsky und Münter Jahre zuvor, im Frühjahr 1908, einmal aufgehalten hatten. Marc selbst weist im ersten Satz seiner an Gabriele Münter adressierten Postkarte mit Nachdruck und in der Sprache eines vertraulichen Künstlergrußes darauf hin: »Liebe Freunde, dies ist ein Altarschaf aus Lanna [sic!].« Über dem am unteren Bildrand geschriebenen Text lagert lang gestreckt und in sich versunken ein rubinrotes Schaf auf einer leicht gewölbten Landschaftszone von tief leuchtendem Blau, die in Aufbau und Färbung eine Deutung als ›Weltlandschaft‹ nahelegt. Die sakrale Atmosphäre wird noch gesteigert durch die breiten gelben Strahlen, die das Tier wie eine Art Mandorla vor einem Halbrund von schwarzer Tusche hinterfangen. Dabei lässt Marcs Altarschaf aus Lana weniger an das traditionelle christliche Symbol des Lamm Gottes denken, sondern wird in seinem poetischen Zauber selbst zu einer Ikone unschuldigen, kreatürlichen Daseins erhoben.Klaus Lankheit zitiert zu den Postkarten Marcs einen Text Georg Schmidts von 1954 und weist auf den bemerkenswerten Umstand hin, »dass ausgerechnet das verpönte Jahrhundert der Technik und aller rationalen Lebensbewältigung eine künstlerische Sprache hervorgebracht hat, die ihrem eigentlichen Wesen nach in so besonderem Maße poetisch ist«. Das Poetische in der Kunst Franz Marcs oder auch Paul Klees und Marc Chagalls, »liege gar nicht in noch so poetisch erdachten Gegenständen, sondern, viel ursprünglicher und viel dauerhafter noch, in den formalen und farbigen Mitteln, das heißt in der besonderen Struktur der künstlerischen Sprache, in der Franz Marc von diesen poetischen Gegen­ständen spricht«.

1913aquarell, gouache und

tusche, 9 x 14 cmPostkarte an gabriele münter, 11. april 1913

gms 741

56 altarschaF aus lana

Franz marc

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Die Zwei blauen Pferde vor rotem Felsen sind ähnlich wie viele gemalte Kartengrüße an Else Lasker­Schüler eine Inkunabel für Marcs künstlerische Vorstellungswelt. Zwei blaue Fohlen ruhen friedlich beieinander auf einem kleinen Rasenstück, hinterfangen von der kristallinen, gestaffelten Form einer rötlichen Berglehne. Ihre ›geistige‹ Farbe, ihre Pose und ihre Präsentation wie auf einem Altar sym­bolisieren gleichermaßen den Einklang mit dem Hier und Jetzt, das ursprüngliche ›Bei­sich­Sein‹ wie auch das Verlangen nach jenseitigen Gefilden und Verklärung. Die »Sehnsucht nach dem unteilbaren Sein« (Marc, Zur Kritik der Vergangenheit, 1914) gewinnt hier bildliche Gestalt. Der Text ist eher prosaisch: »L. K. Kommen Sie beide doch mit zu Sacharoff; wir beteiligen uns keinesfalls an einem ev. souper, und wir können dann zu 4 gemütlich wo Abendessen. Im Falle Sie gehen, nehmen Sie doch Billette für uns mit und (Treffpunkt Abendkasse) benachrichtigen Sie uns davon. Wenn Sie nicht gehen, nehmen wir Billette selber am Freitag u. kommen Samstag Nachmittag ca. 4 Uhr zu Ihnen; ist es recht? Abd. sind wir nicht frei. Herzl. 2 x 2 Fz. Marc.«

1913aquarell und Deckfarben,

gefirnisst, 14 x 9 cmPostkarte an Kandinsky,

21. mai 1913gms 742

57 zWei Blaue PFerDe Vor rotem Felsen

Franz marc

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Die beiden locker aquarellierten Pferde auf dieser Postkarte zeigen mit ihren schwingenden, blass­roten und blauen Umrissen eine für Franz Marcs Tierdarstellungen ungewöhnliche Bewegtheit. Zu Bewegungsstudien in Tierbildern wurde Marc 1913 durch die Beschäftigung mit Pferde­ und Raubtierdarstellungen von Eugène Delacroix angeregt, nach dessen Vorbild er unter anderem den Holzschnitt Löwenjagd nach Delacroix schuf. Das ausdrucksvoll überlängte rote Pferd mit dem zur Seite gewandten Kopf ist zudem einem mittelalterlichen Kirchenfresko aus Südtirol entnommen, dessen Prototyp Marc wiederholt variierte, so auch auf der Postkarte Das Schlachtpferd des Prinzen Jussuf an Else Lasker­Schüler von 1913 (Staatliche Graphische Sammlung, München). Der Text der Karte beginnt auf der Vorderseite: »L. K., ich bin krank, Rückenmuskelzerrung, kann also keines­falls kommen. Ich telegrafiere Walden; vielleicht kommt er heraus. Sonst kommt Campendonk statt meiner« – und wird auf der Rückseite fortgesetzt – »in die Stadt, so dass Sie die Arbeit nicht alleine haben, wenigstens bringt Campendonk mir Bericht usw. Sonderbund hab ich m. Austritt erklärt, ohne Grundangabe; die können sichs so denken. In der Bibelsache bleiben wir bei uns 6 Leuten. Herzl. Gruß 2 X 2 Ihr Fz. Marc.«Marc, der seit der großen Kölner Ausstellung 1912 Mitglied des ›Sonderbundes‹ rheinischer Künstler war, verließ diese Gruppe ein Jahr später, weil sich dort die Maler des ›Blauen Reiter‹ nicht genügend vertreten fühlten. Die »Bibelsache« bezieht sich auf das Projekt einer gemeinsamen Bibelillustration mit Wassily Kandinsky, Paul Klee, Erich Heckel, Oskar Kokoschka und Alfred Kubin (vgl. Text zu Tafel 55).

1913aquarell und Bleistift,

9 x 14 cmPostkarte an Kandinsky,

5. april 1913gms 743

58 rotes unD Blaues PFerD

Franz marc

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Gabriele Münter, am 19. Februar 1877 in Berlin geboren, entstammte einer ursprünglich west­fälischen Familie, ihre Eltern hatten vor ihrer Geburt als Emigranten in Amerika gelebt. Nach einer kurzen Studienzeit in einer Düsseldorfer Zeichenschule unternahm sie von 1898 bis 1900 mit ihrer Schwester eine Reise durch Amerika. 1901 kam sie zum Studium der Kunst nach München und wurde Anfang 1902 Schülerin in der neu gegründeten ›Phalanx‹­Kunstschule von Wassily Kandinsky. 1903 verbanden sich beide zu einer Lebens­ und Arbeitsgemeinschaft. Da Kandinsky noch verheiratet war, begaben sich Münter und er für mehrere Jahre auf Reisen, unter anderem lebten sie fast ein Jahr in Sèvres bei Paris. Erst 1908 kehrten sie wieder dauerhaft nach München zurück und entdeckten gleichzeitig Murnau im bayerischen Alpenvorland als ihren bevorzugten Malort. Hier erwarb Gabriele Münter 1909 ein Haus, gemeinsam verbrachten sie in Murnau viele Monate, die zu den produktivsten ihres Schaffens gehörten. 1909 wurde Münter zusammen mit Kandinsky Mitglied der ›Neuen Künst­lervereinigung München‹, der u. a. Alexej Jawlensky, Marianne von Werefkin, Adolf Erbslöh, Alex­ander Kanoldt und später auch Franz Marc angehörten. 1911 trat sie mit Kandinsky und Marc aus der ›Neuen Künstlervereinigung München‹ aus und beteiligte sich im Winter 1911/12 an der ersten Aus­stellung des ›Blauen Reiter‹ sowie an allen weiteren Ausstellungen der Gruppe. In der Periode 1908 bis 1914 kamen Münters künstlerische Stärken, ihre Fähigkeit zur Vereinfachung und ihre zeichne­risch treffsichere Malweise zur vollen Entfaltung. Reduktion der Formen und klare Farbkontraste kennzeichnen auch die Bildnisse ihrer Künstlerfreunde, die Münter in berühmt gewordenen Gemäl­den festhielt; in ihre Stillleben bezog sie Gegenstände der Volkskunst und Hinterglasmalerei mit ein.Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 ging Münter zunächst mit Kandinsky in die Schweiz, im November des Jahres trennten sie sich in Zürich, Kandinsky kehrte in sein russisches Heimatland zurück. Im Frühsommer 1915 siedelte Münter nach Stockholm über, um den Gefährten im neutralen Ausland wiederzutreffen, im Winter 1915/16 sahen sie sich hier ein letztes Mal. Münter blieb noch bis 1920 in Skandinavien, zuletzt in Kopenhagen. Das folgende Jahrzehnt war durch ein unstetes Wander­leben in Deutschland geprägt, in dieser Zeit betätigte sich Münter überwiegend als Zeichnerin. 1930 ließ sie sich mit ihrem zweiten Lebensgefährten Johannes Eichner wieder dauerhaft in ihrem Haus in Murnau nieder, wo sie bis zu ihrem Tod am 19. Mai 1962 lebte und arbeitete.

gaBriele mÜnter

1877 Berlin

1962 murnau

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198 gabriele münter

Nach einer Ausbildung zur Zeichnerin in ihren frühen Studienjahren unternahm Gabriele Münter erstmals im Winter 1901 /02 in Kandinskys Malklasse der ›Phalanx‹­Schule Versuche in der Ölmalerei. Sie erlernte hier die Spachteltechnik, in der sie und Kandinsky im Lauf der nächsten Jahre unter dem Einfluss des Spätimpressionismus arbeiteten. Auch noch während der folgenden Reisejahre von 1904 bis zum Ende ihres gemeinsamen Aufenthalts in Paris 1906/07 behielt die junge Künstlerin diesen Stil im Wesentlichen bei.Allee im Park von St. Cloud, in Spachteltechnik auf Leinwand gemalt, ist eines der größten Pleinair­Gemälde Münters aus dem Pariser Jahr und ragt unter den üblicherweise auf kleineren Pappen ge ­arbeiteten Ölstudien ihres Frühwerks auch in der Qualität heraus. Münter setzt hier die Technik des Impressionismus und eine fein abgestufte Palette von Violett, Grün, Braun und weiß gelben Tönen mit bemerkenswerter Sicherheit für die durchkomponierte Bildwirkung ein. Der Blick wird durch eine Parkallee entlang in den Hintergrund geführt. Durch das Laubdach fällt Sonnenlicht ein und bildet eine Vielzahl heller oder farbig abgedämpfter Reflexe. Die pastosen, mit dem Spachtel aufgebrachten Farbtupfer sind kürzer und regelmäßiger als in vielen vorangehenden Studien dieser Art und fügen sich zu einem der französischen Malkultur vergleichbaren, lebendig vibrierenden Eindruck zusam­men. Auffallend jedoch ist die kühne Setzung des dunkel leuchtenden Blau zwischen den Stämmen und Blättern der Bäume und das kräftige Relief der Spachtelzüge, das im Bild ihres Gefährten Wassily Kandinsky mit demselben Motiv des Park von St. Cloud (vgl. Tafel 2) noch stärker hervortritt.

59 allee im ParK Von st. clouD 1906Öl auf leinwand,

40,5 x 50,5 cmBez. i. u.:

g. münter 1906gms 651

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Zu den ersten Murnauer Landschaftsbildern Gabriele Münters zählt der Blick aufs Murnauer Moos vom Herbst 1908, der die Ansicht über die Moorwiesen um den Staffelsee auf die blauen Berge der Alpen zeigt. Einige wenige Bodenlinien werden von schwarzen Konturen kaum angedeutet, Vorder­ und Hintergrund sind aufgehoben in einer additiven und skizzenhaften Malweise, die die Farben der Landschaft mit deutlich sichtbarem Pinselduktus flächig verstreicht und dabei an vielen Stellen die frei gelassene hellbraune Malpappe wie den Grund der Erde in die Komposition miteinbezieht. Bei­spielhaft und mit einfachsten Mitteln ist Münter mit dieser Landschaftsmalerei und ihren sparsamen, doch gewagt nebeneinander gesetzten Grün­ und Blautönen das gelungen, was auch Kandinsky und Jawlensky zur gleichen Zeit anstrebten und was zu den großen Errungenschaften dieser ersten Murnauer Jahre gehört: die Reduktion der Einzelformen, die Unabhängigkeit der Farbe, Vernach­lässigung oder Aufgabe der Perspektive und eine zunehmende Vereinfachung der Gegenstände zur Steigerung des Ausdrucks. Die Bedeutung solcher neuartigen formalen Mittel für die Entwicklung der modernen Kunst in Deutschland kann nicht hoch genug eingeschätzt werden und findet einzig in den frühen Landschaftsbildern der ›Brücke‹­Maler Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel und Karl Schmidt­Rottluff eine Entsprechung. Zu dieser Loslösung des Blicks, den ein Bild wie Blick aufs Murnauer Moos voraussetzt, trug das Landschaftserlebnis des Voralpenlandes mit seinem spiegelnden Licht, das die Bergketten und Formationen der Landschaft oft in starken, unwirklichen Farben wie nahegerückt, dann wieder weit entfernt erscheinen lässt, entscheidend bei. Die scheinbar willkürliche Farbigkeit, das Violett und Blau zwischen ungemilderten, ohne atmosphärische Brechung neben­einanderstehenden Grüntönen des Murnauer Mooses dürfte durchaus einem Natureindruck ent­sprochen haben, doch zieht Münter lediglich eine Essenz aus den landschaftlichen Grundelementen. Ihre großen künstlerischen Stärken, die Intensität des Blicks und die Fähigkeit zur Vereinfachung des real Gesehenen, gelangten in Murnau zur vollen Entfaltung und fanden die Bewunderung ihrer Freunde, denen sie darin zeitweise zum Vorbild wurde.

1908Öl auf Pappe,

32,7 x 40, 5 cmBez. r. u.: m 08; auf der rückseite von der hand

gabriele münters: münter 1908

Blick aufs moosgms 654

60 BlicK auFs murnauer moos

gabriele münter

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Für Gabriele Münter bedeutete, ähnlich wie für Wassily Kandinsky, die Entdeckung der Gegend um den kleinen oberbayerischen Ort Murnau im Alpenvorland eine entscheidende Wende in ihrer künst­lerischen Entwicklung. Im Herbst 1908 hatten beide nach Jahren ständigen Reisens und längerer Auslandsaufenthalte eine gemeinsame Wohnung in der Ainmillerstraße in München bezogen. Kurz zuvor hatten sie Murnau erstmals besucht und kehrten bald darauf zu einem gemeinsamen Studien­aufenthalt mit Alexej Jawlensky und Marianne von Werefkin dorthin zurück. Ein Tagebucheintrag Münters von 1911 gibt das Gefühl der Befreiung aus einem Zustand jahrelangen künstlerischen Suchens und die Begeisterung über einen Neubeginn anschaulich wieder: »Murnau hatten wir auf einem Ausflug gesehen und an Jawlensky und Werefkin empfohlen – die uns im Herbst auch hin­riefen. Wir wohnten im Griesbräu und es gefiel uns sehr. Ich habe da nach kurzer Zeit der Qual einen großen Sprung gemacht – vom Naturabmalen – mehr oder weniger impressionistisch – zum Fühlen eines Inhalts, zum Abstrahieren – zum Geben eines Extrakts.«Die kleine Ölstudie von Jawlensky und Werefkin, die das Malerpaar auf einer Wiese lagernd zeigt, entstand bei einem gemeinsamen Aufenthalt im Juli 1909 in Murnau. Es führt den Wandel in Münters Schaffen, die plötzlich kühne, kompromisslose Selbstständigkeit und die Betonung einer reduzierten Umrisszeichnung gegenüber ihren bisherigen, an der Tradition des Spätimpressionismus orientierten Malstudien vor der Natur eindrücklich vor Augen. Radikale Formvereinfachung und klare, kräftige Farbkontraste kennzeichnen das Bild. In das dichte, homogene Grün des Wiesenhangs und das ebenso dichte Blau des Himmels und der Berge sind die Figuren als einfache Grundformen, die Gesichter kaum angedeutet, eingefügt. Alle wichtigen Elemente werden lapidar und treffsicher in kräftige schwarze Konturen gefasst, in der Technik des Cloisonnismus, die ihr, letztlich von Paul Gauguin her­kommend, Alexej Jawlensky vermittelt hatte. Gerade zu Jawlensky pflegte Münter in dieser Zeit besonders enge künstlerische Kontakte und nahm vor allem seine Anregungen zu einer »Synthese« des Bildes  – ein »Zusammenziehen« der Elemente auf wenige charakteristische Formen  – in ihre direkte, von allem Nebensächlichen befreite Sicht der Dinge auf. In der ersten Murnauer Zeit schuf Münter mit neuer Arbeitslust eine Vielzahl von wichtigen Bildern, die ein wesentlicher künstlerischer Beitrag zur späteren Bewegung des ›Blauen Reiter‹ sind.

1909Öl auf Pappe, 32,7 x 44,5 cm

auf der rückseite in der schrift

johannes eichners (?):marianne v. Werefkin und

jawlens. um 1908/09 (unverkäuflich)

gms 655

61 jaWlensKY unD WereFKin

gabriele münter

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Im Jahre 1909, auf dem Höhepunkt ihrer gemeinsamen Arbeit, malte Gabriele Münter das Bildnis ihrer Künstlerfreundin Marianne von Werefkin. In einem für das Schaffen Münters außergewöhnlich vitalen, positiv gestimmten Porträt tritt uns die faszinierende Persönlichkeit dieser Frau entgegen. Vor maisgelbem, bewegt strukturiertem Hintergrund schaut sie den Betrachter unter einem riesigen, mit Blumen bedeckten Hut über die rechte Schulter hinweg an. Der solide Sockel ihres breit in die Höhe steigenden, ins Profil gewandten Oberkörpers ist von ähnlich energiereichen Pinselstrichen durch­pulst wie der Hintergrund und vollständig vom violetten Band eines voluminösen Schals umrahmt. Violette Schatten spielen unter dem Hut auch in den Augen, im Haar und den leicht geöffneten Lip­pen, die zusammen mit dem lebhaften Blick von Geist und Leben zeugen. Selten, und sicher nur unter dem vorübergehenden Einfluss Jawlenskys, kam Gabriele Münter der kraftvollen Malkultur der ›Fauves‹ so nah wie in diesem Bild.Zur Entstehung des Bildes verrät Münter in einer undatierten Notiz, die sich in ihrem Nachlass er ­halten hat, dass sie die Künstlerfreundin im Freilicht vor der Wand ihres Murnauer Hauses gemalt hat: »Die Werefkina malte ich 1909 vor dem gelben Sockel meines Hauses. Sie war eine pompöse Erscheinung, selbstbewusst, herrisch, reich gekleidet, mit einem Hut wie ein Wagenrad, auf dem allerhand Dinge Platz hatten.«Das Bildnis Marianne von Werefkin ist eines der bedeutendsten Porträts aus dem Umkreis des ›Blauen Reiter‹, dessen Künstler sich im Allgemeinen weniger um das realistisch­porträtähnliche Menschen­bild bemühten bzw. sich, wie etwa Macke und Jawlensky, davon wegentwickelten. Für Münter jedoch war das Antlitz des Menschen im Porträt durch keine Auflösung oder Sinnbildhaftigkeit zu ersetzen. Man brauche, schrieb sie einmal mit deutlicher Anspielung auf Kandinskys abweichende Meinung, »kein geistiges Gleichnis« für die menschliche Erscheinung: »Denn die Persönlichkeit wurzelt im Geistigen und wirkt aus dem Unsichtbaren heraus. Für dies Unsichtbare, worauf es ankommt, ist das sichtbare Körperliche das natürliche Symbol.«

1909Öl auf Pappe, 81 x 55 cm

Bez. r. u.: münter; rückseite eigenhändig:

gabriele münter. Bildnis marianne von Werefkin.

Wahrscheinlich 1909gms 656

62 BilDnis marianne Von WereFKin

gabriele münter

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Die Grabkreuze in Kochel entstanden während eines Besuches bei dem befreundeten russischen Musiker und Komponisten Thomas von Hartmann im Februar 1909 in Kochel, der sich zusammen mit seiner Frau Olga für zwei Wochen dort aufhielt. In dieser Zeit entstanden auch Kandinskys Friedhof und Pfarrhaus in Kochel (Tafel 6) und weitere Winterbilder. Vergleicht man diese Bilder Münters und Kandinskys miteinander, so fällt ihre große Ähnlichkeit auf; zu keiner anderen Zeit waren sich Mün­ters und Kandinskys Malerei so nahe wie in den Landschaftsstudien des Jahres 1906.Ein von Kandinsky aufgenommenes Foto zeigt Münter im Wintermantel beim Malen der Grabkreuze in Kochel auf dem Friedhof der Kocheler Pfarrkirche. Das Arbeiten direkt vor der Natur unter freiem Himmel, die antiakademische Pleinair­ Malerei, galt Kandinsky bereits bei der Gründung seiner eige­nen Malschule ›Phalanx‹ um 1901 als Grundlage selbstständiger künstlerischer Erfahrung, und so setzte er mit Münter diese Praxis in beinahe allen Murnauer Jahren fort. Doch die Kocheler Bilder weisen bei aller Übereinstimmung und Gemeinsamkeit auch Unterschiede auf. So wählt Münter mit den Grabkreuzen ein anderes Motiv, das ihr Interesse für das reizvolle optische Spiel der Gegenstände verrät. Vereinzelung und Stilisierung verleihen den Kreuzen eine besondere Ausstrahlung, die blauen Schlagschatten, die Kandinsky als Farberscheinung so faszinierten, setzen ihre Formen in freien Arabesken fort. Münters Farben besitzen nicht die unvermischte Leuchtkraft wie die Kandinskys – das Sonnengelb des Wintertages ist hier mit der Grundfarbe Weiß gebrochen –, sondern binden die Darstellung eher zu einem einheitlichen Ganzen. Gerade in den Kocheler Bildern könnte Kandinsky seinerseits etwas vom flüssigen Strich Münters aufgenommen haben.

1909Öl auf Pappe,

40,5 x 32,8 cmBez. i. u.: mü;

auf der rückseite von der hand gabriele

münters: grabkreuze in Kochel 1909

gms 658

63 graBKreuze in Kochel

gabriele münter

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Über die Entstehung dieses Gemäldes berichtet Gabriele Münter: »Alle drei diskutierten unaufhör­lich über Kunst, und im Anfang hatte jeder seine eigene Ansicht und seinen eigenen Stil. Jawlensky war weniger intellektuell oder intelligent als Kandinsky und Klee und ihre Theorien verwirrten ihn oft. Einmal malte ich ein Porträt, das ich Zuhören nannte und das Jawlensky darstellt, wie er mit einem verdutzten Ausdruck in seinem pausbäckigen Gesicht neuen Kunsttheorien von Kandinsky lauscht.« Häufig ist Münter beim Porträtieren ihrer Freunde eher von einer charakteristischen Situation an ­geregt worden als von ihren physiognomischen Einzelheiten. In diesem Falle gelingt es ihr allein mit der Schlichtheit der Mittel und formalen Analogiebildungen, Jawlenskys leicht verständnislos fragen­den Ausdruck beim »Zuhören« treffend zu erfassen. Der Dargestellte sitzt in die rechte Bildhälfte gerückt hinter dem durch eine schwarze Linie angedeuteten Tisch. Die gebogene Bahn einer rosa­farbenen Hemdbrust in der breiten Fläche seines Leibes endet in dem runden, ebenso rötlichen Kopf mit den blauen Augenpunkten und hochgezogenen Brauen, der, leicht geneigt, die ganze Figur zu einem einzigen »Fragezeichen« macht. Einfache Formelemente – links zwei Würste auf dem Teller und der Fuß der Petroleumlampe – setzen die Neigung des Zuhörenden rhythmisch fort. Die eckigen Formen in der Mitte lenken trotz ihrer Schlichtheit mit ihren Grundfarben Blau und Rot die Auf­merksamkeit des Betrachters auf sich und rücken die Figur des Mannes hinter dem Tisch in eine Randposition. Münters Bild mit den betont einfachen, die Grundformen des Gegenständlichen her­ausarbeitenden Mitteln scheint ein doppelter Kommentar zu sein: zu Jawlenskys Begriffsstutzigkeit gegenüber den komplizierten Theorien Kandinskys und zu der hermetischen bildnerischen Praxis dieser Theorie, in der auch Münter ihrem Gefährten nicht zu folgen vermochte.

1909Öl auf Pappe, 49,7 x 66,2 cm

Bez. i. o.: münter; auf der rückseite von der hand

münters: g. münter zuhören 1909

gms 657

64 zuhÖren (BilDnis jaWlensKY)

gabriele münter

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Das Stillleben grau von 1910 steht unter Gabriele Münters Stillleben denen Jawlenskys und der fran­zösischen Tradition besonders nahe. Sehr ähnlich wie in dessen Stillleben mit Früchten (Tafel 98) wird die Bildfläche durch eine Mittellinie in zwei verschiedenfarbige, miteinander korrespondierende Flächen geteilt, hier sind es helles Graugrün und stärkeres Graublau. Schmale schwarze Konturen fassen die auf der Tischplatte versammelten Gegenstände – Äpfel, eine Vase und Blätter (?) – ein. Die schlichten Figuren scheinen ihre Substanz ganz aus den kaum modellierten Farbpigmenten zu bezie­hen. Durch die bewusste Symmetrie der leicht in Aufsicht gegebenen Anordnung strahlt das Gemälde einen ruhigen, harmonischen Wohlklang aus. In einer undatierten Aufzeichnung notierte Münter ein­mal: »Wenn ich ein formales Vorbild hatte – und gewissermaßen war das von 1903 –1913 der Fall – so ist es wohl van Gogh durch Jawlensky und dessen Theorien (das Sprechen von der Synthese)«, um gleich darauf den ungleich stärkeren Einfluss von Kandinsky zu betonen. Neben van Gogh muss jedoch auch auf den von Jawlensky vermittelten Einfluss von Matisse und  – noch weiter zurück­reichend – von Cézanne verwiesen werden, um ein Bild wie Stillleben grau in seinen Voraussetzungen zu erfassen. Dass dabei die Arbeit mit den puren Form­ und Farbgesetzen auf ihre Weise zu einer ›Vergeistigung‹ und letztlich Entmaterialisierung des Gegenstandes führte, hat unter anderem Franz Marc in seiner Kritik der 2. Ausstellung der ›Neuen Künstlervereinigung München‹ hellsichtig beschrieben.

1910Öl auf Pappe,

34,2 x 50,2 cmBez. i. u.: münter

gms 662

65 stillleBen grau

gabriele münter

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Das Bild Mann am Tisch zeigt Wassily Kandinsky mit verschränkten Armen an einem Tisch sitzend. Wie in momentaner Aufmerksamkeit wendet er sein Gesicht der Malerin zu. Bereits dieser trotz der schemenhaften Züge und der verwischten Augenpartie wahrnehmbare Eindruck widerspricht dem Charakter des Modellsitzens für ein Porträt, in dem der Dargestellte im Zentrum der Betrachtung steht. Vielmehr geht auch hier, nach einem ähnlichen Prinzip wie in dem Gemälde Zuhören (Bildnis Jawlensky) (Tafel 64) die schmale, leicht zusammengekauerte Figur Kandinskys mit den rigoros ver­einfachten Gegenständen ihrer engräumigen Umgebung eine beinahe stilllebenhafte Verbindung ein. Tasse, Teller, Gebäck und Blumentopf neben ihm sind in gedämpften Farben, vornehmlich Ocker, Braun und Olivgrün, aufdas dünne Weiß des Tischtuchs gesetzt. Die hohe dunkelgrüne Pflanze bedrängt dabei mit ihren wie in Abwehr abgespreizten Zweigen den leicht zurückversetzten Mann am Tisch, der die Arme ver­schränkt hält. Auch die blassen, sparsamen Farben, denen das Orange der Frucht in der Mitte nur wenig Bereicherung hinzufügt, lassen im Betrachter den Eindruck leichter Dissonanz zurück. Ein Grundzug des abstrahierenden Sehens von Münter, die Enthüllung eines leisen, eigenen Lebens hinter dem optischen Gesamteindruck der Erscheinungen, scheint hier auch geheime Spannungen zwischen dem Dargestellten, der sie eher aus dem Bild heraus zu beobachten scheint, und ihr selbst zu offenbaren. Frappierend sind dabei die Mittel einer überwiegend zeichnerischen Reduktion, die sich auf Umrisse und Flächen konzentriert. Im Falle dieses Bildes ist zu berücksichtigen, dass Münter selbst es als Skizze bezeichnete.Kandinsky schätzte das Werk sehr  – nicht zuletzt wohl wegen der ›Bescheidenheit‹ und kompro­misslosen Schlichtheit, mit der Münter auch hier ohne »jede Spur von weiblicher oder männlicher Koketterie« vorgegangen sei – und ließ es im Almanach Der Blaue Reiter reproduzieren.

1911Öl auf Pappe, 51,6 x 68,5 cm

Bez. r. u.: münter; auf der rückseite von der

hand gabriele münters: münter skizze

mann am tischgms 665

66 mann am tisch (KanDinsKY)

gabriele münter

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In den ereignisreichen Jahren in München und Oberbayern um 1910 bis 1912, in denen besonders Wassily Kandinsky und Franz Marc ihre hochfliegenden Pläne in die Tat umsetzten, entwickelte Gabriele Münter das schmale Spektrum ihrer Themen  – Landschaften, Stillleben, Blumenstücke, Figurenbilder – zu voller Reife. Gerade die Stillleben bekommen in dieser Zeit ihre eigene, unver­wechselbare Note. Häufig werden nun kleine figürliche Gegenstände in das Arrangement von Dingen eingearbeitet, die in beredtem Schweigen und stummem Nebeneinander die unbestimmte Räumlich­keit des Bildes mit ihrem Leben erfüllen. Dabei dienten die Kleinplastiken, Schnitzereien und kunst­gewerblichen Objekte aus der Sammlung volkstümlicher Kunst als Vorlage, die sich Münter und Kandinsky in den Murnauer Jahren angelegt hatten. Oft wird ein zufälliges Beieinander dieser Gegen­stände auf den Tischen und Borden ihrer Wohnung Münter zu solchen Stillleben angeregt haben, doch beginnen die Figuren in ihrer Malerei auf geheimnisvolle Weise miteinander zu kommunizieren.Das Dunkle Stillleben (Geheimnis) kann anhand einer alten Fotografie als Ausschnitt aus der mit Kandinsky geteilten Wohnung in der Münchner Ainmillerstraße identifiziert werden, wo auf einem Tischchen Figuren vor einer Wand mit Hinterglasbildern aufgebaut waren. Mithilfe des Fotos erwei­sen sich die beiden einander zugewandten Gestalten am linken Bildrand als malerische Übersetzung eines volkstümlichen Hinterglasbildes mit der Darstellung der Beichte der Königin von Böhmen vor dem heiligen Nepomuk. Weiterhin erkennt man u. a. ein Huhn aus Steinzeug, ein Osterei, einen von Münter bemalten Glaspokal und die ins Profil gewandte, altertümliche Figur einer sitzenden Mutter­gottes. Wahrscheinlich erschienen Münter die vertrauten Gegenstände ihrer täglichen Umgebung in einem bestimmten Moment des abendlichen Dämmerlichts geheimnisvoll verwandelt. Doch auch die spezifische Aura dieser kleinen, meist religiösen Figuren war sicher ein Grund für ihre Wahl der Gegenstände in dieser ›reifen‹ Periode ihrer Stillleben. In welch hohem Maße diese Bilder die indi­viduelle Ausdruckskraft sowohl der Dinge wie auch ihrer Gestalterin spiegeln, macht ein Vergleich mit dem ein Jahr zuvor entstandenen, ganz auf die Formgesetze konzentrierten Stillleben grau (Tafel 65) deutlich. In einem Brief vom Herbst 1911 schrieb August Macke an Franz Marc: »Ich habe das Gefühl, dass sie [Münter] stark zum Geheimnisvollen (siehe Stillleben, Heilige, Lilien in Gartenecke, scharf beleuchtete Gewitterwolke, Lampen und Altväterstühle) neigt. Es ist etwas ›Deutsches‹ darin, etwas Altar­ und Familienromantik. Ich habe sie sehr, sehr gern.«

1911Öl auf leinwand,

78,5 x 100,5 cmBez. i. o.: 13. 11 /. 11

Dauerleihgabe der gabriele münter-

und johannes eichner-stiftung

67 DunKles stillleBen (geheimnis)

gabriele münter

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Das Stillleben mit heiligem Georg gehört auf seine Weise zu den Inkunabeln des ›Blauen Reiter‹. In unlöslicher Verwobenheit mit dem Raum, der seine Dreidimensionalität verloren hat, leuchten verschiedene Figuren aus dem weichen blaugrünen und violetten Grund. Links oben triumphiert der hl. Georg mit der Lanze auf weißem Pferd vor tiefem Blau sieghaft über den Drachen  – eine Art Emblem für die beinahe religiöse Erweckungsidee des ›Blauen Reiter‹ (vgl. Tafel 22, 36, 38). Dass für dieses Motiv ein an der Wand hängendes Hinterglasbild der Malerin als Vorlage diente, ist nur schwer zu erkennen, denn der Heilige scheint losgelöst mit dem bauschigen Tuch in einer immateriellen röt­lichen Aureole über den anderen Gegenständen des Bildes zu schweben. Dazu gehören eine stehende Muttergottes, ein großes Huhn aus Steingut, eine tiefblau schimmernde Vase mit Blumen vom glei­chen traumverlorenen Lachsrot wie der Nimbus um den hl. Georg, die Hirtenfiguren einer Krippe und eine thronende Madonna mit Kind und Doppelkreuzkrone. Alle diese Figuren lassen sich in der heute noch erhaltenen kunstgewerblichen Sammlung Münters und Kandinskys genau identifizieren. Bei den Marienfiguren handelt es sich um Gnadenbild­Kopien des 19. Jahrhunderts, die Hirten wur­den von Münter in Oberammergau erworben, und das Hinterglasbild des hl. Georg ist eine Kopie nach einer alten Vorlage des Murnauer Hinterglaskünstlers Rambold.Das dunkle Glühen der Farben, die flüssige, weich gestimmte Gestaltwerdung der Figuren, über deren stiller Versunkenheit symbolhaft der Reiterheilige erscheint – all das verleiht diesem Stillleben eine seltene atmosphärische Dichte und macht es zu einem der bedeutendsten Bilder von der Hand Gabriele Münters. Die besondere Rolle der Farbe für seinen magischen Zauber streicht auch Hans Konrad Roethel heraus, wenn er feststellt, »wie stark das Werk vom Blau bestimmt wird, das geheim­nisvoll den Hintergrund beherrscht, das kühl den Georg umkreist, fast glühend in der Vasengestalt sich verdichtet und in den Madonnen wiederum aufklingt«. Größenverhältnisse, räumliche Logik und die genaue Form der Gegenstände werden dabei unwichtig. Auch dieses Bild nahm Kandinsky in den Almanach auf und schrieb dazu in seinem Aufsatz ›Über die Formfrage‹: »Das Stillleben von Münter zeigt, dass die ungleiche, ungleichgradige Übersetzung der Gegenstände auf einem und demselben Bild nicht nur unschädlich ist, sondern in richtiger Anwendung einen starken, komplizierten inneren Klang erzielt. Der äußerlich disharmonisch wirkende Akkord ist in diesem Falle der Urheber der harmonischen Wirkung.«

1911Öl auf Pappe,

51,1 x 68 cmBez. i. u.: münter; auf der

rückseite von der hand gabriele münters:

g. münter stilleben mit st. georg 1911

gms 666

68 stillleBen mit heiligem georg

gabriele münter

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In dem stark farbigen Bild der Dorfstraße im Winter kommt das Einfache und Direkte von Münters malerischem Talent, aber auch seine Radikalität einmal mehr zu kraftvollem Ausdruck. In klar von­einander abgegrenzten Flächen stehen leuchtende, scheinbar naturferne Farben unvermittelt neben­einander. Grüne, rosa, weiße und dunkelblaue Häuser säumen die Dorfstraße, auf deren Schatten sich neben dem vermischten Schneeweiß das kräftige Blaugrün des Himmels ins Türkis vertieft.Links spannt sich über einer Gelbzone eine Reihe aufgehängter violetter Wäschestücke. Das schräge Kippen der Häuser, durch energische schwarze Konturen akzentuiert, verleiht dem Motiv Dynamik und ›deformiert‹ es unter der subjektiven Sehweise der Künstlerin. Trotz der ungewöhnlichen Farb­kontraste enthält das Bild keinen schrillen Ton, nicht zuletzt wegen der disziplinierten, klaren Glie­derung der Elemente. ›Knappheit‹ der Ausdrucksmittel herrscht, auf andere Weise wie im Werk Kandinskys, auch hier. Ein schwedischer Kritiker der Münter­ Ausstellung in Stockholm im Jahre 1916 bringt den scheinbar selbstverständlichen Umgang der Malerin mit neuen Sehweisen auf den Begriff: »Frau Münter ist eine sehr radikale Malerin, aber ihr Temperament ist so, dass ihr Radikalismus sich nicht aufdrängt.«

1911Öl auf Pappe,

auf holz aufgezogen, 52,4 x 69 cm

Bez. i. u.: münter 1911gms 664

69 DorFstrasse im Winter

gabriele münter

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Das große Gemälde Kandinsky und Erma Bossi am Tisch schuf Gabriele Münter nach verschiedenen Bleistiftskizzen und spontanen Ölstudien, in denen sie bereits im Jahr 1910 die Situation eines Tisch­gesprächs zwischen Kandinsky und der befreundeten Malerkollegin festgehalten hat. Erst zwei Jahre später entstand die großformatige Fassung. In einer Ecke des Murnauer Wohnraums, von einer schwarzen Wandverkleidung hinterfangen, die ihre Intimität und Gemeinsamkeit unterstreicht, sitzen die beiden Künstler an einem Tisch mit kurzem weißem Tischtuch. Kandinsky doziert mit erhobener Hand, während Erma Bossi, mit Kandinsky seit der gemeinsamen Arbeit in der ›Neuen Künstler­vereinigung München‹ bekannt, ihm gespannt zuhört. Während die Frau in das Schwarzweiß ihrer Umgebung einbezogen ist und ihre vornübergeneigte Gestalt mit den aufgestützten Armen ganz zum Sprecher hingewandt ist, sammelt sich auf dessen Figur mit der leuchtend blauen Jacke und den hell­blauen Brillengläsern die Aufmerksamkeit. Diese beiden Blautöne tauchen noch mehrfach im Bild wieder auf, so im blau­weißen Tischgeschirr oder im Königsblau der kunstgewerblichen Gegenstände auf dem Bord über ihnen.Wie in Zuhören (Bildnis Jawlensky) (Tafel 64) war es auch hier weniger Münters Anliegen, genaue Porträts der Dargestellten zu zeichnen, als das Charakteristische der Situation wie in einem Extrakt herauszufiltern. Dies schien sich für Münter offenbar in einer bestimmten formalen Wahrnehmung zu manifestieren, denn auch Kandinsky und Erma Bossi am Tisch ist von einfachen, spannungsreichen Formbeziehungen geprägt. Für die gestaltende Straffung und Konzentration auf wesentliche Punkte spielen die offenen und geschlossenen Rechtecke eine wichtige Rolle, die das Paar in der Mitte mit überlegter Systematik umgeben. In knappen Andeutungen schildert Münter dabei auch das Interieur des Murnauer Hauses mit seinen Sammlungsgegenständen, dessen Folklore sich Kandinsky in länd­licher Tracht mit derben Sandalen und Wadenstrümpfen anpasst. Mit dem Bild dieses angeregten Tischgesprächs fängt Münter auch etwas von der Atmosphäre lebhafter Diskussionen jener Jahre und den geistigen Führungsanspruch Kandinskys mit sicherem Griff und leiser Komik ein.

1912Öl auf leinwand,

95,5 x 125,5 cmBez. i. u.: münter 1912;

auf dem Keilrahmen von der hand

gabriele münters: g. münter, nach tisch

gms 780

70 KanDinsKY unD erma Bossi am tisch

gabriele münter

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Im Zimmer gehört zu den wenigen großen Figureninterieurs, die Gabriele Münter während der Periode des ›Blauen Reiter‹ schuf und die eine herausragende Stellung in ihrem Werk einnehmen. Es bildet mit den beiden bekannten Gemälden Kandinsky und Erma Bossi am Tisch, 1912 (Tafel 70) und Mann im Sessel (Paul Klee), 1913 (Pinakothek der Moderne, München) eine Art Dreigestirn, das hin­sichtlich Sujet und Format eine Sonderstellung in ihrem Œuvre einnimmt.Das Bild entstand im Sommer 1913 in Berlin, als Münter für einige Wochen bei ihrer Schwester Emmy und ihrem Schwager Dr. Georg Schroeter zu Besuch war. Es zeigt Münters damals elfjährige Nichte Elfriede (Friedel) lesend in einem häuslichen Wohnraum. Die blockhaft aufgefasste Figur des Mädchens sitzt im weißgrauen Kleid groß in den Vordergrund gerückt in einem dunkelgrünen Sessel, ihr Kopf mit den blonden Haaren ist gesenkt. In der linken, kleinteiliger gegliederten Bildhälfte findet sich ein weiterer grüner Sessel, auf dem als auffallender Farbakzent ein zinnoberrot gekleidetes Negerpüppchen platziert ist.Als außergewöhnliche Elemente in dieser Bildhälfte fallen zwei hintereinander auf den Boden gestellte Gemälde auf: ein Frauenporträt auf blauem Grund und ein Stillleben mit einer ›primitiven‹ weib­lichen Aktskulptur. Diese beiden Bilder, die mit ihren dunklen Konturen und einfachen Farbflächen wie ein ins Naive gesteigertes Kondensat von Münters Malerei wirken, stellen zwei real existierende Gemälde dar. Beide wurden von ihrer Nichte Friedel gemalt und werden noch heute im Nachlass der Künstlerin aufbewahrt. Mit ihnen verstärkt Münter nicht nur den persönlichen Charakter des Por­träts, sondern sie bringt mit dem Hinweis auf die ›Kinderkunst‹ einen weiteren zentralen Aspekt ihrer eigenen Malerei ein. Etwa zeitgleich mit den französischen Kubisten und deren Rezeption der ›primi­tiven‹ außereuropäischen Plastik hatte der Kreis des ›Blauen Reiter‹ unter anderem die Volkskunst für sich entdeckt, bayerische Hinterglasmalerei, russische Flugblätter oder auch die Kunst von Kindern. Münter und Kandinsky begannen ab 1908 Kinderzeichnungen zu sammeln, ihr Nachlass umfasst die große Zahl von ca. 250 Blättern. Friedels Malereien orientieren sich eindeutig an den Werken ihrer Tante – die sie in dem Frauenbildnis ihrerseits porträtiert haben dürfte – und bringen dennoch eine eigene Note in das Bild ein.In Münters Gesamtkomposition kündigt sich, verglichen mit ihren bisherigen Bildnissen, eine leicht veränderte Form von Expressionismus an. Im Zimmer zeigt mit seiner leichten Aufsicht auf den Raum und den kantig gebrochenen, plastischen Formen der Mädchenfigur eine neue Stilstufe, die Einflüsse etwa von Pablo Picasso und den ›Brücke‹­Malern mit aufgenommen hat. Gerade die Kunst der ›Brü­cke‹ war ihr 1913 präsent durch die Kontakte des ›Blauen Reiter‹ zu deren Vertretern in Berlin und auch zu Herwarth Waldens ›Sturm‹­Galerie. Die Komplexität der bildnerischen Konnotationen – die ›geistige‹ Auffassung des Porträts, die Verweise auf ›primitive‹ Kunst und die mehrfache Anwesenheit von ›Weiblichkeit‹ im Raum – geben diesem Gemälde eine einzigartige Stellung in Münters Œuvre.

1913Öl auf leinwand,

88,1 x 99,8 cmBez. u. l.: münter. 1913

g 18 729/Fh 562

71 im zimmer

gabriele münter

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In den Jahren ihres Aufenthaltes in Skandinavien von 1915 bis 1920 zeigt sich in den Werken Gabriele Münters ein deutlicher stilistischer Wandel gegenüber der Periode des ›Blauen Reiter‹. Bald nach ihrer Ankunft in Stockholm hatte sie Kontakt mit den Künstlern der schwedischen Avantgarde, wie dem Ehepaar Isaac Grünewald und Sigrid Hjertén sowie Einar Jolin und Leander Engström aufge­nommen. Der Einfluss dieser schwedischen Schüler von Henri Matisse mit ihren fauvistischen Gestal­tungsprinzipien, dekorativ flächigem Bildaufbau und raffiniert gemischten Farben ist in Münters Werk bald unverkennbar. »Schon in der Wahl der Bildthemen besteht eine deutliche Übereinstimmung. Nicht nur bei Grünewald, Hjertén und Jolin stellen Figurenkompositionen, Bildnisse, Interieurs und Stadtlandschaften bevorzugte Bildthemen dar. […] Darüber hinaus orientiert sich Münter auch farb­lich und formal an der Malweise dieser Künstler, denn in ihren Bildern finden sich jetzt Anklänge an den dekorativen Expressionismus von Matisse, insbesondere an seine rhythmische Linienführung. Dabei wird vor allem in den Bildnissen und Figurenbildern das Körpervolumen – oft zugunsten einer idea lisierenden Wiedergabe von Menschen  – einer geschwungenen Linie untergeordnet.« (Sabine Wind ecker)Besonders das weibliche Bildnis wird für Münter in diesen Jahren, und noch weit bis in das nächste Jahrzehnt, zum bevorzugten Thema. Im Frühjahr 1917 schuf Münter einen Zyklus großer, sinn­bildhafter Porträts mit Titeln wie Zukunft, Sinnende oder Krank, in denen die Frauenfigur zugleich Trägerin einer psychologischen Botschaft von Warten, Hoffen, Sinnen oder Leiden ist. Auf jedem der genannten Bilder und weiteren Porträts dieser Zeit saß eine junge Schwedin jüdischer Abstammung, Gertrude Holz, Modell. Das Bild der Sinnenden zeigt sie in einem hermetisch abgeschlossenen Raum, dessen Begrenzung durch das niedrige Querformat zu allen Seiten überschnitten ist. Sie sitzt als Halb­figur, nachdenklich am Betrachter vorbeiblickend, nah am vorderen Bildrand vor einem Tisch mit stilllebenhaftem Arrangement von Blumen, Äpfeln und Lampe, der den Bildraum ebenso jäh abschnei­det wie die dunkelgrünen Polster und das undurchsichtige, teilweise mit Vorhängen verdeckte Fenster direkt hinter ihm. Der Kopf der Sinnenden, der im Gegensatz zu ihrem auffallend abstrakt gestalteten Leib besonders ausgearbeitet ist, wird durch die mattblauen Blumen hinter ihr zusätzlich betont. Der gebrochene Rhythmus der schwarzen Linien und die kühlen, mit Schwarz gemischten Farben von dunklem Rot, Grün und Mattgrau verstärken den melancholischen Grundton der Darstellung und lassen den Zusammenhang mit Münters eigener seelischer Verfassung in dieser Zeit besonders ein­dringlich werden.

1917Öl auf leinwand,

66 x 99,5 cmBez. o. i.: münter

31.11.1917 gms 646

72 sinnenDe

gabriele münter

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1931 kehrte Gabriele Münter nach langen unsteten Wanderjahren dauerhaft nach Murnau zurück. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatten Kandinsky und sie Deutschland zunächst gemeinsam verlas­sen. Von ihrem schweizerischen Exil brach ihr Lebensgefährte jedoch bald nach Moskau auf, wo er bis 1921 blieb. 1916 traf Münter ihn ein letztes Mal in Stockholm, danach sollten sie sich nie wiedersehen. Ein Jahr später heiratete Kandinsky in Moskau eine junge Russin, Nina Andrejewskaja. Münter trug schwer an dieser Trennung und führte lange ein wenig sesshaftes Leben in den verschiedensten Städ­ten Deutschlands und Nordeuropas, wenngleich Murnau seit Anfang der zwanziger Jahre ihr Standort war. Erst seit Beginn der dreißiger Jahre lebte und arbeitete Münter wieder kontinuierlich in Murnau. Das Russen­Haus zeigt das unverändert gebliebene Wohnhaus aus den gemeinsam mit Kandinsky verbrachten Murnauer Jahren, in einer Ansicht vom Garten her, die sie bereits damals mehrfach gewählt hatte, etwa in Landhäuschen von 1910 oder in einem Hinterglasbild aus demselben Jahr. Auf den Namen »Russen­Haus« hatten die Dorfbewohner das Anwesen bald getauft, weil dort mit Kan­dinsky ein Fremdling aus dem fernen Russland eingezogen war, was zudem das Kommen und Gehen eines bunten Künstlervölkchens – darunter seine Landsleute Jawlensky und Werefkin – nach sich zog. In einem Bericht Münters vom Kauf dieses Hauses im Jahr 1909 schimmert der Glanz der Anfänge ihrer ersten produktiven Murnauer Jahre auf. Von ihrer ersten Unterkunft, dem Gasthof Griesbräu, zogen sie bald »in die neugebaute Villa, in die sich Kandinsky auf den ersten Blick verliebt hatte. Die­ser Liebe ist er treu geblieben. Es gab hin und her Überlegen, er bearbeitete mich etwas und im Spätsommer war die Villa gekauft von Frl. G. Münter«.Das Bild von 1931 schildert das Haus mit den schönen Proportionen und freundlichen Farben inmit­ten des grünen Gartens als einen neuen Zufluchtsort. Münter lebte hier bis zu ihrem Tod 1962.

1931Öl auf leinwand,

42,5 x 57 cmBez. i. u.: münter 1931

gms 773

73 Das russen-haus

gabriele münter

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228 gabriele münter

Das Œuvre Gabriele Münters nach dem Ersten Weltkrieg und besonders seit der Konsolidierung ihrer Malerei in den dreißiger Jahren weist keine wesentliche Weiterentwicklung, aber auch keinen Rück­schritt auf. Das Ganzheitliche ihres Blicks, dessen Essenz auf zeichnerischer Verein fachung beruht und damit einen stets etwa gleichen Abstand zur Natur hält, bleibt der Grundzug ihres Schaffens.Im Blick aufs Gebirge von 1934 geht die Ansicht über zwei Hofgebäude, grüne Wiesen und die braune Fläche des Murnauer Mooses auf die schematisierten Dreieck­Silhouetten blauer Vorberge, zuletzt aufgehalten durch den Querriegel einer hohen hellblauen Berglehne. Melancholie ohne Bitterkeit liegt über den herbstlichen Tönen des Bildes, Vertrautheit trotz der unzugänglichen Art, mit der die Landschaft in eng gestaffelten Flächen zusammengedrängt ist. Wieder denkt man an Kandinskys Worte zur Charakterisierung der Kunst Münters: »Eine einfache, aus einigen ohne Ausnahme ›ernsten Farben‹ bestehende eigene Harmonie, die durch ihre tiefen Töne mit der Zeichnung einen ruhigen Akkord bildet.«Der Murnauer Landschaft, in der sie ihren persönlichen Stil entwickelt hat, hielt Münter als einziges der überlebenden Mitglieder des ›Blauen Reiter‹ die Treue, einem Ort, an dem so viel Bedeutendes für die moderne Kunst geschehen war.

74 BlicK auFs geBirge 1934Öl auf leinwand,

46,5 x 55 cmBez. r. u.: münter 1934

g 12 944

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August Macke, am 3. Januar 1887 in Meschede im Sauerland geboren und in Bonn aufgewachsen, begann 1904 ein Studium an der Düsseldorfer Akademie und besuchte zugleich Kurse der dortigen Kunstgewerbeschule. 1907 trat er für einige Monate in das Studienatelier von Lovis Corinth in Berlin ein. Im Juni 1907 unternahm er eine erste Reise nach Paris, wo die Begegnung mit dem Impressio­nismus für ihn entscheidend wurde und seine Neigung zu einer sinnlichen, farbigen Gestaltung der Wirklichkeit bestärkte. Erst 22­jährig, heiratete Macke Elisabeth Gerhardt, die Nichte des wohl­habenden Berliner Fabrikanten Bernhard Koehler, 1909 in Bonn. Die Hochzeitsreise ging erneut nach Paris, anschließend ließ sich das Paar für ein Jahr am oberbayerischen Tegernsee nieder. Anfang 1910 lernte Macke in München Franz Marc kennen und schloss mit ihm enge Freundschaft. Obgleich Macke im folgenden Jahr nach Bonn zurückkehrte, gehörte er durch die Vermittlung von Marc zum engen Kreis des sich formierenden ›Blauen Reiter‹, lieferte Beiträge für den Almanach und beteiligte sich an den Ausstellungen des Künstlerkreises. Im Oktober 1912 fuhr er mit Franz und Maria Marc nach Paris und besuchte Robert Delaunay. Dem Mystischen und ›Geistigen‹ in der Kunst von Kan­dinsky und Marc stand er jedoch eher distanziert gegenüber, für ihn war Malen ein kreatives Um ­gestalten der Natur, die er mit wunderbaren Farbeinheiten im Bild neu aufbaute. Das Themenspek­trum seiner Gemälde blieb am Gegenstand orientiert, seine Sujets waren Porträts, Stillleben, aber auch moderne Motive wie Spaziergänger im Zoologischen Garten oder vor Schaufenstern von Mode­geschäften. 1913 zog Macke mit seiner jungen Familie für acht Monate in die Schweiz an den Thuner See, wo eine große Zahl seiner reifen Werke entstand. Im Frühjahr 1914 unternahm er zusammen mit Paul Klee und Louis Moilliet jene legendäre Tunisreise, von der er eine Fülle von Aquarellen mit­brachte. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde er zum Kriegsdienst eingezogen und fiel wenige Wochen später am 26.  September 1914 an der französischen Front bei Perthes­lès­Hurlus in der Champagne.

august macKe

1887 meschede

1914 Perthes-lès-hurlus

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232 august macke

Das Porträt mit Äpfeln schuf Macke zu Beginn seines über einjährigen Aufenthaltes in Tegernsee, wo er sich Ende Oktober 1909 mit seiner jungen Frau niedergelassen hatte. Diese Zeit wurde für Mackes künstlerische Entwicklung zur ersten Durchbruchsphase. Hier klären sich wichtige Linien seines Früh werks ab, hier werden die Einflüsse, die Macke während seiner kurzen Studienjahre seit 1905 emp fangen hatte, insbesondere auf den Pariser Reisen, in vielen Werken stringent weiterverarbeitet, darunter allein über 150 Gemälde sowie zahlreiche Aquarelle und Zeichnungen.Neben Naturmotiven aus der näheren Umgebung des Tegernsees war Mackes schöne junge Frau Elisabeth ein besonderer Gegenstand seiner künstlerischen Inspiration. Elisabeth Gerhardt war nicht nur seit Mackes frühen Malversuchen sein bevorzugtes Modell und die beinahe einzige individuell Porträtierte unter seinen Frauendarstellungen, sondern sie wurde, gleichsam als Inkarnation seines Frauenbildes, in einer Vielzahl seiner Werke zum Prototyp der weiblichen Figur schlechthin. Ihr Porträt mit Äpfeln zeigt mit seinen weich schwingenden Konturen, dem malerischen Volumen der delikat nebeneinandergesetzten großen Farbflächen und dem geschlossenen, ruhigen Aufbau erste Meisterschaft. Frontal und annähernd symmetrisch steht die Halbfigur der schwangeren Frau vor braunschwarzem Hintergrund, in den Händen hält sie einen Teller mit Äpfeln. Im sanft von vorn einfallenden Licht sind ihr stilles Gesicht mit den niedergeschlagenen Augen, der gelbliche geraffte Vorhang rechts, das mattweiße Tuch über ihren Schultern und die Rundung der Büste weich und gleichmäßig modelliert. Formal knüpft Macke mit diesem Bild ganz offensichtlich an das Spätwerk Paul Cézannes an, auf das er kurz zuvor während seines dritten Paris­Aufenthaltes von Karl Hofer aufmerksam gemacht worden war. Besonders der Teller mit den Früchten, deren Materie allein aus Farbsubstanz zu bestehen scheint und die von den noch etwas unsicher gezeichneten Händen der Frau wie ein Stillleben präsentiert werden, bezieht sich mit großer Deutlichkeit auf das Vorbild. Die ausgewogene Anordnung aller Teile, die ›Gesamtharmonie‹, der sich einer Äußerung Mackes von 1910 zufolge Farbe und Form, Figur und Umgebung unter einer einheitlichen Empfindung einzugliedern haben, wird zu einem Grundzug seiner Kunst. Hier wie auch in späteren Bildern, etwa von Spazier­gängern oder Zeitungslesern, speist sich diese Harmonie zu einem nicht geringen Teil aus der stillen Versunkenheit der dargestellten Figuren. In den Tegernseer Bildern hat Macke Elisabeth häufig lesend, nähend, später das Kind haltend, dabei stets mit gesenktem Kopf dargestellt, was die abge­schiedene Konzentration der Bilder noch erhöht. Macke schätzte das Porträt mit Äpfeln besonders. 1912 zeigte er es auf der großen ›Sonderbund‹­Ausstellung in Köln, wo es sich der Onkel seiner Frau, Bernhard Koehler, für seine Sammlung auswählte (vgl. Tafel 76).

75 Porträt mit äPFeln 1909Öl auf leinwand,

66 x 59,5 cmBez. mitte r.: macke

1909; auf der rückseite: (7) Porträt mit äpfeln, macke

Bernhard und elly Koehler stiftung 1965

g 13 326

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Bernhard Koehler, ein Onkel von August Mackes Frau Elisabeth und wohlhabender Berliner Fabri­kant, war bereits früh zu einem Gönner des jungen August Macke geworden. Schon für die erste Parisreise des angehenden Künstlers 1905 gab Koehler einen finanziellen Zuschuss. Als Macke später einige Monate in Berlin bei Lovis Corinth studierte, nahm Koehler ihn in seinem Hause auf und unterstützte ihn mit Malmaterial und Farben. Im folgenden Jahr unternahmen Macke, Elisabeth Gerhardt und ihr Onkel eine weitere Reise nach Paris, wo man zahlreiche Galerien besuchte und Koehler unter Mackes Beratung eine Reihe von zeitgenössischen französischen Gemälden für seine Sammlung erwarb. Koehler sollte später zum wichtigsten Mäzen des ›Blauen Reiter‹ werden. Er unterstützte nicht nur die Publikation des Almanach Der Blaue Reiter 1912 und den ›Ersten Deut­schen Herbstsalon‹ 1913 mit einer beträchtlichen Summe, sondern kaufte auch Macke und seinen Künstlerfreunden immer wieder Bilder für seine Sammlung ab. Zum besonderen Wohltäter wurde er für Franz Marc, dem er ab Sommer 1910 gegen eine monatliche Leibrente Bilder abnahm.Macke hat im Bildnis Bernhard Koehler die ruhige, distinguierte Persönlichkeit seines Onkels mit festgefügten Formen in schlichter Überzeugungskraft zum Ausdruck gebracht. Die Beschränkung auf wenige graue, schwarze und weiße Flächen und der neutrale, kaum ausgeführte Hintergrund verraten deutlich den Einfluss der Porträtmalerei des französischen Realismus, insbesondere des von Macke bewunderten Édouard Manet. Das Gesicht mit den besonnenen blauen Augen ist durch die einfache Kontur von Haar und Bart eingerahmt, auf der hohen Stirn liegt ein lebendiger rötlicher Hauch.Macke hat Koehler mehrfach porträtiert. Das vorliegende Bild stammt, wie die meisten anderen Bil­der von August Macke und Franz Marc, aus Koehlers Privatsammlung. Leider sind große Teile seines wertvollen Kunstbesitzes, der neben Werken aus dem Künstlerkreis des ›Blauen Reiter‹ auch Bilder von Paul Cézanne, Claude Monet, Edgar Degas, Charles Camoin und Robert Delaunay umfasste, 1945 in Berlin verbrannt.1965 schenkte Bernhard Koehler jr. zusammen mit seiner Frau Elly der Städtischen Galerie im Lenbachhaus seinen noch erhaltenen, großartigen Kunstbesitz, darunter so bekannte Gemälde wie Promenade und Hutladen von August Macke oder Blaues Pferd I und Der Tiger von Franz Marc (Tafeln 86, 85, 43, 46).

1910Öl auf leinwand,

63,5 x 41 cmBernhard und elly

Koehler stiftung 1965g 13 335

76 BilDnis BernharD Koehler

august macke

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In Mackes nur wenige Jahre umfassendem reifen Werk spielen ab 1910 /11 Stillleben eine große Rolle, hier brachte er seine ebenso sinnliche wie konzentrierte Malerei zu früher Meisterschaft. Sein Der Geist im Hausgestühl: Stillleben mit Katze ist nicht nur vom Titel, sondern auch von der Zusam­menstellung der Motive und deren räumlicher Anordnung her vielschichtig. Auf den ersten Blick besticht das Gemälde durch seine klaren und doch raffiniert gesetzten Farben, die planen Flächen von Tisch und Wand in leuchtendem Türkis, die Akzente von Orange, Gelb und Weiß und die verschie­denen Abstufungen von weiteren sparsamen grünen und roten Tönen. Auf der schmalen, diagonal ins Querformat gesetzten Tischplatte sind ein Krug, weitere Gefäße und ein kleiner Geranientopf arran­giert, dazwischen die leuchtende Zitrone, Orangen und das weiße Tuch, an der Wand darüber ist eine farbige, ungerahmte Zeichnung offenbar ohne viel Umstände direkt auf die Wand gebracht. Dabei handelt es sich offensichtlich um eine relativ großformatige Pastellzeichnung von Mackes eigener Hand nach den ›spätgotischen‹ Holzfiguren dreier Musikanten aus dem Nachlass seines Vaters, die er um 1908 geschaffen hatte. Vom selben Motiv fertigte er 1911 nochmals eine sehr viel deutlichere Bleistiftzeichnung mit kräftigen Konturen, Alte hölzerne Tanzfiguren, die er wiederum als Vorlage für ein – seitenverkehrt wiedergegebenes – farbiges Hinterglasbild nahm. Im vorliegenden Stillleben fügt sich die Darstellung auf dem Pastell als lebendiges, animierendes Moment zwanglos in das sparsame und zugleich ästhetisch ausgesuchte Arrangement der Gegenstände ein. Vor allen diesen Elementen steht, am vorderen Bildrand ins Profil gewandt, die große Figur einer lebenden getigerten Katze, die wie in einer Momentaufnahme auf einen Punkt außerhalb des Bildes gerichtet ist.Macke schenkte dieses Bild seiner Schwiegermutter Sophie Gerhardt zum Geburtstag mit der Wid­mung: »Seiner lieben Mutter diesen Geist in unserem Hausgestühl. 18. Februar 1910. August«. Dies bestätigen die Erinnerungen seiner Frau Elisabeth Erdmann­Macke, der zufolge Macke erst ganz zuletzt die Katze in die Darstellung eingefügt hat, da ihre Mutter reine Stillleben nicht sonderlich schätzte. Für die Richtigkeit dieser Überlieferung spricht, dass das Tier und auch das Segment der kleinen Fläche neben ihm sehr viel pastoser gemalt sind als der Rest des Bildes; hier hat Macke offen­bar mit Übermalung vorhandener Farbschichten gearbeitet.Der Titel schließlich spielt, worauf schon Ursula Heiderich hingewiesen hat, auf die kleine Schrift von Friedrich Naumann, Der Geist im Hausgestühl. Ausstattungsbriefe, an, die um 1910 im Verlag der deutschen Werkstätten für Handwerkskunst in Dresden­Hellerau erschien ist. Dabei handelt es sich um den wohl fiktiven Briefwechsel eines Onkels mit seiner Nichte zur sinnvollen und sparsamen Aus­stattung ihrer Wohnung, mit leicht humoristischem und lebensreformerischem Impetus geführt. Dies passt zu dem oft humorvollen, zum Teil ironischen Umgangston in Mackes eigenen Briefen; mit dem Bild des Geist im Hausgestühl wollte er offenbar zudem auf die Art der Einrichtung in seiner und Elisabeths Wohnung anspielen.

1910Öl auf leinwand,

69 x 74 cmBez. auf der tischkante l.:

seiner lieben mutter / diesen geist in unserem

hausgestühl. / 18. Februar 1910. august

Dauerleihgabe aus Privatbesitz

77 Der geist im hausgestÜhl: stillleBen mit Katze

august macke

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Mackes kleinformatige Hinterglasmalerei Im Zirkus verzaubert durch ein preziöses, verfeinertes Linienspiel und den modernen Exotismus ihrer Darstellung. Im mattweißen Rund einer korallenrot umschlossenen Manege steht die schmale Figur einer Akrobatin in goldenem Trikot auf schwarzem, gold gefleckten Pferd.Ein grün befrackter Mann im Vordergrund hält ihr den Reifen entgegen; hinten steht, stark verklei­nert und mit feinem Pinsel gezeichnet, ein weißer Clown mit einer Peitsche. Die Welt der Bühne, des Theaters und des Zirkus, die die modernen Künstler von Henri de Toulouse­Lautrec und Edgar Degas bis zu den deutschen Expressionisten immer wieder fasziniert hat und die auch Macke in einigen seiner berühmtesten Werke, wie Russisches Ballett oder Seiltänzer, wiederholt thematisierte, leuchtet hier auf wunderliche Weise in einem offenbar in Sindelsdorf gemalten Hinterglasbild auf. Der von Macke violett und moosgrün bemalte, dunkel leuchtende Rahmen macht das Bild vollends zu einem Kleinod.

1911hinterglas, 11,8 x 8,9 cm

auf dem Deckkarton in der schrift

gabriele münters:august macke Bonn, 1911

gms 721

78 im zirKus

august macke

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Dieses Hinterglasbild entführt den Betrachter auf andere Weise als Zirkus in eine Welt voller fremd­artigen Zaubers. In einer geschwungenen, in elegantem Bogen aufsteigenden Barke gleiten drei nackte Mädchen vor einem schwebenden farbigen Grund zwischen üppigen Pflanzen und schillern­den Wellen dahin. Am unteren Ende des Gefährts mit dem gebogenen Schweif steht ein orientalisch gekleideter Ruderer mit Lendenschurz und Turban, den nackten Rücken dem Betrachter zugewandt. Stilistisch ist diese fernöstlich anmutende Vision von miniaturhafter Raffinesse durch den Einfluss der ›Ausstellung von Meisterwerken Muhammedanischer Kunst‹ zu erklären, die Macke im Mai 1910 in München gesehen und die unter den Künstlern viel Aufsehen erregt hatte. Selbst Henri Matisse kam von Paris in Begleitung von Hans Purrmann eigens in die bayerische Hauptstadt, um die seltene Gele­genheit einer Begegnung mit Originalen islamischer Kunst wahrzunehmen. In Zeichnungen und Skiz­zenbüchern setzte sich Macke mit diesen neuen Anregungen auseinander, aber auch in manche seiner Gemälde dringen die eleganten Linien und das orientalische Gepräge des Motivs mit ein.Thematisch aber stehen die Drei Mädchen in einer Barke mit den paradiesisch nackten, langhaarigen Mädchen, deren gelöstes Zusammensein von hellem Glanz übergossen ist, in Mackes Œuvre nicht alleine da. Das Thema dreier weiblicher Akte hat Macke von Drei Akte auf blauem Grund von 1910 bis zu den späten Badenden Mädchen mit Stadt im Hintergrund von 1913 (Pinakothek der Moderne, München) immer wieder aufgegriffen. Klassisches Körperideal und intimes, harmonisches Beisam­mensein verschmelzen für Macke mit einer Vorstellung vom irdischen Paradies, das den Künstler seit seinen Anfängen immer wieder beschäftigt hat. Dieses Ideal unbeschwerten Seins bestimmt latent auch zahlreiche seiner vordergründig der unmittelbaren Umgebung entnommenen Bilder wie Zoolo­gischer Garten I und Promenade (Tafel 83, 86).

1912hinterglas, 37 x 56 cmauf dem Deckkarton:

august macke, Die Barke, 1912 hinterglas

g 12 983

79 Drei mäDchen in einer BarKe

august macke

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Ende des Jahres 1910 kehrte August Macke mit seiner jungen Familie von Tegernsee nach Bonn zurück, wo er im folgenden Februar endlich ein eigenes Atelier beziehen konnte. Die ersten Bilder, die hier entstanden, zeigen mit Marienkirche im Schnee (Hamburger Kunsthalle) und Marienkirche mit Häusern und Schornstein (Kunstmuseum Bonn) Blicke aus dem Atelierfenster auf ein charakteris­tisches Motiv seiner städtischen Umgebung. Wenig später malte Macke in dem Bild Unsere Straße in Grau die direkt unter seinem Fenster gelegene Bornheimer Straße. »Es war eine belebte Straße, die täglich anregende Bilder bot«, schreibt Elisabeth Erdmann­Macke rückblickend: »Kinder, die in lan­gen Reihen zur Schule zogen, Soldaten, die zur Kaserne marschierten, Husaren auf ihren Pferden, Reiter, viele Lastwagen, Marktwagen, hoch beladen mit Körben. In der Nähe war das Industrieviertel, dessen pulsendes Leben August stets liebte. Die Bahn war nicht weit, die Rheinuferbahn nach Köln vor der Türe, die Viktoriabrücke, die über die Bahn führte, gleich vor dem Haus. Vom Atelierfenster aus der Blick auf die Marienkirche, die, von Vorstadthäusern umgeben, jeden Tag in anderer Stim­mung sich zeigte.«Unsere Straße in Grau entstand, dem zaghaften Blühen der beiden Bäume nach zu urteilen, offen­sichtlich in den ersten, noch winterlich kalten Frühlingstagen. Das Graugelb des bedeckten Himmels spielt mannigfaltig über das ganze Bild, mischt sich in den Fassaden mit Gelb, Orange und Violett, liegt in grünlicher Abschattierung auf der Brandmauer neben dem freien Eckgrundstück und über­zieht in flüssigen Pinselstrichen von feinem Perlgrau die Bahn der Straße mit den Bürgersteigen. Die Perspektive in Aufsicht ist am unteren und linken Bildrand abgeschnitten, ein Darstellungsmittel, das an die Straßenbilder der französischen Impressionisten, etwa von Albert Marquet, erinnert. Auch die angedeuteten schwarzen Arabesken der Passanten, die leichten freien Striche der Laternen am Stra­ßenrand und das anmutige Gestänge der Bäume verraten, wie das Straßenmotiv überhaupt, franzö­sische Vorbilder. In seinen Pariser Skizzenbüchern von 1907 hat Macke Straßenzüge in flüchtigen Studien mit sehr ähnlichen Mitteln festgehalten. In Unsere Straße in Grau nimmt die Bonner Vorort­straße, mit den Augen des Künstlers gesehen, etwas vom Flair der Pariser Eindrücke an.

1911Öl auf leinwand,

80 x 57,5 cmauf dem leinwand-

umschlag der rückseite von unbekannter

hand: unsere straße in grau, 1913

Bernhard und elly Koehler stiftung 1965

g 13 333

80 unsere strasse in grau

august macke

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Im Laufe des Jahres 1911 sah sich Macke mit unterschiedlichen künstlerischen Einflüssen konfron­tiert, einschließlich der Abstraktion, die er im Kreis des ›Blauen Reiter‹ besonders in der Malerei Wassily Kandinskys beobachten konnte. Die Werke dieser Zeit sind deshalb stilistisch nicht einheit­lich, unterschiedliche Ansätze stehen nebeneinander. Blumen im Garten, Clivia und Pelargonien schließt an die Tegernseer Stillleben von 1909 –1910 an und kann als eine letzte Steigerung von Mackes ›fauvistischer Phase‹ und seiner Auseinandersetzung mit Matisse gelten. Starke, gesättigte Grüntöne beherrschen das Bild und haben in jeder einzelnen stilisierten Form des Blattwerks alles Licht in ihre Farbe aufgesogen. Die Wirkung malerischer Dichte wird erhöht durch den spannungsreichen Kon­trast der drei hellroten Blüten, der tonroten Blumentöpfe und dem violetten Grund, der sich kompakt unter die Blätter schiebt. In diesem Stillleben nimmt ein eigentlich anspruchsloser Naturausschnitt aus Mackes Garten in Bonn durch die Intensität der reinen Farben eine fast bedrängende Gestalt an. Bei aller teppichhaften, dekorativen Darstellung der üppig grünen Pflanzen bleibt das spezifische Faszinosum von Mackes malerischer Huldigung an Matisse das Vertrauen auf die räumliche Wirkung der Farbe. 1910 hatte Macke in einem Brief an seine Schwiegermutter Sophie Gerhardt über die ›Fauves‹ und Matisse geschrieben: »Mir ist er rein nach meinem Instinkt der sympathischste der gan­zen Bande«, und weiter: »Ein überaus glühender, von heiligem Eifer beseelter Maler. Dass er ein ganz einfacher Mensch sein soll, ist mir sehr einleuchtend. Ich habe ihn mir nie anders gedacht.« Wenig später wird Macke in seiner Auseinandersetzung mit dem Kubismus und Futurismus nach neuen Lösungen für die raumbildenden Eigenschaften der Farbe suchen, bevor er in seinen reifen Bildern von 1913 zu eigenständigen, prismatischen Farbenergien findet.

1911Öl auf leinwand,

90 x 71,5 cmBez. r. u.: macke 1911

Bernhard und elly Koehler stiftung 1965

g 14 665

81 Blumen im garten, cliVia unD Pelargonien

august macke

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Indianer auf Pferden von 1911 zeugt deutlich von der Berührung August Mackes mit dem Ideengut des ›Blauen Reiter‹ und von seinem vorübergehenden Bemühen, dessen spiritualisierte Ausdrucks­formen für sich fruchtbar zu machen. Bereits die Wahl des Motivs bedeutet ein Abweichen von Mackes grundsätzlichem künstlerischen Credo, die ihm greifbare, sichtbare Welt in die sinnliche Form eines Bildes zu übersetzen. Auf der kleinen Holztafel reiten zwei zierliche Indianer, geschmückt mit Feder­büschen, durch eine dunkel glühende, farbige Fantasielandschaft. Das Gefüge der in ihren Aus­dehnungen nicht definierten und darum wenig fassbaren Bergregion aus transparenten, formelhaften Flächen und die Schrägen der Bäume verraten den unmittelbaren Einfluss der Bilder Franz Marcs. Indianer auf Pferden ist möglicherweise im Sommer 1911 entstanden, als Marc auf der Rückreise von London einige Tage bei Mackes Station machte und beide Künstler nebeneinander im Atelier malten, so wie es sich Marc in seinen Briefen zuvor erträumt hatte. Macke war mit dem Freund seit seiner Rückkehr aus Tegernsee in einem lebhaften, auch kunsttheoretisch sehr aufschlussreichen Briefwech­sel geblieben. Schon 1910 hatte Marc versucht, ihn für die Ideen der ›Neuen Künstlervereinigung München‹ zu begeistern, der er selbst nach der Begegnung mit Wassily Kandinsky beigetreten war. Mackes unmittelbares, weniger theoretisches Formempfinden jedoch begegnete der Münchner Gruppe zunächst mit Vorbehalten. »Die Vereinigung ist sehr ernst und mir als Kunst das liebste von all denen. Aber, aber – es schüttelt mich nicht. Es interessiert mich stark […] Kandinsky, Jawlensky, Bechtejeff und Erbslöh haben riesiges künstlerisches Empfinden. Aber die Ausdrucks mittel sind zu groß für das, was sie sagen wollen […] Sie ringen, glaube ich, zu sehr nach Form.« So schreibt Macke im September 1910 nach Besichtigung einer ihrer Ausstellungen an Marc. Im folgenden Jahr, zeit­weise auch von der Kunst Kandinskys stark fasziniert, gerät er dann näher in den Bannkreis des ›Blauen Reiter‹. Die allgemeine Beschäftigung mit der Kunst der Primitiven rückte auch für ihn in den Vor­dergrund. Sein Beitrag Masken für den Almanach kreist in poetischer Form um die innere Verwandt­schaft von primitiver Ausdruckskunst und vielfältigen emotionalen Eindrücken. Die Suche nach von der Zivilisation unberührten Kulturen mag auch die Themenwahl Mackes für dieses und zwei weitere Indianerbilder bestimmt haben. Doch nicht nur Abenteuerlust und naive Erzählung spielen in seinen Bildern eine Rolle, sondern für Macke blieb der Zauber der Form stets der Zugang zum Wesen eines Dinges. »Unfassbare Ideen äußern sich in fassbaren Formen. Fassbar durch unsere Sinne als Stern, Donner, Blume, als Form«, schrieb er im Almanach, und weiter: »Unsere Sinne sind uns die Brücke vom Unfassbaren zum Fassbaren.« Das Sichtbare blieb für Macke der Filter seiner Kunst. Von der Gedankenlast des ›Blauen Reiter‹, auf dessen erster Ausstellung er sich zudem nicht richtig vertreten fand, wandte er sich bald zunehmend ab. Das Jahr 1912 brachte ihm durch die Begegnung mit Kubis­mus und Futurismus andere formale Anregungen.

1911Öl auf holz, 44 x 60 cm

Bernhard und elly Koehler stiftung 1965

g 13 327

82 inDianer auF PFerDen

august macke

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Zoologischer Garten I gehört zu den bekanntesten Bildern Mackes, und auch der Künstler selbst schätzte das Werk hoch ein. Mit ihm gelangt ein Themenkomplex, der immer mehr zu Mackes ureige­ner Domäne werden sollte, zu einem ersten Höhepunkt: die stille Welt ›moderner Paradiese‹, die Welt von Spaziergängern, Zeitungslesern, Menschen im Gartenrestaurant, vor Schaufenstern oder an der Uferpromenade in gelöstem Müßiggang. Auf das neue Motiv des zoologischen Gartens, das ihn in der Folgezeit lebhaft beschäftigte, stieß Macke erstmals bei einem Aufenthalt in Amsterdam im Frühjahr 1912. Im dortigen Tierpark entstanden zahlreiche Skizzen, die Macke offenbar schon damals für die Übertragung in farbige Gemälde vorsah. Das Motiv des auf der Stange sitzenden Papageis, der in Zoologischer Garten I in triumphierender Farbenpracht den Vordergrund beherrscht, ist in diesen Skizzen vorformuliert. Im Kölner Zoo, dessen Restaurant die befreundete Familie Worringer betrieb, schlug Macke anschließend seinen Arbeitsplatz auf; aus der Fülle der mit Feuereifer gefertigten Stu­dien gingen nicht nur dieses Gemälde hervor, sondern auch Kleiner Zoologischer Garten in Gelb und Braun (Museum Frieder Burda, Baden­Baden) und das Triptychon Großer Zoologischer Garten (Museum am Ostwall, Dortmund).In der meisterhaften Komposition des Zoologischen Gartens I zeigt sich eine neue Entwicklung Mackes. Bereits im Januar 1912 hatte er neben anderen Bildern des ›Blauen Reiter‹ auch Robert Delaunays Eiffelturm gesehen, dessen rhythmisches Zerbersten in lichthaltige, splitternde Formen damals großen Eindruck auf die deutschen Künstler machte. Delaunays ›orphischer‹, farbiger Kubis­mus findet in den kantigen, gebrochenen Formen einen Widerhall, die nun die satte Farbfülle Mackes neu strukturieren. Die einzelnen Bildelemente, wie die blockhaft vereinfachten, entindividualisierten männlichen Figuren mit den Bowlerhüten, werden in rhythmischer, harmonisch genau ausbalancier­ter Manier verteilt, besonders auffällig in der Gruppe der drei gestaffelten Rückenfiguren vor den Kakadus rechts. Zwischen Menschen und Tieren ist durch den kostbaren ›Besatz‹ von Blumen und Lichtern ein geschmeidiges Farbgefunkel eingestreut; die Figuren selbst verschmelzen mit dem farbigen Grund.Das Thema des Zoologischen Gartens musste Macke besonders entgegenkommen: Seine sinnenhafte Exotik, domestiziert für den genießenden Müßiggang des Bürgers, verwandelt sich fiir ihn in die traumverlorene Erfahrung eines friedlichen Einklangs von Mensch und Natur.

1912Öl auf leinwand,

58,5 x 98 cmBernhard und elly

Koehler stiftung 1965g 13 329

83 zoologischer garten i

august macke

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Im Oktober 1913 siedelte August Macke von Bonn nach Hilterfingen am Thuner See in der Schweiz über. Die hier bis Juni 1914 verbrachte Zeit war für ihn die glücklichste Schaffensperiode. Hier ent­wickelte sich seine Kunst mit den gelösten, strahlenden Bildern des ›Spätwerks‹ zur vollen Reife. Der Kreis seiner Themen blieb auch hier begrenzt auf seinen eigenen Kosmos: Spaziergänger unter Bäu­men, auf der Uferpromenade, Frauen vor einem Schaufenster, badende Mädchen.Kinder mit Ziege entstand am Beginn dieser »sommerlich warmen, strahlenden Herbstwochen«, an die sich Elisabeth Erdmann­Macke in ihrem Lebensbericht erinnert. Mit bemerkenswerter Beobach­tungsgabe charakterisiert sie das Anliegen, das Macke nun mit neuen Ansätzen in seinen Bildern ver­folgt: »Was August Macke damals am meisten beschäftigte, war das Dynamische in einem Bild, nicht nur durch die formale Einteilung des Raumes ausgedrückt, sondern vor allem durch das Spiel der Farbtöne gegeneinander, untereinander: Selbst in einer gleichmäßigen, sagen wir grünen Fläche darf keine tote Stelle sein, die Farbe muss arbeiten, vibrieren – leben. Augusts ganzes Streben ging darauf hinaus, die reinen Farbtöne in einem Bild so zu nuancieren und in Einklang zu bringen, dass trotz der notwendigen Kontraste eben so eine große Harmonie und Bildeinheit zustande kam.« Tatsächlich beginnt in Kinder mit Ziege das Grün des Laubwerks in aufgefächerten satten Farbnuancen zu vibrie­ren, die das Auge zwischen den einzelnen Partikeln hin­ und hergleiten lassen. In einer hellen, fast weißen Lichtzone erscheinen die Kinder umschlossen von diesem Grün, wohlbehütet in ihrem sorg­losen Tun und ganz in das Spiel der farbigen Massen eingebunden.Die durch den ›simultanen‹ Kontrast der Farben erzielte Lebendigkeit und Bewegung des Bildes wird zum Leitmotiv aller späten Werke Mackes. Bereits zuvor hatte er die Dimensionen von Zeit und Bewegung in den kantigen Strukturen des Futurismus und Orphismus umzusetzen versucht. Von ent­scheidender Bedeutung wurde ihm jedoch die Begegnung mit den Bildern des Franzosen Robert Delaunay, dessen Stadtlandschaften und Eiffelturm­Bilder er bereits von der ›Blauer Reiter‹­Aus­stellung und aus dem Almanach kannte. Im Oktober 1912 sah er während seines Besuchs mit Franz Marc bei Delaunay in Paris die Serie der Fensterbilder und war von ihren vibrierenden farbigen Pris­men stark beeindruckt. In einer Notiz von 1914 schrieb er: »Das Leben auf den Moment zusammen­drängen, desgleichen Raum. Wir nehmen das Licht sehr schnell auf. Die einzelnen Teile des Bildes gehen sehr schnell in uns ein. Es bleibt der Unterschied zwischen Nacheinander und gleichzeitiger Lebendigkeit.« Während bei Delaunay das Material der Farben selbst, ihre Energien und Kontraste Thema der Malerei werden, will Macke damit das Leben in der Einheitlichkeit seiner Erscheinungen, als eine »große Harmonie« erfassen.

1913Öl auf Pappe, 24 x 34 cm

Bez. r. u.: aug. macke 1913

Bernhard und elly Koehler stiftung 1965

g 13 331

84 KinDer mit ziege

august macke

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Das Motiv einer vor dem Schaufenster stehenden Frau hat Macke zum ersten Mal in seinem wich­tigen Bild Großes helles Schaufenster von 1912 (Sprengel Museum Hannover) in seine Malerei eingeführt. Damals griff er unmittelbar auf das Vorbild der italienischen Futuristen und hier beson­ders auf Umberto Boccionis Gemälde La strada entra nella casa (Sprengel Museum Hannover) zurück, indem er die Rückenfigur einer Frau vor die farbige Scheibe eines Ladenfensters stellte, in deren Facetten sich das Geschehen auf der Straße spiegelte. Mit der Serie Hutläden und Mode­geschäfte, die 1913 und 1914 an der Promenade und in den Laubengängen von Hilterfingen entstand, gewinnen die Schaufensterbilder in seinem reifen Werk besonderes Gewicht. Dazwischen liegt die Begegnung mit den Fensterbildern Robert Delaunays (Tafel  89). Diese Bilder, in denen Delaunay immer wieder den Blick auf den in farbige Rauten zerlegten Eiffelturm durch eine reflektierende Fensterscheibe darstellte und an ihren ›simultanen‹ Kontrasten die Eigenbewegung der Farben erprobte, drückten für Macke eine »geradezu himmlische Freude an der Sonne und am Leben« aus. Begeistert schrieb er im Februar 1913 dem Onkel seiner Frau, Bernhard Koehler, den er zum Kauf von Delaunays Fenêtres 2 bewegte: »Eben erhalte ich Antwort von Delaunay. Ich denke fast immer daran in letzter Zeit. Reflektierende Spiegelscheiben, durch die man an einem sonnigen Tag die Stadt und den Eiffelturm sieht, die tiefvioletten Reflexe, links das herrliche Orange, unten die blassblauen Häuser, aus denen sich immer wieder, überfangen von dem scharf abgegrenzten Glänzen der Scheibe, der grüne Turm steil bis in den azurblauen Himmel erhebt … Du musst besonders einmal sehen, wie bei weiterem Wegtreten die Farben eine wunderbare Tiefe annehmen. Das ist alles so herrlich aus­gewogen, dass die ganze sonnige Natur sich drin spiegelt …«Doch im Hutladen aus Hilterfingen ist das Motiv der vor einem Schaufenster stehenden Frau in sehr eigenwilliger Weise zu einem Stillstand von beinahe magischer Konzentration geronnen. Aufrecht verharrt die schlanke Rückenfigur der Frau in sonor königsblauer, ins Schwärzliche spielender Robe vor der Auslage eines Hutgeschäfts. Wie kostbare Fetische bieten sich ihr die ausgestellten Hüte auf ihren goldenen Stangen an. Sie strahlen ein geheimnisvolles Leben aus, das die Betrachterin in seinen Bann schlägt. Die Scheibe hingegen, das trennende und zugleich verbindende Element zwischen ihnen, ist kaum in Andeutungen vorhanden, damit fehlt auch die subtile Trennung der optischen Ebe­nen. Einzig die gelben und violetten Winkel erinnern an die reflektierenden Prismen Delaunays. Die Experimente des Franzosen halfen Macke in diesen Bildern eher, seine Visionen in die präzise Ord­nung intensiver Farben umzugießen und sie so aus dem Fluss der Erscheinungen zu heben und fest­zubannen. »Als ob in diesem Stehenbleiben und gleich wieder Weitergehen sich ihm die Erfahrung der Vergänglichkeit … offenbart hätte«, schreibt Ilse Erdmann über Mackes späte Bilder an den Dich­ter Rainer Maria Rilke.

1913Öl auf leinwand,

54,5 x 44 cmBez. r. u.: macke 1913

Bernhard und elly Koehler stiftung 1965

g 13 334

85 hutlaDen

august macke

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In den Bildern von Spaziergängern am See, die durch die Darstellungen Zoologischer Gärten und einen ersten Spaziergang auf der Brücke von 1912 (Hessisches Landesmuseum Darmstadt) bereits vorbereitet wurden und nun in großer Zahl in Hilterfingen entstehen, zeigt sich Macke auf dem Höhe­punkt seiner Könnerschaft. Der große Zauber seiner Kunst, das Gleiten zwischen einer rein auf Optik angelegten Augenlust und dem stillen Versenken in die Figur, entfaltet sich meisterlich in diesen fun­kelnden Parklandschaften, in denen die promenierenden Spaziergänger träumerisch entrückt einen Moment innezuhalten scheinen. »Eine Gelockertheit in den Farben, ein wunderbares Leuchten, besonders in den grünen Tönen der Bäume, dem durchscheinenden Blau des Himmels, den Sonnen­flecken am Boden, die vom hellsten Gelb sich zum tiefsten Rotbraun verdunkelten, sind charakte­ristisch für seine letzten Bilder. Die Figuren stehen in dieser Atmosphäre weich und doch nicht ohne Kontrast, es gibt keine starken Konturen mehr, alles fließt, die Farbe ist entmaterialisiert, sie ist wie Emailleschmelz. Eine ungeheure Konzentration steckt in den damals zuerst entstandenen, meist ganz kleinen Bildern, die wie Juwelen leuchten … es sind wahre Dichtungen, Visionen des täglichen zu ­fälligen Lebens, gestaltet mit ungebrochener Freude und einer tiefen Inbrunst der Hingegebenheit an das Werk«, schreibt Elisabeth Erdmann­Macke nach Mackes Tod über diese Bilder.Mehrfach taucht das Motiv der Brücke oder der Uferpromenade auf, über deren Geländer oder Mau­ern sich ins Schauen versunkene Gestalten beugen. In Promenade sind es zwei identisch gekleidete Männer und vorn eine schematisiert gezeichnete Frauenfigur mit rotem Rock und weißer Bluse. Im Mittelpunkt der kurvigen, farbigen Volumen verharrt ein junges, elegant gekleidetes Paar in intimem, aber stummem Beieinander. Zwischen den weichen Umrisslinien ihrer Gestalten besteht ein Distanz haltendes Beziehungsgefüge, auch hier bleibt jede Figur für sich ins Schauen versunken. »Wie in vie­len Parklandschaften scheint auch in dem Bild Promenade die Zeit stillzustehen. Ein flüchtiger Augen­blick ist festgehalten, der die Menschen beim Müßiggang zeigt … Bei längerem Hinsehen erscheint die Szene plötzlich wie entrückt, mutet unwirklich an, ist von seltsamer Stille. Alles ist in Bewegungs­losigkeit erstarrt  – trotz der Dynamik der farblichen Gestaltung der Komposition« (Magdalena M. Moeller). Trotz aller strahlenden Festlichkeit der modernen Refugien und ihres Müßiggangs, deren Darstellung sich Macke in Hilterfingen beinahe ausschließlich widmet, schwingt ein melan­cholischer Unterton im Bewusstsein um die Vergänglichkeit des festgehaltenen Augenblicks mit.

1913Öl auf Pappe, 51 x 57 cm

Bez. l.: august macke 1913

Bernhard und elly Koehler stiftung 1965

g 13 328

86 PromenaDe

august macke

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Im April 1914 unternahm August Macke zusammen mit Paul Klee und Louis Moilliet die später legen­där gewordene Tunisreise. Unter dem Eindruck des südlichen Lichts und der intensiveren Wirkung der Farben erfuhr seine Kunst eine letzte Steigerung. Mit einer Fülle von Aquarellen und Skizzen kehrte Macke aus Tunis zurück. Das Gemälde Türkisches Café führte er später in Bonn in zwei Ver­sionen aus, die vorliegende schenkte er Bernhard Koehler, der die Reise finanziell unterstützt hatte. Nach der Erinnerung Moilliets handelt es sich bei dem Motiv um den überdachten Eingang am Fuße der Treppe zum damals berühmten Café des Nattes in Sidi Bou Saïd. Während Macke in den Zeich­nungen seines Skizzenbuches dieses Motiv mit einer Reihe von Einzelheiten festhält, konzentriert er sich im Ölbild ganz auf die lapidare Kraft reiner, stark farbiger Flächen von nahezu abstrakter Qua­lität. Auch die lichthaltigen Raumvolumen, die in den Bildern von 1913 noch eine Rolle gespielt haben, sind dem Diktat der puren Farbe gewichen. Aus der blauen Fläche der Hausmauer scheint die hellgrüne Figur des sitzenden Arabers herausgeschnitten, sein roter Fez bildet den komplementären Kontrast dazu. Auch das Orange und das Violett der Türfüllung stehen als reiner, kaum aufzulösender Komplementärkontrast lotrecht im Bild. Das Blau der Hauswand findet im Gelb des Stuhls und der Markise seine komplementäre Ergänzung. Auf andere Weise als etwa in den Werken Franz Marcs oder Wassily Kandinskys gewinnen Mackes Bilder ihre »innere Notwendigkeit«, indem sie in ihren farbigen und formalen Elementen zu größter Einfachheit reduziert werden.

1914Öl auf holz, 60 x 35 cm

Bez. r. u.: aug. macke 1914

Bernhard und elly Koehler stiftung 1965

g 13 325

87 tÜrKisches caFé

august macke

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August Macke hat während der Tunisreise ausschließlich nach der Natur aquarelliert und gezeichnet. Die wohl produktivste Zeit des zweiwöchigen Aufenthalts waren die vier Tage vom 10. bis zum 13. April, die er mit Paul Klee und Louis Moilliet im Landhaus des Dr. Jaeggi in St. Germain bei Tunis verbrachte. Dieses Haus und seine Umgebung wurde nicht nur von Macke, sondern auch von Klee mehrfach in Aquarellen dargestellt. Am 10. April schrieb Macke in einem Brief an seine Frau: »Ich habe heute sicher schon 50 Skizzen gemacht. Gestern 25. Es geht wie der Teufel, und ich bin in einer Arbeitsfreude, wie ich sie nie gekannt habe.«St. Germain bei Tunis zeigt vermutlich den Blick von der Terrasse des Landhauses Dr. Jaeggi, ein ent­sprechendes Motiv findet sich auch unter den Aquarellen Paul Klees. Die Farbe liegt hier über einer feinen Bleistiftskizzierung und löst sich zugleich von deren Gegenstandsbezeichnung ab, um eine eigene Struktur zu bilden. Kaum je hat Macke in seiner Malerei zu so freien Formen gefunden wie bei den verschobenen Quadraten im Blau des Himmels oder den lockeren Würfeln der Häuser, und dabei doch das Wesen seines Gegenstandes mit höchster Sensibilität erfasst. Es war dieses starke Vertrauen in die spielerische Beherrschung der Farbe, auf das sich Franz Marc in seinem erschütternden Nach­ruf auf den im Krieg gefallenen Freund August Macke am 14. September 1914 bezog: »Wir Maler wissen gut, dass mit dem Ausscheiden seiner Harmonien die Farbe in der deutschen Kunst um meh­rere Tonfolgen verblassen muss und einen stumpferen, trockeneren Klang bekommen wird … Er hat vor uns allen der Farbe den hellsten und reinsten Klang gegeben, so klar und hell als sein ganzes Wesen war.«

1914aquarell, 26 x 21 cm

Bernhard und elly Koehler stiftung 1965

g 14 666

88 st. germain Bei tunis

august macke

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Robert Delaunay, geboren am 12. April 1885 in Paris, verbrachte den größten Teil seiner Kindheit auf dem Landgut eines Onkels bei Bourges. Nach einer abgebrochenen Schulausbildung begann er 1902 eine Lehre als Bühnendekorateur, 1904 stellte er erstmals im ›Salon des Indépendants‹ Bilder im spätimpressionistischen Stil aus. Im Haus seiner Mutter lernte er den ›naiven‹ Maler Henri Rousseau und den Schriftsteller Guillaume Apollinaire kennen. 1907 traf Delaunay im Pariser Salon des deut­schen Kunsthistorikers Wilhelm Uhde die junge russische Malerin Sonia Terk, die seit 1908 mit Uhde verheiratet war und die er nach ihrer Scheidung einige Jahre später heiratete. 1909 begann er mit seinen ersten großen Serien, Saint­Séverin, La Ville und La Tour. Durch Vermittlung der polnischen Malerin Elisabeth Epstein, einer Freundin Wassily Kandinskys und Studienkollegin von Sonia Delaunay, kam der Kontakt mit dem Münchner Kreis zustande. Von allen drei Serien zeigte Delaunay Beispiele auf der 1. Ausstellung des ›Blauen Reiter‹ 1911 /12 in München, wobei vor allem der kubis­tisch zersplitterte Tour Eiffel großen Eindruck auf die deutschen Künstlerkollegen machte. Ab 1912 schuf Delaunay die umfangreiche Serie seiner Fenêtres (Fensterbilder), die mit prismatischen, quasi­ ab strakten Farbrauten arbeiten. Diese Werke übten ebenfalls auf Künstler wie Paul Klee, Franz Marc und August Macke, die ihn in seinem Pariser Atelier besuchten, einen entscheidenden Einfluss aus. Auf Delaunays erster Einzelausstellung in der ›Sturm‹­Galerie in Berlin 1912 wurde eine große Anzahl dieser Fensterbilder gezeigt, auf dem ›Ersten Deutschen Herbstsalon‹ 1913 präsentierte Delaunay am selben Ort seine neue Serie der Formes circulaires (Kreisformen).Während des Ersten Weltkriegs lebten Robert und Sonia Delaunay in Portugal, 1921 kehrten sie nach Paris zurück. 1931 wurde Delaunay Mitglied der Gruppe ›Abstraction­Création‹, der führenden Ver­einigung abstrakter Künstler in Frankreich, aus der er ebenso wie Naum Gabo, Hans Arp, Sophie Taeuber­Arp und Otto Freundlich 1934 wieder austrat. 1937 übernahm er mit seiner Frau die Ausstat­tung zweier Pavillons auf der Pariser Weltausstellung. In diesen Jahren entstand seine letzte Serie der großformatigen Rythmes sans fin (Rhythmen ohne Ende). Während des Zweiten Weltkriegs wich das Ehepaar Delaunay vor der deutschen Besatzung 1940 in die Auvergne aus, dann weiter in den Süden nach Mougins in die Nähe ihrer Freunde Arp und Magnelli. Delaunay starb am 25. Oktober 1941 in Montpellier.

roBert DelaunaY

1885 Paris

1941 montpellier

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262 robert Delaunay

Vorbereitet durch die Serie seiner Bilder zu La Ville, auf der in kubistischer Zerstückelung und unter einem pointillistischen Farbraster – umgeben von der Staffage eines Vorhangs – der Blick über die Dächer von Paris auf den Eiffelturm gezeigt wird, schuf Delaunay ab April 1912 in rascher Folge die Serie seiner Fenêtres. In ihnen vollzieht er nach der ›Dekonstruktion‹ der vorangehenden Zyklen die ›Konstruktion‹ des Bildes allein aus autonomen Farbrastern, die keiner äußeren Abbildungsfunktion mehr folgen, sondern sich nach eigenen Bewegungsgesetzen in der Fläche entwickeln und dabei die traditionelle Fixierung der Darstellung auf Räumlichkeit, Volumen und Motiv buchstäblich gegen­standslos werden lassen. Zwar ist auf allen Bildern dieser Serie die grüne oder bläuliche Silhouette des Eiffelturms noch zu erahnen, doch die Fensterbilder bedeuten weit mehr als die Darstellung des Ausblicks auf den Turm durch Fensterscheiben, auf denen sich das Licht in farbigen Prismen reflektierend bricht. Das Material der Farben selbst, ihre formschaffenden Energien, Intervalle und Kontraste werden hier zum Thema der Malerei, wobei sich Delaunay auf neuartige Weise der von dem Chemiker Chevreul entdeckten ›Simultankontraste‹ bedient. Diese gelangen im Gegensatz zu Komplementärkontrasten zu keinem Ausgleich, sondern jede Farbe zieht das Auge zur Gegenfarbe des benachbarten Feldes herüber und hält es so in ständiger Bewegung.Dieser weitreichende Prozess der Ablösung vom Gegenstand durch vibrierende Farbfelder und die Umstrukturierung der Bildaussage wurde von den deutschen Künstlern in seiner Bedeutung klar erkannt; die Fensterbilder stießen hier, anders als in Frankreich, auf einen begeisterten Empfang. Als Erster sah und besprach Paul Klee Bilder der neuen Serie im Juli 1912 auf der Ausstellung des ›Modernen Bundes‹ in Zürich. In ähnlich enthusiastischem Sinn reagierten auch Marc und Macke bei ihrem Besuch in Delaunays Atelier in Paris im Oktober 1912. Noch auf der Rückfahrt schrieb Marc an Kandinsky: »Er arbeitet sich zu wirklich konstruktiven Bildern durch, ohne jede Gegenständlichkeit, man könnte sagen: rein klangliche Fugen.«Anlässlich der großen Einzelausstellung Delaunays mit zahlreichen Fensterbildern in Berlin und Köln sprach Guillaume Apollinaire erstmals von »Orphismus«, einer farbigen Spielart des Kubismus, um die transparente Prismenmalerei Delaunays zu charakterisieren. Diese Anregung eines farbig zersplit­ternden Orphismus wurde grundlegend für das reife Werk von Franz Marc und August Macke bis 1914. Das kleine Fensterbild aus der Sammlung des Lenbachhauses ist nicht datiert, entstand jedoch einer Liste Delaunays zufolge erst 1914. Mit der Technik in Wachskreide mit Weißhöhungen ist die Transparenz einer gewissen Verdichtung gewichen, die zentrifugalen ›Propellerformen‹ in der oberen Bildhälfte weisen auf die gleichzeitige Serie der Kreisformen hin, die für Delaunay ebenfalls reine Farbenergie und eine entsprechend bewegte, moderne Seherfahrung verkörperten.

89 Fenêtre sur la Ville 1914Wachsmalerei auf

Pappe, 28,8 x 20 cmBez. r. u.: delaunayDauerleihgabe der gabriele münter-

und johannes eichner-stiftung, aK 1

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Lune no. 1 gehört zu der Serie der Formes circulaires, die Delaunay 1913 in rascher Folge schuf. Ging es ihm in seinen Fensterbildern seit dem Jahr zuvor (Tafel 89) um die Konstruktion des Bildes aus den Gesetzen der Farbe, so ist in den »soleil« oder »lune« genannten Formes circulaires nun das Licht selbst – die Quelle alles Sichtbaren und Ursache der verschiedenen Farberscheinungen – Gegenstand der Malerei. In den Kreisformen wird der Grundprozess des Sehens als bewegte Farberfahrung nachvollzogen, ihre zirkuläre Gestalt wird aus der Aktivität der Farbe geboren, die in kreisendem Rhythmus die verschiedenen Energien des Lichts und seine Gravitationsformen bindet.In Bildern der »Monde«, so auch in Lune no. 1, herrscht im Gegensatz zur zentrifugalen Kraft der »Sonnen« eine verhaltene zirkuläre Schwingung vor. In einem verzogenen Oval liegt ein heller, matt­weißer und rötlicher Kern. Innen zunächst schmal, nach außen breiter und schwellend, lagern sich um ihn die Farbbahnen seines Lichthofs ab und werden unten zu einer losen Schleife übereinander­gezogen, die das Ganze in eine leise Drehung versetzt. Mit den verhältnismäßig unvermischten, klaren Farben von Weiß, Rot, Grün und Blau und den straffen Bahnen hat Delaunay hier das reinste und zugleich einfachste Bild seiner Kreisformen geschaffen.Mond Nr. 1 wurde zusammen mit zahlreichen weiteren Bildern dieser Serie auf dem ›Ersten Deut­schen Herbstsalon‹ 1913 bei Herwarth Walden in Berlin ausgestellt. Ähnlich wie mit den Fenster­bildern hat der französische Künstler auch mit der Serie der Kreisformen, in der er den konsequentes­ten Schritt zur gegenstandslosen Malerei vor dem Ersten Weltkrieg tat, nachhaltig auf die deutsche Avantgarde gewirkt. Für August Mackes Farbkreise von 1913 und auch für Franz Marc dienten die Kreisformen als Anleitung für erste Experimente mit dem gänzlich abstrakten Bild.

1913(Kreisformen,

mond nr. 1)Öl auf nessel,

65 x 54 cmg 16 989

90 Formes circulaires, lune no. 1

robert Delaunay

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Heinrich Campendonk wurde am 3. November 1889 in Krefeld geboren und begann als 15­Jähriger eine Lehre an der dortigen Fachschule für Textilkunde. 1905 wechselte er an die Kunstgewerbeschule Krefeld, wo der Niederländer Johan Thorn Prikker sein Lehrer und Förderer wurde. Hier lernte er bald seinen Studienkollegen Helmuth Macke kennen, einen Vetter von August Macke. Ab 1909 ar ­beitete Campendonk unter prekären finanziellen Bedingungen, auf sich selbst gestellt, weiter. Durch Helmuth und August Macke kam er in Kontakt mit der ›Neuen Künstlervereinigung München‹. Im Herbst 1911 siedelte Campendonk aus dem Rheinland nach Sindelsdorf über, in die unmittelbare Nachbarschaft des von ihm verehrten Franz Marc. Zunächst teilte er sich eine kleine Atelierwohnung mit Helmuth Macke, später zog seine Freundin Adda Deichmann ebenfalls nach Sindelsdorf. 1913 heirateten sie hier und lebten mit den anderen Künstlerpaaren Franz und Maria Marc sowie Jean­Bloé Niestlé und Marguerite Legros in enger dörflicher Gemeinschaft.Campendonks Schaffen dieser Jahre ist stark geprägt von den Einflüssen der Künstlerfreunde des ›Blauen Reiter‹, in erster Linie von Franz Marc, aber auch von Kandinsky. Auch Anregungen des Kubismus nahm Campendonk in seine eigenwillige, märchenhaft scheinende Tier­ und Landschafts­welt mit Figurenszenerien in transparent leuchtenden Farbfacetten auf. Der Kriegstod von Franz Marc im März 1916 traf Campendonk tief. Im Mai 1916 zog er mit seiner jungen Familie nach Sees­haupt am Starnberger See, wo er erneut mit dem Künstlerfreund und Tiermaler Jean­Bloé Niestlé in enger Nachbarschaft lebte, der in Seeshaupt ein von Bernhard Koehler finanziertes Haus bezogen hatte. 1921 kehrte Campendonk nach Krefeld zurück, wo ihm der Industrielle und Mäzen Paul Mult­haupt ein Haus zur Verfügung stellte. Im Oktober 1926 folgte auf Empfehlung von Walter Kaesbach seine Berufung als Lehrer der Meisterklasse für »Wandmalerei, Glasmalerei, Mosaik und Gobelin­weberei« an die Kunstakademie Düsseldorf. 1933 wurde Campendonk durch die Nationalsozialisten aus diesem Amt entlassen. 1935 erhielt er einen Ruf als Professor für »Monumentale und dekorative Kunst« an die Rijksakademie Amsterdam. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Campendonk trotz mehrfacher Stellenangebote nicht mehr in sein Heimatland zurück. Er starb am 9. Mai 1957 in Amsterdam.

heinrich camPenDonK

1889 Krefeld

1957 amsterdam

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Nach den ersten Jahren als »Jüngster im Kreis des Blauen Reiter«, in denen Campendonk zunächst stark im Bann von Kandinskys halb abstrakten Formen und Farben, später zunehmend unter dem Einfluss von Franz Marc stand, kristallisiert sich ab 1913 eine persönliche Handschrift heraus, die diese Einflüsse bis in die frühen 1920er­Jahre auf spezifische Weise weiterentwickelt. Auch in dem 1917 entstandenen Bild Wald, Mädchen, Ziege deutet Campendonk auf für ihn typische Weise die bildnerischen Visionen Franz Marcs von einer ursprünglichen Einheit von Mensch und Tier, die ›Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies‹, ins Märchenhaft­Geheimnisvolle um. In einer dunkel glühenden Waldeinsamkeit von vorherrschend braunen und blaugrünen Tönen sitzen ein bäuerlich ge kleidetes Mädchen und die hinter ihm lagernde Ziege, beide bildparallel ins Profil gewendet, in Ruhe nebeneinander. Die junge Hirtin wirkt mit ihren schlichten, rundlichen Körperformen wie eine primitiv geschnitzte Holzfigur, was den Eindruck des Einfachen wie auch der Bewegungslosigkeit noch unterstreicht. Der Kopf des Tieres wird von einer jener vegetabilen Vertikalen überschnitten, die auch in den Bildern Franz Marcs häufig pflanzliche Formen, etwa Bäume oder umgebendes Busch­werk, in einem komplizierten Gewebe mit der Darstellung der in ihr ruhenden Tiere verknüpft. Bei Campendonk herrscht jedoch nicht die zwingende Logik der transparenten Strukturen Franz Marcs vor, sondern ein eher additives Nebeneinander vielfältiger Gegenstandsformen, in das häufig auch mensch liche Figuren einbezogen sind – die dabei in ein eigentümliches Schweben gebracht werden. Wald, Mädchen, Ziege entstand bereits in Seeshaupt, wohin Campendonk nach dem Kriegstod von Franz Marc im Frühjahr 1916 von Sindelsdorf übergesiedelt war.

1917Öl auf leinwand,

94 x 64 cmBez. u. mitte: c./17

g 15 388

91 WalD, mäDchen, ziege

heinrich campendonk

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Wie plötzlich und intensiv der prägende persönliche und künstlerische Kontakt zu den Freunden des ›Blauen Reiter‹ seinerzeit durch Campendonks Übersiedelung nach Sindelsdorf hergestellt worden war, lässt unter anderem eine Briefnotiz ahnen, die Campendonk am 7. Oktober 1911 kurz nach seiner Ankunft an seine Freundin Adda Deichmann schrieb: »In München traf ich morgens um sieben Uhr ein, traf eine Stunde später mit [Helmuth] Macke zusammen. Nachmittags waren wir bei Kandinsky, wo wir großartige Dinge sahen und neben einigen anderen Herrn auch Herrn Kuno Amiet kennen lernten. Montag waren wir im Salon Thannhauser und in der Pinakothek, lernten auch noch Erbslöh kennen. Abends fuhren wir mit Mackes Vetter [August] nach Penzberg, wo Herr Marc uns im Wagen abholte, und es ging im Trab nach Sindelsdorf.« Sein Studienfreund Helmuth Macke und dessen Vet­ter August hatten ihm diese Begegnung vermittelt, und ab Herbst 1911 lebte er mit seiner späteren Frau Adda jahrelang in unmittelbarer Nachbarschaft von Franz und Maria Marc in Sindelsdorf, ebenso wie der Tiermaler Jean­Bloé Niestlé und Marguerite Legros. Nach dem Kriegstod von Franz Marc zog Campendonk im Mai 1916 nach Seeshaupt am Starnberger See um – ebenso wie Niestlé mit seiner Familie –, erst 1921 kehrte er in seine Heimatstadt Krefeld zurück. In den prägenden Jahren seiner künstlerischen Entwicklung gibt es deshalb enge lebens­ und werkgeschichtliche Verbindungen zwi­schen Heinrich Campendonk und dem Kreis des ›Blauen Reiter‹, ebenso einen intensiven Bezug zur oberbayerischen Region um Sindelsdorf und später um das etwas weiter nördlich gelegene Penzberg. In den produktiven Jahren von 1912 bis 1920 schuf Campendonk unter dem Einfluss besonders von Franz Marc eigenwillige, in märchenhaft­brüchige Idyllen umgewandelte Tier­ und Landschafts­szenen mit Figuren in leuchtenden Farbfacetten, wobei die bayerische Landschaft und auch die Arbeitswelt der kleinen Bergarbeiterstadt Penzberg häufig eine Rolle spielen. Das friesartig breite, in geheimnisvollen Rottönen schimmernde Bild mit Kuh ist ein Hauptwerk aus dieser Periode, in der grafische Chiffren, transparente Farben und die einfachen Architekturelemente des bayerischen Arbeiterdorfs zu einer Einheit verschmolzen werden.

um 1920Öl auf leinwand,

45,8 x 78,2 cmg 14 532

92 BilD mit Kuh

heinrich campendonk

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Als Sohn eines russischen Oberst am 13. März 1864 im Gouvernement Twer geboren, schlug Jaw­lensky zunächst die militärische Laufbahn ein. Ein militärisches Ausweispapier verzeichnet als Ge ­burtsjahr 1865. 1889 ließ sich Jawlensky von Moskau nach St. Petersburg versetzen, um dort gleichzei­tig an der Akademie Malerei studieren zu können. Dort lernte er die Malerin Marianne von Werefkin kennen, die für viele Jahre seine Lebensgefährtin wurde. 1896 siedelte er mit ihr nach München über, wo er schon bald an der privaten Kunstschule von Anton Ažbe mit Wassily Kandinsky zusammentraf. 1901 hielt er sich mit Werefkin und ihrer Haushälterin Helene Nesnakomoff ein Jahr auf dem Gut Ansbaki bei Witebsk in Weißrussland auf; dort wurde 1902 der gemeinsame Sohn mit Helene, And­reas, geboren. Zwischen 1903 und 1906 reiste Jawlensky mit Werefkin mehrfach für längere Zeit nach Frankreich, nach Paris, in die Normandie, Bretagne und die Provence, wo ihn die Malerei von Vincent van Gogh, Paul Gauguin und den ›Fauves‹ um Henri Matisse stark beeindruckte. 1908 und 1909 malte er zusammen mit Kandinsky, Gabriele Münter und Werefkin im oberbayerischen Murnau und entwi­ckelte in den dort entstehenden Landschaftsbildern seinen expressiven Stil entscheidend weiter. Anfang 1909 wurde er mit Werefkin Gründungsmitglied der ›Neuen Künstlervereinigung München‹.Den Sommer 1911 verbrachte Jawlensky in Prerow an der Pommerschen Ostseeküste, hier kam es zu einer weiteren Intensivierung der Farbe in der Landschaftsmalerei. In seinem Schaffen erhielt jedoch das Porträt Vorrang, wobei er sich mit starken Buntfarben zunehmend auf eine Typisierung des Gesichts konzentrierte, bei der die Augen zum dominierenden Motiv wurden. Den Austritt aus der ›Neuen Künstlervereinigung München‹ zugunsten des ›Blauen Reiter‹ im Dezember 1911 vollzogen Jawlensky und Werefkin zunächst nicht mit. Doch bereits im folgenden Jahr wurden ihre Bilder auf der Tournee der Ausstellung des ›Blauen Reiter‹ mit einbezogen. Nach Kriegsausbruch emigrierte er mit Werefkin, Helene Nesnakomoff und Andreas zunächst nach St. Prex an den Genfer See, 1917 siedelten sie nach Zürich, 1918 nach Ascona über. Die seriellen, abstrakter werdenden Landschaften von St. Prex wurden hier von den Werkgruppen der ›Mystischen Köpfe‹ und ›Heiligengesichte‹ ab ­gelöst. 1921 trennte sich Jawlensky von Werefkin und zog nach Wiesbaden. Dort beschäftigte er sich bis zu seinem Tod am 15. März 1941 überwiegend mit den Darstellungen des menschlichen Antlitzes, die in der Serie der ›Meditationen‹ mit ihrem streng abstrahierten Formenschema zu beinahe ikonen­haften Andachtsbildern werden.

alexej jaWlensKY

1864 torschok /russland

1941 Wiesbaden

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Das Bild Der Bucklige entstand rund zehn Jahre nach Jawlenskys Ankunft in München, wo er seine künstlerische Ausbildung nach Verlassen der St. Petersburger Akademie fortgesetzt hatte. Dazwischen lag die intensive Auseinandersetzung mit verschiedenen Strömungen der zeitgenössischen Kunst, besonders mit dem Vorbild der neuen französischen Malerei. 1903 reiste Jawlensky erstmals in die Normandie und nach Paris. 1905 folgte ein weiterer Aufenthalt in der Bretagne, wo er Bilder der her­ben Landschaft und ihrer Bewohner schuf. Zum ersten Mal gelang Jawlensky hier eine Weiterentwick­lung der spätimpressionistischen Manier seiner frühen Landschaften und Stillleben und ein Durch­bruch zu einer eigenen Aktivität der Farbe: »Die Bilder waren glühend in den Farben«, schreibt er über seine bretonischen Werke, »und mein Inneres war damals zufrieden«.Das Bild des buckligen Jungen im Dreiviertelprofil ist in intensiven Blautönen mit spannungsvollen, kräftigen Pinselstrichen ausgeführt, deren gestückelter, pastoser Farbauftrag an die expressive Hand­schrift Vincent van Goghs erinnert, den Jawlensky damals sehr verehrte. Noch 1908 erwarb er unter erheblichen finanziellen Opfern ein Landschaftsbild des großen Meisters. Das Motiv des buckligen, vom Schicksal gezeichneten Menschen hat Jawlensky mehrfach beschäftigt, so auch in den zwei Ver­sionen Der Buckel I und II aus dem Jahr 1911, die die verzerrte Gestalt einer Frau in grellrotem Kleid zeigen. Das Bildnis des jungen Bretonen und andere Werke von 1905 wurden auf dem ›Salon d’automne‹ in Paris ausgestellt und brachten Jawlensky zum ersten Mal internationale Anerkennung ein.

93 Der BucKlige 1905Öl auf Pappe, 52,5 x 49,5 cm

Bez. i. u.: a. jawlenskymit mitteln aus dem

Vermächtnis gabriele münters erworben 1963

g 13 107

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Das Porträt Hedwig Kubins, der Frau des Zeichners Alfred Kubin, entstand vermutlich in den ersten Monaten des Jahres 1906 während eines Besuchs des Künstlerpaares bei Alexej Jawlensky in der Münchner Giselastraße. Der junge und exzentrische österreichische Zeichner Kubin hatte sich seit der Jahrhundertwende mit seinen eindrucksvollen Blättern dämonischer Visionen und Traumgesichte in München einen Namen gemacht und war spätestens seit 1905 mit Jawlensky und Marianne von Werefkin bekannt. 1904 hatte er nach einer schweren seelischen Krise die um einige Jahre ältere, verwitwete Hedwig Gründler, eine Schwester des Schriftstellers Oscar A. H. Schmitz, geheiratet. Jaw­lensky hat die reifen, schon leiderfahrenen Züge der Frau, die dem stets gefährdeten Kubin trotz eigener schwerer Krankheiten einen dauerhaften Halt geben sollte, mit großzügigen Pinselstrichen festgehalten. Während die lockeren Bahnen ihres Kleides und die Modellierung des Gesichts noch Anklänge an den späten Impressionismus zeigen, weisen die Farbwahl, besonders die grünen Ver­schattungen bereits die kraftvolle Freiheit der ›Fauves‹ auf. Im Mai 1906 begann Hedwig Kubin die Übersiedlung ihres Hausstandes von München nach Zwickledt in Oberösterreich vorzubereiten, Alf­red Kubin folgte im Herbst nach. Die restlichen Jahrzehnte lebte das Ehepaar in der ländlichen Zurückgezogenheit von Zwickledt, wo Hedwig 1948, elf Jahre vor Alfred Kubin, starb.

1906Öl auf Pappe,

75 x 57 cmg 15 670

94 Porträt heDWig KuBin

alexej jawlensky

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Im Bildnis des Tänzers Alexander Sacharoff begegnet zum ersten Mal das Motiv des frontalen, sym­metrisch angelegten Porträts mit weit geöffneten Augen und einem eindringlichen Blick, die in den zunehmend typisierten Köpfen bis zum Ersten Weltkrieg zu einem zentralen Thema der Bilder Alexej Jawlenskys werden. Mit frappierender Direktheit blickt das Modell aus schwarz geschminkten Augen den Betrachter an. Dieser kann sich der Glut des Blicks, dem Angebot der Pose und dem Signalrot des Kleides wie des lächelnden Mundes kaum entziehen. Jawlensky hat den damals mit ihm eng befreundeten Balletttänzer Sacharoff mehrfach porträtiert, allein 1909 entstanden drei Bildnisse von ihm, darunter das ebenfalls höchst expressive Kostümbild Die weiße Feder (Staatsgalerie Stuttgart). Nach Aussage von Clotilde von Derp­Sacharoff malte Jawlensky das vorliegende Bild spontan in weni­ger als einer halben Stunde, als der Tänzer ihn eines Abends vor dem Auftritt, bereits geschminkt und kostümiert, im Atelier in der Giselastraße in Schwabing besuchte. Sacharoff habe die noch feuchte Malpappe sofort mitgenommen, aus Angst, Jawlensky würde sie, wie sonst häufig der Fall, weiter überarbeiten. Nicht zuletzt deshalb wohl haben die zügigen, schwungvollen Linien vor dem skizzen­haften Hintergrund und die Faszination einer direkten persönlichen Präsenz des Modells nichts von ihrer Unmittelbarkeit und Frische eingebüßt. Das Androgyne der Erscheinung Sacharoffs muss dabei besonders anziehend auf Jawlensky gewirkt haben, der in den Serien seiner späteren Köpfe der zwan­ziger und dreißiger Jahre zunehmend alle individuellen Merkmale, auch die des Geschlechts, zuguns­ten einer schematisierten und meditativen Auffassung des menschlichen Gesichts auslöschen sollte.

1909Öl auf Pappe, 69,5 x 66,5 cm

g 13 388

95 BilDnis Des tänzers alexanDer sacharoFF

alexej jawlensky

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Im Sommer 1908 hatten Wassily Kandinsky und Gabriele Münter bei einem Ausflug in die Umgebung Münchens Murnau am Rand des Staffelsees entdeckt und regten Alexej Jawlensky und Marianne von Werefkin an, auch dorthin zu fahren. Das war der Beginn einer äußerst fruchtbaren gemeinsamen Arbeit der vier Künstler in Murnau, die eine wichtige Rolle für die Entwicklung des ›Blauen Reiter‹ spielen sollte. Der Sommerabend in Murnau weist mit seiner grafischen Ökonomie, den intensiven Farben und der Verwendung schwarzer Konturen große Ähnlichkeit zu gleichzeitigen Landschafts­bildern Gabriele Münters auf (vgl. Tafel 60). In wenigen, lockeren Flächen spannen sich die Forma­tionen der Landschaft über das Bild, lediglich im Zentrum durch einige sparsame Details charakte­risiert. Jawlenskys Begriff der malerischen ›Synthese‹ wird in diesem Bild besonders anschaulich. 1907 hatte er den malenden Pater Willibrord Verkade aus Beuron kennengelernt, der ihm die Flächenkunst der französischen ›Nabis‹ in der Nachfolge Paul Gauguins noch einmal entscheidend näherbrachte. Die Technik des ›Cloisonnismus‹, das heißt die rhythmische Gliederung der Bildelemente durch schwarze Konturen, verband sich bei Gauguin mit dem Streben nach subjektiver Interpretation der Wirklichkeit. »Kunst ist vor allem ein Mittel des Ausdrucks«, diese Botschaft brachte auch Paul Séru­sier nach München, der 1907 Verkade dort besuchte und mit Jawlensky bekannt wurde. Der in der Kunsttheorie seit der Jahrhundertwende viel diskutierte Begriff der ›Synthese‹, den Jawlensky häufig gebrauchte, wurde durch ihn Kandinsky und den anderen Münchner Freunden vermittelt. Im Kreis des sich formierenden ›Blauen Reiter‹ sollte er eine wichtige, erweiterte Bedeutung erlangen, in die Kandinskys Idee einer Kunst der ›inneren Notwendigkeit‹ integriert wurde. Kandinsky, der sich formal besonders von der dynamischen Struktur und den ›wilden‹ Farben einiger Murnauer Bilder Jawlenskys inspirieren ließ, äußerte sich dem Älteren gegenüber später dankbar über die Zeit, »da Sie mich lehrten«.

1908/09Öl auf Pappe, 33,2 x 45,1 cmgeschenk von

gabriele münter 1960g 13 109

96 sommeraBenD in murnau

alexej jawlensky

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Während der Phase des gemeinsamen Arbeitens in Murnau um 1908 –1909 kann Alexej Jawlensky für eine gewisse Zeit als der am weitesten Fortgeschrittene im Quartett der Künstlerfreunde gelten. Ein Bild wie die Murnauer Landschaft von 1909 bestätigt dies. Mit der Reduktion der Landschaft auf geometrische, kantige Flächen ist eine hohe Stilisierung erreicht, wobei sich die Farben in bisher nicht gekannter Kühnheit vom Naturvorbild lösen. Zwischen den Gegenständen und ihren Schatten, zwischen Himmel und Erde wird in der Farbbehandlung nicht mehr unterschieden, in unversöhn­lichen Kontrasten stehen sich das künstlich leuchtende Violett und Gelb, Grün und Orange gegen­über, ergänzt durch das Zinnoberrot der Baumfigur im Hintergrund und den türkisblauen Hügelzug. Die ›Farbproben‹ rechts unten bekräftigen den autonomen Charakter des Gemäldes, dessen Wirklich­keit eine andere als die des unmittelbaren Sinneseindrucks ist.Für die kantigen, verzerrten Formen des Bildes können Einflüsse des französischen Kubismus ver­mutet werden, besonders Henri Le Fauconniers, der in seiner Flächengestaltung wiederum auf Paul Gauguin und Émile Bernard zurückgriff. Le Fauconnier wurde neben Georges Braque, André Derain, Maurice de Vlaminck, Pablo Picasso, Kees van Dongen und anderen Vertretern der Avant­garde als Gast zur Teilnahme an der 2. Ausstellung der ›Neuen Künstlervereinigung München‹ im Herbst 1910 eingeladen.

1909Öl auf Pappe,

50,4 x 54,5 cmBez. r. u.:

a. jawlensky /09gms 678

97 murnauer lanDschaFt

alexej jawlensky

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1910 malte Alexej Jawlensky eine Serie von Stillleben, die zu seinen besten Werken der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gehören. Ab 1911 rückt das Thema des menschlichen Antlitzes, das sich in den Por­trätköpfen bereits ankündigte, mit geradezu obsessivem Anspruch in das Zentrum seines Schaffens. Das Blaue Stillleben von 1911 (Hamburger Kunsthalle) kann deshalb in gewissem Sinne als Abschluss eines Genres angesehen werden, dem sich Jawlensky erst in seinen letzten Lebensjahren auf dem Krankenlager wieder zuwandte. Alle Stillleben von 1910 –1911 sind ein vorbehaltloses Bekenntnis zu dem überragenden Einfluss seines bewunderten Vorbilds Henri Matisse. Das flächige und dekorative Stillleben mit Früchten ist ganz im Sinne des großen Farbkünstlers Matisse komponiert. Auf blau­grauer Fläche sind Äpfel, Gefäße und die dunkelblauen Finger stilisierter Blüten angeordnet, eine dünne horizontale Linie trennt sie vom intensiven blaugrünen Hintergrund. Doch in dem lebhaften, von physischem Einsatz zeugenden Pinselstrich und in einem gewissen schwerfälligen Ernst prägt sich die Eigenart Jawlenskys gegenüber dem optischen Fest der Malerei Matisses aus. Auch seine Äuße­rung »Ich suchte intensiv in diesen Stillleben nicht den stofflichen Gegenstand, sondern wollte durch Farben und Formen das ausdrücken, was in mir vibrierte« zeugt von einem ganz persönlichen An ­liegen.Vergleicht man Stillleben mit Früchten mit dem Stillleben grau von Gabriele Münter (Tafel 65), so wird der Bezugspunkt, den Jawlenskys Bilder für Münters Malerei damals darstellten, besonders deutlich.

um 1910Öl auf Pappe,

48 x 67,7 cmBez. i. u.: a. jawlensky

gms 680

98 stillleBen mit FrÜchten

alexej jawlensky

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Reife markiert einen bemerkenswerten Wandel in Alexej Jawlenskys Darstellungen des menschlichen Gesichts. Am Ende seines Lebens schrieb er an Willibrord Verkade: »Im Jahr 1911 kam ich zu einer persönlichen Form und Farbe und habe gewaltige figurale Köpfe gemalt und mir damit einen Namen gemacht.« In strenger Frontalität blickt das große, ins fast quadratische Bildformat gesetzte Gesicht der Reife den Betrachter aus weit geöffneten, schwarz umrandeten Augen beschwörend an. Die schreiend bunten Farben, die an Wildheit diejenigen der französischen ›Fauves‹ übertreffen und eine Überschreitung der Wirklichkeit erreichen, werden durch ein festes schwarzes Liniengefüge gebän­digt. In seinem Schema sind die entindividualisierten Züge des menschlichen Gesichts zur idolhaften Maske erstarrt. Durch das annähernd quadratische Bildformat ist die Figur knapp unter dem Hals abgeschnitten, sodass die Konzentration ganz auf der runden Grundform des Kopfes und besonders auf den götzenhaften grünen Augen liegt. Auch der Titel Reife verrät ein Abstrahieren vom konkreten menschlichen Modell, in ihm scheint sich eher die sommerliche Glut der Farben auszudrücken, aus denen Jawlensky die archetypische Form bildet. In Stilisierung, motivischer Vereinfachung und for­maler Konzentration weist Reife auf die ab 1917 entstehenden ›Mystischen Köpfe‹ Jawlenskys voraus. Das um 1912 datierte Bild entstand nach Jawlenskys Aufenthalt in Prerow an der Ostsee im Sommer 1911, von dem der Künstler in seinen Lebenserinnerungen berichtet: »Dieser Sommer bedeutete für mich eine große Entwicklung in meiner Kunst. Ich malte dort meine besten Landschaften und große figurale Arbeiten in sehr starken, glühenden Farben, absolut nicht naturalistisch und stofflich. Ich habe sehr viel Rot genommen, Blau, Orange, Kadmiumgelb, Chromoxydgrün. Die Formen waren sehr stark konturiert in Preußischblau und gewaltig aus einer inneren Ekstase heraus.«

um 1912Öl auf Pappe, 53,5 x 49,5 cm

Bez. r. u.: a. jawlensky g 13 300

99 reiFe

alexej jawlensky

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In den letzten Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs malte Alexej Jawlensky nahezu ausschließ­lich weibliche Köpfe mit kantigen schwarzen Konturen und aufgerissenen dunklen Augen, die das Charakteristische des individuellen Gesichts in ein Schema stetig wiederkehrender Formtypen ein­binden. Auf diese Weise werden sie zu suggestiven Zeichen, deren Sinn sich letztlich nur im Überblick über die an die Hunderte gehende Reihe dieser Bildnisse erschließt. Jawlensky rang hier offenbar um eine prinzipielle Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten seiner Malerei. 1913 entstanden unter anderem fünf Spanierin genannte Köpfe.Im steilen Hochformat ist das schmale, bräunliche Gesicht der Spanierin leicht aus der Achse gerückt. Rosen im Haar und am Kragen des Kleides und die schwarzen Muster des steil herabfallenden Schleiers umgeben die Figur mit einem dekorativen Gerüst, ohne von ihrem atavistischen Blick im Zentrum abzulenken. Im Gegenteil: Die Attraktivität seiner beschwörenden Wirkung wird noch erhöht. Ob der Tänzer Alexander Sacharoff für die Bilder der Spanierin Modell stand, wie Elisabeth Erdman­Macke überliefert, lässt sich im formalisierten Ausdruck dieser Köpfe nicht mehr nach­vollziehen. Bilder wie Byzantinerin, Kreolin, Sizilianerin, alle ebenfalls 1913 entstanden, belegen den Versuch Jawlenskys, in der Serie weiblicher Bildnisse vom Individuellen zum Allgemeinen zu ab ­strahieren.

1913Öl auf Pappe,

67 x 48,5 cmBez. i. o.:

a. jawlensky 13 g 12 556

100 sPanierin

alexej jawlensky

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Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde Jawlensky als ehemals russischer Leutnant sofort des Lan­des verwiesen und ging mit Marianne von Werefkin, seiner Gefährtin Helene Nesnakomoff und dem Sohn Andreas in die Schweiz ins Exil. Bis 1917 installierten sie sich in einem Häuschen in St. Prex am Genfer See. Jawlensky berichtet darüber in seinen Erinnerungen: »In unsrer kleinen Wohnung dort hatte ich nur ein kleines Zimmer zum Arbeiten mit einem Fenster. Ich wollte meine gewaltigen stark farbigen Bilder malen, aber ich fühlte, ich konnte nicht. Meine Seele erlaubte mir diese sinnliche Malerei nicht, trotzdem in meinen Arbeiten viel Schönes ist … Ich saß vor meinem Fenster. Vor mir sah ich einen Weg, ein paar Bäume, und von Zeit zu Zeit sah man in der Entfernung einen Berg. Ich fing nun an, einen neuen Weg in der Kunst zu suchen. Es war eine große Arbeit … Meine Formate wurden kleiner: 30 x 40. Ich malte sehr viele Bilder, die ich ›Variationen über ein landschaftliches Thema‹ nannte. Sie sind Lieder ohne Worte …«In der Tat beschritt Jawlensky mit den Variationen über die durch das Fenster gesehene Landschaft bei St. Prex neue Wege. Allein schon die rigorose Beschränkung auf ein einziges Thema verweist auf sein Bedürfnis nach Kontemplation und Versenkung, das sich von den Ablenkungen der äußeren Welt immer mehr zurückzieht. So sind auch die Landschaftsausschnitte vor seinem Fenster, der Blick auf die leicht abfallende Straße über einige Bäume und einen mit Stauden eingefassten Gartenweg nur vordergründig Abbilder des sichtbaren Motivs. In über hundert Arbeiten, die zum Teil noch bis 1921, lange nach seinem Weggang aus St. Prex, entstanden, variierte Jawlensky in verschwimmenden Farb­kompositionen diesen Bildausschnitt, um zu seinem Kern vorzudringen. »In harter Arbeit und mit größter Spannung fand ich nach und nach die richtigen Farben und Formen, um auszudrücken, was mein geistiges Ich verlangte. Jeden Tag malte ich diese farbigen Variationen, immer inspiriert von der jeweiligen Naturstimmung zusammen mit meinem Geist. Hier entstanden eine ganze Reihe meiner schönsten Variationen, die bis heute sehr wenigen Menschen bekannt sind.« Die Funktion der Natur als ›Schlüssel‹ zum Inneren des Künstlers ist es, die bei größter motivischer Beschränkung den Grad der Abstraktion in Jawlenskys Werk bestimmt.

1916Öl auf Pappe,

35,7 x 27 cmBez. i. u. (kaum leserlich):

a. jawlensky Bernhard und elly

Koehler stiftung 1965g 14 669

101 nacht in st. Prex

alexej jawlensky

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1917 zog Alexej Jawlensky von St. Prex am Genfer See nach Zürich um. Ungefähr mit diesem Datum fällt auch seine erneute Beschäftigung mit dem menschlichen Antlitz zusammen, dem er sich bis zu seinem Tod mit einer in der Geschichte der modernen Malerei beispiellosen Ausschließlichkeit wid­men sollte. Aus Mädchen­ und Frauenköpfen, insbesondere dem Porträt Emmy Scheyers  – einer befreundeten Malerin, die 1915 Werke Jawlenskys auf einer Ausstellung in Lausanne gesehen hatte und sich fortan ganz dem Schaffen des bewunderten Künstlers widmete – entwickelte Jawlensky in einer ersten Werkgruppe bis 1921 seine ›Mystischen Köpfe‹ und ›Heiligengesichte‹.Im schmalen, länglichen Oval von Meditation und in den stilisierten Schläfenlocken rechts und links findet sich noch ein Abglanz der individuellen Züge Emmy Scheyers. Das feine, farbig nachgezogene Liniengerüst des Kopfes steht durchlässig und schwebend vor dem Ockergrund der Malfläche; alle weiteren Einzelheiten von Haar und Halsansatz sind ausgeschaltet. Ein überindividueller Ausdruck allgemeiner menschlicher Daseins­ und Leidenserfahrung liegt über den gesenkten Lidern und den wenigen, verschobenen Strichlagen des Mundes. In der geometrischen Grundfigur von Meditation und besonders im Brennpunkt des Gesichts, den geschlossenen Augen und den farbigen Flecken des ›Weisheitszeichens‹ über der Nasenwurzel, sind die Hauptelemente aller nun folgenden ›Heiligen­gesichte‹, ›Abstrakten Köpfe‹ und der späten ›Meditationen‹ vorgebildet. Diese Köpfe, die nun zu Hunderten entstehen, bedeuteten für Jawlensky in ihrer seriellen Reihung weit mehr als formale Studien des abstrahierten menschlichen Gesichts. Das Antlitz des Menschen wurde für ihn ein Medium für die Erfahrung von Transzendenz, die immer wieder variierte Abwandlung der einmal gefundenen Grundform in seiner Malerei ›ein Weg zu Gott‹. Diese radikale Konzentration der Kunst auf das Moment religiöser Selbstentäußerung, die allein die thematische Beschränkung auf ein Motiv über zwanzig Schaffensjahre hinweg verständlich macht, drückt Jawlensky 1938 in einem Brief an Pater Willibrord Verkade mit folgenden Worten aus: »Einige Jahre malte ich diese Variationen und dann war mir notwendig, eine Form für das Gesicht zu finden, da ich verstanden hatte, dass die große Kunst nur mit religiösem Gefühl gemalt werden soll. Und das konnte ich nur in das menschliche Ant­litz bringen. Ich verstand, dass der Künstler in seiner Kunst durch Farben und Formen sagen muss, was in ihm Göttliches ist. Darum ist das Kunstwerk ein sichtbarer Gott, und die Kunst ist ›Sehnsucht zu Gott‹.«

1918Öl auf Pappe, 40 x 31 cm

Bez. i. u.: a. jawlenskyBernhard und elly

Koehler stiftung 1965g 13 340

102 meDitation

alexej jawlensky

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1921 siedelte der heimatlose Jawlensky von Ascona nach Wiesbaden über, nachdem dort eine Kollek­tivausstellung seiner Werke großen Erfolg gehabt hatte. Die hier in großer Zahl entstehenden so ­genannten ›Abstrakten Köpfe‹ der zwanziger und dreißiger Jahre bedeuten eine logische Fortentwick­lung der vorangegangenen ›Mystischen Köpfe‹ und ›Heiligengesichte‹. Meditation ›Das Gebet‹ von 1922 hat noch das lichte transparente Kolorit vieler ›Abstrakter Köpfe‹ der ersten Phase. Mittels sub­tiler farblicher und linearer Verschiebungen ist das Gesicht in meditativer Entrückung leicht zur Seite verzogen, wobei das Grundschema nochmals reduziert erscheint. Armin Zweite hat diese Phase der Entwicklung Jawlenskys wie folgt beschrieben: »Die Formen gewinnen vor allem in den frühen zwan­ziger Jahren zunehmend an Präzision. Ehemals amorphe Flecken ziehen sich zu Kreisen zusammen, die mit dem orthogonalen Liniengerüst kontrastieren. Auch die Farbe wird homogener. Insgesamt wird alles unmittelbar Ausdruckshafte immer stärker zurückgenommen. Die dabei stereotyp wieder­kehrenden Details sind schnell aufgezählt: Eine große U­Form bezeichnet Wangen und Kinn. Nase und Brauen, durch dünne, gratartige Linien markiert, stoßen zumeist rechtwinklig aneinander, so dass man gelegentlich versucht ist, ein Kreuz zu assoziieren. Den Mund deutet fast immer eine waagrechte Linie an, wobei ein farbiger Schatten in Gestalt eines Kreissegments die Rundung des Kinns para­phrasiert. Über der Stirn ein Dreieck, dessen Spitze auf den Scheitel weist. Von den Augen als inten­sivsten Ausdrucksträgern bleiben allenfalls waagrechte oder leicht nach unten durchschwingende Stri­che übrig, hin und wieder von verschwimmenden Farbbändern akzentuiert. Allein die seitlichen Wellenlinien rufen noch die gelockten Haarsträhnen früherer Arbeiten in Erinnerung.«Mit diesen wenigen, hier charakterisierten Mitteln eines äußerst reduzierten Formenrepertoires erreichen Jawlenskys ›Abstrakte Köpfe‹ ein Höchstmaß an Verinnerlichung und Konzentration. Trotz der Eliminierung aller individuellen Züge wirken diese Köpfe nicht ausdruckslos, sondern evozieren den Eindruck einer nur dem Menschen gegebenen Beseeltheit und strahlen nach des Künstlers eigenem Urteil eine »große Geistigkeit« aus.

1922Öl auf Pappe,

40 x 30 cmBez. i. u.: a. j.

Bernhard und elly Koehler stiftung 1965

g 13 341

103 meDitation ›Das geBet‹

alexej jawlensky

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Das verhältnismäßig große Bild Liebe von 1925 kann als ein Hauptwerk unter Jawlenskys ›konstruk­tiven‹ Köpfen der Zwanzigerjahre gelten. Mit seinen besonders reinen, kühlen Formen weist das Kopfmotiv hier eine geometrische Präzision und Verfestigung auf, die in den gleichzeitigen Bestre­bungen auch anderer Künstler wie Oskar Schlemmer und Paul Klee ihre Parallelen findet. Die stren­gen Waagerechten und Senkrechten, Kreise und Kreissegmente sowie der gleichmäßige, abdeckende Farbauftrag, der keine Unregelmäßigkeiten mehr zulässt, rücken das Bild in die Nähe der allgemeinen Tendenz zum Experiment mit konstruktiven Formen.Mitte der 1920er­Jahre war es vorübergehend zu einer Annäherung Jawlenskys an ehemalige Kollegen gekommen, als er sich durch Vermittlung von Emmy Scheyer mit Wassily Kandinsky, Paul Klee und Lyonel Feininger, alle damals als Lehrer am Bauhaus in Weimar tätig, zur Gemeinschaft der ›Blauen Vier‹ zusammenschloss. Obwohl in ihrem Namen eine ferne Reminiszenz an das Programm des ›Blauen Reiter‹ anklingt, blieb die ›Blaue Vier‹ eine überwiegend praktische Vereinigung, die sich um Ausstellung und Vertrieb der Kunst ihrer Mitglieder kümmerte und durch Emmy Scheyer besonders in den USA vertreten und bekannt gemacht wurde. Aus dem Kontakt mit den Kollegen ergab sich für Jawlensky keine entscheidende Veränderung seiner künstlerischen Ziele. Während etwa für Kan­dinsky, Klee und Schlemmer die Arbeit mit elementaren Formen ein Forschen nach den geistigen Grundlagen aller materiellen Erscheinungen bedeutete, blieb für Jawlensky die konstruktive Perfek­tion des Kopfschemas eine Erweiterung der Möglichkeiten persönlicher religiöser Offenbarung. In besonders glücklichen Fällen scheint ihm dabei eine gelöste Annäherung an jene geheimnisvolle Grundform gelungen zu sein, die in sich ein Urbild spiritueller menschlicher Existenz umgreift.

1925Öl auf Pappe,

59 x 49,5 cmBez. l. u.:

a. i; r. u.: x.25 g 15 678

104 lieBe

alexej jawlensky

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Seit 1929 litt Alexej Jawlensky an Arthritis, einer schmerzhaften Gelenkversteifung, die es ihm zuneh­mend schwerer machte, vor der Staffelei zu malen. Über die letzte Phase seiner künstlerischen Arbeit berichtet Jawlensky 1938, als ihn eine fast vollständige Lähmung gezwungen hatte, die Malerei ganz aufzugeben, in dem mehrfach zitierten, bekenntnishaften Brief an Pater Willibrord Verkade: »So gin­gen die Jahre in großer Arbeit. Und dann wurde ich krank und konnte wohl weiter arbeiten, trotzdem meine Hände immer mehr und mehr steif wurden. Ich konnte den Pinsel nicht mehr in einer Hand halten, musste beide Hände dazu nehmen, immer mit großen Schmerzen. Mein Format wurde ganz klein, auch musste ich eine neue Technik finden. Drei Jahre malte ich diese kleinen abstrakten Köpfe wie ein Besessener. Da fühlte ich, dass ich bald ganz aufhören musste zu arbeiten. Und so kam es auch!«Die in diesen letzten drei Schaffensjahren, 1934 bis 1937, entstandene Serie der Meditationen bringt noch einmal einen entscheidenden, in seiner extremen Vereinfachung nicht mehr überschreitbar scheinenden Wandel in den Ausdrucksformen des Kopfmotivs. Armin Zweite hat auch die Medita­tionen dieses letzten Stadiums mit sensibler Beobachtung erschöpfend charakterisiert: »Über Hun­derte von Arbeiten hin variieren schwere Balken in tiefem Schwarz das griechische Kreuz, das auf der waagrechten Markierung des Mundes ruht und oben durch die stirnbegrenzenden Brauen überfangen wird. Aufgrund der parallelen Pinselspuren gewinnen die dazwischen liegenden Flächen eine eigene Struktur. Die transparenten Streifen überlappen sich nämlich an den Rändern und bilden oft schmale opake Zonen verdickter Farbe aus, so dass nachtdunkle Komponenten und durchscheinende Bereiche zu gestalthafter Einheit verschmelzen. An der Nasenwurzel leuchtet das zum Abschluss aufgetragene Weisheitszeichen in hellem Ton und unterstreicht den religiös­meditativen Charakter der Bilder zusätzlich.«Dieser Charakter, der die wie Ikonen wirkenden Meditationen beherrscht, kommt auf besondere Weise in den auf Goldgrund gemalten Stücken der Serie zum Tragen. Angesichts der religiösen Sym­bolhaftigkeit, die die Restzüge des menschlichen Antlitzes in dieser letzten mystischen Versenkung gewinnen, hatte der befreundete Maler Alo Altripp Jawlensky dazu angeregt, den in der mittelalter­lichen und griechisch­orthodoxen Kunst üblichen Goldgrund als Malfläche zu verwenden. Die Ver­suche blieben jedoch vereinzelt; Jawlensky, der stets mehrere kleine, aneinander befestigte Pappen mit seinen mühsamen Pinselzügen bedeckte, malte nur insgesamt fünf der Meditationen auf Gold­grund.

1936Öl auf Karton, 14 x 11 cm

Bez. i. u.: a. j.; r. u.: 36Bernhard und elly

Koehler stiftung 1965g 13 339

105 meDitation auF golDgrunD

alexej jawlensky

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Die Meditation von 1937, eine von vielen ähnlich gearteten Werken dieses Jahres, gehört zu den letzten Arbeiten Jawlenskys. Der Künstler machte sie Willibrord Verkade, seinem Künstlerfreund seit 1907 und Jahrzehnte lang Klosterbruder in der Erzabtei Beuron, mit folgender Widmung zum Geschenk: »Dem lieben, verehrten Pater Willibrord Verkade schicke ich einen Splitter von meiner Seele. A. Jawlensky.«In der Tat sind die späten Meditationen letzte, unter größten Schmerzen geäußerte persönliche Bekenntnisse, um die er bis zum Ende in obsessiver Wiederholung rang. Gesicht und Bildfläche kom­men nun vollständig zur Deckung, das Bild als Träger tritt ganz hinter die spirituelle Macht der Dar­stellung zurück. Obwohl sie nur noch aus dem schweren Doppelbalken des ›griechischen Kreuzes‹ und den breiten Farbbahnen dazwischen besteht, bleibt eine vage, vertiefte Ahnung des beseelten menschlichen Gesichts. Die Farben der Meditationen haben sich seit 1934 mehr und mehr verdüstert: »Ich habe bei meinen letzten Arbeiten den Zauber der Farben weggenommen, um die geistige Tiefe allein noch mehr zu konzentrieren.« Nicht zuletzt die in den grob nebeneinandergesetzten Pinsel­zügen anschauliche Qual des Schaffenden, der den Pinsel zuletzt nur noch in beiden Händen und mit der Bewegung des ganzen Oberkörpers führen konnte, zeugt von dem ungeheuren, geistigen Kräften unterworfenen Willen, aus dem heraus das späte Lebenswerk Jawlenskys entstanden ist.

1937Öl auf leinwand,

auf Pappe aufgezogen, 25 x 17,5 cm

Bez. l. u.: a. j.; r. u.: 37Dauerleihgabe der

erzabtei st. martin, Beuron

106 meDitation

alexej jawlensky

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302

1860 tula

1938 ascona

Marianne von Werefkin wurde am 11. September 1860 als Tochter eines Generals in Tula in der Nähe von Moskau geboren. Ihre Kinderjahre verbrachte sie an den Amtssitzen ihres Vaters in Witebsk in Weißrussland und Wilna in Litauen, später bekam ihr Vater das Landgut Blagodat bei Kaunas ge ­schenkt. 1886 zog sie nach St. Petersburg um, wo ihr Vater zum Kommandanten der Peter­und­Paul­Festung ernannt worden war. Während der nächsten zehn Jahre wurde Werefkin hier Privat schülerin des berühmten realistischen Malers Ilja Repin, durch den sie 1892 Alexej Jawlensky kennenlernte. Beide arbeiteten fortan zusammen und siedelten 1896 nach München über, wo sie in der Giselastraße in Schwabing eine herrschaftliche Doppelwohnung bezogen. Während Jawlensky zunächst die Mal­schule von Anton Ažbe besuchte, gab Werefkin fast zehn Jahre lang die Malerei ganz auf, um sich der Förderung von Jawlenskys Talent zu widmen, daneben befasste sie sich mit Kunst theorie. Nach einer Sommerreise des Paares 1903 in die Normandie folgte 1906 ein fast einjähriger gemeinsamer Aufent­halt in Paris und Südfrankreich, der für Werefkin zum entscheidenden Impuls wurde, ihre Malerei wiederaufzunehmen. In ihren neuen Bildern tritt ein gewandelter Stil zutage, der mit den naturalisti­schen Gemälden ihrer russischen Zeit bricht und Einflüsse des Symbolismus, etwa von Edvard Munch und Ferdinand Hodler, aufnimmt. Eine eigenwillige Farb­ und Formensprache bildet sich heraus, die von der Ikonografie menschlicher Gefühlssituationen und Bedingtheiten geprägt wird.Im Sommer 1908 hielten sich Werefkin und Jawlensky mit Wassily Kandinsky und Gabriele Münter zum gemeinsamen Arbeiten in Murnau auf, aus dieser Zusammenarbeit ging Anfang Januar 1909 unter anderem die Gründung der ›Neuen Künstlervereinigung München‹ hervor. Ende 1911 voll­zogen Werefkin und Jawlensky zunächst den Austritt aus der ›NKVM‹ und die Gründung des ›Blauen Reiter‹ nicht mit, waren jedoch in den folgenden Jahren an Ausstellungstourneen beteiligt. Bei Aus­bruch des Ersten Weltkriegs mussten Werefkin, Jawlensky, Helene Nesnakomoff und deren gemein­samer Sohn Andreas aus Deutschland fliehen, noch vor der Oktoberrevolution in Russland verlor Werefkin große Teile ihres Vermögens. Sie mieteten sich zunächst in St. Prex am Genfer See ein, 1917 in Zürich, ab 1918 in Ascona. Hier kam es 1921 zur endgültigen Trennung zwischen Werefkin und Jawlensky. Dieser zog mit seiner Familie nach Wiesbaden, während Werefkin bis zu ihrem Tod am 6. Februar 1938 in Ascona lebte und arbeitete.

marianne Von WereFKin

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Anders als ihre Künstlerfreunde Jawlensky, Kandinsky und Münter blieb Werefkin während der Periode des intensiven gemeinsamen Schaffens von 1908 bis 1914 stets bei einer figürlichen, in Form und Farbgebung dem Symbolismus verpflichteten Malerei, die sie ab 1907 für sich entwickelte. In ihr führt sie Anregungen aus der Auseinandersetzung mit van Gogh, Gauguin und den ›Nabis‹, japa­nischen Holzschnitten und dem europäischen sowie russischen Symbolismus auf sehr persönliche Weise weiter. Wiederholt ist das Besondere ihrer Bilder als ›Seelenmalerei‹ beschrieben worden, in der ihr die gleichnishafte Umsetzung psychologischer Zustände oder verborgener Schwingungen gelingt, die jenseits der sichtbaren Realität liegen. Zusammen mit Einflüssen der »Seelenmalerei« des von ihr geschätzten Edvard Munch und einer dunkel klingenden, am Ausdruckswert orientierten Far­bigkeit vertritt sie innerhalb der ›Neuen Künstlervereinigung München‹ eine dezidiert symbolhafte Malerei und besetzt damit eine besondere Position der Darstellung ›inneren Erlebens‹, wie sie von Kandinsky im Gründungszirkular der Gruppe gefordert wurde.Das Bild der Wäscherinnen, wie nahezu alle Gemälde Werefkins in flüssig deckender Temperamalerei gearbeitet, folgt stilistisch dem Einfluss der Schule der ›Nabis‹ in der Nachfolge Paul Gauguins, die eine ›Synthese‹ des Bildes durch seine Gliederung in einfache Farbflächen und dunkle Umrisslinien erreichte. Zentraler Blickfang des Bildes ist das intensive Blau des Waschgeschirrs, das an einem bun­ten Blumenbeet lehnt und von den beiden Frauen im Vordergrund in Händen gehalten wird. In den Schürzen der Wäscherinnen, im Kleid des kleinen Mädchens rechts und der blaugrauen Himmelszone wiederholt sich das Blau in raffinierten Abstufungen und verleiht diesen Elementen eine besondere Betonung. Ein strukturelles Prinzip, das der Symbolik der Darstellung Nachdruck verleiht, ist die rhythmische Wiederholung von Bewegungsmotiven, etwa der beiden Wäscherinnen, die jeweils in gleicher Haltung dem Betrachter den Rücken zuwenden. Die additive Reihung oft schwarz verhüllter Frauengestalten oder architektonischer und landschaftlicher Elemente mit symbolischer Formung wird Werefkin in ihrem Werk weiter ausbauen. Oft liegt dabei nicht nur ein Klang des Visionären, sondern auch des Unheimlichen über den hermetischen Szenen, der in den Wäscherinnen durch den aufleuchtenden Kontrast von Scharlachrot und Kaminrot gegen Blaugrau rechts im Bild einen beson­deren Akzent erhält.

um 1909tempera auf Papier,

auf Pappe aufgezogen50,5 x 64 cm

gms 711

107 Wäscherinnen

marianne von Werefkin

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Von den Zeitgenossen wurde Marianne von Werefkin übereinstimmend als dominierende Persön­lichkeit von außergewöhnlichem Temperament und geistiger Ausstrahlung beschrieben. In dem von ihr und Jawlensky geführten Salon in der Schwabinger Giselastraße, der zahlreiche bildende Künstler, Schriftsteller, Tänzer und den durchreisenden russischen Adel anzog, war sie der beherrschende Mittelpunkt, »gewissermaßen die Sendestelle der fast physisch spürbaren Kräftewellen« (Gustav Pauli, 1936). Auch in den Jahren, in denen sie nicht malte, hatte sie entscheidenden Anteil an den kunst­theoretischen Diskussionen in ihrem Salon, insbesondere durch ihre intensive Beschäftigung mit den Strömungen der französischen und russischen Avantgarde.Ihr Selbstbildnis entstand um 1910 und zeigt sie auf der Höhe ihres Schaffens. Von außerordentlicher Kühnheit in Farbe und Ausdruck, ist es bis heute eines der ungewöhnlichsten weiblichen Selbst­porträts der Kunstgeschichte. Wie aus einer spontanen Bewegung heraus wendet Werefkin ihr Ge ­sicht aus dem Dreiviertelprofil dem Betrachter zu. Beherrschend sind die zinnoberroten Augäpfel mit punktförmigen Pupillen auf stahlblauem Grund, mit denen sie ihr Gegenüber fixiert. Zusammen mit dem aufgeworfenen Mund von wärmerem Rot, um den ein Zug von Aggressivität, aber auch leichter Bitterkeit liegt, zeugen sie ebenso von der bezwingenden Energie wie von den Widersprüchen ihrer Persönlichkeit. Das Rot des Mundes und seine geschwungene Form werden in der weichen Fläche des Hutes intensiviert, der über ihrem dunklen Haar die längliche Form des Gesichts wie eine Kappe umschließt. Die komplementären Blaugrün­ und Gelbtöne des Hintergrundes, deren expressive Pinselschrift den Einfluss van Goghs erkennen lässt, wiederholen sich in verschiedenen Brechungen auf Gesicht und Hals der Dargestellten und steigern so den ›wilden‹ Eindruck des Porträts, der in ähnlicher Weise nur von den Malern der ›Fauves‹ und in ihrem Gefolge von den ›Brücke‹­Künstlern erreicht worden ist.

um 1910tempera, lackbronze auf Papier, auf Pappe

aufgezogen, 51 x 34 cmmit mitteln aus dem

Vermächtnis gabriele münters erworben 1963

g 13 144

108 selBstBilDnis

marianne von Werefkin

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Den Sommer 1911 verbrachten Werefkin und Jawlensky an der Ostsee und hielten sich von Juli bis September in Prerow, Ahrenshoop und Zingst auf. Besonders Prerow auf dem Darß, jene der pom­merschen Boddenlandschaft vorgelagerte Halbinsel mit ihrem lang gestreckten Sandstrand im oszil­lierenden Licht der Ostseeküste, faszinierte beide Künstler. Jawlensky begann hier, wie er in seinen Erinnerungen schrieb, »in starken, glühenden Farben, absolut nicht naturalistisch und stofflich« zu malen, wie es etwa in seinem berühmten Bild Reife der Fall ist (vgl. Tafel 99). Die starken Rottöne und das Preußischblau, das Jawlensky für die Konturierung seiner Formen nahm, finden sich in abgestuf­ter Form auch in Werefkins Gemälde Prerowstrom. Blau, Rot und Rotbraun beherrschen hier die weiträumige Ansicht über den Fluss, der in einem tiefen Graben gestaut und träge durch die Niede­rung des Haffs dem Meer entgegenfließt. Das große Temperabild des Prerowstroms ist im Œuvre Werefkins ein seltenes Beispiel für den gänzlichen Verzicht auf die Anwesenheit der menschlichen Figur, als eines ihrer wenigen reinen Landschaftsbilder bleibt es jedoch keineswegs ohne die starke Ausstrahlung einer inneren Gefühlslage. Melancholie und eine geheimnisvolle Bedeutung scheinen über der Landschaft unter dem dunkel bewölkten Himmel zu liegen, im Hintergrund leuchtet der hellrote Akzent eines kleinen Kirchengebäudes, das Schilfgras im Vordergrund ist mit ungewöhnlich unruhigen Strichlagen gezeichnet. In ihren Schriften äußerte Werefkin mehrfach ihre Überzeugung, dass das Auge »sieht«, was »die Seele fühlt«.Prerowstrom stammt aus dem Nachlass des Kunsthistorikers Franz Stadler, der mit Kandinsky in den Jahren 1912 bis 1914 in München befreundet war und mit diesem noch bis 1929 in engem Briefwech­sel stand. »Franz Stadler, Kunsthistoriker, elf Jahre jünger als Kandinsky, lebte damals in Schwabing unweit von Kandinsky und Gabriele Münter, schon vor der Epoche des ›Blauen Reiter‹. Stadler war damals auch mit Franz Marc, Paul Klee und dem Tänzer Alexander Sacharoff befreundet. Einige interessante Briefe und Karten dieser Freunde an Stadler sind Marksteine dieser Epoche.« (Eva Rosenblum) In seinem letzten Brief vom 26. Dezember 1927 aus Dessau schrieb Kandinsky an ihn: »Aber nötige Ruhe würde man sicher in dieser zerrüttelten Zeit auch auf dem Mars nicht finden. Und vor allem es lebe die Arbeit, es lebe … die Kunst! Und hoch sollen diejenigen leben, die sich ernstlich mit Kunst befassen. Also auch wir beide!«

1911tempera auf Pappe,

54 x 74 cmg 17 439

109 PreroWstrom

marianne von Werefkin

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1882 st. louis

1961 lawrence/Kansas

Albert Bloch wurde am 2. August 1882 als Sohn einer Familie deutsch­böhmischer Herkunft in St. Louis, Missouri, geboren. Von 1898 bis 1900 besuchte er die St. Louis School of Fine Arts und war ab 1905 Mitarbeiter der satirischen Wochenschrift The Mirror, für die er zahlreiche Karikaturen lieferte. Ende 1908 ging Bloch auf Anraten und mit finanzieller Unterstützung von William Marion Reedy, dem Herausgeber des Mirror, zum Studium der Malerei nach Europa. Er siedelte mit seiner jungen Familie nach München über und bildete sich überwiegend autodidaktisch fort. Anfang 1911 wurde er auf die ›Neue Künstlervereinigung München‹ aufmerksam und bemühte sich um Kontakt mit der Gruppe. Nach einem Arbeitssommer in Dachau erhielt er in seinem Atelier Besuch von Kandinsky. Danach bemühten Kandinsky und Franz Marc sich darum, Bloch als ›ausländischen‹ Gast auf die geplante dritte Ausstellung der Gruppe einzuladen, was von der Jury jedoch abgelehnt wurde. Daraufhin luden sie Bloch auf die kurzfristig realisierte 1. Ausstellung des ›Blauen Reiter‹ im Dezem­ber 1911 ein, mit der sie den sich schon länger abzeichnenden Bruch mit der ›NKVM‹ vollzogen. Hier konnte er die bemerkenswerte Anzahl von sechs Gemälden zeigen und lieferte auch Zeichnungen für die 2. Ausstellung des ›Blauen Reiter‹ 1912. Sein von antiakademischer Schlichtheit geprägtes Werk nahm in diesen Jahren besonders Einflüsse von Marc und Paul Klee, aber auch Heinrich Campendonk auf.Während des Ersten Weltkriegs blieb Bloch in München und hielt besonders mit Marc an der franzö­sischen Front brieflichen Kontakt, während Herwarth Walden ihm in seiner Berliner ›Sturm‹­Galerie ein Forum für Ausstellungen bot. Im Frühjahr 1919 besuchte Bloch seinen Künstlerfreund Gordon McCouch in Ronco bei Ascona und fuhr im Anschluss nach St. Louis, wo er fast ein Jahr blieb. Im Sommer 1920 kehrte er ein letztes Mal nach Ascona und München zurück, Anfang 1921 fuhr er nach Wien, um Vorlesungen des von ihm verehrten Karl Kraus zu hören. 1922 erfolgte seine endgültige Rückkehr in die USA, wo er zunächst in Chicago unter materiell eingeschränkten Bedingungen lebte. 1923 wurde er zum Professor am »Department of Painting and Drawing« der University of Kansas in Lawrence berufen. Neben seinem malerischen Spätwerk befasste sich Bloch hier auch mit eigener, von Kulturpessimismus geprägter Lyrik, übersetzte Gedichte von Karl Kraus ins Englische und begann einen umfangreichen Briefwechsel mit Persönlichkeiten aus dessen Umfeld, wie Mechthilde Lich­nowsky oder Werner Kraft. Bloch starb am 9. Dezember 1961 in seinem Haus in Lawrence.

alBert Bloch

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Im Jahr 1910, fast zwei Jahre nach seiner Übersiedlung von Amerika nach München, kam es für Albert Bloch zu einem einschneidenden Eindruck, der seine weitere künstlerische Laufbahn nachhaltig bestimmen sollte. Zufällig stieß er auf den illustrierten Katalog der 2. Ausstellung der ›Neuen Künst­lervereinigung München‹ und spürte angesichts der dort abgebildeten Werke sofort eine innere Ver­wandtschaft mit seiner eigenen Kunst. Ein Vierteljahrhundert später schrieb Bloch rückblickend in seiner 1934 verfassten Denver Lecture dazu: »When presently I saw an illustrated catalogue of this exhibition, I was immediately interested, and regretted that I had not been in town to see the show; for I recognized, even from the inadequate little black­and­white reproductions, that here was a few people – Germans, Russians, Frenchmen, Italians –, some of whom were striking out in a direction which seemed entirely sympathetic to the zig­zag development which I was then undergoing myself, and that there was a certain kinship between some of this work and the groping experiments I was making independently and without previous knowledge of the existence of these others.« Sicher kamen die Bilder der ›Neuen Künstlervereinigung München‹, etwa die Stadtlandschaften von Alexander Kanoldt und Adolf Erbslöh, die Porträts von Alexej Jawlensky, die Kompositionen Kandinskys oder auch die Werke der französischen Gäste George Braque und André Derain mit ihren schlichten schwarzen Konturen und klaren Farbflächen Blochs damaligen Bemühungen um eine einfache, anti­akademische Malerei entgegen.Ab dem Frühjahr 1911 erlebte Bloch eine erste Phase großer künstlerischer Produktivität, neben Häuser mit Turm entstand eine Reihe anderer Stadtlandschaften mit lapidar gezogenen Umrisslinien und zufällig gewählten Ausschnitten, die Gebäude sind auf ihre geometrischen Grundformen redu­ziert, die Farben ohne jede Modellierung oder atmosphärische Brechung aus wenigen Rot­, Ocker­ und Grüntönen flächig aufgetragen. Die kompromisslose Schlichtheit der Mittel in Blochs Malerei begrüßten wiederum Wassily Kandinsky und Franz Marc als verwandte Bestrebungen und luden ihn Ende des Jahres auf die 1. Ausstellung des ›Blauen Reiter‹ ein. Aufgrund sich abzeichnender künst­lerischer Differenzen zog Bloch zwar später seine Bilder aus der Ausstellungstournee zurück, den­noch blieb er dem Kreis bis in die Jahre des Ersten Weltkriegs verbunden, wobei er sich zunehmend mit den fantastischen, lyrischen Landschaftsszenerien von Heinrich Campendonk – in der Nachfolge von Franz Marc – und Paul Klee auseinandersetzte.

1911Öl auf leinwand,

58,4 x 76,4 cmbez. r. u.: albert Bloch

g 17 991

110 häuser mit turm

albert Bloch

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1886 cherson/ukraine

1917 thessaloniki

Wladimir Burljuk, geboren am 15. März 1886 in Cherson, ließ sich wie sein älterer Bruder David zum Maler ausbilden und betätigte sich als Schriftsteller. Auch seine Geschwister Nadeschda, Ljudmilla und Nikolaj beteiligten sich an Ausstellungen und Publikationen der russischen Avantgarde. Wladimir Burljuk besuchte kurz die Kunstschule in Odessa, 1903 studierte er bei Anton Ažbe in München. 1904 nahm Burljuk am Russisch­Japanischen Krieg teil, anschließend ging er mit seinem Bruder David nach Paris und schrieb sich an der École des Beaux­Arts ein. Nach der Rückkehr war er bei ver­schiedenen russischen Künstlervereinigungen aktiv, unter anderem der Gruppe ›Himmelblaue Rose‹ in Charkow und ›Zweno‹ (›Das Band‹) in Kiew. Dort machte er die Bekanntschaft von Michail Lario­now und Alexandra Exter. 1909 lud ihn Nikolaj Kulbin, eine der wichtigsten Persönlichkeiten der St.  Petersburger Kunstszene, zur Beteiligung an seiner neu gegründeten Vereinigung ›Treugolnik‹ (›Dreieck‹) ein. Ende 1910 wurden Wladimir und David Burljuk zudem Mitglieder der Künstler­gruppe ›Bubnovi Valet‹ (›Karo Bube‹) in Moskau. Bereits im Herbst 1910 hatte Wassily Kandinsky die Brüder Burljuk auf die 2. Ausstellung der ›Neuen Künstlervereinigung München‹ eingeladen, sie waren mit insgesamt acht Werken beteiligt und schrieben als Vertreter der russischen Kunstszene eines der Vorworte im Katalog, für den auch die Franzosen Henri Le Fauconnier und Odilon Redon kurze Beiträge lieferten.Ein Jahr später lud Kandinsky Wladimir und David Burljuk im Winter 1911/12 als einzige russische Gäste auf die 1. Ausstellung des ›Blauen Reiter‹ ein. Für den Almanach Der Blaue Reiter lieferte David Burljuk erneut einen Textbeitrag über die aktuelle russische Kunstszene unter dem Titel Die ›Wilden‹ Russlands. 1913 beteiligten sich die Brüder, ebenfalls auf Vermittlung des Münchner Künstlerkreises, an Herwarth Waldens großem ›Ersten Deutschen Herbstsalon‹ in Berlin. Im selben Jahr gaben sie nach dem ›Ersten Allrussischen Kongress der Zukunftserzähler‹ zusammen mit Welimir Chlebnikow, Wladimir Majakowski und Wladimir Tatlin die Text­ und Zeichnungssammlung Trebnik troich (Meßbuch der Drei) heraus, die auch lyrische Beiträge von David und Nikolaj Burljuk enthält. 1914 wurden die Brüder für das geplante Museum für Malerische Kultur in St. Petersburg vorgeschla­gen. Wladimir Burljuk war zu dieser Zeit schon zum Kriegsdienst einberufen, er fiel 1917 bei Thes­saloniki. David Burljuk überlebte seinen Bruder um 50 Jahre, er emigrierte 1918 aus Russland über China und Japan in die USA und starb 1967 auf Long Island bei New York.

WlaDimir BurljuK

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Auf der 1. Ausstellung des ›Blauen Reiter‹ zeigte Wladimir Burljuk zwei Werke, eine Porträtstudie und ein in der Katalogliste »Landschaft« genanntes Bild. Während die Porträtstudie durch die Abbildung im Katalog und den Abgleich mit einem der historischen Fotos, die Gabriele Münter 1911 /12 von den Ausstellungsräumen in der Galerie Thannhauser gemacht hat, leicht zu identifizieren ist, gibt im Fall der »Landschaft« ein fragmentarischer Aufkleber von der 1. Ausstellung des ›Blauen Reiter‹ auf der Rückseite des heute im Lenbachhaus befindlichen Bildes Die Bäume den entscheidenden Hinweis, dass es sich um die damals ausgestellte »Landschaft« handeln dürfte. Darauf weist auch die Prove­nienz dieses Gemäldes aus dem Nachlass von Franz Marc hin, der das Werk nach der Münchner Ausstellung direkt vom Künstler erworben haben dürfte. Ein weiterer Zettel auf der Rückseite nennt in kyrillischer Schrift neben dem Künstlernamen auch den Originaltitel: »Wladimir Burljuk Die Bäume«.Das Bild zeigt einen weitgehend abstrahierten Landschaftsausschnitt in dunklen Grün­, Blau­ und Schwarztönen, die kantig gebrochenen Figuren einiger Bäume sind nah in den Vordergrund gerückt und durch den wechselnden Farbauftrag zwischen Körper und Fläche definiert. Dieser nahezu rohe, ›primitive‹ Einsatz der Stilmittel des frühen Kubismus ist typisch für Burljuks Malerei jener Zeit und zeichnet auch seine Porträtstudie aus mit dem provozierend leeren Gesichtsfeld, das durch eine nach innen gezogene Rautenform ersetzt ist. Auch innerhalb der russischen Kunstszene nahmen die Brüder Burljuk eine Zwischenstellung ein zwischen der ›westlich‹ orientierten Kubismus­Rezeption und der Besinnung auf eine eigene, bewusst ›primitive‹ bäuerliche und volkstümliche Tradition. Dies äußert sich auch in ihren theoretischen Schriften, etwa in ihrem Grußwort zum Katalog der 2. Ausstellung der ›Neuen Künstlervereinigung München‹: Die russische Avantgarde, so heiße es allgemein, sei über­fremdet von der französischen Moderne. »Es ist aber nur scheinbar so. Die französische Kunst ist uns tatsächlich verwandt und verständlich. Das Hyperbolische der Linie und der Farbe, das Archaische, die Vereinfachung – Synthese – ist ja vollkommen in der schöpferischen Seele unseres Volkes vorhan­den. Man erinnere sich nur an unsere Kirchenfresken, an unsere Volksblätter (Lubki), Heiligenbilder (Ikóni) und schließlich an die wundervolle Märchenwelt der skythischen Plastiken, an schreckliche Götzen, welche in der Rohheit ihrer nirgend sonstwo gesehenen Form überzeugend sind und echte, monumentale Größe offenbaren. An dieser monumentalen Größe können sich nur die ältesten Schöp­fungen halbwilder Völker einigermaßen messen.«

1911Öl auf leinwand,

64 x 84 cmDauerleihgabe der

gabriele münter- und johannes eichner-

stiftungaK 31

111 Die Bäume

Wladimir Burljuk

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1890 Wormerveer

1917 madras

Adriaan Korteweg wurde am 21. September 1890 als Sohn eines Arztes und Naturforschers im nieder­ländischen Wormerveer geboren. Noch vor dem Abitur unternahm er 1908 eine erste Deutschland­reise, die ihn auch nach München führte. 1909 begann er ein Studium als Bauzeichner, später Bau­ingenieur an der Technischen Hochschule in Delft. Im November 1912 gab er gegen den Widerstand der Familie sein Studium auf und zog nach Amsterdam, um sich ganz der Malerei zu widmen. Im selben Monat hatte in Rotterdam auf Vermittlung des Berliner Galeristen Herwarth Walden die erste Einzelausstellung von Wassily Kandinsky in Holland stattgefunden, die noch nach Utrecht wanderte. Im Frühjahr des Folgejahres entschloss sich Korteweg zur Übersiedlung nach München, um wegen seiner Malerei mit Kandinsky Kontakt aufzunehmen. Bereits wenige Tage nach seiner Ankunft im April 1913 suchte er Kandinsky in dessen Atelier auf und bekam auch Kontakt zu anderen Künstlern des ›Blauen Reiter‹, besonders zu Franz Marc. Im Juli zeichnete sich für ihn durch Vermitt­lung von Marc und Kandinsky eine Beteiligung an der großen Herbstausstellung in Waldens Galerie ›Der Sturm‹ in Berlin ab. Auf diesem ›Ersten Deutschen Herbstsalon‹ war Korteweg mit vier Gemäl­den vertreten, zur Eröffnung am 21. September reiste er nach Berlin.Im März 1914 kehrte Korteweg nach Amsterdam zurück und nahm dort vorübergehend Unterricht bei verschiedenen Malern, unter anderem bei Cornelis Spoor, Mitglied der ›Theosophischen Ver­einigung‹, der sich auch Korteweg anschloss. In den Künstlerkreisen seiner Heimat setzte er sich unter anderem für die Verbreitung von Kandinskys Buch Über das Geistige in der Kunst ein und stiftete sein persönliches Exemplar der ›Theosophischen Bibliothek‹. Gegen Ende des Jahres war er auf der 4. Ausstellung der ›Unabhängigen‹ (›De Onafhankelijken‹) erstmals mit vier Bildern vertreten. Auch 1915 und 1916 beteiligte sich Korteweg an drei Ausstellungen der Künstlervereinigung, beschäf­tigte sich aber zunehmend mit Theosophie, die Malerei trat für ihn in den Hintergrund. Im Sommer 1916 lebte und arbeitete Korteweg in der Landwirtschaftskolonie ›Nieuwe Niedorp‹, im Oktober kam er, wegen Verweigerung des Einberufungsbefehls zum Kriegsdienst, in eine Kaserne in Utrecht in Untersuchungshaft. Wenig später wurde er aufgrund seiner schwachen Gesundheit ins dortige Mili­tärhospital verlegt. Nachdem er wegen Untauglichkeit entlassen wurde, schiffte sich Korte weg noch im Dezember des Jahres nach Indien ein. Nach seiner Ankunft im Februar 1917 in Madras reiste er zunächst noch weiter nach Indonesien, dem damaligen Niederländisch­Indien. Vom dortigen Aufent­halt offenbar enttäuscht, kehrte er bereits im April zurück nach Madras und lebte dort mehrere Monate in einer brahmanischen Bruderschaft. Zur geplanten Rückkehr in die Niederlande kam es nicht mehr, Kortewegs Gesundheitszustand verschlechterte sich, er starb am 12. November 1917 in Madras.

aDriaan KorteWeg

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einem Skizzenbuch von 1911 eben jenen Christus am Ölberg El Grecos genau nachgezeichnet. In Kortewegs Kunst begannen religiöse Symbole nicht nur zunehmend eine Rolle zu spielen, sondern er hat nachweislich auch Marcs große Kompositionen Das arme Land Tirol und Tirol von 1913 /14 mit christlichen und apokalyptischen Zeichen in seiner Malerei verarbeitet. In seinem kunsttheoretischen, schon stark theosophisch geprägten Aufsatz »Farbe – Licht – Feuer« schrieb Korteweg: »Visionäre Künstler sind der Ansicht ihrer Zeit weit voraus, der Dewa führt sie kürzere Straßen entlang. Die zwei allergrößten sind Rembrandt (tiefer gehend) und Greco (höher reichend)«, und weiter: »Alles ist in Bewegung und schlägt Flammen. Viel dumpfe Farben. In der Luft ist ein Dröhnen von sich bewegen­den Formen (vgl. schon El Greco).«

Adriaan Korteweg war der »junge Holländer«, den Kandinsky in den geplanten, jedoch nicht realisier­ten zweiten Band des Almanach Der Blaue Reiter aufnehmen wollte und über den er im Juni 1913 an Franz Marc schrieb: »Aber die neuen Bilder? Die neue Kunst? Das einzig neue, wirklich interessante und [was] wirklich lebendig ist, sind die Bilder von einem jungen Holländer, welcher mal zu mir kam und jetzt von Zeit zu Zeit kommt. Aha! Sie wissen schon: welcher à la van Gogh anfing. Jetzt malt er und ist schon im Anfang durchaus mit eigener Note. Schade, daß ich vergaß, Sie zu bitten, ihn zu besuchen. Also nächstens: er bleibt in München. Sonst sind nur leere Nachahmungen oder Spiele­reien da (z. B. die lang nicht unbegabten Synchronisten).« Tatsächlich stellt das in der kurzen Spanne von 1912 bis 1915 entstandene Werk des jung verstorbenen und lange in Vergessenheit geratenen Künstlers auf ganz eigene Weise einen wichtigen Beitrag sowohl zur niederländischen Avantgarde als auch zum Umkreis des ›Blauen Reiter‹ dar. Unter dem 49 Ölbilder und mehrere Hundert Zeich­nungen umfassenden Nachlass Kortewegs zeigen die ersten Tuschzeichnungen von 1912 einen star­ken, schlichten Strich, der auf eine ins ›Naive‹ gewandte Rezeption van Goghs verweist. Während Korteweg vor Verlassen seiner niederländischen Heimat offenbar von der dortigen Avantgarde um den ›Modernen Kunstkreis‹ oder der beginnenden Kubismus­Rezeption kaum berührt worden war, machte die erste Einzelausstellung Kandinskys Ende 1912 mit über 70 Werken in Rotterdam und Utrecht einen umso stärkeren Eindruck auf ihn. In dessen revolutionärem Ansatz, geistige Vorstellun­gen mit neuen künstlerischen Mitteln zum Ausdruck zu bringen, muss Korteweg eine Bestätigung seiner eigenen Bestrebungen erkannt haben. Nicht seine Empfänglichkeit für Kandinskys Ideen zum ›Geistigen in der Kunst‹, die in niederländischen Künstlerkreisen rasch Verbreitung fanden, ist dabei ungewöhnlich, sondern sein Entschluss, sich in lebendigem Kontakt dem verehrten Vorbild anzu­schließen und dabei zugleich in den engeren Kreis des ›Blauen Reiter‹ vorzudringen.Kortewegs Komposition spiegelt auf eigenwillige Weise formale Einflüsse von Kandinsky ebenso wider wie eine motivische Anregung, die auf Marcs Vermittlung zurückgeht. An keine konturierte Formen mehr gebundene, pastose Buntpartien, vielfach gemischt und mit Schwarz gebrochen, teilweise mit Weiß gehöht, verbinden sich zu einer vibrierenden, gleichsam von innen heraus leuchtenden Textur. Zu dieser Art der malerischen Behandlung ist Korteweg zweifellos von Kandinsky inspiriert worden, der mit seinen schwebenden Farbwolken eine neue Dimension von Räumlichkeit schaffen wollte. Bei näherem Hinsehen schälen sich schemenhafte Gestalten heraus, die sich als eine Szene aus Christus am Ölberg in der Formulierung des berühmten Bildes von El Greco entpuppen. Dieses Gemälde war 1911 zusammen mit weiteren Werken El Grecos aus der ungarischen Sammlung Nemes in der Münch­ner Pinakothek ausgestellt, wo sie als eine Sensation wahrgenommen wurden. Sie machten einen tiefen Eindruck auf viele Künstler des deutschen Expressionismus, als einer der Ersten hatte Franz Marc darauf in seinem Aufsatz »Geistige Güter« für den Almanach Der Blaue Reiter reagiert und in

1913 /14Öl auf leinwand,

120 x 80 cmg 17 797

112 KomPosition

adriaan Korteweg

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Das Aufbruch – in den niederländischen Nachlass­Listen Opzet – genannte Bild, dessen Titel sich auch als Transition oder Neubeginn übersetzen ließe, scheint einen Übergang in eine neue Dimension darzustellen, inmitten eines »Zusammenpralls verschiedener Welten« (Kandinsky), mit einem Chaos dunkler Mächte im Vordergrund und der geheimnisvollen Lichtpforte im Mittelgrund. Dort öffnet sich eine Art Feuerhöhle, in die eine kleine menschliche Figur zu schreiten scheint, vage lässt sich schräg über ihr der weiße Schemen eines Tiers erkennen, während am vorderen rechten Bildrand offenbar dunklere Figuren in Metamorphose begriffen sind. Die Gesamtkomposition wirkt wie eine aus abstrakten Naturgesetzen geformte Weltlandschaft, die sich aus einer Gewitterzone nach rechts oben ins Leere und Helle öffnet. Auch wenn dieses Bild, das mit einiger Sicherheit erst nach Korte­wegs Rückkehr von München nach Amsterdam 1914 entstanden ist, als unvollendet zu bezeichnen ist, kann es dennoch als ein Hauptwerk aus der Gruppe seiner letzten Gemälde gelten, die nun ganz von theosophischem Gedankengut bestimmt sind. Zu der jetzt charakteristischen »offenen« Arbeitsweise hat sich Korteweg in seinem einzigen erhaltenen, in deutscher Sprache verfassten Brief an Kandinsky vom 19. Mai 1914 geäußert: »Ich male viel und fühle mich darin viel freiher, auch kann und mag ich die Sachen weiter treiben (beenden). Die Sachen sollen immer weniger Gegenständlich werden, ›ver­zeichnete‹ Figuren kann doch nur ein Übergang sein. Bei der Komposition gehe ich meistens aus von einer helleren Partie, was mich beim Anfangen sehr stützt, wenn ich auch während der Arbeit viel­leicht wieder davon abweiche.«Während für Kandinskys Kunsttheorie, wie in seinem Aufsatz »Malerei als reine Kunst« von 1913, auf die Perioden von Realismus und Naturalismus »heute« die beginnende dritte Periode der »kompo­sitionellen Malerei« folgt, steht dieses Modell in Kortewegs Schrift »Farbe  – Licht  – Feuer« von 1914 /15 ganz im Zeichen der Theosophie: Für ihn ist das dritte und letzte Stadium das des »Feuers«: »Es ist ein herrlicher Kampf, den der Dewa streitet und Er wird nicht ruhen, ehe das Weltall sym­bolisch in Seinem stofflichen Fahrzeug (Farbe), im Feueraspekt, ausgedrückt ist.«Während die Beschäftigung mit theosophischem Gedankengut für Künstler der niederländischen Avantgarde, etwa für Erich Wichmann, Piet Mondrian oder Theo van Doesburg nicht ungewöhnlich, sondern sogar die Regel ist, verblüfft auch hier die lebensgeschichtliche Konsequenz, mit der Korte­weg sie in seine Kunst und schließlich ganz in sein Leben umsetzte. 1915 gab er die Malerei voll­ständig auf, die Theosophie bestimmte seine letzten Lebensjahre bis zu seinem frühen Tod in Indien. Mit seinen Versuchen zur Gestaltung des ›Geistigen in der Kunst‹ durch immaterielle Feuer­ und Reinigungsvisionen und seine semiabstrakte, gestische Malerei aber hat Korteweg weit auf die Gruppe COBRA oder die Jungen Wilden der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorausgewiesen.

1914Öl auf leinwand,

135 x 150 cmbez. r. u.: aK

g 17 799

113 auFBruch

adriaan Korteweg

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1877 leitmeritz

1959 zwickledt

Alfred Kubin wurde am 10. April 1877 im nordböhmischen Leitmeritz (Litomerice) an der Elbe als Sohn eines k. u. k. Landvermessers geboren, zwei Jahre später zog die Familie in die österreichischen Kernlande um. Nach erfolglosem Besuch des Gymnasiums und der Staatsgewerbeschule in Salzburg begann er mit 15 Jahren eine Fotografenlehre bei einem Onkel in Klagenfurt, die er drei Jahre später nach einem Selbstmordversuch am Grab seiner Mutter abbrach. Nach einem weiteren psychischen Zusammenbruch beim Militär ging Kubin 1898 zum Studium der Kunst nach München. Hier kam es 1899 zu der entscheidenden Begegnung mit Max Klingers Radierzyklus Paraphrase über den Fund eines Handschuhs, der Kubin nach eigener Aussage in einem krisenhaften Schub einen »Sturz von Visionen schwarz­weißer Bilder« sehen ließ und zur Findung der eigenen Ausdruckswelt seines alb­traumhaft­fantastischen Frühwerks führte. Bis 1904 entstanden Hunderte Blätter dieser Art in einer speziellen Technik der lavierten und gespritzten Tuschfederzeichnung. Die 1903 erschienene »Hans­von­Weber­Mappe« (vgl. Tafel 114, 115) mit Reproduktionen seiner provozierenden Zeichnungen machte Kubin weiter bekannt. Im Januar 1904 lud ihn Wassily Kandinsky auf die 9. Ausstellung der Künstlervereinigung ›Phalanx‹ ein, wo Kubin eine Kollektion von 30 Blättern zeigen konnte. Kurz darauf heiratete er Hedwig Gründler, die Schwester des Schriftstellers Oscar A. H. Schmitz, 1906 zogen beide von München nach Zwickledt in Oberösterreich um. Hier schrieb Kubin im Herbst 1908 den Roman Die andere Seite nieder und versah ihn mit Illustrationen. In ihnen ist der fließende, schwarz­weiße Federzeichnungsstil ausgebildet, der für sein gesamtes weiteres Schaffen charakteris­tisch bleibt. 1909 trat er der ›Neuen Künstlervereinigung München‹ bei und vollzog im Dezember 1911 die Gründung des ›Blauen Reiter‹ mit. Schon 1910 suchte er den Kontakt zu Paul Klee in Mün­chen und tauschte mit ihm Zeichnungen aus. Auf der 2. Ausstellung des ›Blauen Reiter‹ 1912 war Kubin mit der beachtlichen Anzahl von elf Blättern vertreten.In seiner zweiten Lebenshälfte schuf Kubin in Zwickledt unter anderem ein umfangreiches Werk als Buchillustrator und Gestalter zahlreicher Mappenwerke. Zunehmend gingen die Motive seiner länd­lichen Umgebung und auch des Böhmerwalds, den er als Aufenthaltsort für sich entdeckte, in seine Motive ein. Zudem unterhielt er einen umfangreichen Briefwechsel mit Künstlern und Schriftstellern seiner Zeit, wie Salomon Friedlaender, Hermann Hesse, Hans Carossa und Ernst Jünger. Kubin starb am 20. August 1959 in Zwickledt.

alFreD KuBin

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Als Kubin 1909 der ›Neuen Künstlervereinigung München‹ beitrat und 1911 den Austritt zugunsten des ›Blauen Reiter‹ mit vollzog, lag sein erster früher Ruhm bereits hinter ihm. In den Jahren 1899 bis 1904 /05 war in München sein aufsehenerregendes, berühmt­berüchtigtes Frühwerk entstanden, das albtraumhafte Trieb­ und Zwangsvorstellungen in sauber ausgearbeiteten, lavierten und gespritzten Federzeichnungen zur Anschauung brachte, deren übersteigerter, von den Zeitgenossen als »stümper­haft« empfundener Realismus die Visionen »aus der Folterkammer der modernen Seele« umso krasser erschienen ließ. Dabei lässt sich eine Entwicklung von kleinteiligen, vielfigurigen Erotik­ oder Schre­ckensszenarien hin zu einer Konzentration auf wenige eindrückliche und oft schockierende Symbol­figuren feststellen, die schon um 1900 /01 vollzogen war. Die Epidemie gehört bereits zu den ›klassi­schen‹ Blättern des Kubin’schen Frühwerks. Riesig steht das Gerippe des Todes mit beherrschendem, glaubhaftem Gestus über eine Landschaft gebeugt und streut aus einem Sack mit dürrer Hand seine vernichtende Saat über ein tief verschneites Gehöft aus. Die raffinierte, sorgfältige Abstimmung der durch ein Sieb gespritzten Tusche und ihre abgestuften Grauwerte – Kubin wollte mit dieser Technik die kunstvollen albtraumhaften Raumeffekte der Aquatinta­Radierungen eines Francisco de Goya oder Max Klinger nachahmen – macht das Erstickte und Gedämpfte der Winterlandschaft auf ein­drucksvolle Weise anschaulich. Hier werden mit der Spritztechnik bereits eine malerische Wirkung und weichere Übergänge erzielt, wie sie für die Blätter der nächsten Stilstufe, etwa Des Menschen Schicksal III (Tafel 115), charakteristisch ist. Epidemie wurde zusammen mit anderen bekannten Blät­tern seines Frühwerks, wie Krankheit, Das Grausen, Die Angst, Das Pendel, Macht oder Die Stunde der Geburt, von Kubin und dem angehenden Verleger Hans von Weber 1903 als Lichtdruck in der sogenannten »Weber­Mappe« reproduziert, die den jungen Künstler früh bekannt machte.

1900/01tuschfeder, laviert,

gespritzt, einfassungs-linie, auf Katasterpapier,Bildgröße 26,5 x 25,7 cmeigenhändig betitelt und

bez. r. u.: aKubinKub. nr. 189

114 ePiDemie

alfred Kubin

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Neben dem heute verschollenen Werk Krieg gilt Des Menschen Schicksal zu Recht als eines der meist­gerühmten Blätter der »Weber­Mappe« von 1903. Auch hierzu ist der Verbleib der originalen Vorlage unbekannt, bei der Fassung aus dem Kubin­Archiv im Lenbachhaus handelt es sich um eine etwas spätere Variante; auch seinen erfolgreichen Krieg hat Kubin mehrfach wiederholt. Das Motiv von Des Menschen Schicksal besticht durch seine klar gegliederte, visionäre Komposition: Über einem bildparallel gezogenen, dunklen Abgrund, der sich für die ameisenhaft wimmelnde Menschenmenge ebenso wie für den Betrachter vorn im Bild jäh auftut, öffnet sich die rechteckige Raumbühne eines durch hohe Gebirgsriegel zu allen anderen Seiten hin abgeschlossenen Tals. Während es aus dem grauschwarzen Felsental unter lastendem, dunkelgelbem Himmel kein Entrinnen gibt, steht links die riesenhafte, jugendliche Gestalt einer nackten Frau mit verhülltem Haupt und kehrt mit großem Rechen und gelassener Geste den Menschenhaufen auf den Abgrund zu. »Mit einem Tuch den Kopf verhüllt, setzt sie auch die Tradition der schicksalhaften Allegorien der ›Nacht‹ fort, die mit unter­schiedlichen inhaltlichen Akzenten und Bezügen von Carstens, Goya und Blake bis zu Hodler führen« (Christoph Brockhaus). Gerade die selbstverständliche Gleichgültigkeit, mit der hier die Personifika­tion des blinden Schicksals das närrische Treiben der Menschen dem Verderben übergibt, betont das Grausame der unbedingten Unausweichlichkeit ihres Tuns.Bereits zur Zeit des Erscheinens der »Weber­Mappe« war Kandinsky auf Alfred Kubin in München aufmerksam geworden und bot ihm Anfang 1904 auf der letzten vom ihm organisierten ›Phalanx‹­Ausstellung ein Forum, um eine Auswahl seines reifen Frühwerks von 30 Blättern in München zu präsentieren. Kubin zeigte hier unter anderem Das Ei, Urschlamm und Schlange um das Haus. Kan­dinsky hat an Kubin offenbar dessen Fähigkeit interessiert, innere, traumhafte Visionen Gestalt wer­den zu lassen.

1903tuschfeder über Bleistift,

Pinsel, laviert,gespritzt, einfassungs-

linie, auf Katasterpapier,Bildgröße 23,3 x 27,5 cmeigenhändig betitelt und

bez. r. u.: aKubinKub. nr. 193

115 Des menschen schicKsal iii

alfred Kubin

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Nach der Periode der frühen Tuschfederzeichnungen mit den aufsehenerregenden, häufig schockie­renden Themen von Gewalt und Sexualität aus den »Folterkammern des Unbewussten« folgte für Kubin ab 1904 eine Phase der Umorientierung, die bis 1908 andauern sollte. Im Frühjahr 1905 begab er sich auf der Suche nach neuen künstlerischen Anregungen nach Wien, wo er mit Mitgliedern der ›Wiener Secession‹, unter anderem mit Koloman Moser, zusammentraf. Dieser machte Kubin mit seiner Technik der Kleisterfarbenmalerei bekannt, mit der er ornamentale Effekte und seltene Farb­schattierungen erzielte. In der folgenden Zeit schuf Kubin zahlreiche solcher Kleisterfarbenbilder und stellte bereits im Juni dieses Jahres eine große Anzahl von ihnen in einem Münchner Kunstsalon aus. Auch Der Zar bei den Gräbern seiner Vorfahren gehört zu dieser ersten Serie. Die Figur und das fantastische Monument rechts daneben erscheinen vor dem diffus­märchenhaften, wie durch Abklatsch­Verfahren gewonnenen, ockergrauen Grund umso exotischer.Kubin schrieb in seiner Selbstbiografie von 1911 zu den Kleisterfarbenexperimenten: »Ich beschäf­tigte mich eingehend mit dem neuen Verfahren, und es gelang mir eine ganze Reihe in allen Farben schillernder und funkelnder Bilder. Zauberwälder, Blumen, Fische und Vögel, wie in einen Regen­bogen getaucht, orientalische Kostüme, wie aus Schmuck und Schmetterlingsflügeln zusammen­gesetzt, konnte man besonders gut geben.« Bei der Darstellung des Zaren nutzte der Künstler die Mittel der Kleisterfarben für eine prachtvolle ornamentale Entwicklung des wie ein Pfauengefieder schimmernden kaiserlichen Gewandes. Auf dem Kenotaph im Hintergrund steht ein plumpes Tier mit gesenktem Kopf, das beinahe wie eine Parodie auf das gewaltige Pferde­Monument in einem der letzten Blätter seines berühmten Frühwerks Vor den Stufen vom Beginn des Jahres 1905 wirkt. Seine Aura verstärkt die unheimliche Atmosphäre des Zaren bei den Gräbern seiner Vorfahren, dessen Dar­stellung nicht zuletzt wie eine ironische Metapher für Dekadenz und Sehnsucht nach vergangener Historie wirkt, ein Topos, mit dem sich Kubins Spätwerk in vielfacher Hinsicht beschäftigen wird.

1905Kleisterfarben,

23,9 x 34 cmBez. r. u.: aKubin

Kub. nr. 284

116 Der zar Bei Den gräBern seiner VorFahren

alfred Kubin

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Rückblickend schreibt Kubin über das Ende seiner Experimente mit der Kleisterfarbenmalerei wäh­rend der Jahre seines künstlerischen Umbruchs zwischen 1904 und 1908: »Bei ernsterer Vertiefung und nachdem der erste Schaffensrausch verflogen, erkannte ich aber, dass meine Technik mich zu sehr vom Zufall abhängig machte und griff zur reinen Tempera.« Zunächst nahm Kubin dabei nach einem kurzen Paris­Aufenthalt Anfang 1906 Anregungen von Odilon Redon, aber auch der ›Barbizon­Schule‹ auf und malte eine Reihe schlammig­bräunlicher Landschaftsszenerien. Nach der Übersiedelung von München nach Zwickledt im Herbst 1906 entstanden die bekannteren »unterseeischen Landschaften« und mikroskopischen Bilder, die Kubin jedoch nicht ganz befriedigten. Anfang 1907 gelangte er, durch Anregungen des Pater Willibrord Verkade, der damals im Atelier Alexej Jawlenskys arbeitete, und unter dem Einfluss der flächigen Malerei von Paul Gauguin und der Schule der ›Nabis‹ gänzlich in den Bannkreis fremder Vorbilder.Das Bild der Rauchenden Negerinnen zeigt Kubins Versuch, sich unter Verzicht »auf alle Originalität« eng an die Tradition der ›Nabis‹ anzuschließen. Die üppigen braunen Frauengestalten, die sich in einer flächig angedeuteten Küstenlandschaft gelassen gegenübersitzen, sind nun auch thematisch dem Vorbild Gauguins entlehnt. Trotz farbiger Akzente, wie dem Rot der Früchte oder dem matt glühen­den Gelb der Landschaft, und der weichen Modellierung der Figuren bleibt die Darstellung merk­würdig stumpf und leblos. Die Auffassung des Frauenpaars weist über Gauguin zurück auf Vorbilder des 19. Jahrhunderts, auf den Orientalismus von Delacroix, der Kubin insgeheim sicher mehr faszi­niert hat als die Formenwelt Gauguins. Auch dieser Hauch von älterer Tradition im wenig über­zeugend adaptierten, modernen Gewand mag zum widersprüchlichen Eindruck des Bildes beitragen.

1905tempera auf Kataster-papier, 31,8 x 39,2 cm

Bez. l. u.: aKubinKub. nr. 290

117 rauchenDe negerinnen

alfred Kubin

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In Kubins Zeichnungen seit etwa 1912 lassen sich für mehrere Jahre deutliche Einflüsse von Paul Klee feststellen, seines Künstlerkollegen aus dem Umkreis des ›Blauen Reiter‹, der damals ebenfalls aus­schließlich als Zeichner arbeitete. Einige Quellen weisen darauf hin, dass Kubin Klee bereits seit 1905 kannte; fest steht, dass er im November 1910 Klee erstmals schriftlich bat, eine Zeichnung von ihm erwerben zu können. Daraus entwickelte sich im Anschluss ein reger Kontakt und gegenseitiger Aus­tausch von Zeichnungen. Besonders beeindruckt zeigte sich Kubin von den gekennzeichneten Illus­trationen Paul Klees zu Voltaires Candide, an denen dieser seit 1911 arbeitete und sie im Juni 1912 als fertige Serie zu Kubin nach Zwickledt brachte. Jürgen Glaesemer hat diese nachhaltigen Einflüsse vorbildlich analysiert und stellt zusammenfassend fest: »Die Wirkung der Candide­Illustrationen auf Kubins Zeichenstil ist frappant. Klees Zeichnungen regten ihn dazu an, die Figuren seiner Darstellun­gen in einem äußerlich sehr verwandten Stil gleichfalls zu marionettenhaften Schemen zu entmate­rialisieren.« Während viele dieser Zeichnungen in einer kalligrafischen Handschrift von »äußerster Verdünnung« als »Vision […] in der Luft wie ein halber Gedanke« zittern (Wilhelm Hausenstein), so zeigt sich in der Zeichnung Der Luftgeist ein weiterer neuer Einfluss. Seit Ende 1911 stand Kubin ebenfalls mit Lyonel Feininger in Berlin in regem Schrift­ und Tauschverkehr; diese Bekanntschaft war durch den Zeichner Rudolf Grossmann vermittelt worden. In vielen Werken Kubins der Jahre 1912 bis 1915 überlagern sich die Anregungen von Klee und Feininger, wobei gerade die typische, eckige Kontur auf die damals noch fast karikaturhafte Zeichenkunst Feiningers zurückgeht. Die eckige, übersteigert expressive Gestik der seltsamen männlichen Halbfigur im Vordergrund wieder­holt sich in der Armhaltung des »Luftgeists« zwischen den Schemen der Erscheinungen am Himmel. Sind die Formen auch teilweise von seinen Künstlerfreunden inspiriert, so gehört das figürliche Per­sonal ganz in das Repertoire der ›kubinesken‹ Chimären.Der Luftgeist, laut Widmung im Juli 1912 an Gabriele Münter geschenkt, kam ebenso wie einige andere Blätter Kubins nicht durch den Ankauf des Kubin­Archivs, sondern durch die Gabriele Münter Stiftung in die Bestände des Lenbachhauses.

um 1912tuschfeder, aquarell,

Deckweiß auf Kataster-papier, 14,1 x 21,7

(20 x 31,5) cmBez. u. d. Darstellung r. in Blei: juli 1912 Kubin

für Frl. münter gms 701

118 Der luFtgeist

alfred Kubin

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1879 münchenbuchsee bei Bern

1940 locarno-muralto

Paul Klee wurde am 18. Dezember 1879 als Sohn eines Musikerehepaars mit deutschem Vater und Schweizer Mutter in Münchenbuchsee geboren und wuchs in Bern auf. 1898 entschied er sich für ein Studium der Kunst in München und besuchte von 1900 bis 1901 die Akademieklasse von Franz von Stuck. Nach Reisen in Italien und Frankreich folgte erneut ein mehrjähriger Aufenthalt in Bern, 1906 heiratete er hier die Pianistin Lily Stumpf. Gemeinsam siedelten sie im Herbst 1906 nach München über, wo ein Jahr später der Sohn Felix geboren wurde. Im nun entstehenden Münchner Frühwerk schuf Klee zunächst ausschließlich Werke in grafischen Techniken, deren intellektuelle Sensibilität bereits die künstlerische Eigenart des Gesamtwerks erkennen lässt. Im Herbst 1911 kam er in Kontakt mit Kandinsky, der sein Nachbar in Schwabing war und der sein Genie sofort erkannte. Bald darauf beteiligte sich Klee an der 2. Ausstellung des ›Blauen Reiter‹ 1912. Im selben Jahr besuchte er Robert Delaunay in Paris, dessen Serie der Fensterbilder mit ihren farbigen Facetten ihn stark beeindruckte. Den endgültigen Durchbruch zur Farbe aber brachte die Tunisreise, die Klee zusammen mit August Macke und Louis Moilliet im April 1914 unternahm.Zwei Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde Klee zum Kriegsdienst eingezogen und verrichtete in Landshut und auf der Flugwerft Schleißheim, ab 1917 in der Fliegerschule Gersthofen Tätigkeiten in der Schreibstube. Diese Jahre und die unmittelbare Nachkriegszeit wurden für Klee eine äußerst produktive Phase, ab 1919 entstanden nun auch zahlreiche Gemälde. 1921 wurde er, wie wenig später auch Kandinsky, als Lehrer an das Bauhaus in Weimar berufen, das 1925 nach Dessau übersiedelte. In der Bauhaus­Zeit entwickelte Klee sein erklärtes Anliegen, mit bildender Kunst ein geheimnisvolles Zwischenreich zwischen der realen Erscheinung und dem Wesen der Dinge sichtbar zu machen, zu souveräner Meisterschaft. Mit subtilen Bildarchitekturen aus organischen und an ­organischen Elementen, mit rhythmischen Strukturen und durch die Einbeziehung von emblema­tischen Zeichen wirkte er als Schöpfer neuer Bildwelten. Seine 1931 angetretene Professur an der Düsseldorfer Akademie endete 1933 mit der Erteilung des Lehrverbots durch die Nationalsozialisten. Klee verließ Deutschland und kehrte in die Schweiz zurück. Hier schuf er, von Krankheit zunehmend beeinträchtigt, ein umfangreiches Spätwerk, in dem die ›Engelbilder‹ und ihre rudimentären Zeichen zu einem zentralen Thema wurden. Paul Klee starb am 29. Juni 1940 in einer Klinik in Locarno­Muralto.

Paul Klee

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Mit Federzeichnungen wie der Straßen Zweigung von 1913 war Paul Klee nach einer Zeit des Expe­rimentierens mit Hinterglasbildern und Schwarzaquarellen wieder in jenes »Urgebiet der psychischen Improvisation« zurückgekehrt, das seinem künstlerischen Wesen zutiefst entsprach. Nach seiner Rückkehr aus Paris im Frühjahr 1912 hatte er Alfred Kubin geschrieben: »Von Paris habe ich allerlei starke Eindrücke mitgebracht. So sehr ich die neusten Bestrebungen auch gerade da schätzen lernte, sehe ich doch ein, dass ich weniger forschen und noch mehr an die Ausarbeitung des Persönlichen gehen soll. Meine Candide­Illustrationen erscheinen mir z. Zt. als Basis zu solchen Bestrebungen sehr geeignet.« In diesen Illustrationen, die Klee 1911 in Angriff genommen hatte – die aber erst 1920 einen Verleger finden sollten –, lösen sich Körperhaftigkeit und objektive Erscheinung der Gestalten in eine filigrane, bewegte Zeichensprache auf, die das absurde Treiben der Menschen als burleskes Possenspiel enthüllt.Der nervöse, zerbrochene Strich wie auch das hastige Getriebensein der winzigen Figuren weisen das Blatt in den Entstehungszusammenhang der Candide­Illustrationen. Am oberen Rand des schmalen Querformats ist die ameisenhafte Betriebsamkeit der Menschen in fragmentarischen Strichbündeln zusammengezogen, der blasse, ungesunde gelbliche Grundton des Aquarells wird in dieser Zone von violetten, grünen und roten Farbwolken überlagert, die den Eindruck flackernder Hast noch verstär­ken. Das Torkeln und Stürzen durch den Raum unter Verlust der Schwerkraft ist auch den Figuren anderer Zeichnungen Klees in dieser Zeit eigen. Im Falle der Straßen Zweigung zeigt es die Nähe zu den großen expressionistischen Straßenbildern etwa der ›Brücke‹­Künstler oder auch Lyonel Feinin­gers. Doch im fragmentarischen Bildraum Klees wird immer ein Abenteuer, eine raumzeitliche Hand­lung mitgeteilt, entsprechend der exemplarischen Beschreibung einer Grafik in seinem Aufsatz Schöpferische Konfession. Hier wird von Bildern als Erlebnissen berichtet, »kleine Reisen ins Land der besseren Möglichkeiten«. Klee hat für die Straßen Zweigung eine ähnliche Federzeichnung mit zwei sich kreuzenden Straßen weiterverarbeitet, aquarelliert und die Passanten eingefügt. Dieses Blatt war wiederum die »Konstruktion des rein graphischen Ausdrucks« einer verwandten Zeichnung von 1912 gewesen, die den Entwurf in kubische Flächen zergliedert hatte. Das entscheidende Motiv, die Sogwirkung der fliehenden Linien auf die winzigen Menschenfigürchen, wurde erst in der letzten Fassung des Bildes eingebracht.

1913/27 (B)Kohle, Feder aquarelliert,

auf Karton aufgeklebt, 13,4 x 26 cm

Bez. r. u.: Klee 1913; auf dem untersatzkarton

i. u.: straßen zweigung 1913 27

g 13 119

119 strassen zWeigung

Paul Klee

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1910, Jahre vor Klees Tunisreise, entstand eine Reihe von kleinformatigen Aquarellen, in denen der Künstler versuchte, reine Farbe ohne Bindung an die Linie oder traditionelles Helldunkel für die Gegenstandsbeschreibung einzusetzen. Das Tagebuch gibt Aufschluss über sein Verfahren: »Sommer in Bern […] Aquarelle nass in nass auf wasserbestäubtes Papier. Schnelle nervöse Arbeit mit einem bestimmten Klang, dessen Teile über das Ganze verspritzt.« Trotz des spontanen, fließenden Farb­auftrags fällt eine überlegte Setzung der Tonwerte auf, der Gewichte heller und dunkler Partien, deren Verteilung Klee in seinen Schwarzaquarellen auf das Genaueste erprobt hatte. Die Farbe wech­selt in subtilen Abstufungen zwischen Blumensteg, Gießkanne und Eimer. Dieses in seiner Sparsam­keit und Ruhe so betörende Blatt zeigt damit deutlich den Einfluss von Paul Cézanne und dessen entmaterialisierten, die Gegenstände ersetzenden Farbflächen. Im Frühjahr 1909 hatte Klee eine Ausstellung Cézannes in der ›Münchner Secession‹ gesehen, »das größte malerische Ereignis bis dahin!«, wie er in sein Tagebuch notiert. Dort heißt es weiter: »Das ist mir der Lehrmeister par ex ­cellence, viel mehr als van Gogh«. Diese Bemerkungen Klees stehen in Zusammenhang mit seinen Erörterungen über die Rolle von Disziplin und Willen bei der Entstehung eines Kunstwerks und über die Sparsamkeit der Mittel, die oft einen scheinbar naiven, ›primitiven‹ Eindruck erzeugen.

1910/47 (B)aquarell auf Papier auf

Karton, 13,9 x 13,3 cmBez. i. u.: Klee; auf dem

untersatzkarton r. u.: 1910 47

g 13 116

120 Blumensteg, giess- Kanne unD eimer

Paul Klee

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Das Aquarell Föhn im Marc’schen Garten demonstriert meisterlich die ›Eroberung der Farbe‹, die Paul Klee seit seiner Tunisreise mit August Macke und Louis Moilliet im April 1914 gelungen war. Klee hatte bis 1914 überwiegend mit den grafischen Techniken der Zeichnung und Radierung ex ­perimentiert. Um den Gebrauch der Farbe, die ihm als Ausdrucksmittel der Wirklichkeit besonders problematisch erschien, rang er in einer langsamen Entwicklung, deren theoretische Reflexionen sich in seinen Tagebuchaufzeichnungen verfolgen lassen. Auch für ihn, wie in anderer Weise für August Macke und Franz Marc, wurden die aus farbigen Simultankontrasten aufgebauten, quasi­abstrakten Fensterbilder des Franzosen Robert Delaunay zu einer entscheidenden Seherfahrung. Im April 1912 besuchte Klee Delaunay in dessen Pariser Atelier und schrieb im Sommer dieses Jahres in einer Aus­stellungsbesprechung des ›Modernen Bundes‹ in Zürich über die dort gezeigten Fensterbilder des Franzosen: Im Gegensatz zu den Kubisten habe dieser der Inkonsequenz bei der Zertrümmerung des Gegenstandes »in verblüffend einfacher Weise dadurch abzuhelfen gewusst, dass er den Typus eines selbstständigen Bildes schuf, das ohne Motive aus der Natur ein ganz abstraktes Formendasein führt. Ein Gebilde von plastischem Leben, nota bene, von einem Teppich fast ebenso weit entfernt, wie eine bachsche Fuge«. Dennoch sollte es noch zwei Jahre dauern, bis Klee unter dem überwältigenden Eindruck des farbigen südlichen Lichts auf der Tunisreise seinen eigenen Durchbruch zur Farbe fin­det. Am 16. April 1914 notiert er in Kairouan die berühmten Worte in sein Tagebuch: »Die Farbe hat mich. Ich brauche nicht nach ihr zu haschen. Sie hat mich für immer, ich weiß das. Das ist der glück­lichen Stunde Sinn: Ich und die Farbe sind eins. Ich bin Maler.«Föhn im Marc’schen Garten geht auf einen Eindruck während eines Besuchs bei Franz Marc in Ried bei Benediktbeuern während dessen Fronturlaub im Juli 1915 zurück. Hier sind die neuen Seh­erfahrungen in eine lockere, souverän gestaltete Farbarchitektur eingegangen. Aus zarten farbigen Rauten, Quadraten und Dreiecken, die sich bis zur Durchsichtigkeit aufhellen und an den Schnittstel­len empfindlich überlagern, entsteht das Bild des ebenso intensiven wie transparenten Farbenspiels eines Föhntages im bayerischen Alpenvorland. Spiegelungen von Firmament und Erde sind durch korrespondierende Farbwaben zum Ausdruck gebracht, die über die Natur hinaus auf die in ihr gesetzmäßig wirkenden Prinzipien verweisen. Ein Leitmotiv in Klees Schaffen wird damit sichtbar, für das er die unterschiedlichsten formalen Lösungen gefunden hat. Rudimente der Naturformen werden in geometrische Elemente gefasst und, etwa im violetten Dreieck des Berges, zu planimetrischen Flächen entspannt. Damit folgt Klee einem System, das er bereits in den Tunis­Aquarellen ent­wickelte, in denen allerdings oft noch zeichenhafte gegenständliche Chiffren in das bunte Gewebe hineinragen, während hier das Motiv der Föhnlandschaft vollständig mit den Farbstrukturen zur Deckung gekommen ist.

1915, 102aquarell auf Papier auf

Karton aufgeklebt, 20 x 15 cm

Bez. mitte r.: Klee; auf dem untersatzkarton

i. u.: 1915 102; auf der rückseite des

Deck kartons: Föhn im marc’schen garten

g 13 266

121 FÖhn im marc’schen garten

Paul Klee

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Das Thema der gebauten Architektur hat Klee in seinen Werken um 1920 in mannigfacher Form behandelt. Offenbar bedeutete die in der Architektur verkörperte reine Konstruktion für ihn ein Grundgesetz auch der bildenden Kunst, für die er analoge Kompositionsprinzipien erkannte. Bereits auf seiner Italienreise 1901–1902 war ihm neben dem epigonalen Charakter üblicher künstlerischer Praxis die elementare Beziehung zwischen Architektur­ und Bildordnung aufgefallen. Wie grund­legend dieser Zusammenhang für seine Entwicklung zum Maler wurde, macht auch ein Tagebuch­eintrag der Tunisreise klar: »Sofort ans Werk gegangen und im Araberviertel Aquarell gemalt. Kunst/Natur/Ich. Diese Synthese Städtebauarchitektur/=Bildarchitektur in Angriff genommen.«In Stadt R sind Architekturteile, Mauerwerk, Dächer, Schornsteine in Facetten zerlegt und in einem komplizierten geometrischen Gitter verzahnt. Wirklichkeitsreste, etwa das blaue Dreieck des Him­mels, vermischen sich mit Zwischenstufen, wie dem ›gemauerten‹ Mond im rotierenden Feld rechts und einer im buchstäblichen Sinn zitathaften Zeichensprache: der schwarzen Form eines großen R, das dem Bild, wie auch der Villa R (Kunstmuseum Basel) aus dem gleichen Jahr, seinen Titel gegeben hat, und einem schwarzen Komma mit Punkt. Marcel Franciscono hat die spezielle Eigenart dieses aus dem Kubismus abgeleiteten Prinzips wie folgt beschrieben: »Dass Klee den Kubismus in solcher Weise anwenden konnte, liegt zum Teil in der Natur dieses Stiles selbst, vor allem wie ihn Picasso und Braque verstanden hatten. Denn um 1911, besonders aber seit der Anwendung der Collage im Jahr 1912, lässt sich ihr Vorgehen in der Malerei nicht mehr länger als Fragmentierung einer optischen Wahrnehmung, sondern nahezu ausschließlich als Arrangement von teilstückhaften zweidimensiona­len Chiffren und Diagrammen bezeichnen, die eine vielseitige und geistreiche Durchdringung von Formen und Ideen erlaubten. Die Grundlagen eines Bildes – Struktur, Raum, Motivik – wurden auf denselben visuellen Kern zurückgeführt, so weit, dass selbst Buchstaben und Worte eingegliedert werden konnten ohne zu stören.«Während aber die Buchstaben der Kubisten einen Bezug zur Wirklichkeit aufweisen, werden sie bei Klee zum Symbol, das gleichwertig mit anderen geometrischen oder emblematischen Zeichen – Pfeil, Ausrufezeichen, Auge, Herz, Sonne – als Bedeutungsträger eingesetzt wird. Ebenso wie die Architek­tur des Bildes trotz aller Bewegung und bruchstückhaften Tiefe ein hermetisches Ganzes bildet, bleibt auch der Sinn des R verschlüsselt. Sinn erschließt sich bei Klee stets über das Ganze: »Dies kommt nun schrittweise so zum Ausdruck, dass in der Auffassung des natürlichen Gegenstandes eine Tota­lisierung eintritt, sei dieser Gegenstand Pflanze, Tier oder Mensch, sei es im Raum des Hauses, der Landschaft oder im Raum der Welt und so, dass zunächst eine räumlichere Auffassung des Gegen­standes an sich einsetzt«, schreibt er 1923 in seinen Wegen des Naturstudiums.

1919/ 205aquarell auf

gips grundierung auf gaze auf Karton,

16,5 x 22 cmBez. r. u.: Klee/1919 205

Dauerleihgabe der gabriele münter- und

johannes eichner-stiftung

aK 7

122 staDt r

Paul Klee

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Zerstörter Ort ist auch ein Architekturbild, doch von anderem Charakter als die Stadt R (Tafel 122). Zusammen mit Zerstörtes Dorf (Privatsammlung) ist es eines der wenigen Werke Klees, die auf das Erlebnis des gerade zu Ende gegangenen Ersten Weltkriegs Bezug nehmen. Klee hatte den Krieg mit innerer Distanz erlebt, davon zeugen nicht nur seine oft zitierten Sätze »Ich habe diesen Krieg in mir längst gehabt. Daher geht er mich nichts mehr an«, sondern auch Äußerungen, er blickte auf seine abgestreiften Trümmer wie auf längst Vergangenes zurück. Längst erloschen scheint auch das Leben des Zerstörten Ortes, dessen geisterhafte, grauviolette Ruinen vor nachtblauem Himmel wie von röt­lichen Flammen erhellt aufleuchten. Fensteröffnungen, die in anderen Bildern Klees die Dialektik von Innen und Außen erschließen und häufig auch für die verschwiegene Geborgenheit des Hauses stehen, sind in den entkernten Ruinen zu gähnenden schwarzen Höhlen geworden. Die Abwesenheit alles Lebendigen und die geisterhafte Verlassenheit des zerstörten Ortes, zu dem offenbar auch min­destens ein Gotteshaus gehörte, bestimmen den Eindruck vergangenen Schreckens, den das kleine Bild hervorruft.Hier ist Klee die Kunst »des Sichtbarmachens unoptischer Eindrücke und Vorstellungen« gelungen, die er in seinem Traktakt Wege des Naturstudiums für die neue Kunst reklamiert. Die spezielle Art »leidenschaftsloser Glut«  – man blickt auf diesen Ort wohl mit Grauen, aber ohne schreckhaftes Bedauern – im Assoziationswert vieler Bilder Klees, die den Betrachter ganz anders berühren als etwa der Expressionismus der ›Brücke‹­Künstler oder das malerische Pathos eines Kandinsky, hat der Künstler selbst in einem Nachruf auf den gefallenen Freund Franz Marc zu erklären versucht. Im Vergleich mit diesem meint er von sich: »Meine Glut ist mehr von der Art der Toten oder der Unge­borenen […] Ich nehme einen entlegeneren, ursprünglicheren Schöpfungspunkt ein, wo ich Formeln voraussetze für Mensch, Tier, Pflanze, Gestein und für die Elemente, für alle kreisenden Kräfte zu ­gleich. Tausend Fragen verstummen, bevor sie gelöst wären.« Das Verstummen der Fragen, d. h. der Leidenschaft vor Klees Bildern ist maßgeblich auch aus ihrem reflektierten Vokabular und ihrer seismo grafischen Aufzeichnung unbewusster psychischer Inhalte zu erklären.

1920/215Öl auf Papier auf Karton

aufgezogen, 22,3 x 19,5 cm

Bez. i. u.: Klee; auf der untersatzpappe i. u.:

1920/215; r. u.: zerstörter ort

g 15 638

123 zerstÖrter ort

Paul Klee

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Paul Klee hat um 1920 in einer Reihe von Werken gewachsene und gebaute Strukturen zu einem rhythmischen Bildganzen verschmolzen. Rosengarten ist zweifellos das bedeutendste von ihnen. Bereits in dem für Klee so wichtigen Thema des Gartens ist das zweigesichtige Prinzip künstlicher, gestalteter Ordnung und des natürlichen, organischen Wachstums enthalten. Im Rosengarten bilden unregelmäßige schmale, von filigranen schwarzen Linien eingefasste Rechtecke, im Zentrum des Bildes auch zurückspringende Trapezformen, ein ›gemauertes‹ horizontales Zeilengefüge, das sich vollständig aus der Parzellierung der lebendigen, differenziert gegeneinandergesetzten Rottöne entwickelt. Die Rotschattierungen der kunstvoll arrangierten Natur überziehen auch die über das ganze Bild verteilten pavillonartigen Architekturen mit spitzen Dächern, in denen die horizontale Quaderung des Gartens lediglich um einige Grade gestrafft ist. Die rhythmisch verteilten Rosen mit ihren kugeligen, zu Spiralen gerollten Blütenköpfen – für Klee stets ein Symbol des Wachsens und Sprießens – ragen wie Notenköpfe auf geraden Stielen aus den horizontalen Bändern.Tatsächlich steht für Klee die Konstruktion einer Landschaft durch grafisch präzise, quer geschichtete Strukturen häufig in Verbindung mit analogen Vorstellungen aus der Musik. In seinen Aufzeichnun­gen zum Bildnerischen Denken während der Bauhauszeit spricht Klee unter der Überschrift »Kulturelle Rhythmen« von der »Taktstruktur als gliederndem Rhythmus in der Landschaft«. Dieser Zusammen­hang zwischen Musik und Malerei ist grundlegend für Klees Auffassung von den Konstruktionsgeset­zen einer reinen, autonomen Malerei, um die sich auch Wassily Kandinsky bemühte. Doch während für Kandinsky die Analogiebildungen in einer intuitiv aufgefassten, malerischen Konstruktion des Bil­des durch die »inneren Klänge« der Farben lagen, bedeuteten sie für Klee das Streben nach präzisen Formgesetzen. Dabei übertrifft die raumzeitliche Bewegung, die im Bild als Poly phonie gleichberech­tigter Stimmen möglich ist, für ihn sogar noch die Musik. Als Vorbild zitiert er in einem Tagebuchein­trag von 1917 noch einmal die ›Simultankontraste‹ der Fensterbilder Robert Delaunays, die mit ihrer Veranschaulichung des bewegten Sehens auch für Franz Marc und August Macke zu einem Schlüssel­erlebnis geworden waren: »Die polyphone Malerei ist der Musik dadurch überlegen, als das Zeitliche hier mehr ein Räumliches ist. Der Begriff der Gleichzeitigkeit tritt hier noch reicher hervor […] Den Akzent in der Kunst nach dem Beispiel einer Fuge im Bild auf das Zeitliche zu verlegen, versuchte Delaunay durch die Wahl eines unübersehbar langen Formats.«Auch der Rosengarten könnte sich mit seinen melodischen Gefügen nach allen Seiten weiter ausdeh­nen; sicher ist, dass Klee dieses Werk, wie viele seiner frühen Bilder und Aquarelle, nach der Fertig­stellung beschnitten hat, bis es den intendierten Ausschnitt zeigte.

1920/44Ölfarbe und Feder auf

Papier auf Karton, 49 x 42,5 cmBez. mitte r.:

Klee/1920/44gabriele münter- und

johannes eichner-stiftung

und städtische galerie im lenbachhaus

aK 30/g 16 102

124 rosengarten

Paul Klee

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Die Welt der Bühne, der imaginären Verwandlung, hat Paul Klee von jeher fasziniert. Zahlreiche seiner Bilder kreisen um Themen aus der Welt des Theaters, des Zirkus, der Artisten und Zauber­künstler. Skurrile Fantasiefiguren führen dabei oft ein von jeder realistischen Wahrscheinlichkeit los­gelöstes Spiel auf. In Waldbeere präsentiert sich die verwirrende Mischgestalt einer zierlichen Bühnenfigurine mit riesig aufgeblähtem, leerem Kopf vor einer dunklen Waldbühne. »Vor dunkel­violettem Hintergrund, eingefasst von kulissenartigen Versatzstücken und stilisierten Pflanzen, wächst eine Figurine empor. In strenger Frontalität verharrend, stemmt sie mit zarten Gliedern ihren mäch­tigen, ballonartigen Kopf. Mehr noch als Rhomben und Blattformen des Gewandes bestimmt dieses knospenartige Gebilde von transparenter Farbigkeit den geheimnisvollen Charakter des Zwitter­wesens, in dem sich Anthropomorphes und Vegetabiles vereinigen. Diese Symbiose verleiht der Dar­stellung etwas Rätselhaftes und sanft Unheimliches« (Armin Zweite). Das abgespreizte ›Gefieder‹ scheint das Schweben der Figur zu befördern; ihr lastender Kopf mit den brombeerfarbenen Schich­ten jedoch hält sie bei aller Transparenz in puppenhafter Hilflosigkeit.1920 war Klee als Lehrer an das Staatliche Bauhaus in Weimar berufen worden, im Januar 1921 trat er seinen Dienst dort an und siedelte im Herbst jenes Jahres endgültig mit seiner Familie über. Die geometrischen Grundformen der Waldbeere mit der geschnürten Wespentaille und den Gelenk­scharnieren weisen gewisse Ähnlichkeiten zu gleichzeitigen Bühnenarbeiten des Bauhauses, etwa Oskar Schlemmers mechanischem Triadischen Ballett, auf. Doch verfolgt Klees poetisches Geschöpf ein ganz anderes Konzept als die analytischen Figuren Schlemmers, die letztlich die Funktionalität des menschlichen Körpers demonstrieren. Zwar verkörpert die Waldbeere in ihrer Gestalt die großen Gegensätze, die Klee am Bauhaus besonders beschäftigten – die Beziehungen von naturhaften und mathematisch­gesetzmäßigen Formen –, doch damit erweist sie sich umso mehr als das vollständige Geschöpf des Künstlers. Zu diesen Kunstfiguren scheint der Mensch durch seine Fähigkeit Zugang zu haben, sich die Erscheinungen der Natur in anthropozentrischer Weltsicht anzueignen: »Über diese Arten der verinnerlichenden Anschauung des Gegenstandes hinaus gehen die folgenden zu einer Vermenschlichung des Gegenstandes führenden Wege, die das Ich zum Gegenstand in ein über die optischen Grundlagen hinausgehendes Resonanz­Verhältnis bringen. Erstens der nicht optische Weg gemeinsamer irdischer Verwurzelung, der ins Ich von unten ins Auge steigt, und zweitens der nicht optische Weg kosmischer Gemeinsamkeit, der von oben einfällt. Metaphysische Wege ihrer Ver­einigung« (Wege des Naturstudiums, 1923).

1921/92aquarell und Bleistift auf Papier, zerschnitten und

neu kombiniert, mit gouache und Feder

eingefasst, auf Karton, unten ca. 1 cm breiter streifen vom Künstler

angestückt, 35,7 x 27 cm (Blattformat)

Bez. r. u.: Klee; auf dem untersatzkarton mitte u.:

1921/92 Waldbeereg 15 694

125 WalDBeere

Paul Klee

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Der wilde Mann macht die schematisch gezeichnete Figur eines gehörnten männlichen Wesens im Harlekinkostüm durch die Gewalt entgegengesetzter Triebe, in den Pfeilen drastisch veranschaulicht, zur hilflosen Marionette. Auf dem unruhigen Kreidegrund, in den durch eine Mischung von Farb­pulver und Leimwasser alle Farben fleckig eingesogen sind, wird seine Figur im Spannungsfeld der Kräfte wie ein Hampelmann auseinandergezogen. Aus seinem gehörnten Kopf, über den ein durch­sichtiger Schleier fällt, zielen breite braune Pfeile nach oben, Zeichen der Besessenheit des Denkens, aber auch des psychischen Verlangens. Aus seinen stieren Augen schießen kleinere Pfeile nach beiden Seiten, erneut die Unvereinbarkeit verschiedener Begierden deutlich machend. Das hodensack­ähnlich herabhängende Kinn mit dem gekräuselten Bart bildet ein Zentrum seiner Gestalt, ebenso die roten und schwarzen Pfeile, die aus seinem Geschlecht nach unten stoßen. Das »Urmännliche«, das Klee einmal als »bös, erregend, leidenschaftlich« beschrieben hat, steht hier in ohnmächtigem Kon­flikt zwischen seinen Trieben und ihrer Kontrolle, zwischen unten und oben, ähnlich wie bereits der Held mit Flügeln auf der frühen Radierung von 1905, der trotz Aufwärtsstrebens durch dunkle Mächte und ›Gebrechen‹ an die Erde gefesselt ist.In nur wenigen Bildern hat Klee den Pfeil so offensiv als sexuelle Metapher eingesetzt. Auch in den Blättern Der Pfeil von 1920 (Kunstmuseum Bern) oder Analyse verschiedener Perversitäten (Centre Georges Pompidou, Paris), in denen nach Art von Max Ernst der durch sexuelles Verlangen verhexte menschliche Körper wie in einem Laboratorium seziert wird, symbolisiert der Pfeil sexuelle Begierde und Aggression. Die Tendenz zur Überschreitung des Gegebenen, auch des Energiezuwachses, die im Zeichen des Pfeils verkörpert ist, erläutert Klee in einer grundlegenden Passage seines Pädagogischen Skizzenbuches: »Der Vater des Pfeils ist der Gedanke: Wie erweitere ich meine Reichweite dort­hin? […] Die ideelle Fähigkeit des Menschen, Irdisches und Überirdisches beliebig zu durchmessen, ist im Gegensatz zu seiner physischen Ohnmacht der Ursprung der menschlichen Tragik. Der Wider­streit von Macht und Ohnmacht ist Zwiespältigkeit menschlichen Seins. Halb Beflügelter, halb Ge ­fangener ist der Mensch.« Aber der Pfeil ist auch eine kleine Utopie: »Je weiter die Reise, desto empfindlicher die Tragik, nicht schon zu sein […] Die Erkenntnis, dass da, wo ein Anfang, nie eine Unendlichkeit. Trost: ein wenig weiter als üblich! als möglich?«Angesichts der verfremdenden Montage von Figur und abstraktem Zeichen verwundert es nicht, dass die Surrealisten Klee zur Teilnahme an ihrer ersten gemeinsamen Ausstellung 1925 in Paris einluden.

1922 /43Bleistift, Ölpause,

aquarell und gouache auf gipsgrundierung auf

gaze auf Papier, 58,6 x 38,8 cm

Bez. r. u.: Klee; auf dem untersatzkarton l. u.:

s. cl.; mitte u.: 1922 /43 Der wilde mann

Dauerleihgabe der gabriele münter- und

johannes eichner-stiftung

aK 14

126 Der WilDe mann

Paul Klee

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Botanisches Theater, 1924 angelegt, 1934 überarbeitet und vollendet, gilt als eines der Hauptwerke Paul Klees. Mit seinem bühnenhaft inszenierten Einblick in die Prozesse des Werdens und Wachsens der belebten Formen ist es ein Schlüsselbild für das zentrale Thema des Wirkens verborgener Lebens­kräfte, von Schöpfung und Wandlung, das Klee in seiner Kunst immer wieder umkreist. Das Formen­arsenal des Botanischen Theaters scheint dabei zu dem von ihm so genannten »inneren Kreis« zu gehören; in verschiedenen Werken besonders der zwanziger Jahre lässt es sich dingfest machen. Wäh­rend etwa die frühe Radierung Garten der Leidenschaften von 1913 noch die ›Kleinwelt‹ in verfloch­tenem Chaos zeigt, erlangen etwa die Bühnenlandschaft von 1922 (Privatbesitz) oder das von Klee mit der Bemerkung »Sonderclasse« ausgezeichnete Aquarell Kosmische Flora von 1923 (Kunstmuseum Bern) bereits eine Form der Ordnung, die der des Botanischen Theaters vorausgeht.Ordnung ist, bei allen geheimnisvollen Regungen lebendiger Energien und der Bizarrerie der For­men, auch das Grundprinzip des Botanischen Theaters. Eine rahmende Bühnenarchitektur aus stan­genartigen Gewächsen, Blättern und Blüten gibt den Blick frei auf ein in der Mitte schwebendes, protovegetabiles Gebilde mit rotem, tropfenförmigem Kern, das in seinem unteren Bereich wunder­liche Triebe entwickelt. »Es ist gleichsam die ›Urpflanze‹, welche sich ringsherum in verschiedenen Arten entfaltet. Gesetzmäßigkeit und Geheimnis organischen Wachstums sind gleichermaßen erfasst« (Armin Zweite). Man meint in eine alchemistische Werkstatt zu blicken, in der Stoff und Instrumente, schaffende Energie und Materie noch identisch sind und in der kleine, regelhaft geordnete Elemente am Rand der ›Bühne‹ wie Werkzeuge für größere pflanzliche Formen aufgereiht sind. Botanisches Theater, so interpretiert Christian Geelhaar das Bild mit Klees eigenem Vokabular, meine jenen »Ur ­grund der Schöpfung«, der Typen und Urphänomene, in dem »das Urgesetz die Entwicklung speist«. Doch nicht nur die Gegenstände, auch die Art ihrer Behandlung und Vernetzung durch haarfeine Pelzschraffuren, die wie ein fluktuierender Flaum alle Formen überziehen, und die querschnitthafte Bloßlegung tiefster Gründe geben eine Ahnung vom Prinzipiellen des Wachstums. Dem entspricht auch die materielle Beschaffenheit des Werks, seine reliefhaft überarbeiteten Partien aus warmen erdbraunen, grün und rot gemischten Tönen und die zarten, im Laufe der Jahre entstandenen Auf­sprünge im Zentrum. Nicht zuletzt spiegelt der schichtenweise Einsatz verschiedener Techniken – Öl, Aquarell, Feder – das Prozesshafte des Schaffens. »Nicht Form, sondern Formung«, so beschrieb Klee einmal die Aufgabe des Künstlers gegenüber seinen Bauhaus­Schülern. Diese Analogie zwischen natürlicher und künstlerischer Schöpfung, das Leitmotiv von Klees Schöpferischer Konfession, wird im Botanischen Theater in programmatischer Form zum Bildgegenstand gemacht und weist dieses Gemälde damit als eine Inkunabel im reifen Schaffen Klees aus.

1934, 219 (u19)Ölfarbe, aquarell, Pinsel und Feder auf Papier auf

Karton, 50 x 67 cmBez. r. u.: 1924/198; i. o.:

Klee /1924 /=1934 gabriele münter- und

johannes eichner-stiftung und städtische

galerie im lenbachhausaK 24/g 15 632

127 Botanisches theater

Paul Klee

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Früchte auf rot handelt ähnlich wie Botanisches Theater (Tafel 127) von pflanzlichem Wachstum und zeigt die gesetzmäßige Entwicklung von kleinsten beerenförmigen Knospen zum verästelten Trieb, von der Blüte zur Frucht. Das von Klee mit der Bezeichnung »Sonderclasse« ausgezeichnete Aquarell entstand auf einem feinen, kupferroten, auf blauem Karton montierten Seidentuch. Die geometri­schen Formen der Früchte und Blätter sind ebenfalls aus Seide ausgeschnitten und aufgeklebt, die Stängel mit spitzem Pinsel oder Feder gezogen. »Ein kandelaberartiges, reich sich verästelndes Gewächs beherrscht das Blickfeld. Rechts unten wachsen kleine Beeren und Glockenblumen aus der eigentlichen Basis hervor. Sämtliche Pflanzen dehnen sich nach oben, dem Licht zu […] Eine weitere Einzelheit bedarf noch der Erwähnung: In der linken oberen Ecke wird die rudimentäre Andeutung eines zurückgeschlagenen Vorhangs sichtbar. Das Motiv des Bühnenvorhangs tritt seit etwa 1918 in zahlreichen Werken des Künstlers auf. Der Vorhang soll hier nicht alleine eine in sich ruhende Bild­welt nach der Seite und oben kompositionell abschließen, sondern die Darstellung des Geheimnisses pflanzlichen Wachstums als erscheinungshaft visionär kennzeichnen. Früchte auf rot gehört somit zu jener zentralen Themengruppe im Schaffen von Klee, die 1934 im Tafelbild Botanisches Theater – ein Höhepunkt des Gesamtwerks schlechthin – gipfelt« (Christian Geelhaar).Früchte auf rot entstand 1930 in Dessau, wohin Klee mit dem Bauhaus von Weimar übergesiedelt war. Seit 1930 benutzte der Künstler wiederholt ungrundierte Stoffe als Malgrund, in seinem expressiven Berner Spätwerk häufig grobe Jute oder Sackleinen. Die delikate Seidencollage dieses Werkes kommt auf dem Weg höchster Künstlichkeit zu einer prinzipiellen Natürlichkeit, zu einer vertieften, minutiös sezierenden Beobachtung der Natur. Im querschnitthaften Aufriss werden die Gehäuse der orga­nischen Gebilde freigelegt. In Wege des Naturstudiums schrieb Klee 1923: »Der Mensch zergliedert das Objekt und entlarvt sein Inneres auf geschnittener Fläche […] Es ist dieses sichtbare Vordringen in verborgene Bereiche, teilweise durch ein einfaches scharfes Messer, teilweise mit Hilfe delikater Instrumente, das die materielle Struktur oder materielle Funktion klar vor das Auge bringt. Die Summe von Erfahrungen, so erhalten, gibt uns die Möglichkeit, intuitiv zu beurteilen, was die innere Natur des Objektes ist, allein die Außenseite anschauend.« Die zarte, konstruierte Architektonik der Früchte auf rot exemplifiziert auf ideale Weise diesen Einblick in die Anatomie der Objekte. Der Notenschlüssel am rechten Bildrand ist ein Hinweis auf die frühere Funktion des Tuches, das Klee beim Geigenspiel zur Schonung des Instruments benutzt hatte.

1930/263 (ae 2)aquarell, Pinsel, Feder

und zirkel auf seide, 61,2 x 46,2 cm

auf dem untersatzkarton i.: s. cl. 1930 ae 2; r.:

Fruechte auf rot Dauerleihgabe der

Bayern lB

128 FrÜchte auF rot

Paul Klee

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Seit seinem Gemälde Alter Klang von 1925 (Kunstmuseum Basel) hat sich Paul Klee durch sein ganzes Schaffen hindurch immer wieder mit schachbrettartig aufgebauten Bildern beschäftigt. Seine »magi­schen Quadrate«, wie Will Grohmann sie nannte, wurden zwar während der Bauhauszeit einer stär­keren theoretischen Analyse unterzogen, doch ihr Charakter, ein Gesamtbild von spannungsreich im Gleichgewicht gehaltenen »Harmonien« oder »Bildarchitekturen« – wie Klee sie auch nannte – zu verkörpern, änderte sich dadurch nicht. Um 1930 entstanden mehrere Bilder dieser Art, zunächst offenbar Dreitakte im Geviert (Privatsammlung, Deutschland), nach dem Verkauf dieser Arbeit Rhythmisches und rhythmisches strenger und freier. Zu Letzterem notiert Klee in seinem Werkkata­log: »Großes Aquarell, d. h. pastose Kleisterfarben mit dem Messer verarbeitet, deutsches Ingres [die Papiersorte des Bildes]«. Mit den pastos gemalten Quadraten und Vierecken im Wechsel von Schwarz, Rotbraun, Blau und Grau, als großes Muster in das Rechteck des lichten rosa Hintergrunds ein gepasst, erprobt Klee die Gesetzmäßigkeiten von alternierenden farbigen und formalen Rhythmen. Ihre sub­tilen Verschiebungen, Dehnungen und Verkürzungen, mit den in der Mitte zueinandergeneigten Qua­draten und dem Zeilenübergriff von Rotbraun in die oberste Reihe, sind weit entfernt vom schema­tischen Raster eines gewöhnlichen Schachbrettmusters, dessen »gleichmäßige Gliederung […] ohne Reiz des Zunehmens oder Abnehmens [ist]«, wie Klee formuliert: »Das Formresultat ist trotz Vielheit unproduktiv.« In einer anderen Passage seines Bildnerischen Denkens macht Klee diesen Unterschied noch deutlicher: »Im (gewöhnlichen) ›Schach‹ ist die augenmaßliche Teilung gegeben, während sie im ›Überschach‹ als Maß und Funktionsgrundlage zu denken ist.« Angesprochen ist hier ein nicht sicht­bares reguläres System, unter dessen absoluter Gesetzmäßigkeit sich die Bewegung der Teile »stren­ger und freier« entfalten kann.

1930/59 (09)Kleisterfarbe auf Papier auf Karton, 47 x 61,5 cmBez. r. u.: Klee; auf dem

untersatzkarton l. u.: 1930 0.9;

r. u.: rhythmisches strenger und freier

g 16 155

129 rhYthmisches strenger unD Freier

Paul Klee

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Im April 1931 wechselte Paul Klee vom Bauhaus in Dessau als Lehrer an die Düsseldorfer Akademie. In dieses Jahr fällt auch der Höhepunkt seiner Beschäftigung mit den Erscheinungsformen des farbi­gen Lichts, in einer Technik, die er selbst »das sogenannte Pointillieren« nannte, in Anlehnung an das Verfahren Georg Seurats und der Neoimpressionisten, die den Eindruck der sichtbaren Wirklichkeit in die farbigen Punkte des Spektrallichts zerlegten, die sich im Auge des Betrachters wieder mischen. Klee hingegen dichtet den Bildraum seiner ›divisionistischen‹ Werke oft durch pastos aufgetragene weiße Farbe vollständig ab und legt ein System farbiger Punkte von ähnlich konzentrierter Substanz darüber. Zum Teil sind die einzelnen Farbpartikel mehrfach übermalt, bis sie, etwa auch in Klippen am Meer, als erhabenes Relief wahrnehmbar werden. Hier entwickelt sich durch die Verteilung der farbigen Punkte ein bewegtes Muster mit Anklängen an Gestein, Meer und Himmel und lässt einen oszillierenden Organismus von unbestimmter räumlicher Tiefe entstehen. Das Experiment der Dar­stellung des Lichts, das Klee auch in seinen berühmten Bildern Ad Parnassum (Kunstmuseum Bern) und Das Licht und Etliches (Pinakothek der Moderne, München) von 1931 anstellte, wird hier, wie Jürgen Glaesemer darlegt, an die Grenzen rein farbiger, gegenstandsloser Darstellungsmöglichkeiten geführt. Die von Klee so genannte »Punktsaat« ist in diesem Sinne die äußerste Konsequenz der geras­terten Quadratbilder, deren Felder hier zu isolierten Punkten zusammengeschrumpft sind. Zwischen diesen Punkten wieder einen optischen Zusammenhang herzustellen, erfordert eine ungleich höhere geistige Anspannung des Betrachters als der auf den sinnlichen Impuls des Sichtbaren bezogene Poin­tillismus der Neo impressionisten.

1931/154 (r 14)Ölfarbe auf weißer

grundierung auf leinwand auf Keilrahmen,

44 x 62 cmBez. r. u.: Klee; auf dem

Keilrahmen: r. 14 Klippen am meer

Dauerleihgabe der gabriele münter- und

johannes eichner-stiftung

aK 18

130 KliPPen am meer

Paul Klee

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Nach seiner Entlassung aus dem Lehramt an der Düsseldorfer Akademie durch die Nationalsozia­listen 1933 emigrierte Klee in seine Schweizer Heimat. Ab 1935 zeigten sich die Symptome einer gefährlichen Sklerodermie, an der Klee nach fünf Leidensjahren sterben sollte. 1936 entstand nur eine geringe Anzahl von Bildern. 1937 bis zu seinem Tode folgte jedoch noch einmal eine überreiche Schaffensperiode, in der mehr als zweitausend Werke entstanden, eine Produktion, die angesichts des wachsenden Zerfalls der körperlichen Kräfte Klees unbegreiflich erscheint. Ein herausragendes Thema dieses Spätwerks sind die Engelbilder. Vereinzelt, etwa mit Angelus Novus von 1920 (The Israel Museum, Jerusalem), hatte Klee das Thema bereits zuvor beschäftigt, doch die runenhaften Zeichen von Bildern wie Engel im Werden, Angelus dubiosus, Engel vom Stern und Erzengel aus den späten Drei ßigerjahren führen diese Vorstellung in eine neue Dimension. Die Grenzlinie zwischen Leben und Tod, zwischen irdisch körperlicher und unvergänglicher Existenz, die der Engel von sei­nem Wesen her umfasst, wird in den großflächigen Bildern der letzten Jahre fassbar. In Erzengel ste­hen schwarze, schwere Balkenfiguren vor der transparenten, vom groben Jutegrund aufgesogenen »Farbenvielfalt eines verblassenden Regenbogens« (Rosel Gollek), die dem Bild eine immanente, sak­rale Leuchtkraft verleiht. Auch hier herrscht trotz der Disparität der formelhaften Zeichen eine hier­archische Ordnung, die die Erscheinung des Engels und seinen wie von einer Flamme bekrönten Hinweis nach oben verständlich werden lässt.Das Wissen um das naherückende Ende, die Sehnsucht nach Transzendenz wie auch die bedrückende Zeitstimmung angesichts der drohenden Gefahren von Faschismus und Krieg scheinen in einem solchen Bild Gestalt angenommen zu haben. Die Engelbilder sind damit »als Höhepunkt einer künst­lerischen Entwicklung« zu betrachten, »in der privates Lebenszeugnis, historische Betroffenheit, mythisches oder religiöses Menschheitsgedächtnis und absoluter Kunstcharakter« sich vereinigen (Otto K. Werckmeister).

1938/82 (g 2)Öl- und Kleisterfarbe auf

Baumwolle auf jute auf Keilrahmen, 100 x 65 cmBez. r. u.: Klee; auf dem

Keilrahmen: 1938 Y erzengel

Dauerleihgabe der gabriele münter- und

johannes eichner-stiftung

aK 9

131 erzengel

Paul Klee

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In zunehmend »primitiven«, zu kindhaften Ursprüngen zurückkehrenden Zeichen erreicht Paul Klees Malerei gegen Ende seines Lebens einen letzten Höhepunkt. Die zerbrochenen Figuren in diesem Bild mögen hieroglyphenhaft den »Rausch immerwährender Verwandlungsprozesse in der Natur« (Rosel Gollek) andeuten, aber auch die Vereinzelung gestalthafter menschlicher, tierischer und pflanz­licher Symbole. Die Monochromie des Hellrot, in dem alle Elemente des Bildes gezeichnet und zum Teil ausgemalt sind, ergänzt durch einige Akzente in Hellgrün, Gelb und Violett, verstärkt einerseits die agressive Wirkung des Bildes, belässt es andererseits aber in einer Zone reduzierter Abstraktion. Der Kosmos des umfassenden Kunstbegriffs, wie ihn Klee in der Schöpferischen Konfession von 1920 formulierte, zerfällt in Fragmente. Aus dem umhegten Bezirk des Bildes Rausch, der wie Erz­Engel (Tafel 131) auf grober Jute gemalt und auf einen weiteren, eingefärbten Stoff aufgeklebt ist, scheint es keinen Ausweg mehr zu geben. Das Konzept des Wachstums ist der Präsentation individueller Einzel­formen gewichen, deren Sinn nicht mehr durch die Erfahrung eines inneren Zusammenhangs gewähr­leistet ist.

1939/341 (Y 1)Wasserfarben und Öl auf

jute, 65 x 80 cmBez. r. o.: Klee; rücks.

auf dem Keilrahmen i. o.:1939 Y 1 rausch Klee

gabriele münter- und johannes eichner-

stiftung und städtische galerie im lenbachhaus

aK 28/g 15 953

132 rausch

Paul Klee

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anhang

Page 185: Der Blaue reiter - lenbachhaus.de · Kandinsky praktisch seine gesamte Vorkriegsproduktion, Hunderte von Bildern seines Frühwerks bis 1907 sowie der so entscheidenden Periode des

369368 Washton­Long, Rose­Carol, Kandinsky: The Development of an Abstract Style, Oxford 1980Wassily Kandinsky. Die erste sowjetische Retro­spektive. Gemälde, Zeichnungen und Graphik aus sowjetischen und westlichen Museen, Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main, 1989Weiss, Peg, Kandinsky in Munich: The Formative Jugendstil Years, Princeton, N. J. 1979Zander Rudenstine, Angelica, Wassily Kandinsky, in: The Guggenheim Museum Collection: Paintings 1880 –1943, Bd. 1, New York 1976, S. 204 – 391

Paul Klee

Paul Klee 1933, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Helmut Friedel, bearb. v. Pamela Kort, Städtische Galerie im Lenbachhaus München, 2003Boulez, Pierre, Le pays fertile. Paul Klee, Paris 1989Catalogue raisonné Paul Klee, Bd. 1, hrsg. v. der Paul­Klee­Stiftung, Kunstmuseum Bern, Bern 1998Das Universum Klee, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Dieter Scholz, Neue Nationalgalerie Berlin, 2008Geelhaar, Christian, Paul Klee und das Bauhaus, Köln 1972Geelhaar, Christian, Paul Klee. Leben und Werk, Köln 1974Geelhaar, Christian (Hrsg.), Paul Klee: Schriften, Rezensionen und Aufsätze, Köln 1976Glaesemer, Jürgen, Paul Klee: Handzeichnungen, Bd. 1: Kindheit bis 1920, Bd. 2: 1920 –1936, Bd. 3: 1937–1940, Bern 1973/1979/1984Grohmann, Will, Der Maler Paul Klee, Köln 1966Haftmann, Werner, Paul Klee. Wege bildnerischen Denkens, München 1950Haxthausen, Charles Werner, Paul Klee: The For­mative Years, New York 1981Hopfengart, Christine, Klee: vom Sonderfall zum Publikumsliebling. Stationen seiner öffentlichen Resonanz in Deutschland 1905 –1960, Wabern/Bern 2005Franciscono, Marcel, Paul Klee’s Italian Journey and the Classical Traditions, in: Pantheon, 32, 1974, S. 54 – 64Jordan, Jim M., Paul Klee and Cubism, Princeton, N. J. 1984Kagan, Andrew, Paul Klee. Art and Music, London 1983Kersten, Wolfgang, Paul Klee. »Zerstörung der Konstruktion zuliebe?«, Marburg 1987Klingsöhr­Leroy, Cathrin, Paul Klee, München 2012Klee und Kandinsky: Erinnerung an eine Künstler­freundschaft anlässlich Klees 100. Geburtstag, Ausstellungskatalog, Staatsgalerie Stuttgart, 1979Meister Klee! Lehrer am Bauhaus, Ausstellungs­katalog, hrsg. v. Fabienne Eggelhöfer anlässlich der Ausstellung Meister Klee! Lehrer am Bauhaus, Zentrum Paul Klee, Bern, Fundación Juan March, Madrid, Paul Klee als Lehrer, Stiftung Bauhaus Dessau, 2012/13

Kandinsky, Vassily, Complete Writings an Art, hrsg. v. Kenneth C. Lindsay und Peter Vergo, 2 Bde., Boston 1982Kandinsky: The Road to Abstraction, Ausstellungs­katalog, Marlborough Fine Art Limited London, 1966Kandinsky und München. Begegnungen und Wand­lungen 1896 –1914, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Armin Zweite, Städtische Galerie im Lenbachhaus München, 1982Kandinsky: The Russian and Bauhaus Years, Ausstellungskatalog, Solomon R. Guggenheim Museum, New York, 1983/84Kandinsky in Paris: 1914 –1944, Ausstellungs­katalog, Solomon R. Guggenheim Museum, New York, 1985Kandinsky: Œuvres de Vassily Kandinsky (1886 –1944), Ausstellungskatalog, zusammen­gestellt v. Christian Derouet und Jessica Boissel, Musée National d’Art Moderne, Centre Pompidou, Paris, 1984Kobayashi­Bredenstein, Naoko, Wassily Kandinskys frühe Bühnenkompositionen: über Körperlichkeit und Bewegung, Berlin 2012Lindsay, Kenneth C., The Genesis and Meaning of the Cover Designs for the First Blaue Reiter Exhibition Catalogue, in: The Art Bulletin, 35, Nr. 1, 1953, S. 47– 52Meyer, Esther da Costa (Hrsg.), Schoenberg, Kandinsky, and the Blue Rider, London 2003Obler, Bibiana, Intimate collabarations: Kandinsky and Münter, Taeuber and Arp, Univ. Diss. Berkeley 2006, Ann Arbor, Mich. 2009Ringbom, Sixten, The Sounding Cosmos: A Study in the Spiritualism of Kandinsky and the Genesis of Abstract Painting, Abo 1970Roethel, Hans K., Kandinsky: Das graphische Werk, Köln 1970Roethel, Hans K., Kandinsky, München/Zürich 1982Roethel, Hans K. und Jean K. Benjamin, Kandinsky. Werkverzeichnis der Ölgemälde, Bd. 1: 1900 –1915, München 1982, Bd. 2: 1916 –1944, München 1984 Rosenblum, Eva, Wassily Kandinsky und Franz Stadler – eine Freundschaft. Neue Funde aus der Blütezeit des Blauen Reiter, in: Pantheon, Jg. LII, 1994, S. 142 –147Short, Christopher, The art theory of Wassily Kandinsky, 1909 –1928: the quest for synthesis, Oxford 2010Thürlemann, Felix, Kandinsky über Kandinsky: Der Künstler als Interpret eigener Werke, Bern 1986Turcin, Valerij S., Kandinsky in Russia: biographic studies, iconological digressions, documents, Society of Admirers of the Art of Wassily Kandinsky, Moskau 2005Turcin, Valerij S., Kandinsky: theories and experi­ments from various years: across the spectrum; the artist in Russia and in Germany; painting, music, theatre, poetry; a view from Russia, Moskau 2008

Wassily Kandinsky

1908 – 2008: Vor 100 Jahren – Kandinsky, Münter, Jawlensky, Werefkin in Murnau, Ausstellungs­katalog, hrsg. v. Brigitte Salmen, Schloßmuseum Murnau, 2008Aronov, Igor, Kandinsky’s quest: a study in the artists personal symbolism, 1866 –1907, New York 2006Bowlt, John E. und Rose­Carol Washton­Long, The Life of Vasilii Kandinsky in Russian Art: A Study of ›On the Spiritual in Art‹, Newtonville, Mass. 1980Brucher, Günter, Kandinsky – Wege zur Abstrak­tion, München 1999Das bunte Leben. Wassily Kandinsky im Lenbach­haus, hrsg. v. Helmut Friedel, bearb. v. Vivian En ­dicott Barnett, Städtische Galerie im Lenbachhaus München, München 1995/96Der frühe Kandinsky 1900 –1910, Ausstellungs­katalog, hrsg. v. Magdalena M. Moeller, Brücke­Museum Berlin, Kunsthalle Tübingen, 1994/95Eichner, Johannes, Kandinsky und Gabriele Münter: Von den Ursprüngen der modernen Kunst, München 1957Emmert, Claudia, Bühnenkompositionen und Gedichte von Wassily Kandinsky, Frankfurt am Main 1998Endicott Barnett, Vivian, Kandinsky: Werkver­zeichnis der Zeichnungen, Bd. 1: Einzelblätter, München 2006Endicott Barnett, Vivian, Kandinsky: Werk­verzeichnis der Zeichnungen, Bd. 2: Skizzenbücher, München 2006Fineberg, Jonathan David, Kandinsky in Paris 1906 –1907, Ann Arbor 1984Grohmann, Will, Wassily Kandinsky: Life and Work, New York 1958Hahl­Koch, Jelena (Hrsg.), Arnold Schönberg, Wassily Kandinsky: Briefe, Bilder und Dokumente einer außergewöhnlichen Begegnung, mit einem Aufsatz v. Harmut Zelinsky, Salzburg/Wien 1980Haldemann, Matthias, Kandinskys Abstraktion. Die Entstehung und Transformation seines Bild­konzepts, Diss. Basel 1998, München 2001Hanfstaengl, Erika, Wassily Kandinsky. Zeichnun­gen und Aquarelle – Katalog der Sammlung in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, München 1974, 2. Aufl. München 1981Hoberg, Annegret, Wassily Kandinsky und Gabriele Münter in Murnau und Kochel 1902 –1914. Briefe und Erinnerungen, München 1994Kandinsky: Absolut. Abstrakt, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Helmut Friedel, bearbeitet v. Annegret Hoberg, Städtische Galerie im Lenbachhaus Mün­chen, Centre Pompidou, Paris, Solomon R. Guggen­heim Foundation, New York, 2008Kandinsky: Das druckgrafische Werk/Complete prints, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Helmut Friedel und Annegret Hoberg, bearbeitet v. Melanie Horst, Städtische Galerie im Lenbachhaus München, Kunstmuseum Bonn, 2008

Robert et Sonia Delaunay, Ausstellungskatalog, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, 1985Robert Delaunay. Retrospektive, Ausstellungs­katalog, Grand Palais Paris, Kunsthalle Hamburg, 1999Robert Delaunay, Werke von 1909 –1914, Ausstel­lungskatalog, Deutsche Guggenheim Berlin, 1997Robert y Sonia Delaunay, 1905 –1941, Ausstellungs­katalog, hrsg. v. Tomás Llorens Serra, Museo Thys­sen­Bornemisza, Madrid, 2003Robert Delaunay. Zur Malerei der Reinen Farbe. Schriften 1912 bis 1940, hrsg. v. Hajo Düchting, München 1983Sonia und Robert Delaunay, Ausstellungskatalog, Kunstmuseum Bern, 1991Vriesen, Gustav, Robert Delaunay – Licht und Farbe, Köln 1967/1992

alexej jawlensky

Alexej Jawlensky 1864 –1941, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Armin Zweite, Städtische Galerie im Len­bachhaus München, Staatliche Kunsthalle Baden­Baden, 1983Alexej von Jawlensky, Josef Albers. Farbe – Abstrak­tion – Serie, Ausstellungskatalog, mit Beiträgen von Roman Zieglgänsberger und Jörg Daur, Museum Wiesbaden, 2011/12 Alexej Jawlensky: Vom Abbild zum Urbild, Ausstel­lungskatalog, zusammengestellt v. Gottlieb Leinz, Galerie im Ganserhaus, Wasserburg, in Zusammen­arbeit mit den Bayerischen Staatsgemäldesamm­lungen, München, 1979Alexej von Jawlensky – »Ich arbeite für mich, nur für mich und meinen Gott«: Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Erik Stepan, Städtische Museen Jena, 2012Demetrion, James T., Alexei Jawlensky: Variation and Meditation, in: Alexei Jawlensky: A Centennial Exhibition, Ausstellungskatalog, The Pasadena Museum, Pasadena, Cal. 1964Fäthke, Bernd, Jawlensky und seine Weggefährten im neuen Licht, München 2004Jawlensky, Alexej, Meditationen, hrsg. v. W. A. Nagel, Einführung v. Ewald Rathke, Hanau 1983Jawlensky, Ausstellungskatalog, Einführung v. Ewald Rathke, Kunstverein Frankfurt und Kunstverein München, 1967Jawlensky: meine liebe Galka!, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Volker Rattemeyer, Museum Wiesbaden, 2004Jawlensky, Maria, Lucia Pironi­Jawlensky und Angelica Jawlensky, Alexej von Jawlensky. Catalogue Raisonné of the Oil Paintings, 3 Bde., München 1991/1992/1993Schultze, Jürgen, Alexej Jawlensky, Köln 1970Weiler, Clemens, Alexej Jawlensky, Köln 1959Weiler, Clemens, Alexej Jawlensky: Köpfe, Gesich­ter, Meditationen, Hanau 1970

albert Bloch

Albert Bloch. Ein amerikanischer Blauer Reiter, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Annegret Hoberg und Henry Adams, Städtische Galerie im Lenbachhaus München, Nelson­Atkins Museum of Art, Kansas City, Missouri, Delaware Art Museum, Wilmington, 1997

Wladimir und David Burljuk

Futurismus in Russland und David Burliuk, »Vater des russischen Futurismus«, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Joseph Kiblitzky, Von der Heydt­Museum, Wuppertal, Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg, 2000Shkandrij, Myroslav (Hrsg.), Futurism and After: David Burliuk 1882 –1967, Winnipeg 2008

heinrich campendonk

Heinrich Campendonk – Ein Maler des Blauen Reiter, Ausstellungskatalog, Kaiser WilhelmMuseum Krefeld und Städtische Galerie im Lenbachhaus München, 1989Heinrich Campendonk. Oberbayern – Station Penz­berg, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Gisela Geiger und Anne Beutler, Stadtmuseum Penzberg, 2002Heinrich Campendonk, Rausch und Reduktion, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Gisela Geiger, Stadt­museum Penzberg, 2007 Firmenich, Andrea, Heinrich Campendonk (1889 –1957) – Leben und expressionistisches Werk. Mit einem Werkkatalog des malerischen Œuvres, Recklinghausen 1989Wember, Paul, Heinrich Campendonk, Krefeld 1889 –1957 Amsterdam, Krefeld 1961

robert Delaunay

Delaunay und Deutschland, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Peter­Klaus Schuster, Staatsgalerie moder­ner Kunst im Haus der Kunst, München, 1985/86Dorival, Bernard, Robert Delaunay 1885 –1941, Paris/Brüssel 1975Düchting, Hajo, Robert und Sonia Delaunay. Triumph der Farbe, Köln 1993Hughes, Gordon, Resisting abstraction: Cubism, Robert Delaunay, and the crisis of representation in early twentieth century french painting, Ann Arbor, Mich. 2004Marc, Macke und Delaunay: Die Schönheit einer zerbrechenden Welt (1910 –1914), Ausstellungs­katalog, hrsg. v. Susanne Meyer­Büser, Sprengel­museum Hannover, 2009Robert Delaunay (1885 –1941), Ausstellungskatalog, Orangerie des Tuileries, Paris, Staatliche Kunsthalle Baden­Baden, 1976

allgemein

Der Almanach Der Blaue Reiter, hrsg. v. Annegret Hoberg, Faksimile­Edition, München 2008Der Blaue Reiter, hrsg. v. Wassily Kandinsky und Franz Marc, Dokumentarische Neuausgabe v. Klaus Lankheit, München 1965Der Blaue Reiter, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Hans Christoph von Tavel, Kunstmuseum Bern, 1986Der Blaue Reiter: Dokumente einer geistigen Bewe­gung, hrsg. und mit einem Nachwort von Andreas Hüneke, Leipzig 1986Der Blaue Reiter, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Christine Hopfengart, Kunsthalle Bremen, 2000Der Blaue Reiter. Aquarelle, Zeichnungen und Druckgraphik aus dem Lenbachhaus. Ein Tanz in Farben, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Helmut Friedel und Annegret Hoberg, Städtische Galerie im Lenbachhaus München, 2010Der Blaue Reiter im Lenbachhaus München, hrsg. und eingeführt von Armin Zweite, Bildkommentare von Annegret Hoberg, München 1991 (engl. Aus­gabe 1989), 2. rev. Aufl. München 2000Der Blaue Reiter und das Neue Bild. Von der ›Neuen Künstlervereinigung München‹ zum ›Blauen Reiter‹, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Annegret Hoberg und Helmut Friedel, Städtische Galerie im Lenbachhaus München, 1999Gollek, Rosel, Der Blaue Reiter im Lenbachhaus München. Katalog der Sammlung in der Städtischen Galerie, München 1974, 2. rev. und erw. Aufl. München 1982, 3. rev. Aufl. München 1985Expressionistische Bilder. Sammlung Firmengruppe Ahlers, Ausstellungskatalog, Käthe­Kollwitz­Museum Berlin, Städtische Galerie im Lenbach­haus München, Wilhelm­Lehmbruck­Museum Duisburg u. a., 1993/94 (darin der zitierte Beitrag: Armin Zweite, »Nur das Notwendige stark zum Ausdruck bringen …« Neue Künstlervereinigung München und Blauer Reiter 1908 –1912, S. 9 – 39)Horsley, Jessica, Der Almanach des Blauen Reiters als Gesamtkunstwerk. Eine interdisziplinäre Untersuchung, Diss. Tübingen 2003, Frankfurt am Main/Berlin/Bern 2006Moeller, Magdalena M., Der Blaue Reiter, Köln 1987Stationen der Moderne. Die bedeutendsten Kunst­ausstellungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland, Ausstellungskatalog, Berlinische Galerie, Berlin 1988/89 (darin der zitierte Beitrag: Mario­Andreas von Lüttichau, Der Blaue Reiter, München 1911, S. 108 –129)Vogt, Paul, Der Blaue Reiter: Sammelband, Aus­stellungen, Künstler, Köln 1977

BiBliograFie

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Gabriele Münter 1877– 1962: Gemälde, Zeichnun­gen, Hinterglasbilder und Volkskunst aus ihrem Besitz, Ausstellungskatalog, zusammengestellt v. Rosel Gollek, Städtische Galerie im Lenbachhaus München, 1977Gabriele Münter 1877–1962. Retrospektive, Ausstel­lungskatalog, hrsg. v. Annegret Hoberg und Helmut Friedel, Städtische Galerie im Lenbachhaus Mün­chen, Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main, 1992/93Gollek, Rosel, Das Münter­Haus in Murnau, München 1984Kleine, Gisela, Gabriele Münter und Wassily Kandinsky. Biographie eines Paares, Frankfurt am Main 1990Mochon, Anne, Gabriele Münter: Between Munich and Murnau, Ausstellungskatalog, Busch­Reisinger­Museum, Cambridge, Mass., Princeton University Art Museum, Princeton, 1980Pfeiffer­Belli, Erich, Gabriele Münter: Zeichnungen und Aquarelle, mit einem Katalog v. Sabine Helms, Berlin 1979Roethel, Hans K. (Einführung), Gabriele Münter, München 1957

marianne von Werefkin

Fäthke, Bernd, Marianne Werefkin, München 2001Marianne von Werefkin in Murnau: Kunst und Theorie, Vorbilder und Künstlerfreunde, Ausstel­lungskatalog, bearb. v. Brigitte Salmen, Schloß­museum Murnau, 2002Marianne Werefkin 1860 –1938, hrsg. v. Franz Stöckli, Ausstellungskatalog, Kunsthaus Zürich, 1938Marianne Werefkin 1860 –1938. Gedächtnis­ausstellung, mit einem Text von Clemens Weiler, Ausstellungskatalog, Museum Wiesbaden, 1958Marianne Werefkin, Ausstellungskatalog, Städtische Galerie ins Lenbachhaus München, 1959Marianne Werefkm. Gemälde und Skizzen, Aus­stellungskatalog, Museum Wiesbaden, 1980Marianne Werefkin. Leben und Werk, Ausstellungs­katalog, bearb. v. Bernd Fäthke, Monte Verità, Museo Comunale d’Arte Moderna, Ascona u. a., 1988Marianne Werefkin. Brief an einen Unbekannten. 1901–1905, hrsg. v. Clemens Weiler, Köln 1960Roßbeck, Brigitte, Marianne von Werefkin: die Russin aus dem Kreis des Blauen Reiters, München 2010Salmen, Brigitte, Marianne von Werefkin: Leben für die Kunst, München 2012Weiler, Clemens, Marianne Werefkin, Köln 1960

Hoberg, Annegret, und Isabelle Jansen (Hrsg.), Franz Marc: Werkverzeichnis, Bd. 2: Aquarelle, Gouachen, Zeichnungen, Postkarten, Hinterglas­bilder, Plastiken, München 2005Hoberg, Annegret, und Isabelle Jansen (Hrsg.), Franz Marc: Werkverzeichnis, Bd. 3: Skizzenbücher und Druckgrafik, München 2011Jansen, Isabelle, Franz Marc (1880 –1916): l’oeuvre sur papier, Paris 2005Lankheit, Klaus, Franz Marc im Urteil seiner Zeit: Texte und Perspektiven, Köln 1960Lankheit, Klaus, Franz Marc: Katalog der Werke, Köln 1976Lankheit, Klaus, Franz Marc: Sein Leben und seine Kunst, Köln 1976Lankheit, Klaus, Franz Marc: Schriften, Köln 1978Levine, Frederick S., The Apocalyptic Vision: The Art of Franz Marc as German Expressionism, New York/San Francisco/London 1979März, Roland, Franz Marc, Berlin 1984März, Roland, Spuren und Legenden: »Der Turm der blauen Pferde« von Franz Marc, in: Uwe Fleck­ner (Hrsg.), Das verfemte Meisterwerk: Schicksals­wege moderner Kunst im Dritten Reich, Berlin 2009, S. 565 – 596Maria Marc, Leben und Werk 1876 –1955, Ausstel­lungskatalog, hrsg. v. Annegret Hoberg, Städtische Galerie im Lenbachhaus München, 1995/96 Wassily Kandinsky, Franz Marc: Briefwechsel – Mit Briefen von und an Gabriel Münter und Maria Marc, hrsg. und mit einer Einführung v. Klaus Lankheit, München/Zürich 1983Wedekind, Gregor, Der Schlaf der weißen Katze: Franz Marc und der Somnambulismus der euro­päischen Avantgarde, in: Marion Saxer und Julia Cloot (Hrsg.), Expressionismus in den Künsten, Hildesheim 2012, S. 92 –106

gabriele münter

Cole, Brigitte M., Gabriele Münter and the Development of her Early Murnau Style, Diss. Univ. of Texas, Arlington 1980Eichner, Johannes, Kandinsky und Gabriele Münter: Von den Ursprüngen der modernen Kunst, München 1957Helmut Friedel, Gabriele Münter, München 2003Gabriele Münter, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Karl­Egon Vester, Kunstverein Hamburg, Hessisches Landesmuseum Darmstadt, Sammlung Eisenmann, Aichtal­Aich, 1988Gabriele Münter 1877– 1962, Ausstellungskatalog, Einführung v. Hans K. Roethel, Städtische Galerie im Lenbachhaus München, 1962Gabriele Münter: Das druckgraphische Werk, Städ­tische Galerie im Lenbachhaus München, Samm­lungskatalog, zusammengestellt v. Sabine Helms, Vorwort v. Hans K. Roethel, München 1967Gabriele Münter: Die Jahre mit Kandinsky. Photographien 1902 –1914, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Helmut Friedel, mit Beiträgen von Anne­gret Hoberg, Helmut Friedel und Isabelle Jansen, Lenbachhaus München, 2007Gabriele Münter: Die Reise nach Amerika. Photo­graphien 1899 –1900, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Helmut Friedel, mit Beiträgen von Annegret Hoberg, Isabelle Jansen, Daniel Oggenfuss und Ulrich Pohlmann, Städtische Galerie im Lenbach­haus München, 2006

August Macke und die frühe Moderne in Europa, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Ursula Heiderich,Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster, 2001Die Ordnung der Farbe: Paul Klee, August Macke und ihre Malerfreunde, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Volker Adolphs, Kunstmuseum Bonn, Kunst­museum Bern, 2000Die Rheinischen Expressionisten: August Macke und seine Malerfreunde, Ausstellungskatalog, Städtisches Kunstmuseum Bonn, Kaiser Wilhelm Museum Krefeld, Von der Heydt­Museum Wupper­tal, 1979Güse, Ernst­Gerhard (Hrsg.), Die Gemälde von Franz Marc und August Macke im Westfälischen Landesmuseum Münster, Münster 1982Heiderich, Ursula, August Macke: Skizzenbücher, 2 Bde., Stuttgart 1987Heiderich, Ursula, August Macke. Aquarelle. Werkverzeichnis, Stuttgart 1997Heiderich, Ursula, August Macke: Gemälde. Werkverzeichnis, Ostfildern 2008Heiderich, Ursula, August Macke: der hellste und reinste Klang der Farbe, Ostfildern 2008Heiderich, Ursula, August Macke: Werkverzeich­nisse, Nachtrag zu den Werkverzeichnissen August Macke, Die Skizzenbücher, Bd. 1 und 2, Stuttgart 1987; August Macke, Zeichnungen, Stuttgart 1993; August Macke, Aquarelle, Ostfildern 1997, Ost­fildern 2008McCullagh, Janice Mary, August Macke and the Vision of Paradise: An Iconographic Analysis, Diss. Univ. of Texas, Austin 1980Macke, August, Briefe an Elisabeth und die Freunde, hrsg. v. Werner Frese und Ernst­Gerhard Güse, München 1987Macke, Wolfgang (Hrsg.), August Macke, Franz Marc: Briefwechsel, Köln 1964Moeller, Magdalena M., August Macke, Köln 1988Vriesen, Gustav, August Macke, Stuttgart 1953, 2. erw. Aufl. Stuttgart 1957

Franz marc

Franz Marc: Die Retrospektive, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Annegret Hoberg und Helmut Friedel,Städtische Galerie im Lenbachhaus München, 2005Franz Marc: Gemälde, Gouachen, Zeichnungen, Skulpturen, Ausstellungskatalog, Einführung v. Hans Platte, Kunstverein Hamburg, 1963/64Franz Marc, Ausstellungskatalog, Vorwort v. Hans K. Roethel, Einführung v. Rudolf Probst, Städtische Galerie im Lenbachhaus München, 1963Franz Marc 1880 –1916, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Rosel Gollek, Städtische Galerie im Lenbachhaus München, 1980Franz Marc – Else Lasker­Schüler, ›Der Blaue Reiter präsentiert Eurer Hoheit sein Blattes Pferd‹, Karten und Briefe, hrsg. und kommentiert v. Peter­Klaus Schuster, München 1987Franz Marc. Kräfte der Natur, Werke 1912 –1915, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Erich Franz, Staats­galerie moderner Kunst, München, Westfälisches Landesmuseum Münster, 1993/94Franz Marc. Pferde, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Christian von Holst, mit Beiträgen von Karin von Maur, Andreas Schalhorn, Andreas K. Vetter, Klaus Zeeb, Staatsgalerie Stuttgart, 2000Hoberg, Annegret, und Isabelle Jansen (Hrsg.), Franz Marc: Werkverzeichnis, Bd. 1: Gemälde, München 2004

Schmalenbach, Werner, Paul Klee. Die Düsseldorfer Sammlung, Bestandskatalog, München 1986Smith Pierce, James, Paul Klee and Primitive Art, New York/London 1976Verdi, Richard, Klee and Nature, London 1984Werckmeister, Otto K., Versuche über Paul Klee, Frankfurt am Main 1981

adriaan Korteweg

Adriaan Korteweg (1890 –1917), Ausstellungs­katalog, hrsg. v. Annegret Hoberg, mit Beiträgen von Annegret Hoberg und Marja Bosma, Städtische Galerie im Lenbachhaus München, 1993Wingen, Ed, Adriaan Korteweg: 1890 –1917, een kunstenaar op zoek naar een droomleven, Nijmegen 1995

alfred Kubin

Alfred Kubin. Das zeichnerische Frühwerk bis 1904, hrsg. v. Christoph Brockhaus, Ausstellungskatalog, Staatliche Kunsthalle Baden­Baden, Bayerische Akademie der Schönen Künste, Graphische Samm­lung Albertina Wien, 1977Alfred Kubin, Ausstellungskatalog, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, Hamburger Kunsthalle, 1990/91Alfred Kubin, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Annegret Hoberg, Neue Galerie New York, 2008Hoberg, Annegret, Alfred Kubin. Das litho­graphische Werk, München 1999Raabe, Paul, Alfred Kubin Leben – Werk – Wirkung, Hamburg 1957

august macke

August Macke, Cuno Amiet, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Erik Stepan, Städtische Museen Jena, 2007August Macke: Die Tunisreise – Aquarelle und Zeichnungen von August Macke, 2. Aufl. Köln 1978August Macke: Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Ausstellungskatalog, Kunstverein Hamburg, 1969August Macke und die Rheinischen Expressionisten aus dem Städtischen Kunstmuseum Bonn, Ausstel­lungskatalog, Kestner­Gesellschaft, Hannover 1978/79August Macke: Aquarelle und Zeichnungen, Aus­stellungskatalog, Westfälisches Landesmuseum für Kunst­ und Kulturgeschichte Münster, Städtisches Kunstmuseum Bonn, Kaiser Wilhelm Museum Krefeld, 1976/77August Macke ganz privat: eine Reise durch das Leben von August Macke, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Ina Ewers­Schultz, Kunsthaus Stade, Museum für Neue Kunst Freiburg, August­Macke­Haus Bonn, 2009August Macke: Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Ausstellungskatalog, hrsg. v. Ernst­Gerhard Güse, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster, Städtisches Kunst­museum Bonn, Städtische Galerie im Lenbachhaus München, 1987August Macke. »Gesang von der Schönheit der Dinge«, Aquarelle und Zeichnungen, Ausstellungs­katalog, hrsg. v. Andrea Firmenich, Kunsthalle Emden, Ulmer Museum, Kunstmuseum Bonn, 1992/93

Paul Klee, Beitrage zur bildnerischen Formlehre (Weimar 1921/22), hrsg. v. Jürgen Glaesemer, Faksimile und Anhangsband, Basel 1975Paul Klee. Briefe, an die Familie 1893 –1940, hrsg. v. Felix Klee, Bd. 1: 1893 –1906, Bd. 2: 1907 –1940, Köln 1979Paul Klee: Leben und Werk, hrsg. v. Zentrum Paul Klee, Bern, mit Texten von Christine Hopfengart, Ostfildern 2012Paul Klee Schriften, Rezensionen und Aufsätze, hrsg. v. Christian Geelhaar, Köln 1976Paul Klee. Tagebücher 1898 –1918. Textkritische Neuedition, hrsg. v. Paul­Klee­Stiftung, Kunst­museum Bern, bearb. v. Wolfgang Kersten, Stutt­gart 1988Kornfeld, Eberhard W., Verzeichnis des graphischen Werkes von Paul Klee, Bern 1963Kornfeld Eberhard W., Paul Klee in Bern: Aquarelle und Zeichnungen von 1897 bis 1915, Bern 1973Paul Klee: Das Werk der Jahre 1919 –1933 – Gemälde, Handzeichnungen, Druckgraphik, Aus­stellungskatalog, Museen der Stadt Köln, 1979Paul Klee: Das graphische und plastische Werk – Mit Vorzeichnungen, Aquarellen und Gemälden, Ausstellungskatalog, mit Beiträgen v. Marcel Fran­ciscono, Christian Geelhaar, Jürgen Glaesemer und Mark Rosenthal, Wilhelm Lehmbruck­Museum, Duisburg, 1975Paul Klee (1879 –1940): Innere Wege, Ausstellungs­katalog, Wilhelm­Hack­Museum, Ludwigshafen, 1981/82Paul Klee: Das Frühwerk 1883 –1922, Ausstellungs­katalog, hrsg. v. Armin Zweite, Städtische Galerie im Lenbachhaus München, 1979/80Paul Klee, hrsg. v. Carolyn Lanchner, Ausstellungs­katalog, The Museum of Modern Art, New York, The Cleveland Museum of Art, Kunstmuseum Bern, 1987/88Paul Klee – Im Zeichen der Teilung. Die Geschichte zerschnittener Kunst Paul Klees 1883 –1940, hrsg. v. Wolfgang Kersten und Osamu Okuda, Kunstsamm­lung Nordrhein­Westfalen, Düsseldorf und Staats­galerie Stuttgart, 1995Paul Klee – Wachstum regt sieht. Klees Zwiesprache mit der Natur, hrsg. v. Ernst­Gerhard Güse, Saar­land Museum Saarbrücken, Prinz­Max­Palais, Karlsruhe, München 1990Paul Klee. In der Maske des Mythos, Ausstellungs­katalog, hrsg. v. Pamela Kort, Haus der Kunst, München, Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam, 1999/2000Paul Klee. Die Kunst des Sichtbarmachens. Materia­lien zu Klees Unterricht am Bauhaus, hrsg. v. Kunst­museum Bern/Paul­Klee­Stiftung und Seedamm Kulturzentrum Pfäffikon, Bern 2000Paul Klee catalogue raisonné, hrsg. von der Paul­Klee­Stiftung, Kunstmuseum Bern, Bd. 1: 1883 –1912, 1998; Bd. 2: 1913 –1918, 2000; Bd. 3: 1919 –1922, 1999; Bd. 4: 1923 –1926, 2000; Bd. 5: 1927 –1930, 2001; Bd. 6: 1931–1933, 2002; Bd. 7: 1934 –1938, 2003; Bd. 8: 1939, 2004; Bd. 9: 1940, 2004; Addenda, Corrigenda, Gesamtregister, 2004100 x Paul Klee: Geschichte der Bilder; Ausstel­lungskatalog, hrsg. v. Anette Kruszynski, Kunst­sammlung Nordrhein­Westfalen, Düsseldorf, 2012Prange, Regine, Das Kristalline als Kunstsymbol. Bruno Taut und Paul Klee. Zur Reflexion der Ab ­straktion in Kunst und Kunsttheorie der Moderne, Hildesheim 1991Rewald, Sabine, Paul Klee: The Berggruen Collection in the Metropolitan Museum of Art, New York 1988

Page 187: Der Blaue reiter - lenbachhaus.de · Kandinsky praktisch seine gesamte Vorkriegsproduktion, Hunderte von Bildern seines Frühwerks bis 1907 sowie der so entscheidenden Periode des

© Prestel Verlag, München · London · New York, 2013© für die abgebildeten Werke bei den Künstlern, ihren Erben oder Rechtsnachfolgern, mit Aus­nahme von: Heinrich Campendonk, Adolf Erbslöh, Thomas Theodor Heine, Wassily Kandinsky, Gabriele Münter: VG Bild­Kunst, Bonn 2013; Alfred Kubin: Eberhard Spangenberg/VG Bild­Kunst, Bonn 2013; Albert Bloch: Mrs. Albert Bloch, Lawrence, Kansas; von Pierre­Paul Girieud: Maxime Girieud, Marseilles

Nicht in allen Fällen war es möglich, Rechtsinhaber der Abbildungen und der Werke ausfindig zu machen. Berechtigte Ansprüche werden selbst­verständlich im Rahmen der üblichen Verein­barungen abgegolten.

Fotonachweis: Alle Fotos © Lenbachhaus (Simone Gänsheimer, Ernst Jank) sowie Gabriele Münter­ und Johannes Eichner­Stiftung, München, mit Ausnahme von: © Bibliothèque Kandinsky, Centre Georges Pompidou, Paris (S. 14, Abb. 4; S. 73, Abb. 77); © Schloßmuseum Murnau, Bildarchiv (S. 24, Abb. 5; S. 25, Abb. 7; S. 36, Abb. 31); © Gabriele von Arnim (S. 18, Abb. 10)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Umschlag­Vorderseite: Wassily Kandinsky, Murnau mit Kirche I, 1910 (Tafel 15)Vorsatz: 1. Ausstellung des ›Blauen Reiter‹, Galerie Thannhauser, München, 1911/12 (Abb. S. 63, Mitte)Frontispiz: Wassily Kandinsky, Entwurf für den Umschlag des Almanach Der Blaue Reiter, 1911, Städtische Galerie im Lenbachhaus, MünchenNachsatz: 1. Ausstellung des ›Blauen Reiter‹, Galerie Thannhauser, München, 1911/12 (Abb. S. 63, links)

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städtische galerie im lenbachhaus und Kunstbau

museumsleitung:Helmut Friedel (Direktor)Kurt Laube (Geschäftsführer)Sonja Schamberger (Leiterin Verwaltung)

sammlungsleiter:Karin Althaus, Annegret Hoberg, Matthias Mühling

Wissenschaftliche mitarbeit:Susanne Böller, Elisabeth Giers

Wissenschaftliches Volontariat:Katrin Dillkofer

archiv:Irene Netta, Lisa Kern

sekretariat:Lore Thürheimer

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, marketing:Claudia Weber, Jonna Gärtner, Ute Wiemer

Volontariat Öffentlichkeitsarbeit:Paula von der Heydt

Besucherbüro:Beate Lanzinger

restaurierung:Iris Winkelmeyer, Isa Päffgen, Daniel Oggenfuss

Volontariat restaurierung:Esther Rapoport

leihverkehr, ausstellungen:Karin Dotzer, Karola Rattner

technik:Andreas Hofstett, Patrick Naumann, Klaus­Peter Henke, Hermann Vorderegger

Verwaltung:Siegfried Häusler, Helga Lieberam, Yvonne Mölle, Anahita Martirosjan, Monika Neumann, Barbara Schleicher

Bibliothek:Ursula Keltz

Fotoatelier:Simone Gänsheimer, Ernst Jank