Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten: Uberlegungen zur Anschlussfahigkeit...

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Clemens Sedmak · Bernhard BabicReinhold Bauer · Christian Posch

Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten

Clemens Sedmak · Bernhard Babic Reinhold Bauer · Christian Posch

Der Capability-Approachin sozialwissen -schaftlichen KontextenÜberlegungen zur Anschlussfähigkeiteines entwicklungspolitischenKonzepts

.1. Auflage 2011

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

Lektorat: Dorothee Koch / Sabine SchöllerKorrektorat: Brigitte Mayr / Günther Jäger

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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany

ISBN 978-3-531-17637-6

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Die Publikation wurde mit Mitteln der Salzburg Ethik Initiative und SOS-Kinderdorf e. V. finanziert.

Inhalt

Bernhard Babic . Reinhold Bauer . Christian Posch . Clemens SedmakVorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Gunter GrafDer Fähigkeitenansatz im Kontextvon Informationsbasen sozialethischer Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Clemens SedmakFähigkeiten und Fundamentalfähigkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

Ortrud LeßmannVerwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz. . . . . . . . . . . . . . . 53

Bernhard BabicOhne intellektuelle Redlichkeit kein Fortschritt.Kritische Anmerkungen zum Umgang mit demCapability Approach aus erziehungswissenschaftlicher Sicht . . . . . . . . . . 75

Jean-Luc PatryValues and Knowledge Education (Vake)aus Sicht des Fähigkeiten-Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

Holger ZieglerSoziale Arbeit und das gute Leben - Capabilities als sozialpädagogische Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

Stephan StingGesundheit als Basic Capability.Einflüsse von Armut und Benachteiligung auf dasAufwachsen von Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

Bernhard SchwaigerFrühkindliche Mentalisierungals eine zentrale »Capability« wider die Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

Inhalt6

Christian Alt . Andreas Lange»Agency« in der mittleren Kindheit:Feldspezifik und Konsequenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

Anton A. BucherKinder, die sich nicht biegen lassen.Psychologische Skizzen zur Resilienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

Vorwort

Bernhard Babic · Reinhold Bauer · Christian Posch · Clemens Sedmak

Dem von Amartya Sen formulierten Capability Approach1 (sowie seinen verschie-denen Ausdifferenzierungen) haben die Debatten um Armut, soziale Ungleichheitund um adäquate Ziele darauf bezogener Interventionen wichtige Impulse zu ver-danken. Das gilt vor allem auf internationaler Ebene und mag den einen oder ande-ren erstaunen, angesichts des relativ simplen Grundgedankens, der diesem Ansatzzugrunde liegt.

Vereinfacht gesagt schlägt Sen darin vor, vor allem danach zu fragen, inwie-weit eine Maßnahme oder Entwicklung die Menschen, auf die sie abzielt odereinwirkt, in die Lage versetzt, tatsächlich das Leben zu führen, das sie führenmöchten. Statt - wie es derzeit noch häufig geschieht - auf einzelne Aspekte wiedas persönliche Einkommen, die Verfügungsgewalt über (Konsum-)Güter oderauf die Bedürfnisbefriedigung zu fokussieren, tritt Sen mit anderen Worten dafürein, die individuelle Entscheidungsfreiheit (bzw. das Ausmaß in dem sie geför-dert wird) für ein Leben gemäß der eigenen Wertvorstellungen zum Bewertungs-maßstab gesellschaftlicher Entwicklung zu machen. Das klingt sicherlich auchfür viele, die sich nicht im selben Maße wie Sen der Sozialphilosophie oder(Wohlfahrts-)Ökonomie verbunden fühlen, vertraut und tatsächlich verweistnicht zuletzt die häufige Bezugnahme auf Aristoteles darauf, dass mit dem CAdas Rad nicht völlig neu erfunden wurde. Die Werke dieses ›Klassikers‹ derPhilosophie gehören schließlich in vielen Disziplinen zu den unverzichtbarenGrundlagen. Vielleicht ist der Verdienst der Vertreter/innen des CA daher ange-messener charakterisiert, wenn wir davon ausgehen, dass sie ›das Rad‹ in gewis-ser Weise überarbeitet, in neue Zusammenhänge gestellt und dadurch mitgehol-fen haben, den einen oder anderen festgefahrenen Diskurs wieder flott zubekommen. Am deutlichsten ist das wahrscheinlich im Rahmen der Entwik-klungsberichterstattung der Vereinten Nationen zu sehen. Denn dort ist der CAals grundlegendes Konzept eingeflossen, was nicht zuletzt im Human Develop-ment Index zum Ausdruck kommt, der allen Staaten hinsichtlich ihresEntwicklungsniveaus einen Rangplatz zuweist. Dieser Index kann als ein kon-

1 Vgl. Sen, Amartya (2001): Development as Freedom.

kreter - wenn auch längst nicht unumstrittener - Operationalisierungsversuch desCA betrachtet werden.

Vor allem im Rahmen der nationalen Armuts- bzw. Wohlstandsberichterstat-tung ist dem CA zwischenzeitlich auch im deutschsprachigen Raum größere Auf-merksamkeit zuteil geworden.2 Von dort ist zudem der Weg in die psycho-sozia-len Arbeitsfelder naturgemäß recht kurz. Sie werden schließlich häufig mit derBearbeitung der Problematiken betraut, die sich unter anderem aus einer Un-gleichverteilung von Einkommen, Vermögen und den damit verbundenen Teilha-be(un)möglichkeiten ergeben können. Speziell angesichts des besorgniserregen-den Anwachsens von (relativer) Kinderarmut in unseren Breiten, ist es daher nurkonsequent, dass der Ansatz 2009 auch erstmalig in der bundesdeutschen Kinder-und Jugendberichterstattung Erwähnung fand.3 Dort, wie auch in den angren-zenden Arbeitsbereichen, trifft der CA aber gegenwärtig als ein noch relativ unbe-kanntes ökonomisches bzw. entwicklungspolitisches Konzept auf eine ganzeReihe gut etablierter Ansätze, die beispielsweise der Erziehungs- oder auch derSozialarbeitswissenschaft, der Psychologie sowie der Soziologie entstammen.Oberflächlich lässt sich dabei sofort eine Reihe von Gemeinsamkeiten erkennen.Hierzu kann beispielsweise die häufig sehr deutliche Abgrenzung gegenüber uti-litaristischen Vereinnahmungsversuchen gezählt werden. Für viele weniger genauzu erkennen ist demgegenüber, ob es sich bei diesen Ähnlichkeiten nicht etwa nurum ›falsche Freunde‹ handelt und in welchem Umfang der CA tatsächlich Vortei-le gegenüber den bisher zur Anwendung gebrachten Konzepten bietet. Wie ver-hält er sich wirklich zum Bestehenden? Wo ist er in welcher Weise anschlussfä-hig und wo nicht? Und wo schießt er vielleicht sogar schon wieder über (s)einZiel hinaus?

Einen der ersten Versuche, sich im deutschsprachigen Raum systematisch die-sen Fragen anzunähern, stellte ein Fachgespräch dar, das 2009 am InternationalenForschungszentrum (IFZ) in Salzburg durchgeführt wurde. Es fand vor demHintergrund eines Forschungsprojekts statt, das gegenwärtig vom IFZ in

Bernhard Babic · Reinhold Bauer · Christian Posch · Clemens Sedmak8

2 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.) (2005): Lebenslagen in Deutschland.Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung; Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.) (2008): Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht derBundesregierung; Österreichische Gesellschaft für Politikberatung und Politikentwicklung (Hg.)(2008): 2. Armuts- und Reichtumsbericht für Österreich.

3 Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2009): 13. Kinder- undJugendbericht, S. 73f.

Zusammenarbeit mit SOS-Kinderdorf International durchgeführt wird.4 Dieschriftlich ausgearbeiteten Impulsreferate, die im Rahmen der bewusst informellgehaltenen Veranstaltung mit dem Titel »Theorienlandschaft des Fähigkeitenan-satzes« gehalten wurden, bilden die Grundlage dieses Sammelbandes.5 Sie wur-den um einige Beiträge ergänzt, um die bei den jeweiligen Autoren gezielt ange-fragt wurde. Damit sollte zum einen eine größere Bandbreite an relevantenThemen abgedeckt und zum anderen Leserinnen und Lesern, die mit dem CA nochwenig vertraut sind, der Zugang erleichtert werden.

Dementsprechend führt der Beitrag von Gunter Graf zunächst allgemein indie Thematik ein und stellt zunächst dar, was sich hinter dem Label »CapabilityApproach« nach derzeitigem Stand der Diskussion verbirgt.

Darauf, dass den entsprechenden Konzepten gelegentlich ein Verständnisvon Fähigkeiten zugrunde liegt, das ihrer identitätsbildenden Bedeutung für deneinzelnen Menschen nicht gerecht wird, verweist Clemens Sedmak. Von besonde-rem Interesse dürfte es dabei sein, dass er dazu auf eben jene philosophischenGrundlagen zurückgreift, auf die sich auch der CA beruft.

Ortrud Leßmann setzt sich daran anschließend mit einem weiteren zentralenKritikpunkt am CA auseinander, die weitreichende Vernachlässigung des FaktorsZeit, und zeigt exemplarisch auf, inwiefern der Ansatz durch bildungstheoreti-sche Überlegungen entsprechend ergänzt werden könnte.

Komplementär widmet sich Bernhard Babic der Frage, was realistischerweisefür die deutschsprachigen Debatten in der Erziehungswissenschaft von Seiten desCA an Bereicherungen erwartet werden kann.

Ausgehend von der Frage nach den Gemeinsamkeiten zwischen CA und demunabhängig davon entstandenen Konzept der Values and Knowledge Education(VaKE) vermittelt daraufhin Jean-Luc Patry einen Eindruck davon, wie eineOperationalisierung des CA im Bildungskontext konkret aussehen könnte.

Holger Ziegler befasst sich danach aus sozialpädagogischer Perspektive grund-legend mit der Anschlussfähigkeit und den Potentialen des CA.

Stephan Sting schreitet auf dem solchermaßen vorgegebenen Weg weitervoran, indem er darstellt, inwiefern und mit welchen Konsequenzen sich Gesund-heit im Kontext sozialer Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen als einegrundlegende Capability verstehen lässt.

In eine ähnliche Richtung weist auch der Beitrag von Bernhard Schwaiger,

Vorwort 9

4 Vgl. Babic/Germes Castro/Graf (2009): Approaching Capabilities with Children in Care.5 Das Programm der Veranstaltung kann unter http://www.ifz-salzburg.at/?p=575#more-575

abgerufen werden.

der allerdings anders als der vorangegangene Artikel das Konzept der frühkind-lichen Mentalisierung in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt.

Die Beiträge von Andreas Lange und Christian Alt sowie von Anton A. Bucherverweisen schließlich beispielhaft mit der Kindheitsforschung und der Ausein-andersetzung mit Fragen der Resilienz auf zwei weitere Kontexte, auf die bezo-gen es den CA noch zu denken gilt.

Literatur

Babic, Bernhard/Germes Castro, Oscar/Graf, Gunter (2009): Approaching Capabilities with Children in Care, Innsbruck: SOS-Kinderdorf International; Online-Dokument (abrufbar unter: http://www.ifz-salzburg.at/uploads/CA-Projektkonzept-20090811-11.pdf).

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.) (2005): Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armuts-und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin: BMAS.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.) (2008): Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts-und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Köln: Bundesanzeiger Verlag.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2009): 13. Kinder- und Jugend-bericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschenund die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland, Berlin: BMFSFJ.

Österreichische Gesellschaft für Politikberatung und Politikentwicklung (Hg.) (2008): 2. Armuts- undReichtumsbericht für Österreich, Wien: ÖGPP.

Sen, Amartya (2001): Development as Freedom, Oxford: Oxford University Press.

Bernhard Babic · Reinhold Bauer · Christian Posch · Clemens Sedmak10

Der Fähigkeitenansatz im Kontext vonverschiedenen Informationsbasen sozialethischer Theorien

Gunter Graf

1. Einleitung

Ein Blick in die einschlägige Literatur der Armutsforschung, Gerechtigkeitstheo-rie und Entwicklungsethik zeigt, dass der sogenannte »Fähigkeitenansatz«1 dortseit geraumer Zeit eine gewichtige Stellung einnimmt und von verschiedenenFachrichtungen intensiv wahrgenommen und diskutiert wird. Er wird von vielenals die angemessene theoretische Grundlage gesehen, um über Fragen der Un-gleichheit, Lebensqualität und Entwicklungspolitik nachzudenken, und fandbekanntermaßen sogar Eingang in den jährlichen »Bericht über die menschlicheEntwicklung« der Vereinten Nationen. Angesichts dieser starken Resonanz, aufdie der Ansatz in der Fachwelt stößt, liegt es auf der Hand, nach seinem Verhält-nis zu anderen theoretischen Konzepten und Möglichkeiten seiner Verwertbarkeitfür die Praxis zu fragen. Dazu ist es aber sicherlich notwendig, sich zuerst Klar-heit darüber zu verschaffen, was der Fähigkeitenansatz im Detail besagt bzw. wasvon ihm beansprucht wird. Denn erst dann scheint es sinnvoll zu sein, sich damitzu befassen, an welcher Stelle er ergänzt bzw. vervollständigt werden muss.

Hier muss aber gleich einmal darauf hingewiesen werden, dass die weit ver-breitete Rede von dem Fähigkeitenansatz zutiefst irreführend ist - ein Umstand,der die Untersuchung wesentlich erschwert. Sie erweckt den Anschein, als gäbees genau eine exakt ausformulierte Fassung des Ansatzes, die von allen Diskus-sionsteilnehmern anerkannt wird. Wie so oft bei solch umfassenden und weitrei-chenden theoretischen Entwürfen ist das jedoch keineswegs der Fall: Es gibt ver-schiedene, mehr oder weniger klar ausgearbeitete Varianten des Ansatzes, die

1 Das englische Wort »Capability Approach« wird von verschiedenen Autoren unterschiedlich insDeutsche übertragen. Neben der wohl am häufigsten verwendeten Bezeichnung »Fähigkeitenansatz« tauchen auch die Terme »Befähigungsansatz«, »Verwirklichungschancenansatz« und »Capability-Ansatz« auf. Ich werde hier der Mehrheit der Autoren folgen und den Begriff »Fähigkeitenansatz« verwenden, auch wenn diese Bezeichnung - wie sich noch zeigen wird - etwas irreführend ist.

C. Sedmak et al., Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten, DOI 10.1007/978-3-531-92749-7_1,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

zwar einerseits sicherlich Gemeinsamkeiten aufweisen, andererseits aber auchdurch z.T. erhebliche Differenzen gekennzeichnet sind. Es ist daher zielführend,zunächst einmal zu den Anfängen des Ansatzes zurückzukehren und einen Blickdarauf zu werfen, was Amartya Sen erreichen wollte, als er vor etwa drei Jahr-zehnten damit begann, den Fähigkeitenansatz zu entwickeln.

2. Amartya Sen und die Basis sozialphilosophischer Theorien

Als Sen begann, den Fähigkeitenansatz auszuarbeiten, beschäftigte ihn vor allemdie Frage nach der Informationsbasis von sozialethischen Theorien, im Besonde-ren in Hinblick auf das Problem der Analyse und Beurteilung von Ungleichheitin einer Gesellschaft.2 Jede solche Theorie versucht, normative Begriffe zu klä-ren, und kann dazu benutzt werden, Bewertungen von sozialen Einrichtungendurchzuführen. Dazu ist es natürlich nötig, gewisse Informationen als grundle-gend zu berücksichtigen; irgendwelche Aspekte des menschlichen Lebens müs-sen als bedeutsam und wesentlich für die Bewertung des Aufbaus einer Gesell-schaft erachtet werden. Erst dadurch wird es möglich, normative Urteile zu fällenund Aussagen darüber zu treffen, wie menschliches Zusammenleben am bestengestaltet werden sollte. Doch die Entscheidung, was einer sozialphilosophischenTheorie zugrunde liegen soll, ist selbst zutiefst evaluativ und keineswegs trivial.Nichtsdestoweniger ist sie von entscheidender Bedeutung, da es um die funda-mentale ethische Kategorie einer solchen Theorie geht, im Lichte derer ihre zen-tralen Begriffe definiert und in weiterer Folge ja auch z.B. soziale Institutionenbewertet werden. Legt man nun eine bestimmte Informationsbasis für seine The-orie fest, spricht man sich damit gezwungenermaßen auch gegen die Berücksich-tigung von Informationen aus anderen Bereichen aus; es wird ebenso festgelegt,was dezidiert keinen Einfluss auf die zu fällenden Werturteile haben soll. DerAusschluss von bestimmten Informationen ist somit ein wesentlicher und charak-teristischer Bestandteil jeder sozialethischen Theorie, auch wenn diese Entschei-dung, was nicht ins ethische Kalkül zu ziehen ist, naturgemäß stillschweigendgeschieht.3 Gemäß Sen sollte man bei den Informationsbasen zwischen zweiTypen von relevanten Informationen unterscheiden:4 Erstens muss entschiedenwerden, welche Art von Objekten, die als besonders wertvoll erachtet werden, der

Gunter Graf12

2 Vgl. Sen, Amartya (1980): Equality of What?3 Vgl. Sen, Amartya (1999): Development as Freedom.4 Vgl. Sen, Amartya (1990): Justice: Means versus Freedoms, 111-121, hier: 113f.

Theorie zugrunde liegen sollen. Beispiele hierfür, die traditionellerweise ingerechtigkeitstheoretischen Konzeptionen eine bedeutende Stellung einnehmen,sind materielle Güter bzw. Ressourcen, Freiheiten und Grundgüter im Sinne vonJohn Rawls sowie Nutzeneinheiten (utilities), normalerweise verstanden als dasMaß des Glücks, der Lust oder der Interessenbefriedigung eines Individuums.Zweitens gilt es dann aber auch noch festzulegen, nach welchem Prinzip die Wert-objekte kombiniert werden. Je nach Theorie und Zielsetzung kommen dabei lautSen unter anderem Summierung, lexikographische Prioritäten in Verbindung mitder so genannten »Maximin-Regel« oder Gleichverteilung infrage. Der klassischeUtilitarismus, um ein Beispiel zu nennen, erachtet persönliche Nutzeneinheitenals die einzig wichtigen Wertobjekte und benutzt die Summierung als kombina-torisches Prinzip5.

2.1 Sens Kritik von alternativen Ansätzen

Einer der zentralen Punkte Sens ist es nun, darauf aufmerksam zu machen, dassdie zuvor erwähnten »klassischen« Informationsbasen - materielle Güter, Grund-güter und Nutzeneinheiten - mit erheblichen Problemen verbunden sind, wenn esdarum geht, sozialphilosophisch bedeutsame Begriffen wie »Entwicklung«,»Wohlergehen« oder »Armut« zu analysieren oder Bewertungen von sozialenInstitutionen durchzuführen. Was sind die Gründe dafür? Materielle Güter lehnt erab, da sie nur bedingt Auskunft darüber geben, was jemandem tatsächlich zu tunoder zu sein möglich ist. Zwischen den Lebenslagen verschiedener Menschenbestehen nämlich zum Teil beträchtliche - durch persönliche, soziale und kulturelleDifferenzen bedingte - Unterschiede, die sich darauf auswirken, welchen Gebrauchwir von einem bestimmten Güterbündel oder Einkommensniveau machen können,weshalb es zu massiven Verzerrungen kommt, wenn man eine solche Informations-basis dazu benutzt, um zu beurteilen, in welcher Lebenslage sich jemand in einerGesellschaft befindet. Dabei soll natürlich keineswegs geleugnet werden, dass ver-schieden geartete materielle Ressourcen benötigt werden, um seine Ziele erreichenzu können. Aber man soll diese Ressourcen gemäß Sen eben nur als ein Mittel

Der Fähigkeitenansatz im Kontext von Informationsbasen sozialethischer Theorien 13

5 Obwohl es für Bewertungszwecke immer notwendig ist, beide Typen von Informationen zu berücksichtigen (die Art der Wertobjekte und das verwendete kombinatorische Prinzip), tendiert Sen an anderen Stellen dazu, die Informationsbasis einer Theorie einzig und allein über die Art der ihr zugrunde liegenden Wertobjekte zu charakterisieren. Vgl. etwa Sen, Development as Freedom, S. 56ff.

sehen - um ein Leben führen zu können, das man wertschätzt - und nicht als Zweckan sich.6 Werden materielle Güter als intrinsisch wertvoll erachtet - etwas, das lautSen vor allem in der einschlägigen Literatur der Wirtschaftswissenschaft ständig vor-kommt -, spricht er von einem »commodity fetishism«, und er wirft den Vertretern die-ser Position vor, wichtige Zusammenhänge zwischen materiellen Gütern und demeigentlichen Leben der Betroffenen zu übersehen: Wohlstand sei zwar wichtig, jedochnur deswegen, weil er uns in der Regel mehr Freiheiten ermöglicht, das zu tun, waswir als erstrebenswert ansehen. »The reason of wealth lies in the things it allows usto do«7 , wie Sen sich ausdrückt.

Etwas komplizierter steht es um Sens Kritik einer Basis, die sich aus Grund-gütern zusammensetzt, wie sie von John Rawls in seinen gerechtigkeitstheoreti-schen Arbeiten vorgeschlagen wird.8 Rawls versteht Gerechtigkeit im Wesent-lichen als Fairness und vertritt die Position, dass es verschiedene und z.T. nichtkompatible Auffassungen des Guten gibt, die alle von vollkommen rationalenund autonomen Personen gerechtfertigterweise vertreten werden können. Es seidaher zu überlegen, wie eine Gesellschaft zu ordnen ist, damit jeder Bürger seineeigene Vorstellung des Guten so gut wie möglich umsetzten kann. Dabei ist klar,dass die individuellen Lebensentwürfe begrenzt werden müssen; man muss sicheinigen, was für Personen mit unterschiedlichen und sich widersprechenden Auf-fassungen des Guten gerecht bzw. fair ist 9. Auch wenn in einer Gesellschaftunterschiedliche Auffassungen über das Gute bzw. Erstrebenswerte herrschen,gibt es laut Rawls dennoch gewisse Dinge, die für alle Beteiligten von Wichtig-keit sind. Diese sogenannten »Grundgüter« versteht Rawls aber dezidiert nichtals verbindliche Werte, die jeder Bürger als intrinsisch wertvoll erachten sollte,sondern vielmehr als eine »schwache Theorie des Guten«, die die Voraussetzungfür alle in einer Gesellschaft möglichen Lebensentwürfe bildet. Er definiert sie als»Dinge, von denen man annehmen kann, daß sie jeder vernünftige Mensch haben

Gunter Graf14

6 Vgl. dazu Sen, Amartya (1983): Development: Which Way now?, S. 745-762, hier: 754; Sen, Amartya (1985): The Standard of Living: Lecture I, Concepts and Critiques, S. 1-19, hier: 14ff. sowie Sen, Development as Freedom, S. 70ff.

7 Sen, Development as Freedom, S. 14.8 Vgl. Rawls, John (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit. 9 Diese Überlegungen stehen natürlich in engem Zusammenhang mit Rawls' Gedankenexperi

ment des Urzustandes, in dem rationale und in einem gewissen Sinn auch moralische Personen, die sich zu einer Gesellschaft zusammenschließen, unter einem Schleier des Nichtwissens hinsichtlich der eigenen Person und ihrer eigenen Stellung in der Gesellschaft Grundsätze des gesellschaftlichen Zusammenlebens festlegen.

Der Fähigkeitenansatz im Kontext von Informationsbasen sozialethischer Theorien 15

will«10, und führt eine Unterteilung in natürliche Grundgüter und gesellschaftlicheGrundgüter durch. Die natürlichen - Rawls nennt Fantasie, Intelligenz und Lebens-kraft als Beispiele - entziehen sich weitgehend dem direkten Einfluss der sozialenInstitutionen und können deshalb nicht berücksichtigt werden, wenn es um vomMenschen veranlasste Verteilungsfragen geht. Wichtiger für den Kontext derGerechtigkeitstheorie sind daher die gesellschaftlichen Grundgüter (in weitererFolge einfach »Grundgüter« genannt), deren Distribution man unmittelbar beein-flussen kann. Als wichtigste Beispiele für diese Art von Gütern listet Rawls Frei-heiten, Rechte, Chancen, Einkommen und Vermögen sowie Selbstachtung auf.Diese bilden gemäß Rawls die Grundlage für ein wünschenswertes Leben, unab-hängig davon, welche Vorstellung man vom Guten hat bzw. welche konkretenZiele man verfolgt, denn

… vernünftige Menschen wünschen sich unabhängig davon, was sie sich sonst noch wünschen, bestimmte Dinge als Vorbedingungen der Ausführung ihrer Lebenspläne. Unter sonst gleichen Umständen haben sie lieber mehr als weniger Freiheit und Chancen, Vermögen und Einkommen.11

Will man soziale Institutionen bewerten, muss man gemäß Rawls darauf achten,wie die genannten materiellen und immateriellen Grundgüter verteilt sind. Einegerechte Gesellschaft erfordert eine faire Verteilung unter ihren Mitgliedern, die imWesentlichen von Rawls' zwei Gerechtigkeitsgrundsätzen12 geleitet ist. Die Grund-güter bilden somit die Informationsbasis der Rawls'schen Theorie. Sie ermöglicheninterpersonelle Vergleiche, da der gleiche Index an Grundgütern dazu benutzt wer-den kann, die soziale Situation jedes Bürgers zu bewerten.13 Wie reagiert nunAmartya Sen auf diese ausgefeilten Überlegungen von John Rawls? Ähnlich wieSen auch schon bei einer rein materiellen Basis einer sozialphilosophischen The-orie anmerkte, besteht auch hier ein grundsätzliches Problem darin, dass Men-schen sich in vielen Aspekten unterscheiden und daher in der Regel aus den glei-chen Grundgütern verschiedene Vorteile ziehen. Wären wir alle hinreichendähnlich, würde sich Rawls' Ansatz eignen, um interpersonelle Vergleiche auf derBasis von Grundgütern zu machen und den Vorteil des Einzelnen dadurch auszu-drücken. Doch das ist laut Sen einfach nicht der Fall:

10 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 83.11 Rawls, Theorie, S. 434.12 Diese Grundsätze finden sich z.B. bei Rawls, Theorie, S. 336.13 Vgl. Rawls, John (1982): Social Unity and Primary Goods, S. 163.

(...) making comparisons of the primary goods different people have is not quite the same as comparing the freedoms actually enjoyed by different persons, even though the two can be closely related. Primary goods are means to freedom, but they cannot represent the extent of freedom, given the diversity of human beings in converting primary goods into the freedom to pursue their respective objectives.14

Rawls übersieht laut Sen also, dass Faktoren wie Alter, Geschlecht, genetischeVoraussetzungen etc. massiv beeinflussen, welche tatsächlichen Möglichkeitenuns im Leben offenstehen, selbst wenn man über die gleichen Grundgüter verfügt.Eine Gleichverteilung an Grundgütern kann deshalb zu sehr großen Unterschie-den in der realen Freiheit des Einzelnen führen. Beispielsweise braucht ein kör-perlich Behinderter in der Regel bedeutend mehr Ressourcen als eine »normale«Person, um das Leben führen zu können, für das er sich gemäß seiner persön-lichen Vorstellung des Guten entscheidet. Eine angemessene Gerechtigkeitstheo-rie sollte sich daher laut Sen direkt auf die realen Chancen des Einzelnen konzen-trieren, auf seine positive Freiheit, das zu tun, was er wertschätzt. Rawls dagegenkonzentriere sich zu sehr auf eine faire Verteilung von Gütern (die laut Sen ja nurinstrumentellen Wert besitzen), die zusammen mit der Garantie eines umfassen-den Systems an negativen Freiheiten für reale Chancengleichheit unter den Mit-gliedern einer Gesellschaft sorgen soll. Bei dieser Vorgangsweise kann es aus denzuvor angeführten Gründen aber zu massiven Verzerrungen kommen. PositiveFreiheiten sind dabei solche, die berücksichtigen, aus welchen Optionen einMensch tatsächlich auswählen kann, wohingegen negative sich darauf konzen-trieren, ob es gewisse Beschränkungen bzw. Hemmnisse (constraints) gibt, dieeine Person (bzw. ein Staat oder eine Institution) gegenüber jemand anderem aus-übt.15 Dazu ein Beispiel Sens: Kann ich nicht im Park spazieren gehen, da ichunter einer Behinderung leide, verfüge ich nicht über die positive Freiheit, das zutun; meine negative Freiheit ist davon allerdings nicht betroffen. Ginge ich jedochnicht, weil ich weiß, dass mir dort Verbrecher auflauern, die mich zusammen-schlagen und ausrauben würden, würde dadurch auch meine negative Freiheiteingeschränkt sein.16 Ist man interessiert, einer Person eine Vielzahl echter Wahl-möglichkeiten zu geben - laut Sen das wichtigste Ziel einer gerechten Gesell-schaft -, ist es unabdingbar, auch positive Freiheiten direkt (und nicht nur mittel-

Gunter Graf16

14 Sen, Amartya (1990): Individual Freedom as a Social Commitment, S. 49-54, hier: S. 52.15 Vgl. Sen, Individual Freedom, S. 49.16 Man beachte, dass eine Einschränkung einer negativen Freiheit immer auch mit einer Verletzung

einer positiven Freiheit einhergeht, aber nicht umgekehrt.

bar, wie das bei Rawls der Fall ist) zu berücksichtigen, was aber nicht heißen soll,dass nicht auch negative von Bedeutung sind. Sens zentraler Kritikpunkt ist - ähn-lich wie bei seiner Kritik einer rein materiellen Basis -, dass die Rawls'schenGrundgüter, inklusive des Gutes der negativen Freiheit, in erster Linie als Mittelzu sehen sind, die die Wahl einer bestimmten Lebensform ermöglichen. Es wärelaut Sen aber konsequenter, über diese Mittel hinauszugehen und positive Freihei-ten bzw. Fähigkeiten im Sinn von Verwirklichungschancen als die angemesseneInformationsbasis anzusehen.

Gegen das Heranziehen von Nutzeneinheiten als grundlegender Kategoriesozialphilosophischer Theorien - ein Vorgehen, das typisch für den Utilitarismus inseinen verschiedenen Ausprägungen ist - führt Sen im Wesentlichen zwei Argu-mente an: Erstens weist er darauf hin, dass es nicht angemessen sei, das Wohlerge-hen (im Sinne von Glücks- oder Lustempfinden) als das einzig Wichtige im Lebenzu betrachten.17 Denn es gebe viele Aspekte, die zentral für den Menschen seienund nicht durch eine Theorie, die psychischen Phänomenen eine so fundamentaleRolle zuweist, gefasst werden können. David Crocker fast diesen Kritikpunkt Sensfolgendermaßen zusammen:

Humans are not only experiencers or preference satisfiers; they are also judges, evaluators, and doers. They decide on and revise their conception of the good as well as satisfy desires based on those conceptions. And these basic aims often go well beyond the agent´s pursuit of utility (or any other conception of well-being or personal ›advantage‹).18

Will man die Lebenslage eines Menschen adäquat bewerten, muss man laut Sensomit wesentlich mehr berücksichtigen als den Umstand, wie glücklich er ist.Denn die Autonomie des Menschen ermöglicht es ihm, Ziele zu verfolgen, die erwertschätzt - und diese können durchaus dem eigenen Wohl übergeordnet sein(Ein Menschenrechtsaktivist etwa kann der Überzeugung sein, dass es gebotenist, an bestimmten Demonstrationen teilzunehmen, selbst auf die Gefahr hin, fest-genommen oder zusammengeschlagen zu werden). Zweitens betont Sen in die-sem Zusammenhang die Tatsache der Anpassung und psychischen Konditionie-rung.19 Damit ist gemeint, dass sich unsere Wünsche und unser Vermögen, Glück

Der Fähigkeitenansatz im Kontext von Informationsbasen sozialethischer Theorien 17

17 Vgl. Sen, Amartya (1990): On Ethics and Economics. 18 Crocker, David (1992): Functioning and Capability. The Foundation of Sen´s and Nussbaum´s

Development Ethic, S. 584-612, hier: S. 60.19 Vgl. Sen, Development as Freedom, S. 62f.; Sen, Amartya (1999): Commodities and Capabili-

ties, S. 14f.

zu empfinden, in sehr starkem Ausmaß an die jeweiligen Umstände anpassen. Istman z.B. gewohnt, in Armut zu leben, und hat man darüber hinaus keinerlei Aus-sichten auf eine Verbesserung seiner Situation, gibt man sich gemäß Sen in derRegel mit wenig zufrieden - ganz einfach, um damit sein Leben trotz widrigerUmstände erträglich gestalten zu können. Menschen können demnach massiv sozi-al benachteiligt und trotzdem glücklich und zufrieden sein. Aus einem utilitaristi-schen Blickwinkel, der ja die subjektiven Befindlichkeiten ins Zentrum rückt, gibtes deshalb keinen Grund, die Situation dieser Menschen zu verbessern, auch wennsie objektiv gesehen erheblichen Mangel leiden. Interpersonelle Vergleiche hin-sichtlich der Lebensqualität erscheinen auf dieser Grundlage zweifelhaft, da diebesagten psychischen Zustände nur sehr beschränkt Auskunft über die tatsäch-lichen Lebenslagen geben. Das soll jedoch nicht heißen, dass Sen dem Wohlerge-hen der Betroffenen überhaupt keinen Stellenwert einräumt; er weist nur auf zweiPunkte hin, die ihm in diesem Zusammenhang am Utilitarismus als unhaltbarerscheinen: Erstens sei es nicht angemessen, Wohlergehen als den einzig wichtigenWert zu erachten, und zweitens könne man es auch nicht eins zu eins mit dem Auf-treten von bestimmten psychischen Zuständen wie Lust oder Glück gleichsetzen.

2.2 Der Fähigkeitenansatz als Alternative

Sens Argumente gegen die vorgeschlagenen Informationsbasen zeigen, dass siealle mit schwerwiegenden Mängeln einhergehen, wenn man die Freiheit des Men-schen, verschiedene Entscheidungen treffen zu können, als wichtig erachtet. Erentwickelte deshalb ein Modell, auf das dem Anspruch nach eben genannte Ein-wände nicht zutreffen und das demzufolge eine wesentliche Verbesserung darstellt.Sen bezeichnete es als »Capability Approach«. Was ist nun so besonders an SensZugangsweise? Wie sich bei Sens Kritik an einer materiellen Informationsbasiszeigte, erachtet er Sachgüter (commodities) bloß als Mittel, um gewisse Zwecke,genauer: Funktionsweisen, die von der jeweiligen Person wertgeschätzt werden, zuerreichen. Funktionsweisen sind aufzufassen als Zustände (beings) bzw. Aktivitä-ten (doings), die analytisch gesehen das Leben einer Person ausmachen.20 Ver-schiedene Sachgüter eignen sich nun - je nachdem, wie sie beschaffen sind - für

Gunter Graf18

20 Sen drückt das wie folgt aus: a) »Living may be seen as consisting of a set of interrelated ›functionings‹, consisting of beings and doings« (Sen, Amartya, 1992: Inequality Reexamined, S. 39); b) »A functioning is an achievement of a person: what he or she manages to do or to be. It reflects, as it were, a part of the ›state‹ of that person« (Sen, Commodities, S. 7).

die Realisierung unterschiedlicher Funktionsweisen und können von ihren Besit-zern dementsprechend eingesetzt werden. Verfügt man z.B. über Essen, kannman die Eigenschaften dieses Gutes für verschiedene Ziele nutzen: um seinenHunger zu stillen, um Genuss an der Nahrungsaufnahme zu empfinden, aberauch dazu, um Veranstaltungen verschiedenster Art angenehmer zu gestalten.21

Hier ist es wichtig, zu verstehen, dass der alleinige Besitz eines Sachgutes nochrelativ wenig darüber aussagt, was die entsprechende Person damit anfangenkann. Denn verschiedene Faktoren beeinflussen die Überführung von Gütern inFunktionsweisen nachdrücklich. Die Vielfalt von Aspekten, die mit einer Funk-tionsweise einhergehen, erläutert Sen des Öfteren am Beispiel des Radfahrens22:Um diese Tätigkeit ausführen zu können, benötigt man zunächst einmal ein Rad,das als Sachgut aufzufassen ist. Man kann es besitzen, es anfassen und sogar aufihm sitzen, ohne es tatsächlich zu fahren. Die Tätigkeit des Radfahrens einer Per-son - eine Funktionsweise im hier verstandenen Sinn - fällt dagegen in eine ganzandere Kategorie. Es handelt sich um eine zielgerichtete menschliche Aktivität,die zwar ein Rad voraussetzt, aber klarerweise von ihm unterschieden werdenmuss. Um Rad zu fahren, muss man entsprechende Fertigkeiten haben und einenEntschluss fassen - und dieser Entschluss setzt Entscheidungsfähigkeit voraus.Darüber hinaus müssen aber auch Bedingungen erfüllt sein, die unseren bewus-sten Entscheidungen weitgehend entzogen sind: Denn ohne ausreichendeGesundheit ist es einfach nicht möglich, sich auf einem Rad fortzubewegen. DieFunktionsweise des Radfahrens geht in der Regel auch mit mentalen Zuständen(Empfinden von Glück, Angst etc.) einher. Bei ihnen handelt es sich auch umBefindlichkeiten bzw. Zustände einer Person und folglich um Funktionsweisen,die aber in einem wichtigen Sinne anderen »functionings« nachgeordnet sind.An dieser Stelle sieht man auch, dass Funktionsweisen - wie es vielleicht irrefüh-renderweise vom Beispiel des Radfahrens angedeutet wird - nicht darüber cha-rakterisiert werden können, dass sie von einer entsprechenden Person gewolltund somit intentional herbeigeführt werden. Das Wichtige ist vielmehr, dass essich bei Funktionsweisen um alle Zustände und Befindlichkeiten handelt, die dasmenschliche Leben konstituieren. Und folglich sind laut Sen so unterschiedlicheDinge wie, um zum obigen Beispiel des Essens zurückzukehren, (a) das Auswäh-len, Essen zu wollen, (b) die intentionale Aktivität des Essens, (c) die psychischenZustände, die man beim Essen empfindet, (d) der Prozess des Verdauens, (e) derZustand, gut genährt zu sein, und (f) alle Aktivitäten, wie z.B. Arbeiten oder Sport-

Der Fähigkeitenansatz im Kontext von Informationsbasen sozialethischer Theorien 19

21 Vgl. Sen, Commodities, S. 6f.22 Vgl. Sen, Commodities, S. 6 und Crocker, David (2008): Ethics of Global Development, S. 164ff.

betreiben, die erst dadurch ermöglicht werden, dass man ausreichend ernährt ist,zur Kategorie der Funktionsweisen zu zählen.23 Für Sen ist es nun aber nichtgenug, bei den tatsächlich erreichten Funktionsweisen stehen zu bleiben, wenn esdarum geht, sich mit dem guten menschlichen Leben auseinander zu setzen. Wiezuvor schon angeklungen ist, erachtet er die Freiheit des Einzelnen, das Lebenführen zu können, für das er sich nach eingehenden Überlegungen entscheidet, fürausschlaggebend. Und um diese Überlegung zu präzisieren, bringt er den Begriffder Fähigkeit (capability) ins Spiel:

Closely related to the notion of functionings is that of the capability to function. It represents the various combinations of functionings (beings and doings) that the person can achieve. Capabi-lity is, thus, a set of vectors of functionings, reflecting the person´s freedom to lead one type of life or another.24

Hier ist es angebracht, eine kurze Bemerkung zur Terminologie einzuschieben,um etwaige Missverständnisse zu vermeiden: In Sens älteren Arbeiten verwen-det er den Term »Fähigkeit« (im Eigentlichen verstanden als »die Fähigkeit einerPerson x«)25 ausschließlich als Funktionsausdruck, um damit die Menge (capa-bility set) zu bezeichnen, die alle und nur die Kombinationen von Funktionswei-sen26 als Elemente beinhaltet, die die entsprechende Person tatsächlich erreichenkann. Gemäß diesem Sprachgebrauch können Funktionsweisen entweder poten-ziell oder realisiert und damit aktual sein. Der Begriff wird von vielen jedoch auchanders verwendet. Sie bezeichnen damit die angesprochenen potenziellen Funk-tionsweisen und gehen davon aus, dass die Fähigkeitenmenge einer Person ver-schiedene Fähigkeiten beinhaltet. Nur in dieser Verwendungsweise des Wortesergibt es Sinn, von Fähigkeiten einer Person im Plural zu sprechen. Beschäftigtman sich mit Sens Version des Fähigkeitenansatzes muss man beachten, dass er inseinen älteren Schriften ausschließlich die erste Bedeutungsvariante verwendet.

Gunter Graf20

23 Vgl. Crocker, David (1995): Functioning and Capability: The Foundation of Sen´s and Nuss-baum´s Development Ethic, Part 2, S. 153-198, hier: 154.

24 Sen, Inequality, S. 39f.25 Vermutlich sollte man hier auch noch einen entsprechenden Zeitpunkt t explizit berücksichtigen,

sodass der Funktionsausdruck wie folgt aussieht: »die Fähigkeit einer Person x zum Zeitpunkt t«.26 Jede solche Kombination - verstanden als n-Tupeln von Funktionsweisen (functioning n-tuples) -

beinhaltet jene Aktivitäten und Befindlichkeiten, die einen möglichen Lebensstil ausmachen (vgl. Sen, Justice, 113f.). Man beachte, dass gemäß diesem Sprachgebrauch die Fähigkeitenmenge einer Person irreführenderweise keine Fähigkeiten beinhaltet.

In seinen neueren Arbeiten passt er sich z.T. jedoch an den heute üblicherenSprachgebrauch an und benutzt den Term »Fähigkeit« in beiden angegebenenBedeutungen.27 Der Begriff »Fähigkeit« bezieht sich bei Sen also auf dieLebensweisen (verstanden als unterschiedliche Kombinationen von Funktions-weisen), die einer Person tatsächlich offenstehen. Dadurch ist es möglich, dieEntscheidungsfreiheit des Menschen und den Umstand der Wahlmöglichkeitbegrifflich zu erfassen und ohne Verzerrungen wiederzugeben. Fähigkeiten sindfür Sen also in erster Linie als Möglichkeiten bzw. Gelegenheiten zu verstehen,gewisse Funktionsweisen zu erreichen. Doch warum sollte man Fähigkeiten undnicht Funktionsweisen als die grundlegende ethische Kategorie ansehen? Dazumuss man zuerst noch einmal auf den engen Zusammenhang zwischen diesenbeiden Begriffen hinweisen. Denn Fähigkeiten werden ja auf der Grundlage vonFunktionsweisen definiert; sie sind nichts anderes als Kombinationen von Funk-tionsweisen, die echte Optionen für die jeweilige Person darstellen.28 Die Fähig-keitenmenge einer bestimmten Person beinhaltet somit natürlich auch Informatio-nen über jene Kombination von Funktionsweisen, die die Person auch tatsächlichgewählt hat, da sie klarerweise auch unter den zugänglichen Optionen zu findenist.29 Da es nun möglich ist, den Wert einer Menge über eines ihrer Elemente zubestimmen30, kann man auch die Fähigkeitenmenge bei Bedarf über die realisiertenAktivitäten und Befindlichkeiten (die ja - aufgefasst als n-Tupel - ein besonderesElement der Menge sind) charakterisieren. Mit anderen Worten heißt das, dass eineBewertung der Lebenssituation eines Menschen auf der Grundlage seiner tatsäch-lichen Funktionsweisen als ein Spezialfall einer Bewertung anhand der gesamtenFähigkeitenmenge verstanden werden kann.31 Damit ist sichergestellt, dass es zukeinem Verlust an relevanten Informationen kommt, wenn man Fähigkeitenanstatt tatsächlich gewählter oder erreichter Funktionsweisen als die Informa-

Der Fähigkeitenansatz im Kontext von Informationsbasen sozialethischer Theorien 21

27 Vgl. Robeyns, Ingrid (2005): The Capability Approach: a Theoretical Survey, S. 93-114, hier: S. 100.28 »(…) capability is defined in terms of the same focal variables as functionings. In the space of

functionings, any point represents an n tuple of functionings. Capability is a set of such functioning n tuples, representing the various alternative combinations of functionings from which theperson can choose one combination.« (Sen, Inequality, S. 50)

29 Hier ist es natürlich nötig, die Fähigkeitenmenge vor der Entscheidung zu berücksichtigen.30 Sen nennt den Vorgang der Bewertung einer Menge anhand eines ihrer Elemente »elementary

evaluation«. Besonders in der üblichen Fassung der Konsumtheorie wird dieses Verfahren angewendet. Denn dort wird die Menge an möglichen Wahloptionen ausschließlich über den Wert des besten enthaltenen Elementes beurteilt.

31 Vgl. dazu besonders Sen, Inequality, S. 50f.

tionsbasis einer normativen Theorie betrachtet. Doch Sens Forderung ist stärker.Er argumentiert dafür, dass Fähigkeiten als fundamentale ethische KategorieFunktionsweisen nicht bloß gleichwertig, sondern Letzteren auch überlegen sind.Der Hauptgrund dafür ist gemäß Sen - wie zuvor schon kurz angedeutet - darinzu sehen, dass Fähigkeiten die Freiheit des Einzelnen ausdrücken, was sich fürviele Analysen und Bewertungen zentraler sozialphilosophischer Begriffe ver-wenden lässt.32 Beschäftigt man sich etwa mit der Lebenssituation einer Person,sollte man laut Sen nicht nur berücksichtigen, welches Leben sie tatsächlichführt. Es ist auch von erheblichem Interesse, welche Funktionsweisen sie ausfüh-ren könnte, wenn sie nur wollte. Ein Mensch z.B. könnte hungern, weil er keinenZugang zu Nahrungsmitteln hat oder sich dafür entscheidet, in einen Hunger-streik zu treten, um auf Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen. Die tatsäch-lich erreichten Funktionsweisen wären in diesem Fall gleich, doch es ist offen-sichtlich, dass ein gewichtiger Unterschied in den jeweiligen Lebenslagenbesteht. Fähigkeiten als Bewertungsbasis ermöglichen es, diesem Umstandgerecht zu werden und andere Aspekte (persönliche Ziele, Wertvorstellungenetc.) in die Evaluierung einfließen zu lassen. Darüber hinaus ist Sen der Auffas-sung, dass Chancen, die nicht ergriffen werden - wie das ja bei den meisten Ele-menten der Fähigkeitenmenge der Fall ist -, ein besonderer Wert zukommt. Er ver-steht das Wählen als eine wertvolle Funktionsweise und sieht einen großenUnterschied zwischen dem Besitzen eines Gegenstandes x, wenn keine denkbareAlternative auszumachen ist, und der bewussten Entscheidung für x, wenn wirkli-che Alternativen bestehen.33

2.3 Der Fähigkeitenansatz als ergänzungsbedürftiger normativer Rahmen

Wie deutlich wurde, handelt es sich beim Fähigkeitenansatz im Sinne Sens zuersteinmal um einen Vorschlag für eine Informationsbasis einer sozialethischen The-orie: Fähigkeiten bzw. Funktionsweisen sollen die grundlegende Kategorie bildenund dazu benutzt werden, die Bedeutungen von sozialphilosophisch und entwik-klungsökonomisch bedeutsamen normativen Ausdrücken festzulegen. Nur so seies möglich, die weiter oben kritisierten Verzerrungen alternativer Theorien zuvermeiden und zu angemessenen Informationen zu den Lebenslagen der Betrof-fenen vorzudringen. Es wird möglich, der Wahlfreiheit des Menschen einen Wert

Gunter Graf22

32 Vgl. Sen, Inequality, S. 49ff.33 Vgl. Sen, Development as Freedom, S. 81.

zuzuschreiben und so ein wesentlich differenzierteres Bild eines guten mensch-lichen Lebens zu entwickeln, als das bei den durch Sen kritisierten Ansätzen derFall ist. Nun könnte man dazu geneigt sein, den Fähigkeitenansatz einzig undallein über seine Informationsbasis zu definieren - und in der Tat bezeichnet Senjeden Ansatz, der diese Kategorien als grundlegend erachtet als »capabilityapproach«34. Doch damit ist sehr wenig ausgesagt und in der Tat entstehen diemeisten theoretischen Streitpunkte dann, wenn versucht wird, (notwendige) Kon-kretisierungen des Ansatzes durchzuführen. Das ist wenig verwunderlich, da er -um überhaupt gehaltvolle Aussagen liefern zu können - notgedrungen mit ethi-schen Theorien und gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen ergänzt werdenmuss: Es gilt, Stellung zu der alten Frage nach dem guten menschlichen Leben zubeziehen, inhaltliche Aussagen darüber zu treffen, was als erstrebenswert anzuse-hen ist, und auch zu überlegen, wen soziale Einrichtungen aus welchen Gründenbeim Erwerb welcher Fähigkeiten unterstützen sollten. Und je nachdem, wie manden Ansatz in Hinblick auf diese Fragen spezifiziert, ergeben sich verschiedeneAusprägungen.

Sen selbst war seit Beginn seiner Arbeiten bedacht darauf, wenig inhaltlicheVorgaben nach der Wertigkeit von bestimmten Funktionsweisen und Fähigkeitenzu machen, und betonte die Kulturabhängigkeit solcher Fragen.35 Es sei zwaroffensichtlich, dass zentrale Fähigkeiten identifiziert werden müssen, um denFähigkeitenansatz auf ein konkretes Problem anwenden zu können. Es gilt, wich-tige von trivialen zu unterscheiden und - so weit wie möglich - eine Reihung derFähigkeiten durchzuführen.36 Doch dabei müssten immer Kontext und Zielrich-tung der angestrebten Untersuchung berücksichtigt werden. Denn die Wertigkeitvon Funktionsweisen und Fähigkeiten lasse sich immer nur in Hinblick auf einbestimmtes Unterfangen angeben und gelte nicht per se. Sen sieht nun eine wesent-liche Stärke seiner Version des Fähigkeitenansatzes darin, dass von ihm keine Wer-

Der Fähigkeitenansatz im Kontext von Informationsbasen sozialethischer Theorien 23

34 Sen, Amartya (1993): Capability and Well-Being, S. 30-53, hier: S. 48. Hier ist es interessant, festzuhalten, dass Martha Nussbaums Sozialphilosophie - für viele der Inbegriff des Fähigkeitenansatzes - von diesem Standard abweicht. Die Informationsbasis ihrer Theorie unterscheidet sich nämlich wesentlich von der Sens (Eine Fähigkeit ist in ihrem Sprachgebrauch zu verstehen als ein allgemeines Vermögen oder eine Disposition, die im Wesentlichen in der Person selbst ver-ankert ist, und nicht eine echte Wahlmöglichkeit, wie das bei Sen der Fall ist), was allerdings dadurch kaschiert wird, dass sie die gleichen Wörter wie Sen verwendet, aber andersartige Objek-te damit bezeichnet (vgl. dazu Crocker, Ethics, S. 172f.).

35 Vgl. Sen, Equality, S. 219.36 Vgl. Sen, Inequality, S. 44f.

tungen vorgegeben werden und er in diesem Sinne unvollständig (incomplete) ist.Wie gesagt betont er zwar, dass eine Bewertung von Fähigkeiten unerlässlich ist,wie diese aber im Detail auszusehen hat, darüber behält er Stillschweigen. Wichtigist ihm nur, dass Wertungen explizit zu erfolgen haben und - speziell wenn es umdie Festlegung eines Spektrums an Funktionsweisen und Fähigkeiten zu einer sozi-alen Bewertung geht (wie das beispielsweise bei sozialwissenschaftlichen Armuts-studien der Fall ist) - durch einen begründeten Konsens festgelegt werden. Dazubedürfe es der öffentlichen Diskussion, eines demokratischen Verständnisses undder Akzeptanz.37 Die besagte Unvollständigkeit sei jedoch kein Grund zur Verle-genheit, sondern ein großer Vorteil seines Ansatzes: Denn er kann mit verschiede-nen Verfahren zur Bewertung von Funktionsweisen und Fähigkeiten verbundenwerden, was eine große Anwendungsbreite ermöglicht. Sens Reserviertheit gegen-über der Vervollständigung des Fähigkeitenansatzes (d.i. eine vollständige Auflist-ung an Funktionsweisen und Fähigkeiten, die ein gutes Leben auszeichnen) hat vorallem auch mit dem Pluralismus an faktisch vorhandenen ethischen Positionen zutun. Es scheint so zu sein, dass sich Wertfragen vielfach nicht endgültig entschei-den lassen, und deshalb ist es laut Sen auch ratsam, prinzipiell offen gegenüber ver-schiedenen Positionen zu sein, solange sie Funktionsweisen bzw. Fähigkeiten alsgrundlegend erachten.

Versuche, wie etwa jenen von Martha Nussbaum38, eine konkrete Liste vonzentralen menschlichen Grundfähigkeiten zu begründen, die als Rechtfertigungfür universell gültige politische Prinzipien dienen soll, sieht er als eine möglicheVervollständigung des Fähigkeitenansatzes an. Er lässt aber auch keinen Zweifeldaran aufkommen, dass er Nussbaums aristotelisch geprägte Argumentations-weise für fragwürdig hält: Denn eine so konkrete Angabe dessen, was als gutesmenschliches Leben zu erachten ist, scheint ihm überspezifiziert und mit einergewissen Scheinobjektivität verbunden zu sein.39 Dennoch kann darauf hinge-wiesen werden, dass auch Sen in seinen Arbeiten (vor allem in denen der letztenbeiden Jahrzehnte) deutlich über die Minimalversion eines Fähigkeitenansatzes(d.i. die bloße Forderung, dass Funktionsweisen und Fähigkeiten die Informa-

Gunter Graf24

37 Vgl. Sen, Development as Freedom, S. 78f.38 Vgl. dazu etwa Nussbaum, Martha C. (1999): Der aristotelische Sozialdemokratismus; Nuss-

baum, Martha C. (2000): Women and Human Development - The Capabilities Approach. Nuss-baum argumentiert darin für die Gültigkeit gewisser Prinzipien, die jeder Verfassung zugrunde liegen sollten, und versucht auf diese Weise eine philosophische Begründung der Menschenrechte zu liefern.

39 Vgl. Sen, Capability and Well-Being, S. 47.

tionsbasis bilden sollten) hinausgeht und eine normative Perspektive entwickelt,die mit der Anerkennung (zumindest dem Anspruch nach) universell gültigerWerte verbunden ist.40 Er geht davon aus, dass die Autonomie des Menschengrundlegend ist und gefördert werden muss. Entwicklung, so ist es bei ihm zulesen, kann als Prozess der Ausweitung der tatsächlichen Freiheiten verstandenwerden, die den Menschen zukommen.41 Er argumentiert somit dafür, dass es gutist, wenn Personen die Möglichkeit haben, sich für viele verschiedene Lebens-weisen entscheiden zu können, - etwas, das er als kulturunabhängige Konstantezu befürworten scheint - und betont die Wichtigkeit der politischen Partizipation,was wiederum mit vielen weiteren Forderungen verbunden ist: Er ist der Mei-nung, dass allen Menschen der Zugang zu Bildung ermöglicht werden sollte,betont die Bedeutsamkeit von unzensierten Medien und plädiert dafür, dass jederMensch die Möglichkeit haben sollte, aus freien Stücken an sozialen Entschei-dungen teilzunehmen (durch Wahlen, Referenda - oder einfach durch das Einset-zen von Zivilrechten).42 Somit wird auch klar, dass hinter seinen Argumenten einGleichheitsgrundsatz steht: Das Leben jedes Menschen hat den gleichen Wert undjeder Mensch hat den gleichen Anspruch - unabhängig von Geschlecht, Hautfar-be, religiöser Überzeugung, kultureller Zugehörigkeit etc. -, in seiner Entwicklunggefördert zu werden. Ein Prinzip der fairen Chancengleichheit scheint also grund-legend für Sens Ansatz zu sein. Daraus ergibt sich auch, dass Sens Konzeption miteinem ethischen Individualismus einhergeht: Der Einzelne und nicht Gruppierun-gen wie Familien oder andere gesellschaftliche Institutionen stehen im Mittel-punkt und bilden den Ausgangspunkt für weitere Überlegungen. Sens Ergänzun-gen zur Basisversion eines Fähigkeitenansatzes mit seiner Betonung derAutonomie des Menschen dürften sich somit auch gegen bestimmte Formen der inakademischen Kreisen weit verbreiteten Auffassung des ethischen Relativismuswenden - jener Position, die davon ausgeht, dass es unverträgliche Systeme43 mora-lischer Normen gibt, von denen keines bevorzugt gerechtfertigt werden kann44 -und reichen weit in die politische Philosophie und Gerechtigkeitstheorie hinein.Sein Prinzip der fairen Chancengleichheit führt schließlich zu einer massiven

Der Fähigkeitenansatz im Kontext von Informationsbasen sozialethischer Theorien 25

40 Vgl. Sen, Development as Freedom, S. 244ff.41 Vgl. Sen, Development as Freedom, S. 3. 42 Vgl. Sen, Development as Freedom, S. 242.43 Ethische Systeme sind unverträglich, wenn sie miteinander unvereinbare moralische Urteile bei

Gleichheit der unterstellten Situationsumstände beinhalten.44 Normalerweise wird davon ausgegangen, dass der ethische Relativismus durch folgende drei

Punkte gestützt wird: (1) die Unmöglichkeit, Normen aus Tatsachen abzuleiten, (2) das unter-

Kritik an vielen faktisch vorhandenen Gesellschaftsformen und ist mit einem»anything goes« in moralischen Fragen nicht vereinbar. In Sens Denken ist dieFrage, wie eine Gesellschaft organisiert sein muss, um jedem ihrer Mitgliederangemessene Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten, von großer Wichtigkeit und erspricht sich für einen politischen Rahmen aus, der dem von Rawls in vielenAspekten nicht unähnlich ist.

Was heißt es nun, den Fähigkeitenansatz umzusetzen und für die Praxisbrauchbar zu machen? Im Lichte des Gesagten dürfte klar geworden sein, dassdiese Frage nicht leicht zu beantworten ist. Der Fähigkeitenansatz ist ein norma-tiver Rahmen, der - außer einer Informationsbasis - relativ wenig vorgibt. Es istein Vorschlag, wie man Verzerrungen vermeiden kann, indem man direkt auf dasLeben der Betroffenen und die Chancen, die ihnen offenstehen, blickt. Von seinerUmsetzung kann man in der Folge nur sinnvoll sprechen, wenn klar ist, durchwelche weiteren normativen Annahmen er ergänzt wird und für welche Zweckeman ihn einsetzen will. Sens liberale Perspektive mit der Betonung der Autono-mie des Menschen und dem Vorschlag, die Ausweitung der realen Freiheiten desEinzelnen als das eigentliche Ziel von politischen Maßnahmen zu machen,45 zeigteine vielversprechende Perspektive auf, geht aber doch deutlich über eine »Mini-malvariante« des Fähigkeitenansatzes hinaus und kann nicht aus seiner Informa-tionsbasis abgeleitet werden. Beruft man sich nun auf Sens Version des Ansatzesund erachtet es als grundlegend, so vielen Menschen wie möglich ein Leben zuermöglichen, das sie aus gutem Grunde wertschätzen, entsteht natürlich dieFrage, wie das zu bewerkstelligen ist - und hier wird deutlich, dass auch der Rah-men, den Sen vorgibt, mit gehaltvolleren - sowohl normativen als auch empiri-schen - Theorien zu ergänzen ist. Es wird nötig sein, zu spezifizieren, welcheFähigkeiten für den jeweiligen Kontext relevant sind, und so etwas wie eine Hie-rarchie der Fähigkeiten aufzustellen. Wie dies freilich geschehen soll, ist umstrit-ten und war in den letzten Jahren Gegenstand heftiger Debatten.46 Doch für dieAnwendung des Ansatzes auf die Praxis ist es unausweichlich, sich diesen Wert-

Gunter Graf26

stellte Vorhandensein individueller, kultureller und historischer Vielfalt der jeweils akzeptierten ethischen Prinzipien und (3) die Annahme, dass die Versuche einer naturrechtlichen oder ver-nünftigen Normenbegründung unzulänglich oder zur Stützung eines gehaltvollen ethischen Systems unzureichend sind (vgl. Carrier, M., 2004, Relativismus, S. 564f.).

45 Fähigkeiten und Funktionsweisen als Informationsbasis ermöglichen es, die Freiheit des Einzel-nen zu berücksichtigen. Daraus zu folgern, dass das Ziel von Entwicklung die Erweiterung der realen Freiheiten jedes Menschen ist, ist selbstredend wesentlich anspruchsvoller.

46 Vgl. dazu Robeyns, Ingrid (2006): The Capability Approach in Practice, S. 355f.

fragen zu stellen und sich damit auseinander zu setzen, wie ein gutes Leben ineinem bestimmten soziokulturellen Kontext aussieht. Der Versuch, die betroffe-nen Menschen zu einem solchen Leben zu befähigen, bedarf in weiterer FolgeAnstrengungen auf verschiedenen Ebenen. Die politische wurde vorher schonangesprochen und findet sich in Sens Arbeiten an prominenter Stelle wieder.Doch natürlich muss auch überlegt werden, welche konkreteren Möglichkeitenes gibt, die dazu beitragen, dass Menschen ihr Potenzial entwickeln und eineLebensweise wählen können, die sie aus gutem Grunde wertschätzen - und hierliegt es auf der Hand, in einen Dialog mit Pädagogik, Sozialisationsforschung,Psychologie usw. zu treten. Denn dort finden sich die Experten, die wissen-schaftlich fundierte Perspektiven aufzeigen können, wie man zentrale philoso-phisch-theoretische Einsichten in die Tat umsetzt.

Literatur

Carrier, Martin (2004): Relativismus. In: Mittelstraß, Jürgen (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 3. Stuttgart: J. B. Metzler, 564-565.

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Crocker, David (1992): Functioning and Capability: The Foundation of Sen´s and Nussbaum´s Development Ethic. In: Political Theory 20/4, 584-612.

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Nussbaum, Martha C. (2000): Women and Human Development - The Capabilities Approach. Cambridge/New York/Melbourne: Cambridge University Press.

Rawls, John (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.Rawls, John (1982): Social Unity and Primary Goods. In: Sen, Amartya/Williams, Bernard (Hg.),

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Development 6/1, 93-114.Robeyns, Ingrid (2006): The Capability Approach in Practice. In: The Journal of Political Philosophy,

14/3, 351-376.Sen, Amartya (1990): On Ethics and Economics. Oxford/Cambridge MA: Basil Blackwell.Sen, Amartya (1992): Inequality Reexamined. Cambrige MA: Harvard University Press.

Der Fähigkeitenansatz im Kontext von Informationsbasen sozialethischer Theorien 27

Sen, Amartya (1999): Commodities and Capabilities. Oxford/New York: Oxford University Press.Sen, Amartya (1999): Development as Freedom. New York: Anchor Books.Sen, Amartya (1980): Equality of What? In: McMurrin, Sterling M. (Hg.), The Tanner Lectures on

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Gunter Graf28

Fähigkeiten und Fundamentalfähigkeiten

Clemens Sedmak

Die Fähigkeit, einen »Fähigkeitenansatz« zu entwickeln, ist eine andere Fähigkeitals jene, Texte von Amartya Sen und Martha Nussbaum zu lesen. Fähigkeiten lie-gen nicht auf derselben Ebene. Daraus ergeben sich auch Überlegungen in Bezugauf Fähigkeiten, die in besonderer Weise zu fördern sind. Der nachfolgende Textbeschäftigt sich mit dem Begriff der Fähigkeit und entwickelt ein Verständnis vonFundamentalfähigkeiten, denen besondere Aufmerksamkeit zu schenken ist.

1. Begrifflichkeiten

Eine Fähigkeit ist das Vermögen, einen Sachverhalt kausal zu beeinflussen. In die-sem Sinne hat eine Fähigkeit mit »Transformation von Wirklichkeit«, »Herstellungvon Situationen«, »Veränderung von Welt« zu tun. Oder: Eine Fähigkeit ist das Ver-mögen, einen bestimmten Weltzustand herzustellen. In diesem Sinne ist eine Fähig-keit verbunden mit Aspekten wie »Konstruktion von Wirklichkeit«, Intentionalitätund Planbarkeit. Oder: Fähigkeiten sind Möglichkeitsvermögen - eine Fähigkeit istdas Vermögen, Möglichkeiten zu erschließen, Möglichkeiten zu transformieren undMöglichkeiten zu realisieren. In diesem Sinne kann eine Fähigkeit als eine Kraft,Möglichkeiten zu koordinieren, verstanden werden. Oder: Eine Fähigkeit ist dasVermögen, eine Möglichkeit in eine Wirklichkeit zu überführen. In diesem Sinne hatFähigkeit mit der Eröffnung eines Handlungsraumes zu tun; mit der Eröffnung einesSpielraums, innerhalb dessen Handlungsmacht ausgeübt werden kann.

Der Begriff der Fähigkeit soll in dieser Hinführung eng an den Begriff der Mög-lichkeit gebunden sein. Den theoretischen Rahmen für ein Nachdenken über dasVerhältnis von Fähigkeiten und Möglichkeiten kann fürs Erste die aristotelischePhilosophie bieten: Eine »dynamis« (Möglichkeit, Kraft) ist nach Aristoteles einPrinzip dafür, dass eine Veränderung stattfinden kann.1 Eine Fähigkeit besteht darin,eine Quelle für Veränderung zu haben bzw. Quelle für Veränderung zu sein; mit

1 Vgl. Aristoteles, Metaphysik V 12, 1020a1ff; Metaphysik IX 1, 1046a11.

C. Sedmak et al., Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten, DOI 10.1007/978-3-531-92749-7_2,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

Bezug auf den besonderen Status der Veränderung kann man denn auch eine Fähig-keit als das Vermögen charakterisieren, eine Bewegung in Gang zu bringen oder zubeenden. Wir könnten daraus schließen, dass Fähigkeiten den Bewegungsraum -den Handlungsspielraum eines Menschen - vergrößern oder auch, dass ein Sinn für»agency«, für Handlungsmacht, Handlungsfreiheit und Handlungsfähigkeitwesentlich für die Kultivierung von Fähigkeiten ist. Fähigkeiten bewegen Mög-lichkeiten. »Befähigung« hat denn auch mit der Ausbildung dessen zu tun, wasRobert Musil seinerzeit einen »Möglichkeitssinn« genannt hat; dieser ist auch ver-bunden mit einem Sinn für die »Beweglichkeit« der Wirklichkeit. Fähigkeitenbewegen Situationen. Eine Bewegung wiederum ist eine Form eines Übergangs,die in einem räumlichen Rahmen als Bezugssystem stattfindet.2 Auch die Bewe-gung ist auf eine Entsprechung von Bewegtem und Bewegendem angewiesen - dieBewegung von Bewegendem und von Bewegtem erfolgt gleichzeitig.3 Damit istgesagt, dass zur Ausübung einer Fähigkeit ein Wirklichkeitssinn, ein Verständnisfür die Eigenschaften der vorliegenden Sachverhalte, erforderlich ist. Die Bewe-gung braucht einen Träger, also eine Substanz - und eine zugrunde liegende Mate-rie (ein Substrat), an der sich die Bewegung vollzieht. Der Begriff der Verände-rung bezieht sich nicht nur auf »Veränderung an etwas anderem«, sondern auchauf »Veränderung von und an sich selbst«. Wir werden noch sehen, dass dieserSinn für die eigene Veränderbarkeit und Beweglichkeit als Fähigkeit zweiter Ord-nung eine entscheidende Rolle bei der Ausbildung von Fähigkeiten spielt; oderauch: ein Sinn für die eigene Veränderbarkeit hängt mit dem Sinn für die Verän-derbarkeit von Welt zusammen. Damit nun eine Veränderung stattfinden kann,bedarf es auf der einen Seite einer verändernden Kraft und auf der anderen Seiteeines Materials, das sich verändern lässt? also Dinge, die die Eigenschaft haben,sich verändern zu lassen. Zwischen dem aktiven Vermögen zur Veränderung unddem passiven Vermögen zur Veränderung muss eine Entsprechung bestehen.4 Derangesprochene Wirklichkeitssinn hat mit der Einschätzung dieser Übereinstim-mung zu tun.

Die Potentialität liegt dabei als aktive im verändernden Subjekt und als passi-ve im veränderten Objekt - um dies einmal in dieser Sprache auszudrücken. Auchdie Fähigkeit, eine Veränderung zu erfahren, also die Fähigkeit der Formbarkeitund Empfänglichkeit, kann als Fähigkeit gedeutet werden. Wenn wir etwa den

Clemens Sedmak30

2 Aristoteles zeigt diese Bewegung am Beispiel des Verfertigens eines Bronzestandbildes -Aristo-teles, Physik III 1, 210a29ff.

3 Vgl. Aristoteles, Physik VIII 1, 242a57ff.4 Vgl. Aristoteles, Metaphysik V 15, 1021a15-17.

Begriff der »Leidensfähigkeit« heranziehen5, also die Fähigkeit, auf würdige undgute Weise mit Erfahrungen des Erleidens umzugehen, kann auch das Vermögen,sich von Erfahrungen formen zu lassen, als Fähigkeit ausgewiesen werden.»Geduld« und »Duldsamkeit« hängen ebenso mit dieser Fähigkeit, Veränderun-gen zu erfahren, zusammen, wie das Vermögen, sich durch eine ernsthafte Bezie-hung verändern zu lassen. Der Raum von Fähigkeiten wird damit nicht mit demRaum von Gestaltungsmöglichkeiten allein ausgeschöpft; auch die Vermögen, diemit »Formbarkeit« zu tun haben, sind den Fähigkeiten zuzuzählen. Auf Seiten desVermögens zur aktiven Veränderung können vernünftige und nichtvernünftigeTräger dieses Vermögens unterschieden werden. Wenn wir es - wie im paradigma-tischen Fall eines Menschen - mit einem vernünftigen Träger eines Veränderungs-vermögens zu tun haben, kommt als zusätzlicher Aspekt der Veränderung derWille oder die Entscheidung hinzu.6 Fähigkeiten sind damit auch in der aristoteli-schen Analyse mit »Fähigkeitsvermögen« verbunden, also mit der Fähigkeit, sichreflexiv zu Fähigkeiten und dem Einsatz von Fähigkeiten zu verhalten. Die Ent-scheidungsfähigkeit erscheint als grundlegende Fähigkeit im Umgang mit Fähig-keiten, also als fundamentale Fähigkeit zweiter Ordnung.

Halten wir fürs Erste fest: Fähigkeiten bewegen und verändern. Ein Vermögenist eine Kraft zur Veränderung. Diese Kraft hat eine aktive und passive Seite undkann auf verschiedenen Ebenen (Fähigkeiten erster und zweiter Ordnung) ange-siedelt werden. Eine Fähigkeit ist also allgemein gesagt ein angeborenes odererworbenes Vermögen, einen Sachverhalt kausal zu beeinflussen. Dieser Sachver-halt kann in der äußeren Wirklichkeit bestehen; davon ist etwa die Rede, wenn esheißt, jemand sei fähig, Fahrrad zu fahren oder ein Haus zu bauen. Fähigkeitenkönnen sich aber auch auf innere Zustände beziehen, z.B. auf den Umgang mitLeid oder mit Erinnerungen. Eine Kombination beider Gesichtspunkte liegt wohlbei Fähigkeiten vor, welche unsere Beziehungen zu anderen betreffen. Wir werdenden daraus entstehenden Zusammenhang von »Fähigkeiten« und »Identität« nochnäher betrachten. Eine Fähigkeit ist weiters nicht nur das Vermögen, handelnd ineinen Sachverhalt einzugreifen, sondern ebenso das Vermögen, einen Sachverhaltzu begreifen, entsprechend: Möglichkeitssinn und Wirklichkeitssinn auszuprägen,was natürlich wiederum die Grundlage dafür bildet, handelnd in Situationen ein-zugreifen. Fähigkeiten haben an der Schnittstelle von »Potentialität« (Anlagen zurVeränderung im Handlungssubjekt; subjektbezogene Potenzen) und »Possibilität«(Anlagen zur Veränderung im Sachverhalt; situationsbezogene Möglichkeiten)

Fähigkeiten und Fundamentalfähigkeiten 31

5 Vgl. Sedmak, C./Unterrainer Chr. (2010): Leid verstehen, S. 123-132.6 Vgl. Aristoteles, Metaphysik IX 5, 1048a7-15.

eine subjektive und eine objektive Komponente; der Primat kommt dabei aberwohl dem subjektiven Aspekt zu: Im eigentlichen Sinne ist eine Fähigkeit etwasSubjektives, d.h. das Vermögen eines empfindenden, denkenden und handelndenSubjektes. Fähigkeiten sind mithin von objektiven Gegebenheiten zu unterschei-den, also von Möglichkeiten, die in der äußeren Wirklichkeit bestehen. Hier kannman Brücken zur Armutsforschung erkennen: Fähigkeiten auf der subjektivenEbene sind auf Bedingungen, die über das Subjekt hinausgehen, angewiesen. DieFähigkeit, ausgezeichnet Tischtennis zu spielen, ist in ihrer Realisierung auf Tisch,Schläger, Ball - und in der Regel einen Gegenspieler - angewiesen. Umgekehrt lie-gen Possibilitäten brach, wenn sie nicht durch subjektgebundene Potenzen genutztwerden können. Nach einer aristotelischen Analyse kann eine Fähigkeit als dasVermögen, theoretische Möglichkeiten in reale Gegebenheiten zu verwandeln,beschrieben werden; also als das Vermögen, etwas Mögliches in etwas Wirklicheszu überführen. Um eine Möglichkeit zu realisieren, müssen gewisse Sachverhalte- als Vorliegen und dezidiertes Nichtvorliegen von Tatsachen - realisiert sein. Wennich etwa die Fähigkeit, meinem Neffen bei der Lateinhausaufgabe zu helfen, reali-sieren möchte, darf die Tatsache, dass ich an Migräne leide, nicht gegeben sein;mein Neffe muss willens sein, sich von mir helfen zu lassen; die Lernsituation ver-langt eine gewisse Ruhe, usw. Fähigkeiten sind also in ihrer Realisierung aufRessourcen angewiesen. Damit werden Fragen nach dem Zugang zu Fähigkeitendurchaus auch Fragen sozialer Gerechtigkeit:

Zugang zu Fähigkeiten zu ermöglichen, verlangt einen Zugang zu subjekti-ven Aspekten (Möglichkeitssinn, Wirklichkeitssinn, Entscheidungsfähigkeit unddamit Fähigkeiten zweiter Ordnung) und einen Zugang zu objektiven Aspekten(Bestehen von Sachverhalten als Kombination aus bestehenden und nichtbeste-henden Tatsachen) - ein Zugang zu Möglichkeiten ist stets mit einem Zugang zuRessourcen verbunden. Das Fehlen eines Vermögens7 wiederum kann auf zweifa-che Weise gedeutet werden: Etwas fehlt, weil es dem Gegenstand nicht zukommt(ein Beispiel könnte hierfür der Umstand sein, dass einem Kühlschrank die Eigen-schaft fehlt, »sehend« zu sein; oder aber etwas fehlt, weil es dem Gegenstandnicht zukommt, aber kraft seiner Natur zukommen sollte? wie dies etwa im Falldes fehlenden Sehsinns bei einem blinden Menschen zutrifft). Im zweiten Fall istdas Nichtvorhandensein des Vermögens vom erfolgten Verlust zu unterscheidenund hier wiederum kann Verlust auf nichtintentionale oder auf intentionale Weiseim Sinne einer Beraubung erfolgen (etwa im unschönen Fall, dass jemand geblen-det wird und auf diese Weise um sein Augenlicht kommt). Hier deuten sich Hin-

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7 Vgl. Aristoteles, Metaphysik V 12, 1019b 15-20; ebd., V 22. 1022b15-1023a5.

weise an, die zu einer Bestimmung von Armut als »Beraubung von Fähigkeiten«führen können.8 Dies hat offensichtlich mit dem »Matthäuseffekt« und dem»Matildaeffekt« zu tun. Der Matthäuseffekt geht auf Mt 25,29 zurück und besagt,dass denjenigen, die haben, gegeben wird.9 Anders gesagt: Wenn nämlich jemandüber eine Fähigkeit verfügt, dann kann er Ressourcen erschließen. Und mit diesenRessourcen kann er weitere Fähigkeiten realisieren bzw. sich auch weitere Fähig-keiten aneignen. Wenn ich, um das Beispiel der Lateinaufgabenhilfe weiterzu-spinnen, Lateinkenntnisse habe, dann kann ich Nachhilfestunden anbieten, miretwas dazuverdienen, um mir mit diesem Geld ein Arabischlehrbuch zu kaufen,damit ich mir Grundkenntnisse des Arabischen aneigne, die ich wiederum als frei-beruflicher Übersetzer anwenden könnte, um dadurch wieder Ressourcen zuerwerben, mit denen ich … und so weiter. Fähigkeiten und Ressourcen sind offen-sichtlich wechselseitig miteinander verschränkt. Diese wechselseitige Verschrän-kung wirkt sich im Sinne des »Matildaeffekts« aus, der - ebenfalls in Anlehnungan Mt 25,29 - besagt, dass denjenigen, die nichts haben, auch das, was sie haben,genommen wird.10 Menschen, die über einen restringierten Zugang zu Fähigkei-ten verfügen - etwa, weil Ressourcen vorenthalten werden oder weil der Zugangzu Fähigkeiten zweiter Ordnung erschwert ist -, sind in einer Situation sozialerVerwundbarkeit, die ihnen auch die Fähigkeiten, über die sie verfügen, abspre-chen oder abhanden kommen lassen. Menschen, die von Arbeitslosigkeit betrof-fen sind, bauen oftmals Fähigkeiten ab - nicht nur, weil sie keinen Zugang zurAusübung bestimmter Fähigkeiten haben, sondern auch, weil sie in ihrer Identitätbeschädigt sind und die (nicht bloß äußeren, sondern auch inneren) Voraussetzun-gen für die Kultivierung und den Erhalt von Fähigkeiten nicht mehr mitbringen;dazu kommt, dass der Matildaeffekt dort umso stärker einsetzen kann, wo Men-schen gesellschaftlich als »Versager« oder dergleichen abgestempelt werden. Andiesem Punkt stoßen wir auf Fragen sozialer Gerechtigkeit (etwa: Fairness in derVerteilung von Zugängen zu Fähigkeiten) und auf Fragen der Macht. Denn Fähig-keiten wie Ressourcen bedeuten Handlungsmacht. Fähigkeiten sind »powers«, die

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8 Vgl. Sen, Amartya (1999), Development as Freedom, Kap. 4.9 Robert K. Merton hat diesen Effekt in den 1960er Jahren für die Zitationspraktiken festgestellt

- vgl. Merton, R.K. (1968): The Matthew Effect in Science, S. 56-63. In der weiteren Folge wurde dieser Effekt oder dieses Prinzip auch unter Formulierungen wie »success breeds success« oder »richer get richer« bekannt gemacht.

10 Margaret Rossiter hat den Matildaeffekt für die Wissenschaftsgeschichte identifiziert, als das Phä-nomen, dass herausragende Leistungen, selbst wenn sie von Frauen erbracht worden sind, Männern zugeschrieben wurden - vgl. Rossiter, M. (1993): The Matthew Matilda Effect, S. 325-341.

von »agents« getragen und durch das Hilfszeitwort »können« ausgedrückt wer-den. Sie hängen mit Potentialität, Kompetenz und Opportunität zusammen - unddamit mit der Möglichkeit, dem Mandat und der Gelegenheit, eine Situationsver-änderung herbeiführen zu können. Eine Fähigkeit zu besitzen, heißt die Macht zuhaben, eine Situation zu verändern. So gesehen ist eine Fähigkeit Transforma-tionsgewalt, die einen Gestaltspielraum erschließt und eine Situation umformenlässt, gleichzeitig aber auch einen Spielraum voraussetzt - nämlich die Möglich-keit, zu entscheiden, ob die Fähigkeit zur Anwendung gebracht wird oder nicht.Die Sicherung dieses Spielraums ist auf Ressourcen angewiesen, die Menschenerst in die Lage versetzen, darüber zu entscheiden, ob sie eine Fähigkeit ausübenwollen oder nicht.

Was nun die Ausübung einer Fähigkeit betrifft, so kann dies in einer rech-ten und in einer unrechten Weise geschehen. Dies erfolgt im Rahmen einer Ord-nung, die mit dem Begriff der Entelechie angedeutet werden kann.11 Ein Ver-mögen kann dabei auf verschiedene Weise eingesetzt werden; beispielsweisekann die ärztliche Kunst sowohl Gesundheit als auch Krankheit bewirken.12

Das Vorliegen einer Fähigkeit zeigt sich in der Handlung, auch wenn dies nichtnotwendig dafür ist, jemandem eine Fähigkeit zuzusprechen. Jemand ist auchein Baumeister, wenn er nicht baut, wie das Beispiel des Aristoteles lautet.13

Freilich können Menschen ihrer Fähigkeiten auch verlustig gehen und auch einarbeitsloser Baumeister ist vor Matthäusprinzip und Matildaeffekt nicht gefeit.Wieder stoßen wir auf die Frage der Handlungsmacht.

Handlungsmacht ist von innen her und von außen her strukturiert. Fähig-keiten werden von innen her durch innere Ressourcen, durch Einstellungen undMotivationen, Ziele und Überzeugungen strukturiert. Von außen her wird dieHandlungsmacht nicht nur durch das Offenstehen von Möglichkeiten bestimmt,sondern es wird auch vor dem Hintergrund sozialer und kultureller Werte beur-teilt, ob dabei eine Fähigkeit als solche vorliegt oder nicht. Nach Aristoteles -der hier eine dezidierte Wertung vornimmt - sind alle Künste, alle produktivenFormen von Wissen als Vermögen anzusehen - weil sie Veränderung in einemGegenstand oder im Künstler bzw. Wissenden bewirken.14 Dieser Hinweis aufdie Bedeutung von Fähigkeiten, die zur Selbsttransformation führen, wird uns

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11 Vgl. Aristoteles, Metaphysik IX 3, 1047a30-31 - Streben zur Wirklichkeit, zur Aktualität als Zielzustand.

12 Vgl. Aristoteles, Metaphysik IX 1, 1046b5-7.13 Vgl. Aristoteles, Metaphysik IX 3, 1046b30-31.14 Vgl. Aristoteles, Metaphysik IX 1, 1046b4-5.

in der Frage nach Fundamentalfähigkeiten noch beschäftigen. Wir bekommendadurch Anhaltspunkte für entscheidende Fähigkeiten an die Hand.15

Fähigkeiten gestalten Möglichkeitsräume und Wirklichkeit. Sie bewegen undsie verändern. Sie sind in einen sozialen Kontext, aber auch in einen Rahmen sub-jektiver Zielsetzungen eingebunden. Nach Aristoteles wird das höchste Lebensziel,das Glück (eudaimonia), bekanntlich als entscheidender Rahmen menschlichenStrebens und Selbstverständnisses beschrieben und vor allem: als eine Form desTätigseins, als ein Tätigsein der Seele.16 Daraus ergeben sich Hinweise auf dieglücksentscheidenden Fähigkeiten - es sind also jene Fähigkeiten, die ein Tätigseinder Seele bewirken (im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit) - hierfür ist das Ler-nen ganz entscheidend - wir könnten auch sagen: Der Aufbau von »Innerlichkeit«und damit das Erreichen einer gewissen Unabhängigkeit von äußeren Gütern.17 Alsentscheidende glücksbringende Fähigkeiten sind weiter die Fähigkeit, nach demhöchsten Ziel zu streben, und die Freundschaftsfähigkeit zu nennen.18

Nach diesen Überlegungen könnten wir festhalten: Eine Fähigkeit eines ver-nunftbegabten Subjekts kann als ein aktives Vermögen zur intendierten Verände-rung beschrieben werden; impliziert a) das Vorliegen der Potenz, b) die Identifi-kation eines geeigneten Objekts, das über die entsprechende passive Potenzverfügt (und damit die Identifikation einer Possibilität, wie wir sagen könnten),c) den Willensentschluss der Umsetzung - man kann hier noch zwei weitereMomente hinzufügen, nämlich d) die Kenntnis der aktiven Potenz und e) die ange-messenen Ressourcen zur Realisierung der aktiven Potenz - denn aus bloßen Mög-lichkeiten lässt sich keine Möglichkeit realisieren, es bedarf bereits verwirklichterMöglichkeiten, um dies leisten zu können. Die Fähigkeiten von vernunftbegabtenSubjekten können im Sinne der Bedeutung für das Streben nach hohen und höch-sten Zielen hierarchisch geordnet werden, wobei die Fähigkeit des Lernens, dieFähigkeit des Strebens nach Hohem und die Freundschaftsfähigkeit als entschei-dende Fähigkeiten zu nennen sind.

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15 Die Fähigkeit, mit widrigen Situationen umzugehen, hat wesentlich mit inneren Faktoren zu tun - vgl. Sedmak, C. (2009): Coping Strategies and Epistemic Resilience, S. 23-44. Auch diese Über-legungen können bei der Bestimmung von Fundamentalfähigkeiten fruchtbar gemacht werden.

16 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik I 13, 1102a5f; Politik VII 8, 1328a37-38.17 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik I 10, 1099b9ff.18 Vgl. Stemmer, P. (1992): Aristoteles' Glücksbegriff in der Nikomachischen Ethik, S. 85-110.

2. Eigenschaften von Fähigkeiten: Leise Kritik am Fähigkeitenansatz

Fähigkeiten haben bestimmte Eigenschaften, die berücksichtigt werden müssen,wenn Fähigkeiten befördert werden sollen. Ich möchte fünf solcher Eigenschaf-ten unterscheiden und anführen:

Erstens sind Fähigkeiten subjektbezogen. Fähigkeiten kommen nicht als sol-che vor, sondern treten im Rahmen des Lebensvollzugs eines Handlungssubjektsauf. Fähigkeiten wie etwa das Schreiben oder das Lesen werden in einer spezifi-schen Form von Handlungssubjekten angeeignet. Diesen Gedanken kann man inAnalogie zu Michael Polanyis Begriff des »personal knowledge«19 verfolgen:Polanyi hatte mit dem Begriff des »persönlichen Wissens« eine Form des Wis-sens bezeichnet, die lebensformprägend und identitätsstiftend geworden ist undnicht einfach vom wissenden Subjekt abgetrennt werden kann. Wenn ich etwas ineinem persönlichen Sinne weiß, dann ist dieses Wissen nicht bloße Information,die ich auch ohne weiteres vergessen kann, sondern das Wissen wurde in meinePersönlichkeitsstruktur integriert. Ähnlich sind Fähigkeiten nicht wie Kleidungs-stücke anzusehen, die angezogen und ausgezogen und auch ausgeliehen undgetauscht werden können; Fähigkeiten sind nicht »akzidentelle Anhängsel«, diean einem Subjekt hängen wie ein Anzug an einem Kleiderhaken; Fähigkeiten sindmit der Identität des Subjekts in einer zweifachen Weise verbunden: Das Subjektwird durch seine Fähigkeiten mitgeprägt (wenn auch nicht erschöpfendbestimmt)20, das Subjekt prägt die Fähigkeiten: Bach und Mozart haben die Fähig-keit des Komponierens in einer einzigartigen Weise geprägt, um nur einen Punktzu nennen; aber auch in einem mehr alltäglichen Sinn: So wie sich Menschen einenbestimmten Stil zu eigen machen und damit die Fähigkeit des Schreibens und Aus-drückens in je individueller Weise kultivieren, lässt sich dies beim Tennisspiel oderbeim Unterrichtsstil ebenso beobachten. Fähigkeiten sind subjektbezogen und sol-len nicht als flottierende Entitäten, die verteilt werden müssen wie Brot oder Was-ser, verstanden werden.

Zweitens sind Fähigkeiten verankert. Eine Fähigkeit tritt nicht isoliert, son-dern im Rahmen eines Bündels von Fähigkeiten auf. Wenn jemand etwa über die

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19 Polanyi, M. (1958): Personal Knowledge: Towards a post-critical philosophy. 20 Dieser Hinweis scheint wichtig zu sein, weil sich menschliche Identität nicht allein über »doings«,

sondern gerade auch über »beings« verstehen lässt. Eine Alzheimerpatientin mag viele Fähigkei-ten einbüßen, ist aber immer noch Person mit identitätsstiftenden Beziehungen (etwa als Ehefrau, Mutter, Freundin, Großmutter, Tante, etc.) - vgl. Sedmak/Unterrainer, Leid verstehen, S. 36-40; vgl. Sedmak, C. (2010): Autonomien des Alterns, S. 25-35, v.a. S. 31f.

Fähigkeit der freien Rede verfügt und sich die Fähigkeit aneignet, Karikaturen zuzeichnen, kann er diese beiden Fähigkeiten miteinander verbinden und wird ent-sprechende Vorträge halten können. Wenn jemand Fußballspielen kann und dieseKunst entsprechend pflegt und dann einen Kurs in Erster Hilfe belegt, so werdenBeispiele seiner Aneignung wie auch Interessen, Perspektiven und Anwendungs-gebiete von den bestehenden Fähigkeiten geprägt werden. Wieder stoßen wir aufdas bereits angesprochene Matthäusprinzip: Ein Mensch, der über ein breitesSpektrum an Fähigkeiten verfügt, wird kaum Schwierigkeiten haben, sich weite-re Fähigkeiten anzueignen. Wenn George Steiner, der »Meisterleser«, ein Buchliest, auf der Grundlage der vielen Bücher, die er bereits gelesen hat, wird er die-sem einen Buch wohl Tieferes und Weiteres abgewinnen können als ein jungerMensch, der am Beginn des Studiums steht. Ähnlich: Ein Dichter wird Gedichteanders lesen, eine Theologin wird Predigten anders hören, etc. Eine Fähigkeit trittnicht als isolierte auf, sondern in einem Bündel von Fähigkeiten und Unfähigkei-ten; eben dies gilt auch für Unfähigkeiten - die Fähigkeit, zu lesen, geht etwa mitder Unfähigkeit einher, den Text eines Werbe- oder Wahlplakates nicht zu lesen;die Unfähigkeit, zu sehen, geht häufig mit der Fähigkeit einher, Braille zu lesen,etc. Auf diese Weise verschwimmen nicht nur die Konturen einzelner Fähigkei-ten, die nicht mehr isoliert betrachtet werden können, sondern auch die vermeint-lich klare Unterscheidung zwischen Fähigkeit und Unfähigkeit.21 Fähigkeitensind in einem Bündel von Fähigkeiten und Unfähigkeiten verankert und könnennicht sinnvollerweise isoliert betrachtet werden wie etwa das neue Fahrrad, dasals Geburtsgeschenk angeschafft werden soll. Die Fähigkeit, mit diesem Rad zufahren, ist eingebettet in eine Reihe von Fähigkeiten, die etwa mit Verkehrs-sicherheit zu tun haben, und in eine Reihe von Unfähigkeiten, wie sie sich etwabei einem Kind, das freudestrahlend ein Fahrrad in Empfang nimmt, aus der Un-fähigkeit, Auto zu fahren, ergeben können. Fähigkeiten sind also in einen Mög-lichkeitsraum hinein gesenkt, einen Raum von Potentialitäten und Possibilitäten.

Drittens sind Fähigkeiten gewertet. Fähigkeiten haben unterschiedlichensozialen und kulturellen Wert. Nicht alle Fähigkeiten werden im sozialen, kultu-rellen oder politischen Raum gleichermaßen hoch geschätzt. Mehr noch: Die

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21 Diese Frage kann man in einigem Detail am Briefwechsel der beiden Philosophen Bryan Magee und Martin Milligan verfolgen - der sehende Magee und der blinde Milligan unterhalten sich in philosophisch ausgefeilten Briefen über das Verhältnis von »sight« und »blindness« - vgl. Magee, B./Milligan, M. (1995): On Blindness. Hier verschwimmen die Konturen zwischen Fähigkeiten und Unfähigkeiten. Die Unfähigkeit zu sehen, ist gleichzeitig eine Fähigkeit, in einer anderen Weise wahrzunehmen etc.

Wertschätzung von Fähigkeiten ändert sich ständig. Wurde etwa lange Zeit dieFähigkeit, in kurzer Zeit sehr viel hinunterzuschlingen, eher kritisch gesehen odersogar als unmoralisch abgewertet, ist diese Fähigkeit, Wettessen zu bestreiten,inzwischen kurz davor, sich als Sportart zu etablieren. Umgekehrt verliert dieFähigkeit, Gras an einem steilen Abhang mit der Sense zu mähen, durch die Ent-wicklung der Welt an sozialem Gewicht (wie übrigens auch die Fähigkeit, Lateinzu verstehen). Fähigkeiten haben keinen stabilen Wert; ihre soziale Wertschät-zung ist vielmehr von einer Reihe von Faktoren abhängig, unter anderem von derjeweiligen Situation. Davon zeugt die Geschichte eines Arztes, der einem Restau-rantgast am Nachbartisch, der drohte, an einer Fischgräte zu ersticken, das Lebenrettete. Auf die Frage »Was bin ich schuldig?« antwortete der Lebensretter:»Geben Sie mir die Hälfte dessen, was Sie mir geben wollten, als die Gräte inIhrem Hals steckte«… Der Wert von Fähigkeiten ist abhängig von der vorliegen-den Situation. Fähigkeiten liegen nicht alle auf derselben Ebene. Analog zurUnterscheidung zwischen »disability« und »handicap« könnte die Unterschei-dung zwischen »Fähigkeit« und »erwünschtem Können« bzw. zwischen »ability«und »advantage« gemacht werden. Bekanntlich wird eine »disability« vor allemnach sozialem und kulturellem Urteil zu einem Handlungsnachteil, zu einemHandicap. Ähnlich entscheidet dieses soziale und kulturelle Urteil darüber, wel-che Fähigkeit erwünscht und begehrt wird, welche Fähigkeit also zum Hand-lungsvorteil gereicht. Dies können wir uns am Begriff der sozialen Ausgrenzungklar machen. Ein Mensch wird sozial ausgegrenzt, wenn er an standardisiertenkulturellen Aktivitäten nicht teilhaben kann; wenn er also nicht über die entspre-chenden Ressourcen bzw. Fähigkeiten verfügt, die im Rahmen einer Kultur alsselbstverständlich gelten. So muss z.B. ein Analphabet in unserer Gesellschaftviele Verheimlichungs- und Überspielungsstrategien entwickeln, um soziale Aus-grenzung zu vermeiden. Das Fehlen einer Fähigkeit wird also zum Handlungs-nachteil (zum »handicap«), wenn das soziale Urteil entsprechend ausfällt. Ichkann beispielsweise nicht mit den Fingern schnippen. Das kann, wenn man etwaunterrichtet, eine durchaus nützliche Fähigkeit sein. Zu unserem Glück ist unse-re Gesellschaft jedoch nicht so strukturiert, dass solche Fähigkeiten zum selbst-verständlichen Repertoire zählten. Würden wir uns in unserer Gesellschaft daraufeinigen, einander mit Fingerschnippen zu begrüßen, würde die Unfähigkeit, mitden Fingern zu schnippen, offenkundig werden und mir zum Nachteil gereichen.(In Klammern sei angemerkt: Natürlich würde dann auch der Druck steigen undich müsste mich der systematischen Anstrengungen unterziehen, mir diese »Min-destfähigkeit« anzueignen). Das zeigt: Eine Fähigkeit wird vor allem durch kultu-relle Kontexte zu einem Handlungsvorteil, wie sie auch in ihrem Fehlen durch denkulturellen Kontext zum »handicap« wird. Hier haben wir es also mit einer Dif-

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ferenzierung zu tun, die uns unterscheiden lässt zwischen (i) »Mindestfähigkeiten«,die im Rahmen einer Kultur als selbstverständlich vorausgesetzt werden müssen,(ii) sozial neutralen Fähigkeiten, die zu haben ganz nett oder zumindest nichtschlecht ist, die in der Regel keine Vorteile, aber auch keine Nachteile mit sich brin-gen (etwa die Fähigkeit, alle Torschützen sämtlicher Spiele aller Fußballweltmeister-schaften aufzählen zu können) und (iii) hoch geschätzten seltenen Fähigkeiten (derFähigkeit etwa, komplizierte Operationen auszuführen oder schwierige Berechnun-gen anzustellen). Dazu kommt pikanterweise aber (iv) das Bündel von Fähigkeiten,das sich nachteilig auswirkt. Man denke an die Geschichte der Hexenjagden oder andie von Ludwig Thoma in seinen Lausbubengeschichten geschilderte Fähigkeit,Ameisenhaufen in die Luft zu sprengen, usw. Kurz, Fähigkeiten sind ähnlich wieWährungen in ihrer Handlungsmacht in Situationen abhängig von Konventionenund kulturellen Börsenspielen. Halten wir fest: Analog zur Unterscheidung zwischen»disability« und »handicap« könnte die Unterscheidung zwischen »Fähigkeit« und»erwünschtem Können« - oder auch zwischen »ability« und »advantage« - gemachtwerden. So ergibt sich eine Hierarchie von Fähigkeiten, die keineswegs alle auf der-selben Stufe liegen. Jeder Mensch verfügt über ein je spezifisches Bündel von Fähig-keiten. Das verfügbare Bündel von Fähigkeiten prägt de facto den sozialen Statuseines Menschen, auch wenn das Fähigkeitenbündel - man denke an den oft klaffen-den Graben zwischen Fähigkeitskompetenz und Zuständigkeitskompetenz - nichtallein über den sozialen Rang entscheidet. Bestimmte Fähigkeiten und bestimmteMenschen mit bestimmten Fähigkeiten sind de facto sozial erwünscht, andere nicht.Bestimmte Fähigkeiten sind als kulturelle Minimalkompetenz unbedingt erforder-lich, um an den standardisierten kulturellen Aktivitäten einer Gesellschaft teilneh-men zu können. Daraus ergeben sich, wenn man so will, erwünschte und »würdige«aber auch unerwünschte und »unwürdige« Fähigkeiten. Der Umstand, dass Fähig-keiten gewertet werden, geht aber noch weiter: Es werden nicht nur Fähigkeitengewertet und damit in eine implizite Hierarchie gebracht - auch der Ausweis einesVeränderungsvermögens als »Fähigkeit« (und nicht etwa als »Unfähigkeit«) hat mitdiesen Wertungsprozessen zu tun. Auch in der Wertung einer Fähigkeit als Fähigkeitist soziales Urteil entscheidend. Man denke an den Taoismus - die Fähigkeit desMachens, Tuns und Managens kann hier durchaus als Unfähigkeit rekonstruiert wer-den, loszulassen, sein zu lassen, geschehen zu lassen. Man denke an den Islam: DieFähigkeit, wie Hiob mit Gott zu hadern, mag hier durchaus als die Unfähigkeit, Gottgegenüber Gehorsam zu zeigen, verstanden werden. Hier sind es also auch kulturel-le Faktoren, die darüber entscheiden, welches Vermögen als Fähigkeit und welchesals Unfähigkeit einzustufen ist.

Viertens sind Fähigkeiten dynamisch. Fähigkeiten entwickeln sich. Fähigkei-ten liegen nicht einfach vor, sondern sind in der Regel auf einem Kontinuum

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angesiedelt, das Wachstum und Verbesserung ermöglicht. Natürlich gibt es Ant-worten auf die Entscheidungsfrage »Kannst du lesen?«. Aber die Lesefähigkeitkann auf verschiedenen Niveaus in einem nach oben hin offenen Kontinuum(schauspielerisch versiertes Lesen; gebildetes Lesen; meditatives Lesen etc.)angesiedelt werden. Die Antwort auf die umgangssprachliche Frage »Kannst duItalienisch?« ist hier schon schwieriger und deutet die Dynamik von Fähigkeitenan. Fähigkeiten können insofern mit »Künsten« verglichen werden, als sie ver-bessert werden können, als sie zu einer Veränderung des Künstlers als Person füh-ren bzw. identitätsstiftend sein können, als sie Beziehungen und sozialen Statusmitstrukturieren, als sie gepflegt und deswegen auch zur Kultivierung geliebtwerden müssen. Fähigkeiten sind nicht Güter, über die man verfügt wie über einEinfamilienhaus, dessen Kreditraten man tapfer bedient hat, bis es in das volleEigentum übergegangen ist. Fähigkeiten kann man nicht ablegen und horten; siesind - weil auf Tätigsein ausgerichtet - auf Tätigsein angewiesen. Aus diesemGrund eignet sich der Fähigkeitsbegriff auch als Hilfsbegriff für ein Verständnisvon Entwicklung: Entwicklung ist die Erweiterung von menschlichen Fähigkei-ten. Fähigkeiten können auch verkümmern. Dieser Aspekt ist in der Frage nachder Förderung von Fähigkeiten entscheidend. Das angesprochene Matthäusprin-zip hat diese Dynamik von Fähigkeiten, die in einem schillernden Bündel vonsituations- und lebensphasenabhängigen Wertigkeiten und Wichtigkeiten einzel-ner Fähigkeiten auftreten, bereits angedeutet. Die Dynamik von Fähigkeiten darffreilich nicht mit »Flüchtigkeit« gleichgesetzt sein, sondern muss mit »Kontinuität«zusammengebracht werden. Eine Fähigkeit entwickelt sich; wir schreiben sie dannzu, wenn sie eine gewisse Stabilität hat. Wir schreiben etwa einer Person, die Fähig-keit, vom Elfmeterpunkt aus eine Konservendose in das Kreuzeck eines Fußballto-res zu schießen, wohl kaum dann zu, wenn die Person dies einmal bei fünftausendVersuchen erreicht. Hier spielt das Moment der Wiederholbarkeit und damit Akti-vierbarkeit der Fähigkeit eine Rolle. Dass wir hier - im Sinne der Dynamik, dieFähigkeiten auf einem Kontinuum vergleichbarer Qualitätssteigerungen ansiedelt -auch auf Grauzonen stoßen (»sollen wir der Person A die Fähigkeit X zuschrei-ben?«), steht außer Streit.

Fünftens sind Fähigkeiten potentiell kompetitiv. Fähigkeiten konkurrierenmiteinander; einzelne Fähigkeiten können nicht in derselben Intensität gepflegtwerden. Die Verwaltung von Fähigkeiten, der Aufbau einer Fähigkeitskultur - umdas Wort »Fähigkeitsmanagement« zu meiden - verlangt nach Prioritätensetzun-gen. Ich kann nicht gleichzeitig die Fähigkeit zum Marathonlauf und die Fähig-keit zum Sprint optimieren. Ich kann aufgrund ihrer Sprachverwandtschaft nurschwer gleichzeitig Italienisch und Spanisch lernen. Ich kann nicht gleichzeitigacht Stunden Klavier üben, um es hier zur Perfektion zu bringen, und acht Stun-

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den auf dem Tennisplatz stehen, um sportlich weiter zu kommen. Fähigkeiten sinddurchaus in Konflikten miteinander. Man wird sich deswegen im Rahmen derFrage nach der Förderung von Fähigkeiten durchaus überlegen müssen, welcheKosten welche Fähigkeit mit sich bringt. Tatsächlich fallen auch hier Opportunitäts-kosten an - die Kultivierung der Fähigkeit A kann die Kultivierung der FähigkeitenB-N kosten. Der Konflikt zwischen Fähigkeiten kann aber noch weitergehen: Ichmöchte hier den Begriff der Abrogation von Fähigkeiten einführen. Fähigkeitenkönnen einander überschreiben - will heißen: Die Aneignung einer Fähigkeit Akann den Verlust einer Fähigkeit B mit sich bringen. Die Fähigkeit, sich in kind-licher Aufregung auf den Weihnachtsmann zu freuen und Geräusche von draußenals Spuren des Rentierschlittens zu deuten, wird mit bestimmten Aufklärungenebenso verloren gehen wie die Fähigkeit, beglückt oder bestürzt auf einen vorbei-ziehenden Storch zu blicken. Die Kompetitivität von Fähigkeiten wird in der Fragenach der Identifikation von Fundamentalfähigkeiten eine wichtige Rolle spielen.

Warum laufen diese Überlegungen auf eine leise Kritik am Fähigkeitenansatzoder auch am Menschenbild von Amartya Sen und Martha Nussbaum hinaus? Esgeht meines Erachtens um das Gesellschaftsverständnis und um das Menschen-bild. Die angeführten Eigenschaften von Fähigkeiten lassen davor warnen, ineinen »Kommoditätsfetischismus« mit Fähigkeiten zu verfallen, als ob Fähigkei-ten isolierbare Güter wären, die an Menschen, die wiederum isolierbare Indivi-duen sind, hängen wie besagte Kleider an einem Kleiderhaken. Man könnte dieauf diesem Hintergrund mögliche Kritik an bestimmten Lesarten des Fähigkei-tenansatzes im Rahmen einer liberalen Philosophie indirekt und behutsam vor-bringen, und vielleicht auch ein wenig feige, indem man die Kritik von MichaelSandel an John Rawls heranzieht. Michael Sandel bringt in seiner Kritik anRawls Theorie der Gerechtigkeit zwei Kritikpunkte vor, die ich hier anführenmöchte: Erstens geht es um das Verständnis von Gesellschaft, das in einem libe-ralen Modell, wie es prominenterweise John Rawls vorgebracht hat, eine Tren-nung von »Recht« und »Gut« ermöglicht. In seinen BBC Reith Lectures 2009über »A New Citizenship« hat Michael Sandel explizit für den Primat des Gutenvor dem Rechten argumentiert. Ein möglicher relevanter Blick auf Gesellschaf-ten kann über die Frage erfolgen - was wird in dieser Gesellschaft überhaupt alsFähigkeit angesehen? Und welche Fähigkeiten haben den Charakter von Min-destfähigkeiten oder von Schlüsselfähigkeiten? Diese Frage lässt sich kaum ohneAntwort auf die Frage »Welche Konzeption des Guten verfolgt diese Gesell-schaft« beantworten. Fähigkeiten sind gegenüber den sozialen Wertungen, diesich aus den impliziten oder expliziten Konzeptionen des Guten ergeben, nichtneutral. Bereits die Bestimmung eines Vermögens als »Fähigkeit« lässt tief indiese Konzeptionen des guten Lebens blicken. Dies kann man sich etwa im Ver-

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ständnis der Begriffe »Arbeitsfähigkeit« bzw. »Arbeitsunfähigkeit« vor Augenführen, und zwar anhand der Ansprüche, die ein Gemeinwesen an ein Individuumheranträgt bzw. mittransportiert. Zweitens geht es Sandel um das Verständnis vonIdentität, Selbst und Person. Personalität erscheint als »black box«. Das Selbsterscheint als »concatenation of various contingent desires, wants, and ends« mit derKonsequenz, »there would be no non-arbitrary way, either for the self or for someoutside observer, to identify these desires, interests, and ends, as the desires of anyparticular subject. Rather than be of the subject, they would be the subject.«22

Damit: »The Rawlsian self is (…) an antecedently individuated subject, standingalways at a certain distance from the interests it has.«23 Es ist also dem Eindruck,dass das handelnde Subjekt neben den Fähigkeiten, über die es verfügt, stehenwürde, entgegen zu treten. Fähigkeiten sind identitätsbildend und werden in einerje personalen Weise angeeignet, verwaltet und ausgeübt. Es sind nicht isolierbareIndividuen, sondern beziehungsverankerte Personen, die Fähigkeiten kultivierenoder verlieren. Gehen wir nach diesen leisen Andeutungen einen Schritt weiter:Welche Fähigkeiten sind »fähiger« als andere?

3. Fundamentalfähigkeiten

Fähigkeiten liegen nicht auf derselben Ebene. Sie sind gemäß sozialen Wertungenhierarchisch geordnet. Dies legt die Frage nahe: Lassen sich fundamentale Fähig-keiten identifizieren, die in besonderer Weise zu fördern sind? Die Antwort aufdiese Frage kann bei Versuchen der Operationalisierung des Fähigkeitenansatzeseine wichtige Rolle spielen. Fundamentalfähigkeiten sind solche, die in besondererWeise zu fördern sind. Der Begriff der Fundamentalfähigkeit soll nicht »basic capa-bilities« ansprechen, nicht »Mindestfähigkeiten«, sondern: »Schlüsselfähigkeiten«.Fundamentalfähigkeiten sind Fähigkeiten, die Grundlage für den guten Umgangmit Fähigkeiten sind, »Kardinalfähigkeiten« sozusagen, aus denen weitere Fähig-keiten folgen. Die Kennerin und der Kenner werden unschwer erkennen, dass die-ser Begriff ideengeschichtlich dem christlichen Gedankengut der »Wurzelsünde«bzw. der griechischen Idee der »Kardinaltugend« verpflichtet ist. Wurzelsündensind Sünden, die weitere Sünden gebären (berühmtes Beispiel: die »avaritia«24);

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22 Sandel, M. (2008): Liberalism and the Limits of Justice, S. 20.23 Sandel, Liberalism, S. 62.24 Die »avaritia« - der Geiz, die Habsucht - zählt im (katholischen) Christentum zu den sieben Haupt-

lastern oder -sünden, die als die Wurzeln von Todsünden betrachtet werden.

Kardinaltugenden sind Tugenden, die Grundlage für tugendhaftes Leben über-haupt sind und den Nährboden für tugendgemäßes Handeln in sämtlichen Lebens-bereichen darstellen und anderen Tugenden den Weg bereiten. Fundamentalfähig-keiten sind dementsprechend Fähigkeiten, die den guten Umgang mit Fähigkeitensicherstellen, ein »fähigkeitsorientiertes Leben« und Zugang zu weiteren Fähig-keiten ermöglichen. Unter einem »fähigkeitsorientierten Leben« verstehe ich eineLebensform, die auf einer Grundentscheidung zum persönlichen Wachstum beruht,die das Leben gestaltend wahrnimmt. Diese Art von Leben könnte man »anspruchs-volles Leben« nennen, ein Leben, das unter dem Anspruch von Wachstum und Ent-wicklung steht. Erziehungsprozesse sind vor allem auch als Einladungen zu einemanspruchsvollen Leben zu verstehen. Welche Fähigkeiten bieten sich als Funda-mentalfähigkeiten an? Diese Frage ist nicht neu. Melanie Walker etwa schlägt alsentscheidende Fundamentalfähigkeit im pädagogischen Prozess vor, dass Schüle-rinnen und Schüler zu »strong evaluators« werden, die die Fähigkeit haben, reflek-tierte und informierte Entscheidungen darüber zu treffen, worin ein gutes Leben fürsie besteht.25 Ich möchte zwei Hinweisen auf Fundamentalfähigkeiten nachgehen:

Paul Ricoeur liefert wertvolle Hinweise für die Identifikation von Fundamen-talfähigkeiten.26 Ricoeur arbeitet mit vier grundlegenden Fähigkeiten: a) der Fähig-keit zu sprechen, b) der Fähigkeit zu handeln, c) der Fähigkeit zu erzählen, d) derFähigkeit zur Verantwortungsübernahme. Letzere impliziert »imputation«, also dieFähigkeit, sich selbst als Autor/in der eigenen Handlungen zu erkennen und sichentsprechend als verantwortlich zu sehen. Diese Fähigkeit schließt auch die Fähig-keit ein, ein reflexives Verhältnis zu sich selbst einzugehen und entsprechend ander eigenen Identität und dem eigenen Selbstverständnis zu arbeiten. Auch dieFähigkeit zu sprechen (a) hat nach Ricoeur mit Identität und Selbstreflexivität zutun, weil mit Aussagen der ersten Person Singular selbstreferentielle Aussagengetroffen werden.27 Durch die Rede binde ich mich an das, was ich gesagt habe -eine Überlegung, die bereits Robert Brandom mit seinem Konzept der diskursivenVerpflichtungen angestellt hat.28 Der Akt des Sprechens hat mit Selbstpositionie-rung im sozialen Raum zu tun, er nimmt eine Perspektive ein und kann nicht »neu-tral« vollzogen werden. In diesem Sinne ist nach Ricoeurs Verständnis die Fähig-keit zur Artikulation eine Fundamentalfähigkeit. Die Fähigkeit zu handeln (b) istinsofern identitätsrelevant, als Menschen sich durch diese Fähigkeit als Subjekte,

Fähigkeiten und Fundamentalfähigkeiten 43

25 Vgl. Walker, M. (2008): Widening participation; widening capability, S. 267-279.26 Vgl. Ricoeur, P. (2005): The course of recognition; ders. (2006): Capabilities and rights.27 Vgl. Ricoeur, The course of recognition, S. 94; ders., Capabilities and rights, S. 18.28 Vgl. Brandom, R. (1994): Making It Explicit.

als »agents« erfahren, die die Umwelt verändern und gestalten. Sie verstehen sichals »Besitzer/innen« (»possessors«) ihrer Handlungen.29 Und sie verstehen sichvor allem als Personen, die etwas beginnen können: »This ability to do comesdown to the ability to begin«.30 Damit verstehen sich Menschen als diejenigen,die einen Neuanfang setzen können: Menschen können aus eigener Initiative tätigwerden. In diesem ursprünglichsten und allgemeinsten Sinne ist Handeln undetwas Neues Anfangen dasselbe; jede Aktion setzt vorerst etwas in Bewegung, sieagiert im Sinne des lateinischen agere, und sie beginnt und führt etwas an imSinne des griechischen Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseinsein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können MenschenInitiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.31 Men-schen, die sich als »agents« erfahren, erfahren sich als Subjekte, die Transforma-tionen einleiten können, um einen Raum zu strukturieren, innerhalb dessen dieKultivierung von Fähigkeiten erst möglich wird. Die Fähigkeit zu erzählen (c) istein Schlüssel zur identitätsstiftenden Selbstreflexion. Das eigene Leben alsLebensgeschichte erzählen zu können, ist eine Schlüsselfähigkeit, die Erfahrungenin ein Gesamt einweben lässt. Damit wird eine reflektierende Haltung zu sichselbst und zur eigenen Rolle im Weltgeschehen eingenommen und gleichzeitig zurArtikulation gebracht - mit der Absicht, sich verständlich zu machen. Die Fähig-keit zur Verantwortungsübernahme (d) ist die Fähigkeit, sich selbst als »Autor«der eigenen Handlungen zu sehen und demgemäß auch die Verantwortung für dieKonsequenzen des eigenen Tuns zu übernehmen. Verantwortungsübernahme isteine identitätsstiftende Schlüsselfähigkeit, die die Verortung des Selbst als Hand-lungssubjekt ermöglicht und damit auch den Sinn von Verantwortung für das eige-ne Leben und die eigenen Fähigkeiten erlaubt. Diese Überlegungen können füreinen pädagogischen Kontext fruchtbar gemacht werden.32 Soweit die Vorschlägevon Paul Ricoeur.

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29 Vgl. Ricoeur, The course of recognition, S. 98.30 Ricoeur, The course of recognition, S. 99.31 Vgl. Arendt, H. (1997): Vita activa oder vom tätigen Leben, S. 215. Arendts Theorie menschlichen

Handelns kann für die Identifikation von Schlüsselfähigkeiten auch insofern fruchtbar gemacht werden, als für Arendt die Fähigkeit, ein Versprechen abzugeben, und die Fähigkeit zu verzeihen entscheidend für die Gestaltung des fragilen Raumes sind, in dem menschliches Handeln stattfindet (vgl. ebd., S. 300-317). Somit würden im Rahmen von Hannah Arendts Handlungstheorie Verspre-chen und Verzeihen als soziale Schlüsselfähigkeiten ausgewiesen werden können.

32 Vgl. Honerød Hoveid, M./Hoveid, H. (2009): Educational Practice and Development of Human Capabilities, S. 461-472.

.

Einen anderen Vorschlag in Bezug auf Schlüsselfähigkeiten unterbreitetPeter Morgan, der, stärker von einem entwicklungspolitischen Interesse geleitet,fünf »core capabilities« anführt.33 Diese Fähigkeiten sind auf einer institutionellenEbene angesiedelt. Es sind dies a) die Fähigkeit zu handeln (und damit die Fähig-keit, Entscheidungen zu implementieren, Handlungsorientierung auszubilden,einen Sinn für Handlungsautonomie aufzubauen); b) die Fähigkeit, Entwicklungs-resultate zu erzielen (und damit die Fähigkeit, substantielle »outcomes« zu generie-ren, die Nachhaltigkeit von Ergebnissen zu verbessern); c) die Fähigkeit, sich inBeziehung zu setzen und Beziehungen einzugehen (und damit die Fähigkeit, Kern-interessen zu beschützen bzw. die Fähigkeit, in Aushandlungsprozesse einzutreten);d) die Fähigkeit zur Adaptation und zur Selbsterneuerung (und damit die Fähigkeit,zu lernen und Vertrauen in Veränderungsprozesse zu entwickeln sowie die Fähig-keit, Stabilität und Veränderung auszubalancieren); e) die Fähigkeit, Kohärenz zuerzielen (und damit die Fähigkeit, Strukturen zu etablieren und eine Vision zu ent-wickeln). Diese fünf Fähigkeiten führen gemeinsam zur Sicherstellung von erfolg-reichem »capacity-building«, wie es im Kontext von Entwicklungszusammenar-beitsprozessen im Gespräch ist.

Treten wir einen Schritt zurück und sehen wir uns die Landkarte der Vor-schläge an, die sich bislang gezeigt haben und die natürlich erweitert und fortge-setzt werden könnten: Aristoteles kann in dem Sinne verstanden werden, dass derFähigkeit des Lernens, der Fähigkeit des Strebens nach Hohem und der Freund-schaftsfähigkeit besondere Bedeutung einzuräumen ist. Hannah Arendt könnteman so interpretieren, dass die Fähigkeit zu einem Neuanfang sowie die Fähig-keiten, zu versprechen und zu verzeihen, Schlüsselfähigkeiten im sozial struktu-rieren menschlichen Handlungsraum sind. Melanie Walker hat die Fähigkeit,reflektierte und informierte Entscheidungen darüber zu treffen, worin ein gutesLeben für das fragende Subjekt besteht, als Schlüsselfähigkeit ausgewiesen. PaulRicoeur arbeitet vier fundamentale Fähigkeiten heraus: die Fähigkeit zu sprechen;die Fähigkeit zu handeln; die Fähigkeit zu erzählen; die Fähigkeit zur Verant-wortungsübernahme. Peter Morgan führt Handlungsfähigkeit, Resultatsfähigkeit,Beziehungsfähigkeit, Adaptionsfähigkeit und Kohärenzfähigkeit als Schlüsselfä-higkeiten an. Die Liste ließe sich selbstverständlich fortsetzen und könnte denEindruck aufkommen lassen, im besten Fall dem pluralen Spektrum verschiede-ner Theoriegebäude, im schlechtesten Fall schlichter Willkür ausgeliefert zu sein.Jedenfalls hat sich gezeigt, dass Fundamentalfähigkeiten mit dem Rahmen derTheorie des gelingenden menschlichen Lebens bzw. der akzeptierten Theorie

Fähigkeiten und Fundamentalfähigkeiten 45

33 Vgl. Morgan, P. (2006): The Concept of Capacity, S. 8-16.

menschlichen Handelns - man denke an Aristoteles, Arendt und Ricoeur - verbun-den sind.

Einen solchen Theorierahmen hat dieser Beitrag im Dialog mit Aristoteles skiz-ziert. Wenn wir die Erarbeitung des Fähigkeitsbegriffs, wie er in den Abschnitten 1und 2 wenigstens andeutungsweise erfolgt ist, als Referenzpunkt akzeptieren, erge-ben sich von dieser Analyse folgende Einsichten für Schlüsselfähigkeiten: Fähigkei-ten fallen nicht vom Himmel, sondern müssen kultiviert werden. Dazu sind Schlüs-selfähigkeiten notwendig. Schlüsselfähigkeiten sind Fähigkeiten, die den Zugang zuweiteren Fähigkeiten erschließen; sie bilden die Grundlage für die Ausbildung vonund den Umgang mit Fähigkeiten; sie sind Fähigkeiten, die zu Fähigkeiten befähi-gen. Die Hinweise auf das Matthäusprinzip haben die Bedeutung von Schlüssel-fähigkeiten noch unterstrichen. Nach einem aristotelischen Modell sind solcheSchlüsselfähigkeiten die Fähigkeit, die subjektbezogenen Potentialitäten und diesituationsbezogenen Possibilitäten einschätzen zu können; weiters die Fähigkeit,nach hohen und höchsten Zielen zu streben; und die Fähigkeit, im Sinne diesesStrebens Entscheidungen über Prioritäten zu treffen. Eine Schlüsselfähigkeit imUmgang mit Fähigkeiten ist denn auch - dies wurde im zweiten Abschnitt deut-lich - die Fähigkeit zur Einschätzung und Bewertung von Fähigkeiten, die ja alssubjektbezogen, verankert, gewertet, dynamisch und potentiell kompetitiv darge-stellt wurden.

So legt sich nahe, Schlüsselfähigkeiten als Fähigkeitsfähigkeiten anzusehen; alsFähigkeiten, mit Fähigkeiten umzugehen. Ich möchte hierfür die bereits angedeute-te Unterscheidung zwischen Fähigkeiten erster Ordnung und Fähigkeiten zweiterOrdnung bemühen. Fähigkeiten zweiter Ordnung sind Fähigkeitsfähigkeiten; sindFähigkeiten, die sich auf Fähigkeiten beziehen. Fähigkeiten erster Ordnung beziehensich auf das Vermögen, Situationen zu transformieren, während Fähigkeiten zweiterOrdnung die Eigenschaft haben, Fähigkeiten verändern zu können. Radfahren isteine Fähigkeit erster Ordnung; die Reflexion auf die Bedeutung dieser Fähigkeit isteine Fähigkeit zweiter Ordnung. Fußballspielen ist eine Fähigkeit erster Ordnung -die Fähigkeit, davon zu erzählen, welchen Stellenwert diese Fähigkeit im eigenenLeben hat, ist eine Fähigkeit zweiter Ordnung. Menschliche Gesundheit kann bei-spielsweise als Fähigkeit zweiter Ordnung angesehen werden, als die Fähigkeit, mitden eigenen Fähigkeiten und der eigenen Ausstattung bestmöglich umzugehen.34 Ich

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34 Vgl. Nordenfelt, N. (1995): On the Nature of Health. Nordenfelts Bestimmung des Gesundheits-begriffs lautet: »A is healthy if, and only if, A has the second-order ability, given standard circum-stances, to realize all his vital goals [i.e. the set of goals which are necessary and together sufficient for his minimal happiness]« (ebd., S. 148).

möchte also vorschlagen, Schlüsselfähigkeiten als Fähigkeiten zweiter Ordnunganzusehen. Es ist durchaus auffallend, dass die von Aristoteles gewonnenen Fun-damentalfähigkeiten ebenso wie die vier Fundamentalfähigkeiten nach dem Ver-ständnis Ricoeurs als Fähigkeiten zweiter Ordnung angesehen werden könnten.

Nun stellt sich natürlich die Frage, welche Fähigkeiten zweiter Ordnung nunals Fundamentalfähigkeiten ausgewiesen werden sollen. Dazu möchte ich folgen-den Vorschlag machen: Der zweite Abschnitt hat zu zeigen versucht, dass Fähig-keiten mit der Identität der jeweiligen Person verbunden sind. Fähigkeiten sindim Sinne personaler Fähigkeiten mit dem jeweiligen »agent« verbunden. Fähig-keiten sind nicht äußere und entsprechend ablösbare und austauschbare Eigen-schaften wie das Tragen bestimmter Kleidungsstücke. Fähigkeiten sind Identi-tätsressourcen. Im Mittelpunkt des Nachdenkens über Fähigkeiten steht also diePerson. Die Frage nach Fundamentalfähigkeiten ist im Dialog mit einer Identi-tätstheorie zu beantworten. Fundamentalfähigkeiten sind Fähigkeiten, die dieArbeit an Identität ermöglichen. Nun ist hier nicht der Ort, um in die Auseinander-setzung mit Identitätstheorien einzusteigen. Grundsätzlich hat Identität damit zutun, einen »Lebensplatz« aufzubauen, an dem die Einzigartigkeit (an)erkannt unddie Möglichkeit begründeten Handelns erschlossen wird. Anders gesagt: DieSuche nach Identität kann als die Suche nach der Herausbildung und Anerkennungeigener Besonderheit verstanden werden; und zweitens als die Suche nach einerLebensform, in der das Leben in einer Weise gestaltet werden kann, die man nacheigenen Standards rechtfertigen kann. Die Umsetzung dieser beiden Anliegenwird auch vielfach beansprucht: Identitätsansprüche sind einerseits der Anspruch,als besonderer Mensch anerkannt zu werden, andererseits der Anspruch, mora-lisch handeln zu können (d.h. gemäß selbst anerkannter Standards moralischerBewertung und Begründung das Leben zu gestalten). An diesem Punkt berührenAspekte der Identität auch Fragen sozialer Gerechtigkeit. Hier geht es um denZugang zu Identitätsressourcen. Identitätsressourcen sind Quellen, von denenAufbau, Stabilisierung und Verteidigung von Identitätsansprüchen gespeist wer-den. Zumindest drei Identitätsressourcen sind zu nennen: Erstens die Zugehörig-keit zu identitätsstiftenden Gruppen und Gemeinschaften (Identitätsressource:Zugehörigkeit und Anerkennung); zweitens die Einbettung des eigenen Lebens ineinen umfassenden Rahmen einer Sozial- und Welttheorie, in eine größere Erzäh-lung, von der aus die eigene Existenz Tiefe, Bedeutung und Gewicht erhält (Iden-titätsressource: Rahmen und Erzählung); drittens die Sorge um Anliegen undMenschen, die »wirklich wichtig« sind und ein entsprechend engagiertes undernsthaftes Leben ermöglichen (Identitätsressource: Sorge und Anteilnahme).Um diese Identitätsressourcen erschließen zu können, sind soziale Rahmenbedin-gungen wie auch Identitätsarbeit notwendig. Identitätsarbeit ist jene Form von

Fähigkeiten und Fundamentalfähigkeiten 47

Engagement, die notwendig ist, um die genannten Identitätsressourcen erschlie-ßen und offen halten zu können. Sowohl für die Erschließung von Gemeinschafts-zugehörigkeit als auch für die Stabilisierung der Zugehörigkeit sind bestimmte For-men von Praxis notwendig. Wenn jemand beispielsweise zur Gemeinschaft derRichterinnen und Richter gehören möchte, ist dies ganz offensichtlich mit an-spruchsvollen Arbeiten wie auch mit sozialen Rahmenbedingungen verbunden.Ähnliches gilt für die Arbeit an einer Weltanschauung (Rahmen und Erzählung).Für den Aufbau von Ordnungen innerer Anteilnahme ist emotionales Engagementerforderlich.

Fundamentalfähigkeiten - so mein Vorschlag - sind jene Fähigkeiten zweiterOrdnung, die Identitätsarbeit verrichten lassen. Damit geht es um die Frage: Wel-che Fähigkeiten sind entscheidend dafür, an einem »Lebensplatz« bauen zu kön-nen, der den betreffenden Menschen als besonderen und einzigartigen Menschenausweist, der in einem Handlungsraum moralisch begründet auftreten kann? Esgeht hier offensichtlich um die Fähigkeit zur (i) Nischenbildung und (ii) zurErschließung eines Handlungsraumes. Eine entscheidende Frage lautet aber auch:Welche Fähigkeiten sind grundlegend dafür, (iii) Zugehörigkeit, (iv) Rahmungund (v) Strukturen von Sorge aufzubauen? Damit sind wir bei fünf Anliegenangelangt, auf die Fundamentalfähigkeiten Antwort geben sollen: Ich möchtedementsprechend vorschlagen, fünf Fundamentalfähigkeiten auszuweisen:

a) Selbstreflexionsfähigkeit als Fundamentalfähigkeit für den Aufbau von Besonderheit

b) Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit als Fundamentalfähigkeit für den Aufbau von Handlungsraum

c) Freundschaftsfähigkeit als Fundamentalfähigkeit für Zugehörigkeitd) Fragefähigkeit als Fundamentalfähigkeit für den Aufbau von Welttheoriee) Anteilnahmefähigkeit als Fundamentalfähigkeit für den Aufbau von be-

sonderem Engagement.

Diese fünf Fähigkeiten sind »Fähigkeitsfähigkeiten«, sie erlauben es - weil sieKenntnis von Selbst und Welt sowie Zugehörigkeit ermöglichen -, mit Fähigkeitenumzugehen. Die Selbstreflexionsfähigkeit (a) ist auch verbunden mit der Entschei-dung zu persönlicher Entwicklung und Wachstum, Verpflichtung auf Selbsterkennt-nis und Selbstkenntnis. Die Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit (b) ist auch ver-bunden mit der Fähigkeit, wohlerwogene Urteile fällen und Prioritäten setzen zukönnen. Die Freundschaftsfähigkeit (c) ist auch verbunden mit der Fähigkeit zuanspruchsvollen personalen Beziehungen und Identifizierungen. Die Fragefähig-keit (d) ist die erkenntnistheoretisch grundlegende Fähigkeit, ein »Warum« einzu-

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klagen und Alternativen zum Status Quo zu suchen. Die Anteilnahmefähigkeit(e) ist die Fähigkeit, am eigenen Leben engagiert teilzuhaben. Ich habe hier nichtdie Möglichkeit, dies näher auszuführen. Der Illustration halber darf ich anführen,dass Ismail Kadare - als Hinweis zur Fragefähigkeit - in seinem Roman Der Palastder Träume35 die Erfahrung von »Hölle« interessanterweise als die Erfahrung einesOrtes beschreibt, an dem man nicht die Frage »Warum?« stellen darf. Oder auch:Hölle ist ein Ort, an dem identitätsstiftende Fundamentalfähigkeiten nicht realisiertwerden können. Ebenso der Illustration dient der Hinweis - in Bezug auf die Anteil-nahmefähigkeit -, dass Paul Auster in seiner Schilderung des Lebens seines Vaters,Portrait of an Invisible Man36, seinen Vater als einen Menschen beschreibt, der wieein Tourist im eigenen Leben war; der an seinem eigenen Leben emotional nichtbeteiligt war - zwar höflich den Freunden und Verwandten gegenüber, aber ebenohne innere, gefühlsmäßige Anteilnahme.

Zusammenfassend: Ich möchte also auf dem Hintergrund eines Verständnis-ses von »Fähigkeit« und »Fähigkeitskultivierung« bestimmte Fähigkeiten alsfundamentale ausweisen. Fundamentalfähigkeiten sind Schlüsselfähigkeiten, dieden Umgang mit und den Zugang zu Fähigkeiten ermöglichen und gestalten.Diese Fundamentalfähigkeiten sind Fähigkeiten zweiter Ordnung, also Fähigkei-ten, mit Fähigkeiten umzugehen. Sie sind in besonderer Weise zu fördern. Da dieKultivierung von Fähigkeiten nicht von Identitätsfragen abgelöst werden kann(geht es doch um die je besondere Kultivierung von Fähigkeiten bzw. die Kulti-vierung je besonderer Fähigkeiten), sind vor allem jene Fähigkeiten zweiter Ord-nung in den Blick zu nehmen, die Identität stiften und Identitätsaufbau möglichmachen und prägen. Explizit möchte ich auf dem Hintergrund einer hier nurangedeuteten Identitätstheorie fünf Fundamentalfähigkeiten anführen: Selbstre-flexionsfähigkeit, Entscheidungsfähigkeit, Freundschaftsfähigkeit, Fragefähig-keit und Anteilnahmefähigkeit. Sie sollen dementsprechend auch in den Mittel-punkt der Bemühungen um die Arbeit mit Fähigkeiten gestellt werden.

4. Schlussbemerkung: Fundamentalfähigkeiten fördern

Die genannten Fundamentalfähigkeiten sind in besonderer Weise zu fördern.Erziehungsprozesse sind in besonderer Weise aufgerufen, Fähigkeiten zweiterOrdnung - und hier: Fundamentalfähigkeiten - zu kultivieren.37 Martha Nuss-

Fähigkeiten und Fundamentalfähigkeiten 49

35 Kadare, I. (2003): Der Palast der Träume.36 Auster, P. (1982): Portrait of an Invisible Man.

baum hat die Fähigkeit, ein geprüftes Leben zu führen, die Fähigkeit, in Begrif-fen allgemeiner Menschheit zu denken, und die Fähigkeit zur narrativen Vorstel-lungskraft als grundlegende Fähigkeiten zweiter Ordnung ausgewiesen, die päda-gogische Prozesse kultivieren sollen.38 Dies hat auch soziale und politischeImplikationen. Die Förderung von Fähigkeiten kann zu einer Erweiterung vonTeilhabemöglichkeiten führen, wie denn auch »widening participation« mit»widening capability« zusammengebracht werden kann.39 Die genannten Funda-mentalfähigkeiten sind nicht nur Grundlage einer Identitätstheorie, sondern auchin Dialog zu bringen mit einer Theorie der guten Gesellschaft bzw. des gutenLebens. Die Förderung von Fähigkeiten ist damit auch ein politisches Unterfan-gen, das Bindungen an ein Verständnis von Gesellschaft und menschlichemLeben einschließt.

Abschließend sei noch eine Einsicht in das Fördern von Fähigkeiten genannt,die wir in einem Brief von Ignatius von Loyola aus dem Jahr 1548 finden. Igna-tius schreibt, dass es die Sorge von Oberen zu sein pflegt, »daß er einen jedennach Begabung und Kräften, Fähigkeit und Geistesneigung (wenn diese nicht aufetwas Böses geht) in den verschiedenen Aufgaben in der Bestellung des Wein-bergs des Herrn einsetzt«40. In diesem kurzen Satz ist wenigstens viererlei überdie Förderung von Fähigkeiten gesagt: (i) Der Umgang mit Fähigkeiten ist eineSorge (»cura«). Sorge impliziert Aufmerksamkeit und Wachstum, genaues Zuhö-ren (in diesem Sinne muss ein Oberer dem Anvertrauten gegenüber auch in einemignatianischen Sinn gehorsam sein). Sorge impliziert innere Beteiligung, Interes-se am Blühen des anvertrauten Menschen. Wir könnten es auch so ausdrücken:Die Förderung von Fähigkeiten verlangt Generativität. (ii) Fähigkeiten (»faculta-tes«) sind zu unterscheiden von Begabung (»ingenium«), Kraft (»vis«) und Gei-stesneigung (»propensio animi«), aber mit diesen familienverwandt. Unter »inge-nium« können wir die je individuelle Disposition zur Kultivierung von Fähigkeitenverstehen; »vis« steht für das Bündel an gesundheitlichen und auch moralischenRessourcen, die Vitalität und Orientierung, die einem Menschen zur Verfügung ste-hen, um für die Arbeit an Fähigkeiten gerüstet zu sein. »propensio animi« meint einHingeneigtsein des Geistes, der eine gewisse Vorliebe hat und deswegen - durch

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37 Vgl. Sedmak, C. (2010) Bildung und innere Armut, S. 119-130.38 Vgl. Nussbaum, M. (1997): Cultivating Humanity. 39 Vgl. Walker, Widening participation; widening capability: Melanie Walker verfolgt in diesem

Beitrag die Idee, dass Erziehung zu einer Erweiterung von Teilhabemöglichkeiten führen soll und diese wiederum durch eine Erweiterung von Fähigkeiten erfolgen kann.

40 Ignatius von Loyola (1993): Briefe und Unterweisungen, S. 240.

diese Präferenz, die wie ein Gewicht wirkt - in eine Richtung geneigt wird. DenNährboden für die Kultivierung von Fähigkeiten bilden persönliche Begabung,Vitalität und moralische Orientierung, Neigungen und Interessen. Oder auch: DieFörderung von Fähigkeiten muss auf diese Eigenarten einer Persönlichkeit Rück-sicht nehmen. (iii) Die Förderung von Fähigkeiten ermöglicht die Einbettungeines menschlichen Lebens in einen größeren Zusammenhang, dem dieses Lebenauch dienen kann. (iv) Die Förderung von Fähigkeiten hat auf moralischeBetrachtungen Rücksicht zu nehmen, da sich menschliches Vermögen auch, wiees hier heißt, »auf etwas Böses« (»ad malum«) richten kann. Hier bedarf es offen-sichtlich auf Seiten derjenigen, die den Prozess der Fähigkeitsförderung beglei-ten, entsprechende Fähigkeiten zweiter Ordnung - etwa die Fundamentalfähigkeitzum moralischen Urteil. Es ist dann wohl darauf zu achten, dass die genanntenFundamentalfähigkeiten bei denjenigen, die pädagogische Verantwortung tragen,in besonderer Weise realisiert sind. Damit schließt sich der Kreis zum Beginn:Die Fähigkeit, den Fähigkeitsansatz zu operationalisieren, ist eine andere Fähig-keit als die Fähigkeit, Sen und Nussbaums Texte zu lesen.

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tion 6/3, 267-279.

Clemens Sedmak52

Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz

Ortrud Leßmann

Der von Amartya Sen und Martha Nussbaum entwickelte Capability Ansatz (CA)ist ein international zunehmend diskutierter Ansatz zur Analyse individuellenWohlergehens und sozialer Wohlfahrt. Der CA lässt sich als allgemeiner theoreti-scher Rahmen mit vielen Anwendungsmöglichkeiten sehen, er lässt sich auch alsKritik an der Wohlfahrtsökonomie und anderen Ansätzen zur Bewertung desWohlergehens lesen oder aber als Vorschlag für eine neue Grundlage für interper-sonelle Vergleiche des Wohlergehens.1 Es sind die vielen Anwendungs- und Inter-pretationsmöglichkeiten, die viele verschiedene Disziplinen mit diesem Ansatzarbeiten lässt. Die Erziehungswissenschaft gehört dazu und hat ein steigendesInteresse am CA.

Dieser Aufsatz plädiert jedoch dafür, dass der CA umgekehrt auch davon pro-fitieren würde, erziehungswissenschaftliche Überlegungen mit einzubeziehen.Der erste Teil des Aufsatzes widmet sich der Aufgabe, zu zeigen, warum und wodie Erziehungswissenschaft - oder genauer gesagt eine Theorie des Lernens2 - imCA nötig ist. Dies geschieht in drei Schritten: Der erste Abschnitt vermittelt einenkurzen Überblick über die Kernbegriffe von Sens CA. Der Abschnitt zur Rollevon Auswahlentscheidungen geht auf die unterschiedlichen Aspekte ein, die Senund Nussbaum im Zusammenhang damit aufbringen und inwiefern ihre Behand-lung Schwächen und Mängel aufweist. Daraus zieht der dritte Abschnitt die Fol-

1 Vgl. Robeyns, Ingrid (2005): The Capability Approach: a Theoretical Survey, S. 93-114.2 Diesem Aufsatz liegt ein englischer Aufsatz zu Grunde - vgl. Leßmann, O. (2009): Capability and

Learning to Choose, S. 449-460. Für die englische Version wurde mir von Kollegen empfohlen, von »a theory of learning« statt von einer »educational theory« zu sprechen. Im Deutschen hingegen klingt »Theorie des Lernens« etwas sperrig. Allerdings würde die Bezeichnung »Lerntheorie« auf einen entwicklungspsychologischen Zusammenhang hindeuten (siehe Beitrag von Jean-Luc Patry in diesem Band), den ich nicht herstelle. Die Bezeichnung »Bildungstheorie« wiederum erzeugt einen Klärungsbedarf hinsichtlich der Bedeutung des Begriffs »Bildung«, der den Rahmen dieses Aufsatzes deutlich sprengt. Den Hinweis auf diese sprachlichen Feinheiten verdanke ich Bernhard Babic, der die Thematik anhand seines Beitrags in diesem Band ebenfalls behandelt.

C. Sedmak et al., Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten,

DOI 10.1007/978-3-531-92749-7_3,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

gerung, welche Anforderungen eine Theorie des Lernens erfüllen muss, um mitdem CA vereinbar zu sein. Der zweite Teil des Aufsatzes stellt Deweys Bildungs-theorie, welche »Erfahrung« in den Mittelpunkt stellt, als möglichen Kandidatenfür eine Lerntheorie vor, welche zum CA passen würde. Zunächst werden imAbschnitt über »Auswahlmöglichkeiten, Erfahrung und Bildung« Deweys Kon-zepte eingeführt. Dann erörtert der Abschnitt über »Erfahrung als Kategorie fürden CA«, inwiefern Deweys Theorie zu Sens Ansatz passt. Auf den ersten Blicksind es drei Punkte, welche die beiden Theorien verbinden: die Bedeutung vonFreiheit für den Menschen, die Rolle von Partizipation in der Bildung und dieNotwendigkeit, innere und äußere Faktoren sowie deren Zusammenwirken zubetrachten, wenn Auswahlsituationen analysiert werden sollen. So offensichtlichdiese Verbindungen zwischen Deweys Theorie des Lernens und Sens CA auf denersten Blick sind, so sehr ist weitere Forschung von Nöten, um diese Verbindungengenauer zu untersuchen. Der letzte Abschnitt skizziert daher den weiteren For-schungsbedarf.

1. Die Kernbegriffe aus Sens Capability Ansatz

Nach dem CA hängt das Wohlergehen davon ab, was ein Mensch tut oder ist - sei-nen erreichten Funktionen (achieved functionings) -, und dem, was ein Mensch zutun oder zu sein in der Lage ist - seinen Verwirklichungschancen (capabilities). Diessind die Kernbegriffe des CA. Die Beispiele für Funktionen reichen dabei von ele-mentaren Zuständen und Tätigkeiten wie wohlgenährt sein, essen und trinken bishin zu solch komplexen Funktionen wie am gesellschaftlichen Leben teilnehmenund sich selbst achten.3

Um eine Funktion, wie beispielsweise »wohlgenährt zu sein«, zu erreichen,muss das Individuum sowohl bestimmte Güter oder Ressourcen zur Verfügunghaben (wie z.B. Lebensmittel) als auch befähigt sein, diese Güter zu nutzen (alsoNahrung zu sich nehmen zu können). Formal sind daher die Verwirklichungs-chancen einer Person abhängig von ihren Ressourcen (abgebildet in Form der Bud-getmenge) einerseits und von Fertig- und Fähigkeiten sowie ihren Behinderungen(abgebildet als Menge persönlicher Technologien) andererseits.4

Doch das Niveau, das eine Person bezüglich einer Funktion erreicht, wirddurch das Zusammenspiel von Budgetmenge und persönlichen Technologien nicht

Ortrud Leßmann54

3 Vgl. Sen, Amartya K. (1999): Development as Freedom, S. 75.4 Vgl. Sen, Amartya K. (1985): Commodities and Capabilities, S. 11.

vollständig determiniert. Es ist möglich, verschiedene Niveaus einer Funktion zuerreichen und verschiedene Kombinationen von Funktionen zu verwirklichen,wobei jede Kombination von Funktionen eine Lebensweise darstellt. Zum Bei-spiel mag eine Lebensweise ein hohes Niveau an körperlicher Arbeit, ausreichen-de Ernährung und einen guten Gesundheitszustand mit sich bringen, während eineandere, ebenfalls erreichbare Lebenssituation wenig körperliche Arbeit, wenigerErnährung und einen schlechteren Gesundheitszustand beinhaltet. »Wohlgenährtzu sein« ist daher in Kombination mit anderen Funktionen wie »körperlich arbei-ten« und »gesund sein« usw. zu sehen.

Sen versteht unter der Menge an Verwirklichungschancen (capability set) dieMenge all jener Lebensweisen, die sowohl aufgrund der materiellen Bedingun-gen als auch von persönlichen Eigenschaften her für eine Person erreichbar sind.5Er nimmt dann an, jede Person wähle eine Kombination an Funktionen, eineLebensweise, aus der Menge an Verwirklichungschancen. Insofern spiegelt dieMenge an Verwirklichungschancen nach Sen die Freiheit wider, entweder dieeine oder andere Lebensweise zu führen. Jede dieser Lebensweisen ist eine Ver-wirklichungschance und steht damit der Person zur Wahl. Weiter schreibt Sen derMöglichkeit, sich zwischen verschiedenen Lebensweisen zu entscheiden, einenintrinsischen Wert zu (im Gegensatz zu ihrem instrumentellen Wert als Mittel zurErreichung eines bestimmten Ziels). Insofern Wahlfreiheit selbst ein Ziel ist (alsoeinen intrinsischen Wert besitzt), beeinflusst sie das Wohlergehen positiv.6

Folglich hängt das Wohlergehen einer Person nach dem CA sowohl von dererreichten Lebensweise als auch von der Freiheit, sich für eine Lebensweise ent-scheiden zu können, ab. Um daher das Wohlergehen einer Person bewerten zukönnen, müssen also sowohl die erreichten Funktionen als auch die Menge anVerwirklichungschancen bzw. der Grad der Wahlfreiheit betrachtet werden. Bei-spielsweise stuft der CA das Wohlergehen einer Person, die fastet, höher ein alsdas einer hungernden, weil erstere die Möglichkeit hat, Nahrung zu sich zu neh-men, während letztere über diese Möglichkeit nicht verfügt, also geringere Wahl-freiheit hat.

Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz 55

5 Vgl. Sen, Commodities, S. 13f.6 Vgl. Sen, Amartya K. (1988): Freedom of Choice: Concept and Content, S. 269-294, hier: S. 270.

2. Die Rolle von Auswahlentscheidungen im Capability Ansatz

2.1 Entscheiden bei Nussbaum

Die Möglichkeit, Auswahlentscheidungen treffen zu können, ist von zentraler Bedeu-tung für den CA. Sie eröffnet die Chance, ein Leben zu führen, das man wertschätzt.Die Fähigkeit, Auswahlentscheidungen zu treffen, bezeichnet Nussbaum als prakti-sche Vernunft (practical reason). »Fähigkeit« ist hier die Übersetzung von »capabili-ty«, denn anders als Sen analysiert Nussbaum jede Fähigkeit zu einer Funktion fürsich genommen und nicht als »Verwirklichungschance« in Kombination mit anderenFunktionen.7 Nussbaum spricht der praktischen Vernunft zusammen mit der Fähig-keit, ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln (social affiliation), die besondere Rolle»architektonischer Fähigkeiten«8 zu. Alles, was wir tun, tun wir überlegt und im Hin-blick auf andere. Insofern durchdringen diese beiden Fähigkeiten alle anderen.

Grundsätzlich sind Fähigkeiten angeboren und müssen durch Bildung undTraining entwickelt werden, um ein Niveau zu erreichen, das Nussbaum als»wahrhaft menschlich«9 bzw. eines Menschen würdig bezeichnet. In der Entwik-klung von Fähigkeiten unterscheidet Nussbaum drei Niveaus: grundlegende, inter-ne und kombinierte Fähigkeiten.10 Unter »grundlegenden Fähigkeiten« fasst Nuss-baum all das zusammen, was bereits bei der Geburt in uns angelegt ist, aber noch ent-wickelt werden muss wie beispielsweise die Fähigkeit, zu sprechen. Mit »internerFähigkeit« bezeichnet Nussbaum das Niveau der Fähigkeit, über das eine Personaktuell aufgrund ihrer Bildung und Entwicklung verfügt. Interne Fähigkeiten sindintellektuelle, charakterliche und körperliche Eigenschaften, welche die Person in dieLage versetzen, Funktionen auszuüben, wenn sie dies möchte. Damit erhält die Per-son die Möglichkeit, sich zu entscheiden, ob sie ihre Fähigkeit verwirklicht oder nicht(und darin liegt die Verbindung zu Sens Konzept von »capability« als Verwirkli-chungschance). Diese Chance, bewusst zu handeln, kann der Person dennoch ver-wehrt sein, wenn die äußeren Bedingungen ungünstig sind. Zum Beispiel hindernrepressive nicht-demokratische Regime ihre Bürger an der Verwirklichung ihrerFähigkeit, zu denken, ihre Meinung zu formulieren und sie auch zu vertreten. Daher

Ortrud Leßmann56

7 Vgl. Leßmann, Ortrud (2007): Konzeption und Erfassung von Armut - Vergleich des Lebenslage-Ansatzes mit Sens ›Capability‹-Ansatz, S. 156.

8 Nussbaum, Martha C. (2000): Women and Human Development - The Capabilities Approach, S. 82.9 Nussbaum, Women, S. 73.10 Vgl. Nussbaum, Martha C. (1988): Nature, Function, and Capability: Aristotle on Political Distri-

bution, S 145-184, hier: S. 160-166; Nussbaum, Women, S. 84f.

führt Nussbaum das Konzept »kombinierter Fähigkeiten«11 ein, welches das Niveaueiner Funktion beschreibt, das eine Person aufgrund der Kombination aus ihren inter-nen Fähigkeiten mit den äußeren Bedingungen erreichen kann. Interne und kombi-nierte Fähigkeiten können insofern nicht trennscharf voneinander unterschieden wer-den, weil günstige äußere Bedingungen eine notwendige Voraussetzung für dieBildung und Entwicklung von internen Fähigkeiten ist. Menschen brauchen die Mög-lichkeit zum öffentlichen Disput, um die Fähigkeit, zu argumentieren, auszubilden.Auch wenn sie die Menge an Möglichkeiten, die einer Person offen stehen, nicht inderselben Form wie Sen explizit modelliert, spielt sie doch auch in Nussbaums Kon-zeption eine wichtige Rolle.

Auch die Fähigkeit, Auswahlentscheidungen zu treffen (die praktische Vernunftanzuwenden), kann in den drei Niveaus vorliegen. Sie ist uns von vorneherein alsgrundlegende Fähigkeit gegeben, muss aber zur internen bzw. kombinierten Fähigkeitnoch weiter ausgebildet werden. Zugleich nimmt sie jedoch eine besondere Positionein, weil jegliche interne Fähigkeit dadurch gekennzeichnet ist, dass die Person wäh-len kann, ob sie die Funktion ausübt oder nicht. Ein gewisses Maß an praktischer Ver-nunft stellt somit eine Vorbedingung dar, um interne Fähigkeiten ausüben zu können.In dieser Weise durchdringt sie alle anderen Fähigkeiten und bestimmt das Niveauinterner Fähigkeiten.

Um ein hohes Niveau interner Fähigkeiten zu erreichen, müssen die äußerenUmstände günstig sein. Im Falle der praktischen Vernunft heißt dies, dass die PersonWahlmöglichkeiten haben muss, um Auswahlentscheidungen zu treffen und Ent-scheidungskompetenz auszubilden. Die Ausbildung praktischer Vernunft geschiehtunter anderem dadurch, dass die Person über die Ausübung ihrer internen Fähigkei-ten entscheidet. Soweit schildert Nussbaum, wie Fähigkeiten sich im Allgemeinenentwickeln und insbesondere die praktische Vernunft ausgebildet wird.

2.2 Bedingungen für Auswahlentscheidungen bei Sen

Wie erwähnt, unterscheidet sich Nussbaums Verständnis von »capability« vonjenem Sens insbesondere dadurch, dass sie nicht Kombinationen von Funktionen

Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz 57

11 Zunächst sprach Nussbaum von »externen Fähigkeiten«, reagierte aber auf die Arbeiten von a) Crocker, David, (1995): Functionings and Capability / Part II und b) Gasper, Des (1997): Sen´s Capability Approach and Nussbaum´s Capability Ethic, S. 281-301, die darauf hinweisen, dass es dabei nicht nur um externe Bedingungen geht, sondern um das Zusammenspiel interner und externer Bedingungen.

analysiert, sondern die einzelnen Fähigkeiten separat betrachten will. Der Grundhierfür ist die normative Überlegung, dass jede einzelne dieser Fähigkeiten wich-tig für ein gutes Leben ist und daher die Fähigkeiten nicht gegeneinander aufge-wogen werden dürfen. Zugleich betont sie, dass die Fähigkeiten auf vielerlei kom-plexe Art miteinander in Verbindung stehen.12

Die Modellierung der Auswahlmenge bei Sen als Menge an Verwirklichungs-chancen berücksichtigt die Verbindungen zwischen Funktionen implizit, weil jedeVerwirklichungschance eine Lebensweise - und keine einzelne Funktion - ist. Kauf-man hebt diese Eigenschaft des Senschen Ansatzes hervor, indem er darauf hin-weist, dass es bei Sen um die Wahl zwischen verschiedenen Kombinationen vonFunktionen gehe, die gleichzeitig verwirklicht werden können.13 Die Größe derMenge an Verwirklichungschancen hängt dabei von Zweierlei ab14: (1) der Budget-menge (als äußerer Bedingung) und (2) den Konversionsfaktoren (als Mischungaus äußeren und inneren Bedingungen). Sen stellt jedoch weder die Fähigkeit, Aus-wahlentscheidungen treffen zu können - die Entscheidungskompetenz der Personen-, in Frage noch untersucht er die Bedingungen, unter denen sich diese Fähigkeitentwickelt. Cohen kritisiert daher, dass Sen mit den Auswahlentscheidungen denHandlungen der Individuen eine solch große Bedeutung für das Erreichen ihresWohlergehens gibt. Cohen nennt es »athletisch«, dass jedes Individuum um seineigenes Wohlergehen zu sichern, aktiv werden muss und sich zwischen verschiede-nen Auswahlmöglichkeiten entscheiden muss. Nach Cohen misst Sen damit der(Wahl-)Freiheit und den eigenen Handlungen eine zu große Rolle bei.15

Auch wenn ich die Kritik von Cohen in Bezug auf die große Rolle von Freiheitfür das Wohlergehen nicht teile, so denke ich doch, dass er einen wichtigen Punktangesprochen hat, nämlich die Tatsache, dass Sen annimmt, jeder verfüge über Ent-scheidungskompetenz. Egal, ob eine Lebensweise aktiv gestaltet oder eher passivangenommen wurde, Sen interpretiert sie als das Ergebnis einer Auswahlentschei-dung zwischen verschiedenen Verwirklichungschancen. Wenn aber das Treffen vonAuswahlentscheidungen selbst eine Funktion ist, wie Sen selbst erwägt, dann liegteine Zirkularität vor, wie Sen auch zugibt.16 Die Person muss darüber entscheiden,

Ortrud Leßmann58

12 Vgl. Nussbaum, Women, S. 81.13 Vgl. Kaufman, Alexander (2006): Capabilities and Freedom, S. 289-300, hier: S. 299. Vgl. auch

Sens eigene Klarstellung in Sen, Amartya K. (2009): The Idea of Justice, S. 233 Fußnote.14 Vgl. Sen, The Idea of Justice, S. 233 Fußnote.15 Vgl. Cohen, Gerald A. (1993): Equality of What? On Welfare, Goods and Capabilities, S. 25.16 Vgl. Sen, Amartya K. (1987): The standard of living, S. 37; Sen, Amartya K. (1984): Well-being,

Agency and Freedom: The Dewey Lectures, S. 169-221, hier: S. 202.

wie gut sie entscheiden will, bzw. welches Maß an Entscheidungskompetenz sieerwerben möchte. Sen spielt die Bedeutung der Zirkularität herunter, indem er sieals ein Problem der formalen Charakterisierung bezeichnet. Es sei wichtiger, diegrundsätzliche Bedeutung von (Wahl-)Freiheit für das Wohlergehen anzuerken-nen.17 Seither wurde diese Zirkularität nicht weiter beachtet und erst recht nichtaufgelöst. (Wahl-)Freiheit wird hingegen bei der Bewertung der Lebenssituationeines Menschen hinsichtlich seines Wohlergehens eine Bedeutung eingeräumt,wenn auch eher als theoretische Zielsetzung, deren praktische Umsetzung in empi-rische Forschung sich nur schwer gewährleisten lässt.18

In Sens Modell fehlt die Beschreibung intertemporaler Zusammenhänge. Esist ein komparativ-statischer Ansatz. Sen betrachtet Auswahlsituationen, aber stelltkeinen Zusammenhang zwischen einer Auswahlsituation und der nächsten her.Freilich lassen sich Auswahlsituationen hinsichtlich ihrer Menge an Verwirkli-chungschancen und der gewählten Lebensweise vergleichen, aber ein nähererZusammenhang lässt sich nicht herstellen. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt,wie sehr Sen den Prozess-Aspekt von (Wahl-)Freiheit betont.19 Berücksichtigtman jedoch die Analogie zwischen seinem Ansatz und den volkswirtschaftlichenModellen der Konsumentscheidung, so scheint es, Sen genüge es, den Prozess-Aspekt in Form der Auswahlentscheidung zwischen verschiedenen Verwirkli-chungschancen zu modellieren.

2.3 Bildung, Auswahlentscheidungen und soziale Konditionierung

Anders als Sen weist Nussbaum explizit auf die intertemporalen Zusammenhängehin, indem sie die Bedeutung von Bildung für die Entwicklung von Fähigkeitenhervorhebt. Auf die Bedeutung von Bildung für eine Ausweitung individueller Ver-wirklichungschancen macht auch Sen aufmerksam,20 aber weder Nussbaum nocher gehen weiter. Wie Unterhalter21 bemerkt, ist die theoretische Behandlung des

Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz 59

17 Vgl. Sen, The standard, S. 37.18 Vgl. z.B. Basu, Kaushik (1987): Achievement, Capabilities and the Concept of Well-Being, S. 69-

76, hier: S. 75.19 Vgl. z.B. Sen, Development, S. 17.20 Vgl. Sen, Development, S. 295.21 Vgl. Unterhalter, Elaine (2001): The Capability Approach and Gendered Education: An Examina-

tion of South African Contradictions, Beitrag zur Konferenz zu »Justice and Poverty« (1.Capablity Konferenz).

Themas Bildung im CA ungenügend. Im Falle von Sen nimmt er die Fähigkeit,Auswahlentscheidungen zu treffen - die Entscheidungskompetenz -, als gegebenan, ohne zu diskutieren, wie Entscheidungskompetenz entsteht. Zugleich zieht erdie Entscheidungskompetenz einiger Menschen in Zweifel. Dies wird an demBeispiel zur Gesundheitssituation indischer Witwen und Witwer nach der Benga-lischen Hungersnot 1943 deutlich. Wie Sen berichtet, haben die Männer in einerBefragung sich viel häufiger über ihren Gesundheitszustand beklagt als die Frau-en. Sen meint, objektiv sei die Situation der Frauen viel gravierender gewesen,und er interpretiert daher ihre Selbsteinschätzung als ein Ergebnis »sozialer Kon-ditionierung«22. Wenn aber bestimmte Entscheidungen nicht ernst zu nehmensind, weil sie das Ergebnis sozialer Konditionierung sind, wie sind sie dann von»mündigen« Entscheidungen zu unterscheiden? Bei dem großen Vertrauen, dasSen in die Entscheidungskompetenz der Menschen hat, wäre es wichtig, Bedin-gungen für gute Entscheidungen und den Aufbau von Entscheidungskompetenzzu benennen.

3. Anforderungen an eine Theorie des Lernens im CA

Im CA fehlt eine Erklärung dafür, wie Menschen entscheiden, wie sie leben wol-len, und wie sie lernen, diese Entscheidung zu fällen. Funktionen und Verwirkli-chungschancen stehen in einem zirkulären Verhältnis zueinander, insofern dieFunktion, Auswahlentscheidungen zu treffen, eine Voraussetzung für die Wahleiner Lebensweise aus der Menge an Verwirklichungschancen ist. Die Entschei-dungskompetenz als praktische Vernunft ist übrigens auch bei Nussbaum eineVorbedingung für die Erlangung eines höheren Niveaus interner Fähigkeiten -somit liegt auch bei ihr eine Zirkularität vor. Ein Modell der intertemporalenZusammenhänge zwischen Funktionen und Verwirklichungschancen (Fähigkei-ten) könnte diese Zirkularität auflösen.

Soll eine Theorie des Lernens diese Lücke im CA füllen, so muss sie denbestehenden Charakter des Ansatzes bewahren, der in Abbildung 1 zusammen-gefasst ist. Sowohl in Sens wie auch in Nussbaums Version des CA nimmt die(Wahl-)Freiheit einen zentralen Platz ein; selbst entscheiden zu können, istnach Ansicht beider Autoren ein bedeutendes Merkmal menschlichen Lebens.

Ortrud Leßmann60

22 Das Beispiel findet sich in Sen, Commodities, Appendix. Das Problem »adaptiver Präferenzen« diskutiert Sen an vielen Stellen. Die Bezeichnung »soziale Konditionierung« verwendet er z.B. in Sen, Amartya K. (1992): Inequality Re-examined, S. 149f.

Abbildung 1: Entscheiden im CA (Eigene Darstellung)

Sen geht über Nussbaum insofern hinaus, als er die (Wahl-)Freiheit in Form derMenge an Verwirklichungschancen, aus der eine Person ihre Lebensweise untervielen auswählen kann, modelliert. Nussbaum hingegen spricht die Entwicklungvon Fähigkeiten und insbesondere auch der Entscheidungskompetenz (bzw. derpraktischen Vernunft) an. Sie zeigt damit die Notwendigkeit, die intertemporalenZusammenhänge zu modellieren, und geht insofern über Sen hinaus. Beide beto-nen, dass die Auswahl- oder Entscheidungssituation von internen und externenFaktoren definiert wird. Sen berücksichtigt äußere Bedingungen zunächst in Formder Budgetmenge und der Ressourcen, die einer Person zur Verfügung stehen. DesWeiteren schildert er, wie die jeweiligen Umstände - die sozialen, geographischenund klimatischen Bedingungen - das individuelle Leben beeinflussen - ohne jedochden Einfluss im engeren Sinne zu modellieren. In Form der Menge an persönlichenTechnologien berücksichtigt Sen ferner auch interne Einflüsse - die Talente undFähigkeiten wie auch Mankos einer Person. Nussbaum hingegen spricht direkt vonden internen Fähigkeiten und den äußeren Bedingungen, die gemeinsam mit deninternen Fähigkeiten das Ausmaß an kombinierter Fähigkeit bestimmen.

Eine Theorie des Lernens für den CA muss zuallererst eine Theorie darübersein, wie Menschen entscheiden lernen. Sie muss das starke Gewicht, das Sen undNussbaum auf Auswahlentscheidungen legen, beachten. Sie sollte vereinbar mitden formalen Anforderungen des Modells von Auswahlmengen bei Sen sein.23 Siesollte die Ideen von Sen und Nussbaum zum Einfluss interner und externer

Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz 61

Nussbaum:praktische Vernunft

Sen:Wahlfreiheit

Innere Bedingungen Interne Fähigkeiten Menge an persönlichen Technologien

Äußere Bedingungen Kombinierte Fähigkeiten

(äußere Bedingungen)

BudgetmengeMenge an persönlichen Technologien(äußere Konversionsfaktoren)

IntertemporalerZusammenhang?

Ja, durch Bildung undTraining

Nein, nur Wahl einer Lebensweise ausder Menge an Verwirklichungschancen

23 Die Verbindung zwischen Sens Konzept einer Menge an Verwirklichungschancen und der Lite-ratur zu Auswahlmengen stellt nicht nur Sen selbst her, sondern auch Pattanaik, Prasanta/Xu,

Faktoren widerspiegeln. Und sie sollte eine explizite Vorstellung von derEntwicklung von Entscheidungskompetenz beinhalten. Die Veränderungenund intertemporalen Zusammenhänge zwischen früheren Entscheidungenund heutigen Auswahlsituationen sowie zwischen inneren und äußerenBedingungen sollte klarer modelliert werden, eventuell indem man sichAbfolgen von Mengen an Verwirklichungschancen anschaut. Im Folgendenwird die Lerntheorie von John Dewey, wie er sie in seinem Buch »Experien-ce and Education« dargelegt hat, als mögliche Kandidatin zum Füllen derLücke im CA präsentiert.

4. Auswahlmöglichkeiten, Erfahrung und Bildung

4.1 Erfahrung als Kernbegriff

Erfahrung ist der Kernbegriff von Deweys Bildungstheorie. Ihm geht es umeine »neue«, »progressive« Bildung durch Erfahrung. Anstatt Wissen in »tra-ditioneller« Weise durch das Lesen von Büchern und Wiederholung zu ver-mitteln, ist es das Ziel der »neuen« Bildung, Schülern/innen die Gelegenheitzur Erfahrung zu geben, wie die Dinge zusammenhängen, und ihre eigenenSchlüsse daraus zu ziehen.24 Natürlich stellen auch die »traditionellen« Lehr-methoden eine Erfahrung für die Schüler/innen dar, aber Dewey befürchtet,es seien in der Regel nicht die richtigen Erfahrungen. Nach Dewey hängt dieQualität einer Erfahrung davon ab, ob sie unmittelbar als angenehm oderunangenehm empfunden wird und sich daher auf spätere Erfahrungen aus-wirkt.25

Ortrud Leßmann62

Yongchen (1990): On Ranking Opportunity Sets in Terms of Freedom of Choice, S. 383-390. Sugden, Robert (1998): The Metric of Opportunity, S. 307-337, interpretiert Auswahlmengen als formale Modellierung von Freiheit und nennt den CA als ein Beispiel. Einen Überblick über die verschiedenen Anwendungen des Konzepts von Auswahlmengen geben Barbera, Salvador/Bos-sert, Walter/Pattanaik, Prasanta (2001): Ranking Sets of Objects.

24 Das Büchlein von Dewey erschien erstmals 1938 und war ein Beitrag zu einem aktuellen Diskurs über Reformpädagogik. Im Jahr 1896 hatte er eine Experimentierschule in Chicago gegründet und erforschte darin die Tragfähigkeit seiner Ideen.

25 Vgl. Dewey, John (1938/1997): Experience and Education, S. 26f.

Abbildung 2: Deweys Konzept der Erfahrung (Eigene Darstellung)

Nach Dewey werden Erfahrungen von zwei Prinzipien bestimmt: dem Prin-zip der Kontinuität und dem Prinzip der Interaktion (principles of continuityand interaction). Das erste Prinzip besagt, dass jede Erfahrung etwas aus frü-heren Erfahrungen aufgreift und die Qualität aller späteren Erfahrungenbeeinflusst.26 Vergangene, gegenwärtige und zukünftige Erfahrungen stehenalso in Verbindung miteinander. Aufgrund von Erfahrungen bilden die Men-schen Vorlieben aus, entwickeln ihre Haltung gegenüber neuen Erfahrungenund bewirken deren Einschätzung. Zugleich beeinflussen vergangene Erfah-rungen auch die objektiven Bedingungen, unter denen neue Erfahrungen ent-stehen. Dewey schreibt: »Jede genuine Erfahrung besitzt eine aktive Seite,welche zu einem bestimmten Grad die objektiven Bedingungen verändert, indenen man Erfahrungen macht.« 27 Zum Beispiel macht ein Kind, das Lesenund Schreiben lernt, eine neue Erfahrung und erweitert zugleich das Spek-trum an Methoden, um später Neues zu lernen (zu erfahren). Es gibt aber auchErfahrungen, welche das Lernvermögen des Kindes beeinträchtigen, z.B.wenn die Eltern dazu tendieren, ihr Kind zu verwöhnen, und das Kind daherdie Erfahrung macht, dass es nichts selbst machen muss, sondern alles vonanderen getan wird.

Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz 63

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principle of interactionprinciple of interaction

principle of continuityprinciple of continuity

26 Vgl. Dewey, Experience, S. 35.27 Dewey, Experience, S. 39, eigene Übersetzung.

Das zweite Prinzip, das Prinzip der Interaktion, besagt, dass Erfahrungen aufder Interaktion zwischen dem Individuum, Objekten und anderen Personen beru-hen.28 Dieses Prinzip weist darauf hin, dass jede Erfahrung ihre Gestalt durch Ursa-chen außerhalb des Individuums erhält, sei es durch Personen oder Objekte. DasIndividuum reagiert auf diese von außen gegebenen Reize. Es gibt also innere undäußere, objektive Bedingungen, welche Erfahrungen beeinflussen. Innere undäußere Bedingungen zusammengenommen bilden, was Dewey eine »Situation«29

nennt. In einer Situation trifft das Individuum mit seinem Schatz an vergangenenErfahrungen auf eine Umwelt, die aus Personen, mit denen sie beispielsweisespricht, und Objekten wie Spielzeugen, Büchern oder den Zutaten für einen Kuchenbesteht. Das Individuum interagiert in einer solchen Situation mit seiner Umwelt.

Das Leben ist nun nichts anderes als eine Abfolge solcher Situationen. Ineiner Welt zu leben, ist nach Dewey gleichbedeutend damit, eine Abfolge vonSituationen zu durchleben.30 Das Zusammenspiel des Prinzips der Interaktion mitjenem der Kontinuität sieht also wie folgt aus: Was eine Person in einer Situationlernt, nimmt sie mit in die nächste Situation als Bestandteil ihrer inneren Bedin-gungen für neue Situationen. Das Wissen und die Fähigkeiten, die eine Person infrüheren Situationen erworben hat, ermöglichen ihr, spätere Situationen zu ver-stehen und effektiv auf sie zu reagieren. Wenn dieser Prozess erfolgreich ist, inte-griert die Person die verschiedensten Erfahrungen aus der Abfolge an Situationenund konstruiert eine Welt aufeinander bezogener Objekte. Diese Welt bildet denHintergrund für jede weitere Erfahrung, welche wiederum die Beziehung zwi-schen den Objekten näher bestimmen hilft und so zur genaueren Konstruktion derWelt beiträgt.

4.2 Die Freiheit des Lernenden

Lernen ist also ein aktiver Prozess bei Dewey. Der Lernende verändert die Bedin-gungen, unter denen er Erfahrungen macht, insofern seine Sicht der Welt denHintergrund für jede neue Erfahrung bildet. Lernen ist daher eins mit dem, wasDewey die »Freiheit der Intelligenz«31 (freedom of intelligence) nennt, welcheseines Erachtens auch die einzig bedeutende Freiheit darstellt. Es ist Freiheit im

Ortrud Leßmann64

28 Vgl. Dewey, Experience, S. 43.29 Dewey, Experience, S. 42.30 Vgl. Dewey, Experience, S. 43.31 Dewey, Experience, S. 61.

positiven Sinne (Berlin), nämlich Freiheit als »das Vermögen, Absichten zu fassen,klug zu urteilen, Wünsche danach zu bewerten, welche Folgen sie nach sich zie-hen, an ihrer Erfüllung zu arbeiten; das Vermögen, Mittel auszuwählen und anzu-ordnen, um gewählte Ziele in die Tat umzusetzen«.32

Am Anfang steht immer ein Impuls, der zu einem Wunsch (desire) wird, wennman ihm nicht unmittelbar nachgeben kann. Wünsche sind, was uns letztlich zumHandeln antreibt, aber sie sind nicht das Endziel des Handelns. Die Intensität derzugrunde liegenden Wünsche bestimmt zwar, welche Mühen man unternimmt, umdiese Wünsche zu erfüllen33, aber ein Wunsch ist an und für sich noch keine Absicht(purpose). Eine Absicht zu fassen, beinhaltet das Voraussehen von Ereignissen, dievermutlich passieren würden, wenn man seinen Impulsen nachgeben würde.34 Inso-fern beinhaltet es Beobachtungen (observations) der tatsächlichen Umstände, Erin-nerung (memory/recollection) an vorhergehende ähnliche Erfahrungen und schließ-lich Beurteilung der Folgen dieses speziellen Wunsches.

Abbildung 3: Selbstkontrolle bei Dewey (Eigene Darstellung)

Es ist dieses Vermögen, über verschiedene Möglichkeiten nachzudenken, bevor maneinem Impuls nachgibt, die Dewey Selbstkontrolle (self-control) nennt. »Nachden-ken schiebt Handlungen auf, indem es die innere Kontrolle des Impulses durch dieZusammenführung von Beobachtungen und Erinnerungen bewirkt, wobei diese

Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz 65

thinking:postponementof execution

reflection:observation (interaction)and memory (continuity)

impulse desire purpose

32 Dewey, Experience, S. 64, eigene Übersetzung. »Absicht« ist hierbei die deutsche Übersetzung von »purpose«.

33 Die Wunscherfüllung bei Dewey ist deutlich von der Wunschbefriedigung in utilitaristischen The-orien zu unterscheiden. Anders als bei diesen spielen Wünsche bei Dewey eine rein instrumentelle Rolle. Sie haben keinen Wert an sich, sondern sind nur ein Baustein der Selbstkontrolle.

34 Vgl. Dewey, Experience, S. 67.

Zusammenführung den Kern des Nachdenkens bildet.«35 Nach Deweys Meinungzielt Bildung idealerweise auf die Ausbildung dieses Vermögens der Selbstkontrolle(self-control) ab.

Im Laufe der Verwandlung eines Impulses in einen Wunsch und in der Folgein eine Absicht übt der Lernende seine Freiheit der Intelligenz aus, indem erinnehält, über seinen Impuls nachdenkt, die Folgen seines Wunsches abschätztund schließlich eine Absicht fasst, welche seine Handlungen im Lernprozessanleitet. »Solche Freiheit ist wiederum gleichbedeutend mit Selbstkontrolle.«36

Insofern lässt sich das Ziel von (»progressiver«) Bildung auch anders formulie-ren als Freiheit (der Intelligenz).

4.3 Äußere Bedingungen und soziale Kontrolle

Die Theorie des Lernens bei Dewey ist eine Bildungstheorie. Lernen ist bei ihmeine Aufgabe, bei der der Lernende und der Lehrende zusammenarbeiten. Leh-rer/innen lenken den Lernenden und unterstützen ihn dabei, Absichten zu fassen.Diese Art, den Lernenden zu lenken, schränkt dessen Freiheit nicht ein, sondernbefördert sie.37 Grundlage des Lernens ist jedoch die Erfahrung. Aufgabe derLehrenden ist es folglich, die Lernsituation zu betrachten, die internen und objek-tiven Bedingungen (siehe Abbildung 2). Die internen Bedingungen des Lernenswerden vom Prinzip der Kontinuität regiert. Das Prinzip der Interaktion hebt dieBedeutung äußerer Bedingungen im Allgemeinen und die des sozialen Umfeldsim Besonderen hervor. Menschliche Erfahrung sei letztlich immer sozial ver-mittelt, sie schließt den Kontakt und die Kommunikation mit anderen Menschenein.38

Das unmittelbare und direkte Interesse des Lehrers gilt den Situationen, in denen interagiert wird. Das Individuum, das als Faktor darin auftaucht, ist, was es zu der gegebenen Zeit ist. Es sind die anderen Faktoren - die objektiven Bedingungen - die sich in einem gewissen Grad vom Lehrer beeinflussen lassen.39

Ortrud Leßmann66

35 Dewey, Experience, S. 64, eigene Übersetzung. 36 Dewey, Experience, S. 67, eigene Übersetzung.37 Vgl. Dewey, Experience, S. 71.38 Vgl. Dewey, Experience, S. 38.39 Dewey, Experience, S. 45, eigene Übersetzung.

Dewey weist darauf hin, dass unter der Bezeichnung »objektive Bedingungen« vie-les subsumiert wird, angefangen von der Ausstattung mit Büchern und Materialien,über Aufgabenstellungen und Spielregeln bis hin zum Ton, in dem etwas gesagtwird, und dem sozialen Aufbau einer Situation. Nach Dewey formt also der Leh-rende Situationen im großen Umfang. Er verfügt über die direkte Kontrolle übereinige objektive Bedingungen wie Materialien, Aufgabenstellungen und seine eige-nen Handlungen. Ferner kann er den sozialen Aufbau einer Situation beeinflussenund sollte die Bedingungen, die der Lernende als interne Bedingungen mitbringt,berücksichtigen:

Das Prinzip der Interaktion macht deutlich, dass die Auswahl von Materialien, die den Bedürf-nissen und Fähigkeiten des Lernenden entsprechen, ebenso misslingen kann und einen negativen Effekt auf die Bildung haben kann wie die misslungene Anpassung des Individuums an das Lehr-material.40

Lehrer/innen können also einige objektive Bedingungen festlegen, um dem Lernen-den eine Erfahrung zu ermöglichen, die ihn weiter bringt. Dennoch ist der Lehren-de kein Vorgesetzter oder Diktator, sondern übernimmt eine Leitungsfunktion inder Gruppe. Bildung ist eine gemeinschaftliche Aufgabe. Der Lehrende leitet, aberer ist auch Teil der Gruppe. Seine spezielle Verantwortung gilt den Menschen, diean der Situation beteiligt sind, und dem Thema, das zu bearbeiten ist. Dazu gehört,diese Individuen zu kennen und um ihre internen Bedingungen zu wissen, also umihre früheren Erfahrungen, ihren Wissensstand und ihr Verständnis der Welt. Dazugehört auch, ein Thema auszuwählen, zu dem alle etwas beitragen können und andem sich alle beteiligen. Letztlich sind es die gemeinsamen Aktivitäten der Grup-pe, welche die Kontrolle haben: »(…) die Kontrolle liegt hauptsächlich in der Naturder gemeinschaftlich unternommener Arbeit begründet, zu der gehört, dass alleindividuell die Möglichkeit haben, beizutragen und dass sich alle verantwortlichdafür fühlen«.41

Diese Art der Kontrolle - der sozialen Kontrolle - steht nicht im Widerspruchzu individueller Freiheit, insofern diejenigen, die sich an dem gemeinschaftlichenUnternehmen des Lernens beteiligen, nicht den Eindruck haben, von einem Indivi-duum herumkommandiert zu werden oder dem Willen einer außen stehenden wich-tigeren Person unterworfen zu sein, sondern eine Gruppe formen, die gemeinsam

Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz 67

40 Dewey, Experience, S. 46f., eigene Übersetzung.41 Dewey, Experience, S. 56, eigene Übersetzung.

eine Erfahrung macht.42 Dewey illustriert das am Beispiel von Kindern, diegemeinsam spielen. Spiele beinhalten Regeln - »keine Regeln, kein Spiel«43. Esgehört zum Spiel, die Regeln zu akzeptieren und nach ihnen zu handeln, denn nurdann ist es möglich, sich über einen anderen Spieler zu beschweren, wenn er sichnicht an die Regeln hält. Spielregeln sind standardisierte Konventionen und könnenihre Wirkung nur entfalten, wenn sie von vielen Spielern anerkannt werden.

5. Erfahrung als Kategorie für den Capability Ansatz?

In einigen Punkten stimmen Deweys Lerntheorie und der CA offensichtlich über-ein und passen gut zueinander: Beide heben die Bedeutung von Freiheit im Lebenvon Menschen hervor. Beide betonen die aktive Rolle der Individuen bei der Ent-scheidungsfindung. Beide unterscheiden innere und äußere Faktoren einer Ent-scheidungssituation. Dennoch könnten diese Übereinstimmungen nur oberfläch-lich sein.

Dewey schreibt nicht über das Entscheiden an und für sich. Er skizziert dieaktive Rolle, die ein Lernender im Lernprozess spielt. Insbesondere geht es Deweydarum, wie Absichten gefasst und in die Tat umgesetzt werden. Der Lernendewandelt einen Impuls in diesem Prozess durch Nachdenken in einen Wunsch umund, indem er über die Folgen seines Wunsches nachdenkt, bewertet er seinenWunsch und entscheidet darüber, ob er seine Erfüllung anstrebt, also eine Absichtfasst. In diesem Sinne geht es bei Dewey um einen Entscheidungsprozess. DieEntscheidung, die der Lernende trifft, bezieht sich auf die Erfüllung oder Nicht-Erfüllung seines Wunsches und die Art und Weise, wie er dies umsetzt.

Tatsächlich steht bei Dewey der Entscheidungsprozess im Mittelpunkt und esist nicht klar, inwiefern es darum geht, eine Option aus einer Menge an Optionenauszuwählen. Dennoch gibt es deutliche Ähnlichkeiten zwischen Sens Konzepteiner Menge an Verwirklichungschancen und Deweys Konzept einer »Situation«:Gekennzeichnet ist die Situation bei Dewey durch objektive (äußere) Bedingun-gen, welche eine Erfahrung ermöglichen, und innere Bedingungen, die bestim-men, wie ein Mensch die Erfahrungen erlebt. Die Menge an Verwirklichungs-chancen bei Sen ist definiert durch das Zusammenwirken von Budgetmenge undder Menge persönlicher Technologien, die einem Menschen zur Verfügung ste-hen. Die Budgetmenge umfasst dabei die materiellen Aspekte (»Objekte«) von

Ortrud Leßmann68

42 Vgl. Dewey, Experience, S. 53.43 Dewey, Experience, S. 52, eigene Übersetzung.

Deweys objektiven Bedingungen. Die sozialen Aspekte des Lernprozesses sindbestenfalls in der Menge persönlicher Technologien angedeutet, die aber vorallem die inneren Bedingungen widerspiegeln, die ein Mensch mitbringt. DieBesonderheiten eines Menschen, die durch diese Menge an persönlichen Techno-logien bei Sen eingefangen werden sollen, erklärt Dewey teilweise, indem er aufden persönlichen Schatz vergangener Erfahrungen und deren Einfluss auf dieinneren Bedingungen eingeht.

Bezüglich der intertemporalen Zusammenhänge gibt es eine Übereinstimmungzwischen Nussbaum und Dewey: Beide gehen auf den zeitlichen Aspekt individuel-ler Entwicklung ein. Dewey erklärt die Reaktion in einer Situation mittels des Prin-zips der Kontinuität und stellt einen Zusammenhang zu früheren Erfahrungen undBeobachtungen her. Insofern schildert er in expliziterer Form als Nussbaum, wiesich Entscheidungskompetenz entwickelt. Entscheidungssituationen beschreibtDewey mittels seines Konzepts einer Situation jedoch - ähnlich wie Sen - weitauskomplexer als Nussbaum dies tut. Lernen ist bei Dewey ein Prozess der Integrationaufeinander folgender Erfahrungen und der Konstruktion einer entsprechenden Vor-stellung von der Welt als einer Welt in Verbindung stehender Objekte. Lernen findetdaher in einer Abfolge von Situationen statt, wobei die Situationen durch das Prin-zip der Kontinuität miteinander verbunden sind. Zugleich lenkt das Prinzip der Inter-aktion die Aufmerksamkeit auf jene Aspekte, welche Situationen einzigartig machenund von anderen unterscheiden.

Überträgt man diese Gedanken auf den CA, so bedeutet dies, Lernen als dasErgebnis des Erlebens aufeinander folgender Auswahlentscheidungen zu begreifen.Das Individuum wählt eine Lebensweise aus seiner Menge an Verwirklichungs-chancen aus. Diese Möglichkeiten stehen ihm aufgrund der in seiner Budgetmengeliegenden Güter und seiner individuellen Möglichkeiten zur Verwendung dieserGüter, die in der Menge persönlicher Technologien wiedergegeben sind, offen.Deweys Theorie ergänzt dieses Modell darum, wie Menschen durch ErfahrungErkenntnisse erwerben und welche Rolle dabei das soziale Umfeld neben den mate-riellen Bedingungen spielt. Die Kompetenz dazu, Entscheidungen zu treffen - imSinne von Absichten zu fassen -, entwickelt sich im Laufe der Zeit durch die Aus-wahl der (aktuellen) Lebensweise aus zeitlich miteinander verknüpften Mengen anVerwirklichungschancen.

6. Schluss

Bisher stellt der CA noch keine Theorie bereit, wie Menschen lernen, Entschei-dungen zu treffen, obwohl es zu den Kernthesen des CA gehört, dass jeder Mensch

Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz 69

darüber entscheidet, wie er leben will. Dass dem CA eine Theorie des Entschei-den-Lernens fehlt, sieht dieser Aufsatz als einen Mangel an und führt Gründe auf,weshalb der CA eine solche Theorie braucht:

(1) Der CA sollte die Annahme, dass Menschen (grundsätzlich) Entscheidungs-kompetenz besitzen, also in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen, erklären und begründen, weil ihr Wohlergehen laut CA eben davon abhängt.

(2) Entscheidungen nehmen einen zentralen Platz im CA ein, sowohl in Sens wie auch in Nussbaums Version. Dieser Funktion (functioning) gebührt daher eine genauere Betrachtung und Untersuchung ihrer Voraussetzungen und Wirkungen.

(3) Zwischen Funktionen und Verwirklichungschancen bzw. Fähigkeiten esteht insofern ein zirkuläres Verhältnis, als dass die Funktion des Entschei-dens eine Voraussetzung ist, um eine Lebensweise und damit insbesondere auch ein Niveau an Entscheidungsfähigkeit auszuwählen. Diese Zirkularität muss aufgelöst werden.

(4) Nussbaum - und teilweise auch Sen - beschreibt die Entwicklung und Aus-bildung von Fähigkeiten und Verwirklichungschancen, ohne jedoch ein forma-les Modell vorzulegen. Das formale Modell von Sen ist bestenfalls komparativ-statisch. Nussbaum modelliert ihre Ideen zur Entwicklung von Fähigkeiten nicht formal. Insbesondere behandelt sie nicht die Frage, inwiefern sich mehr-ere Fähigkeiten gleichzeitig realisieren oder steigern lassen. Daher bleiben ihreGedanken lückenhaft.

(5) Es herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass es dem CA an einem Modell intertemporaler Zusammenhänge mangelt, aber keiner der wenigen Beiträge zu dem Thema stellt die zeitliche Verknüpfung über die Auswahlmen- gen, also die Mengen an Verwirklichungschancen in Sens Modell her.44

(6) Da der CA betont, dass menschliches Leben darin besteht, etwas zu sein und zu tun, also Funktionen zu erreichen, sollte er daran interessiert sein, wie Menschen lernen, etwas zu sein und zu tun - und es gut zu tun! - bzw. Funktio-nen auszuüben.

Deweys Buch »Experience and Education« enthält einige Ideen darüber, wie Men-schen lernen und Entscheidungskompetenz entwickeln. Erfahrung spielt in diesemProzess laut Dewey eine entscheidende Rolle. Zwei Prinzipien beherrschen die

Ortrud Leßmann70

44 Diese Aussage muss ich eventuell einschränken, siehe Bartelheimer, Peter et al. (2009): Towards Analysing Individual Working Lives in a Resource/Capabilities Perspective.

Erfahrung: (1) Das Prinzip der Kontinuität besagt, dass frühere Erfahrungen denGrund für spätere Erfahrungen eines Menschen legen. (2) Das Prinzip der Interak-tion besagt, dass jede Erfahrung in einem spezifischen Kontext stattfindet undwegen der objektiven Bedingungen, die diesen Kontext ausmachen, so sind, wie siesind. Insofern tragen zu jeder Erfahrung zwei Arten von Faktoren bei: innere Fak-toren, die mit früheren Erfahrungen des Individuums zu tun haben, und äußere,objektive Faktoren in Form des materiellen und sozialen Umfelds. Da auch Sen undNussbaum diese beiden Faktoren bei der Beschreibung der Entscheidungssituationunterscheiden, lassen sich beide Theorien auf den ersten Blick gut verbinden.

Allerdings muss noch eingehend geprüft werden, inwieweit sich DeweysIdeen mit der formalen Darstellung von Auswahlmengen vereinbaren lassen. DerAufsatz bringt Deweys Konzept einer Situation mit Sens Konzept der Menge anVerwirklichungschancen in Verbindung, das als Auswahlmenge gesehen werdenkann. Folglich muss geprüft werden, ob sich Deweys Abfolge von Situationenauch als Abfolge von Auswahlmengen interpretieren lässt. Dabei geht es nicht nurum die Überprüfung der Vereinbarkeit von Dewey Konzepten mit den formalenAnforderungen der Literatur zu Auswahlmengen, sondern auch um die Vereinbar-keit mit bereits vorhandenen Ideen zur zeitlichen Verknüpfung von Auswahlmen-gen, wie sie beispielsweise unter dem Stichwort »Präferenz für Flexibilität« ent-wickelt worden sind.45

Danksagung

Den Hinweis auf Deweys Büchlein »Experience and Education« und eine mögli-che Nähe zum Capability Ansatz verdanke ich Matthew Braham und ManfredHoller. Für Ermutigung und Kommentare zur englischen Version möchte ich michbei Geoff Hinchliffe, Caroline Hart, John Cameron und Elaine Unterhalter bedan-ken. Für ihre Kommentare zur Deutschen Version gilt mein Dank Thomas Uebelund Bernhard Babic.

Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz 71

45 Zur intertemporalen Verknüpfung von Auswahlmengen siehe Träger, Christian (2003): Wahlfrei-heit und die Struktur intertemporaler Entscheidungen (Diplomarbeit). Vgl. auch Fußnote 22.

Literatur

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Ortrud Leßmann72

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Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz 73

Ohne intellektuelle Redlichkeit kein Fortschritt.Kritische Anmerkungen zum Umgang mit demCapability Approach aus erziehungswissenschaftlicher Sicht

Bernhard Babic

1. Einleitung

Auf die herausragende Stellung, die der von Amartya Sen begründete CapabilityApproach (CA) in verschiedenen Bereichen bereits seit längerem einnimmt, istschon vielfach hingewiesen worden. In einem gewissen Widerspruch dazu stehtder Umstand, dass dieser wirtschaftswissenschaftliche Ansatz - wie unter anderemLeßmann1 oder auch Otto und Ziegler2 bemerken - offenkundig erst seit relativkurzer Zeit nennenswerte Aufmerksamkeit von Seiten der Erziehungswissenschafterfährt. Es wäre sicherlich interessant, den Gründen hierfür nachzuspüren. Dochim Mittelpunkt dieser Betrachtung soll zunächst eine mutmaßliche Folge diesesPhänomens stehen und weniger seine möglichen Ursachen.

Komplementär zur bislang selten gestellten Frage, wie durch erziehungswis-senschaftliche Erkenntnisse der CA theoretisch vervollständigt werden könnte,3soll hier dem ebenfalls nur sehr vereinzelt angesprochenem Aspekt nachgegangenwerden, was sich die Erziehungswissenschaft möglicherweise vom CA erwartendarf. Hat er tatsächlich das Potenzial, zu einer neuen Orientierung in der Erzie-hungswissenschaft zu werden, wie Otto und Ziegler4 es in Aussicht stellen? Umsich der Beantwortung dieser Frage anzunähern, wird im Folgenden kurz auf denEntstehungshintergrund des Ansatzes eingegangen und ein Blick darauf geworfen,wie sich der CA gegenwärtig in groben Zügen darstellt. Soweit das im begrenztenRahmen eines solchen Beitrags möglich ist, wird anschließend erörtert, inwiefern

1 Vgl. Leßmann, Ortrud, Verwirklichungschancen und Entscheidungskompetenz (Beitrag in diesem Band).

2 Vgl. Otto, Hans-Uwe/Ziegler, Holger (2006): Capabilities and Education, S. 269-287.3 Vgl. Leßmann, Verwirklichungschancen (Beitrag in diesem Band).4 Vgl. Otto, Hans-Uwe/Ziegler, Holger (2008): Der Capabilities-Ansatz als neue Orientierung in der

Erziehungswissenschaft, S. 9-13.

C. Sedmak et al., Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten, DOI 10.1007/978-3-531-92749-7_4,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

er im deutschsprachigen Raum bereits Eingang in erziehungswissenschaftlicheDebatten gefunden hat und an welchen Stellen er in welchem Ausmaß anschlussfä-hig zu sein scheint. Abschließend werden einige Schlussfolgerungen gezogen, diesich meines Erachtens aus den hier dargestellten Zusammenhängen für die weitereerziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem CA ergeben.5

2. Zum Entstehungshintergrund des CA

Nach Clark6 hat der CA seine Ursprünge vor allem in Sens Kritik an einer Wohl-fahrtsökonomie, die menschliches Wohlergehen (engl.: well-being) mit Wohl-stand (engl.: opulence), im Sinne eines hohen Einkommens bzw. der Verfügungs-gewalt über materielle Güter, oder mit utilitaristischen Größen (engl.: utility) wiedem Glücksempfinden und der Lustbefriedigung gleichsetzt. Beiden Denkansät-zen wirft er - vereinfacht gesagt - vor, der tatsächlichen Komplexität ihres Gegen-standes bei weitem nicht gerecht zu werden. In eine ähnliche Richtung, wennauch deutlich verhaltener und differenzierter, zielt letztlich auch Sens Kritik ander Gerechtigkeitstheorie von John Rawls, den er im Übrigen nicht nur als dengrößten Moralphilosophen des 20. Jahrhunderts bezeichnet7, sondern dessenAnsatz er zugleich auch zu einem wesentlichen Ausgangspunkt seiner eigenenÜberlegungen macht.8 Diese münden in dem Vorschlag, sich zur Beurteilung desWohlergehens und darauf abzielender (politischer) Maßnahmen in erster Linie anden individuellen Freiheiten (bzw. an deren Ausweitung oder Einschränkung)einer Person zu orientieren, die es ihr im Idealfall ermöglichen, ein Leben zu füh-ren, das sie - ausgehend von ihren eigenen Wertvorstellungen - auch wirklich füh-

Bernhard Babic76

5 Viele wichtige Anregungen zu diesem Beitrag entstammen einem sowohl fachlich als auch menschlich ungemein bereichernden Gedankenaustausch, den ich hierzu mit Frau Professor Irm-gard Bock führen durfte und für den ich mich an dieser Stelle ganz ausdrücklich bedanke. Darü-ber hinaus danke ich auch Frau Ortrud Leßmann für die erhellenden Diskussionen einzelner Aspekte des Capability Approach, die mir bei der Formulierung einer eigenen Position ebenfalls sehr geholfen haben.

6 Vgl. Clark, David (2005): The Capability Approach: Its Development, Critiques and Recent Advances, S. 3.

7 Vgl. Sen, Amartya (1999): A Decade of Human Development, S. 8.8 Für nähere Einzelheiten hinsichtlich Sens Argumentation siehe Graf, Gunter, Der Fähigkeitenansatz

im Kontext von verschiedenen Informationsbasen sozialethischer Theorien (Beitrag in diesem Band).

ren möchte.9 Der Ausdifferenzierung dieser normativen Grundidee nach Alkire10

folgend, beruht persönliches Wohlergehen dabei in erster Linie auf functionings,im Sinne von Handlungen und Zuständen, der eine Person grundsätzlich Wert-schätzung entgegenbringt. Von besonderem Interesse sind dabei vor allem die tat-sächlich verwirklichten functionings, als diejenigen Zustände und Handlungen,die eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt genießt bzw. ausübt. Individuel-le Freiheit spiegelt sich vor diesem Hintergrund in den capabilities wider, womitletztlich die unterschiedlichen Kombinationen von Zuständen und Handlungengemeint sind, die zu verwirklichen eine Person in der Lage ist. Die Verwirklich-barkeit hängt dabei sowohl von den persönlichen Fähigkeiten einer Person ab alsauch von einer entsprechenden, objektiv hierfür gegebenen Verwirklichungsmög-lichkeit, die von Seiten der Gesellschaft/des jeweiligen Umfelds eingeräumt wer-den muss.11

Sens Kritiker stellen nach Clark12 vor allem die tatsächliche Anwendbarkeitdes CA in Frage. Ihre Zweifel entzünden sich dabei nicht zuletzt daran, dass Senbislang keine schlüssige Liste zentraler capabilities vorgelegt hat. Nussbaum13

hat vor diesem Hintergrund versucht, den CA entsprechend zu ergänzen. Dasbrachte ihr jedoch umgehend den Vorwurf ein, dass es doch reichlich paternali-stisch sei, wenn eine nordamerikanische Philosophin für sich in Anspruch nehme,kultur- und gesellschaftsübergreifend relevante capabilities festlegen zu kön-nen.14 Die Frage, wie capabilities im jeweiligen Zusammenhang identifiziertbzw. ausgewählt werden sollen, ist folglich bis heute umstritten. Nach Schok-kaert15 haben sich in diesem Zusammenhang zwischenzeitlich zwei Extremposi-tionen herausgebildet. Nussbaum steht dabei exemplarisch für jene, die für dieNotwendigkeit einer vorab definierten Liste essentieller und weitgehend allge-meingültiger capabilities eintreten, während Sen als exponierter Vertreter derkonträren Position betrachtet werden kann, welche für entsprechende Festlegun-gen im Rahmen demokratischer Prozesse bzw. öffentlich geführter Diskurse ein-tritt, in die auch möglichst die jeweils unmittelbar betroffenen Personengruppen

Ohne intellektuelle Redlichkeit kein Fortschritt 77

9 Sen, Amartya (2001): Development as Freedom, S. 18.10 Vgl. Alkire, Sabina (2005): Briefing Note. Capability and Functionings: Definition & Justification, S. 2.11 Vgl. Heinrichs, Jan-Hendrik (2008): Capabilities: Egalitaristische Vorgaben einer Maßeinheit, S. 54.12 Vgl. Clark, The Capability Approach, S. 5.13 Vgl. Nussbaum, Martha (2000): Women and Human Development: The Capabilities Approach;

Nussbaum, Martha (2006): Frontiers of justice: disability, nationality, species membership.14 Vgl. Clark, The Capability Approach, S. 7.15 Vgl. Schokkaert, Erik (2008): The capabilities approach, S. 16f.

direkt eingebunden werden sollten.16 Schokkaert selbst nimmt in diesemZusammenhang als Empiriker eine eher ausgleichende Haltung ein, die teilweiseam Sinn der Debatten um capabilities-Listen zweifeln lässt.17 Er geht davon aus,dass

(...) the translation of (...) abstract capabilities in implementable terms will depend on the specific social, cultural and economic context, but it remains true that such essentially perfectionist appro-aches [gemeint ist hier Nussbaums Ansatz; Anm. d. Verfassers] leave little room for interindividual differences in opinions about what constitutes a good life. Consensus seems to be within reach when one remains at the level of abstract formulations, but soon crumbles down when one turns to more specific applications. A priori defined lists of capabilities are useful, because they provoke debate and discussion, but they do not seem to offer a solid foundation for scientific analysis.18

Der CA stellt sich vor diesem Hintergrund gegenwärtig weniger als eine in alle Ein-zelheiten sorgsam ausgearbeitete einheitliche Theorie dar, sondern, wie Robeyns19

vor allem unter Bezugnahme auf die von Sen ausgearbeitete Variante ausführt, als»broad normative framework for the evaluation of inividual well-being and socialarragements, the design of policies and proposals for social change in society«.

Bernhard Babic78

16 Der bereits mehrfach zitierte Clark tritt in diesem Zusammenhang übrigens für eine ›empirische Philosophie‹ ein, die danach trachten sollte, abstrakte Konzepte menschlichen Wohlergehens und der gesellschaftlichen Entwicklung mit den jeweils real vorzufindenden Wertvorstellungen und Erfah-rungen zu konfrontieren (vgl. Clark, The Capability Approach, S. 8). Ungeachtet der Vorbehalte und Kritik gegenüber seinem eigenen entsprechenden Umsetzungsversuch (vgl. Clark, David A. (2002): Visions of Development. A Study of Human Values) stimmt Robeyns (vgl. Robeyns, Ingrid/Clark, David Alexander (2002): Visions of Development. A Study of Human Values) ihm hinsichtlich der grundsätzlichen Notwendigkeit einer stärkeren empirischen Orientierung im Rahmen des CA zu.

17 Schrödter und Ziegler schwingen sich in einer Fußnote sogar zu der letztlich etwas skurril anmuten-den Annahme auf, dass Sen und Nussbaum sich an dieser Stelle ohnehin nur eine Scheindebatte lie-fern würden. Denn letztlich - so behauptet das Autorenduo - seien sich »beide darin einig, dass eine Liste niemals vollständig sein kann, keine allgemeingültigen Rangfolgen zwischen den Fähigkeiten festlegen darf, dass sie immer in Hinblick auf ein spezifisches wissenschaftliches, professionelles oder politisches Interesse konzipiert werden und vor allem, dass sie durch öffentliche Debatten kon-kretisiert werden müssen« (Schrödter, Mark/Ziegler, Holger (2006): Was wirkt in der Kinder- und Jugendhilfe? Internationaler Überblick und Entwurf eines Indikatorensystems von Verwirklichungs-chancen, S. 31).

18 Schokkaert, The capabilities approach, S. 16f.19 Robeyns, Ingrid (2003): The Capability Approach: An Interdisciplinary Introduction, S. 5.

Von nicht zu unterschätzender Bedeutung dürfte es dabei sein, dass der CAauch Eingang in die seit gut zwanzig Jahren vom Entwicklungsprogramm derVereinten Nationen (UNPD) herausgegebenen Berichte über die menschlicheEntwicklung (Human Development Reports) gefunden und damit maßgeb-lichen Einfluss auf die Ausgestaltung des Human Development Index genom-men hat.20 Den aus seiner Sicht unerwartet großen Erfolg dieser Berichtsreiheerklärt sich Sen dabei nicht zuletzt mit der Offenheit des zugrunde gelegten unddurch das Einbringen des CA von ihm wesentlich mitgeprägten Konzepts derBerichte 21, das allgemein als Human Development Approach bezeichnet wird.In Übereinstimmung damit bezeichnet auch Clark die von vielen als Schwächecharakterisierte Unvollständigkeit des CA gerade als seine Stärke. Nur so sei esihm zufolge schließlich möglich gewesen, die Menschen wieder in den Mittel-punkt der Evaluation gesellschaftlicher Entwicklung zu rücken, statt sie ledig-lich als ein Mittel zur Verwirklichung eines hohen Bruttosozialprodukts oderanderer ökonomischer Maßzahlen zu begreifen, und dabei konsequenterweiseauch anzuerkennen, dass unterschiedliche Völker, Kulturen und Gesellschaftenauch unterschiedliche Wertvorstellungen und Erwartungen haben dürfen.22

3. Aspekte der bisherigen Rezeption des CA im deutschsprachigen Raum

Wenn - wie im vorherigen Abschnitt gezeigt wurde - selbst in den Feldern,für die der CA konzipiert wurde und wo er sich nach Ansicht vieler Autoren/-innen auch hervorragend bewährt hat, teilweise noch intensiv die Frage sei-ner tatsächlichen Anwendbarkeit diskutiert wird, sollte sich ein entsprechendkritisches Nachhaken von Seiten der Erziehungswissenschaft erst recht vonselbst verstehen. Soweit sich das zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch über-blicken lässt, werden entsprechende Rückfragen innerhalb der Disziplinaugenblicklich kaum formuliert. Das hat sicherlich damit zu tun, dass derCA in unseren Breitengraden noch vergleichsweise neu ist. In Deutschlandund in der Folge auch in Österreich wurde der CA, basierend auf den Vorar-

Ohne intellektuelle Redlichkeit kein Fortschritt 79

20 Vgl. UNDP (Hg.): Human Development Report 1990. Concept and Measurement of Human Development.

21 Vgl. Sen, A Decade of Human Development.22 Vgl. Clark, The Capability Approach, S. 5.

beiten von Arndt et al.23 und Volkert24, beispielsweise erst im Zuge der nationalenArmuts- und Reichtumsberichterstattung in nennenswertem Umfang auch außerhalbder Wirtschaftswissenschaften zur Kenntnis genommen.25 Für die Sozialpädagogikdürften dann Schrödter und Ziegler26 das Konzept erstmalig (fach-)öffentlichkeits-wirksam in einem erziehungswissenschaftlichen Handlungsfeld aufgegriffenhaben.27 Die Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld, der beide Autorenzuzurechnen sind, hat sich in der Folgezeit zwar durch ihr Center for Educationand Capability Research, der teilweise ebenfalls dort beheimateten ResearchSchool Education and Capabilities sowie verschiedene Publikationen zu einemzentralen Ort der erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit demCA in Deutschland entwickelt und damit sicherlich auch einen gewissen Anteildaran, dass dieses Konzept 2009 Eingang in die nationale Kinder- und Jugend-berichtserstattung der deutschen Bundesregierung 28 fand. Trotz dieser beein-druckenden Fortschritte und der hohen Relevanz sowie des großen Potenzials,das dem CA da wie dort bescheinigt wird, fehlt es derzeit29 aber noch an über-zeugenden Untersuchungen, deren Ziel es meines Erachtens beispielsweise seinmüsste, zu klären,

- inwiefern sich der CA tatsächlich mit erziehungswissenschaftlichen Vorstel-lungen in Einklang bringen lässt,

Bernhard Babic80

23 Vgl. Arndt, Christian/Dann, Sabine/Kleinmann, Rolf/Strotmann, Harald/Volkert, Jürgen (2006): Das Konzept der Verwirklichungschancen (A. Sen) - Empirische Operationalisierung im Rahmen der Armuts- und Reichtumsmessung - Machbarkeitsstudie.

24 Vgl. Volkert, Jürgen (Hg.) (2005): Armut und Reichtum an Verwirklichungschancen. Amartya Sens Capability-Konzept als Grundlage der Armuts- und Reichtumsberichterstattung.

25 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.) (2005): Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung; Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.) (2008): Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregie-rung; Österreichische Gesellschaft für Politikberatung und Politikentwicklung (Hg.) (2008): 2. Armuts- und Reichtumsbericht für Österreich.

26 Vgl. Schrödter/Ziegler, Was wirkt in der Kinder- und Jugendhilfe?, S. 29f.27 Die Gelegenheit dazu bot sich ihnen im Rahmen einer Expertise für das Bundesmodellprogramm

»Wirkungsorientierte Jugendhilfe« zur Legitimierung einer Indikatorenliste, die ihrer Meinung nach künftig Evaluationen in der Kinder- und Jugendhilfe zugrunde gelegt werden sollte.

28 Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2009): 13. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland, S. 73f.

29 Stand: Dezember 2009.

- wie er zu bereits bestehenden Wissensbeständen und Konzepte in Beziehungsteht,

- ob er vor diesem Hintergrund überhaupt für eine Anwendung in den verschie-denen Bereichen der Erziehungswissenschaft geeignet ist und

- welcher Mehrwert davon gegebenenfalls zu erwarten ist.

Das im Frühjahr 2009 von SOS-Kinderdorf International, dem deutschen SOS-Kinderdorf e.V. und dem Internationalen Forschungszentrum Salzburg (IFZ)gestartete Projekt »Approaching Capabilities with Children in Care«30 stellthier in gewisser Weise eine Ausnahme dar. Es wird für Teilbereiche der ambu-lanten und stationären Kinder- und Jugendhilfe auch sicherlich interessanteErkenntnisse generieren können. Da diese jedoch im Rahmen von andernorts31

durchgeführten Feldstudien erarbeitet werden, bleibt abzuwarten, inwiefern sietatsächlich geeignet und in der Lage sein werden, die deutschsprachigen Fach-debatten zu bereichern. Zudem sind die zuvor formulierten Fragen auch viel zukomplex, um durch ein einzelnes Projekt oder einen einzelnen Artikel hinrei-chend beantwortet werden zu können. Um in diesem Zusammenhang nennens-werte Fortschritte erzielen zu können, wird es daher deutlich umfangreichererBemühungen bedürfen. Deren Notwendigkeit soll exemplarisch an zwei auserziehungswissenschaftlicher Sicht problematischen Aspekten des CA verdeut-licht werden.

Auf die Frage, wie der CA auf Kinder angewandt werden kann, angesichts derTatsache, dass Kinder nicht reif genug seien, um eigenständig Entscheidungen zutreffen, antwortet Sen nach Saito mit folgendem Beispiel:

If the child does not want to be inoculated, and you nevertheless think it is a good idea for him/her to be inoculated, then the argument may be connected with the freedom that this person will have in the future by having the measles shot now. The child when it grows up must have more free-dom. So when you are considering a child, you have to consider not only the child's freedom now, but also the child's freedom in the future.32

Ohne intellektuelle Redlichkeit kein Fortschritt 81

30 Vgl. Babic, Bernhard/Germes Castro, Oscar/Graf, Gunter (2009): Approaching Capabilities with Children in Care; Graf, Gunter/Germes Castro, Oscar/Babic, Bernhard (2010; in Druck): Appro-aching Capabilities with Children in Care - An international project to identify values of children and young people in care.

31 In Namibia und Nicaragua.32 Saito, Madoka (2003): Amartya Sen's Capability Approach to Education: A Critical Exploration,

S. 25.

Saito folgert daraus, dass aus dem Blickwinkel des CA im Umgang mit Kinderndas Augenmerk stärker auf deren künftigen statt ihren gegenwärtigen Freiheitenruhen sollte.33 Das ist jedoch eine Position, die (nicht nur) aus erziehungswissen-schaftlicher Sicht fragwürdig ist.

Denn auch wenn eine entsprechende Interpretation sicherlich dem zuwider-laufen dürfte, was Saito damit aussagen wollte, kann diese Schlussfolgerung alsRechtfertigung für den Einsatz von Erziehungsmitteln und -methoden aufge-fasst werden, die nach unserem heutigen Verständnis inakzeptabel sind, weil siebeispielsweise das Recht eines Kindes auf geistige und körperliche Unversehrt-heit missachten. Sie könnte also zu dem Schluss verleiten, dass der mutmaßlichgute Zweck auch ein schlechtes Mittel heilige. Damit würde tendenziell aucheinem intentionalen Erziehungsbegriff Vorschub geleistet, der davon ausgeht,»dass ein ›fertiger‹ Erwachsener ein ›noch nicht fertiges‹ Kind auf seine Höhe›hinaufzieht‹ «34. Ein solches Verständnis vernachlässigt jedoch zum einen,»dass Kindsein etwas qualitativ anderes ist als nur ›weniger erwachsen sein‹ «35

und zum anderen,

(…) dass es auch andere pädagogische Einflüsse als die intentionalen Erziehungsakte gibt, dass pädagogisches Tun ein wechselseitiges Geschehen ist, bei dem der Educandus immer aktiv ist, und vor allem, dass auch der Erwachsene vor ständig neuen Aufgaben der Lebensführung und des Werdens steht, zu deren Erfüllung er der Hilfe anderer bedarf.36

Kindheit stellt daher heute aus erziehungswissenschaftlicher Sicht eine eigenstän-dige, dem Erwachsensein wenigstens gleichwertige Lebensphase dar. Einer grund-sätzlichen Priorisierung künftiger Freiheiten gegenüber den gegenwärtigen mussvor diesem Hintergrund eine klare Absage erteilt werden. Ein verantwortungsvol-ler Umgang mit Kindern erfordert es vielmehr, gegenwärtige und künftige Freihei-ten möglichst gleichermaßen im Blick zu behalten und im Zweifelsfall äußerstsorgsam gegeneinander abzuwägen.

Vielleicht sogar mehr als Sens zuvor zitierte Antwort weist die ihr vorange-gangene Frage darüber hinaus auf einen weiteren problematischen Aspekt hin.Nicht nur hier, sondern auch andernorts scheint in der Literatur zum CA immerwieder ein relativ undifferenziertes Verständnis von Kindern bzw. von Kindheit

Bernhard Babic82

33 Saito, Sen's Capability Approach to Education, S. 26.34 Bock, Irmgard (2001): Pädagogische Anthropologie, S. 116.35 Bock, Pädagogische Anthropologie, S. 116.36 Bock, Pädagogische Anthropologie, S. 116.

auf.37 Es scheint, dass Sen - entsprechend dem zuvor erwähnten intentionalenErziehungsbegriff - Kindern grundsätzlich nicht zugesteht, Entscheidungen tref-fen zu können.38 Dass Kinder nicht einfach irgendwann Erwachsene sind, son-dern bis zum Erreichen dieses (zudem schwer eingrenzbaren) Stadiums Ent-wicklungs- und Reifeprozesse durchlaufen und dabei auch zunehmendmündiger, d.h. entscheidungsfähiger werden, findet keine explizite Berücksich-tigung. Ähnliches lässt sich nach Leßmann39 auch über Sens und NussbaumsHaltung gegenüber dem Erlernen bzw. der Entwicklung von capabilities festhal-ten. Sens Vorstellungen hierzu seien »bestenfalls komparativ-statisch«, d.h. auchcapabilities tauchen dort im Wesentlichen nur als etwas auf, das entweder gege-ben ist oder nicht. Nussbaums Vorstellungen gehen diesbezüglich zwar über dieSens hinaus, werden aber nicht hinreichend präzisiert. Dem CA fehlt mit ande-ren Worten ganz grundsätzlich eine angemessene Berücksichtigung von zeitlichbedingten Wechselwirkungen und Veränderungen. Das mag für ein Rahmenkon-zept, das handlungsfeld- und kulturübergreifend nur grobe Leitlinien zur Orien-tierung vorgeben möchte, vertretbar sein. Aus Perspektive einzelner Handlungs-felder und Kulturräume, die sich dieses Ansatzes bedienen möchten, ergibt sichdaraus jedoch die dringende Notwendigkeit, diese offenen Fragen für sich inangemessener Form zu beantworten.

4. Bildungsbegriff und Erziehungsziele als Beispiele für offene Fragen in derErziehungswissenschaft

Noch viel weniger als sich angesichts der unterschiedlichen Varianten desAnsatzes einheitlich von dem CA sprechen lässt, kann bei genauerer Betrach-tung von einer einheitlichen Erziehungswissenschaft gesprochen werden. Auchsie zerfällt in eine Vielzahl von ›Glaubensrichtungen‹ und Handlungsfeldern,was durch die Vielzahl der sogenannten Bindestrich-Pädagogiken besondersaugenfällig wird. In seiner an Studienanfänger/-innen gerichteten Einführung indas Fach beschreibt Lenzen 40 den vorherrschenden Theorienpluralismus gera-dezu als ein grundlegendes Charakteristikum der Erziehungswissenschaft seit

Ohne intellektuelle Redlichkeit kein Fortschritt 83

37 Vgl. Graf et al., An international project.38 Vgl. Sen, Amartya (2006): Children and Human Rights, S. 9.39 Vgl. Leßmann, Verwirklichungschancen (Beitrag in diesem Band). 40 Vgl. Lenzen, Dieter (2000): Erziehungswissenschaft - Pädagogik. Geschichte - Konzepte - Fach-

richtungen, S. 27.

1975. Die daraus resultierende Uneinigkeit in einer Vielzahl von Fragen beziehtsich dabei nicht nur auf eher marginale Aspekte, sondern auch auf so zentraleBegriffe des Fachs, wie den der Bildung.41

Andresen, Otto und Ziegler42 sehen hier dennoch einen möglichen Anknüp-fungspunkt zum CA und schlagen vor, Bildung im Sinne eines critical conceptmit emanzipatorischem Gehalt zu verstehen. Sie versuchen sich damit aus-drücklich gegenüber einem aus ihrer Sicht elitären und sozialer UngleichheitVorschub leistenden Bildungsbegriff abzugrenzen, wie ihn aus ihrer Sichtwohl Humboldt formuliert hat. Nun ließe sich sicherlich darüber streiten,inwiefern dem ›klassischen‹ Bildungsbegriff durch diese Abgrenzung nichtauch ein wenig unrecht getan wird. Davon abgesehen wird durch sie aberebenfalls deutlich, dass der vorgeschlagene Bildungsbegriff nur eine von v ie-len denkbaren Alternativen ist. Zudem gestehen auch Andresen et al. zu, dassder CA keine stimmige pädagogische Theorie, geschweige denn ein unmittel-bar anwendbares Erziehungsprogramm zur Verfügung stellt.43 Er wird, mitanderen Worten, also gar nicht konkret genug, um nicht auch mit anderenVorstellungen von Bildung vereinbar zu sein, wie der von Leßmann 44 vorge-schlagene Rückgriff auf Deweys Bildungstheorie zur Vervollständigung desCA beispielhaft verdeutlicht. Es kann daher in Frage gestellt werden, ob sichaus der Literatur zum CA für die Erziehungswissenschaft wirklich - wieAndresen et al. annehmen - brauchbare Anregungen hinsichtlich der Identifi-zierung grundlegender capabilities ergeben. Denn zum einen sind die dortgemachten Vorschläge noch nicht einmal innerhalb der CA-Gemeinde kon-sensfähig.45 Und zum anderen handelt es sich dabei aus Sicht der Erziehungs-wissenschaft nicht um eine neue Frage, die erst der CA aufgeworfen hätte. ImRahmen einer erziehungswissenschaftlichen Konkretisierung des CA wäre siemeines Erachtens vielmehr mit dem altbekannten Problem gleichzusetzen,wie und in welchem Ausmaß Erziehungs-/Bildungsziele verbindlich festge-

Bernhard Babic84

41 Vgl. Langewand, Alfred (2000): Bildung, S. 69-98; aber letztlich auch Reinhartz, Petra, Rezen-sion von: Otto, Hans-Uwe/Oelkers, Jürgen (Hrsg.) (2006): Zeitgemäße Bildung. Herausforderung für Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik, o.S.

42 Vgl. Andresen, Sabine/Otto, Hans-Uwe/Ziegler, Holger (2008): Bildung as Human Development: An educational view on the Capabilities Approach, S. 168.

43 Vgl. Andresen et al., Bildung, S. 189.44 Vgl. Leßmann, Verwirklichungschancen (Beitrag in diesem Band).45 Vgl. Abschnitt 2 zum Entstehungshintergrund des CA.

legt und konkretisiert werden können. An Versuchen, solche Ziele allgemeinverbindlich zu definieren, besteht in der Erziehungswissenschaft kein Man-gel, weshalb sich auch die Bereitschaft, in diesem Zusammenhang auf Nuss-baums (fachfremde) Liste zurückzugreifen, in gewissen Grenzen halten dürf-te. Wolfgang Klafki hat beispielsweise im Rahmen der von ihm begründetenkritisch-konstruktiven Didaktik/Pädagogik weitreichende und innerhalb derDisziplin vielbeachtete Vorschläge hierzu gemacht.46 Sie erheben denAnspruch, auch außerhalb der Schulpädagogik - mit der Klafkis Name in ersterLinie verknüpft wird - anwendbar zu sein und würden insofern vielleicht auchin den Debatten um eine erziehungswissenschaftliche Konkretisierung des CAmehr Aufmerksamkeit verdienen. Es ließen sich in diesem Zusammenhang abersicherlich auch noch andere Namen und Ansätze nennen. Daher soll hier voneiner detaillierteren Darstellung der kritisch-konstruktiven Didaktik/PädagogikAbstand genommen und stattdessen ohne weitere Umschweife in den Blickgenommen werden, welche Schlussfolgerungen sich meines Erachtens aus dembereits Gesagten ergeben.

5. Fazit

Die wachsende Popularität des CA innerhalb der Erziehungswissenschaft kannnicht darüber hinwegtäuschen, dass der Ansatz letztlich nicht geeignet ist, diebislang unbewältigten Probleme der Disziplin und ihrer Handlungsfelder zulösen. Meines Erachtens erhebt er diesen Anspruch in seiner ursprünglichenVariante aber auch gar nicht. Vielmehr scheint es sich dabei um eine an ihnherangetragene Unterstellung bzw. Erwartung zu handeln, der sich zumindestSen bislang immer konsequent verweigert hat. Sowohl der normativeAnspruch des CA, als auch alle anderen Fragen, die seine Anwendbarkeitbetreffen, bedürfen folglich der sorgfältigen handlungsfeld- bzw. fachspezifi-schen Konkretisierung, die durch den Rückgriff auf die wenigen theoretischenVorannahmen des CA in der Regel nicht in hinreichendem Maße geleistet wer-den kann. Um den Titel des bereits in der Einleitung zitierten Beitrags von

Ohne intellektuelle Redlichkeit kein Fortschritt 85

46 Vgl. Klafki, Wolfgang (2007): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Beiträge zur kri-tisch-konstruktiven Didaktik; Klafki, Wolfgang (1994): Schlüsselprobleme als Kern internationaler Erziehung; Klafki, Wolfgang (1998): Aufgaben und Möglichkeiten der Erziehungswissenschaft bei der Bestimmung von Zielen der Erziehung.

47 Otto/Ziegler, Der Capabilities-Ansatz als neue Orientierung, S. 9-13.

Otto und Ziegler nochmals aufzugreifen 47, könnte man sagen, er ist inhaltlichviel zu vage und folglich gar nicht geeignet, selbst zu einer neuen Orientie-rung in der Erziehungswissenschaft zu werden. Er kann die Erziehungswis-senschaft jedoch möglicherweise genau deswegen zu einer neuen und meinesErachtens auch dringend notwendigen Debatte über ihre Orientierung anre-gen. Die sich aus entsprechendem Nachdenken ergebende Orientierung wirdsich jedoch nicht zwingend aus dem CA ableiten lassen, sondern muss - wiebereits angedeutet - in erster Linie von der Disziplin selbst erarbeitet und ver-antwortet werden. Aus meiner Sicht stellt die Empirie einen Weg dar, auf demdies erreicht werden könnte. Das Ergebnis entsprechender erfahrungswissen-schaftlicher Untersuchungen wird aber ebenfalls immer nur eine sowohl zeit-lich, als auch soziokulturell limitierte Interpretation jener groben Leitliniensein können, die der CA enthält. Solange der grundlegende normativeAnspruch des CA, nämlich die Freiheit des Einzelnen, genau das Leben zuführen, das er/sie auch wirklich leben möchte, zum Maßstab und Bezugspunkteiner Gesellschaft zu machen, auf hinreichende Zustimmung stößt, lässt sichdaraus für die Erziehungswissenschaft dessen ungeachtet die Aufgabe ablei-ten, gezielt den im jeweiligen soziokulturellen Kontext vorherrschendenWertvorstellungen sowie den Möglichkeiten ihrer Verwirklichung nachzuge-hen und ihnen in Bildung und Erziehung einen entsprechenden Stellenwerteinzuräumen.

Der große Erfolg und die damit verbundene Popularität, die der CAwohl nicht zuletzt wegen seiner unspezifischen Ausgestaltung in verschie-denen Bereichen errungen hat, sind in diesem Zusammenhang Chance undRisiko zugleich. Beides trägt zum einen ganz offenkundig dazu bei, dasssich unter seinem Namen auch in Bereichen Diskussionen um die eigenenormative Ausrichtung anregen lassen, die lange - wie einige Teilbereicheder Ökonomie - resistent für Selbstzweifel aller Art wirkten oder - wie viel-leicht die Erziehungswissenschaft - der Selbstvergewisserungen überdrüs-sig geworden sind. Das aus meiner Sicht damit verbundene Risiko ergibtsich daraus, dass sich an den entsprechenden Diskursen - wie wir spätestensseit Foucault wissen - eben nicht alle jeweils Betroffenen gleichberechtigtbeteiligen können. Für einzelne hinreichend potente Interessengruppendürfte die Versuchung daher groß sein, ihre partikulare Sichtweise in ihremFachbereich als die alleingültige Lesart des CA zu etablieren, was seineneigentlichen Intentionen jedoch völlig zuwider liefe. Ob sich auf der Grund-lage des CAs also tatsächlich Fortschritte innerhalb der Erziehungswissen-schaft und ihrer Handlungsfelder erzielen lassen, hängt in erster Linie vonder (intellektuellen) Redlichkeit derer ab, die sich an den in diesem Zusammen-

Bernhard Babic86

hang zu führenden Diskursen beteiligen. Oder um es mit Poppers Worten zusagen:

Ich bin der Überzeugung, dass wir - die Intellektuellen - fast an allem Elend Schuld sind, weil wir zu wenig für die intellektuelle Redlichkeit kämpfen. (Am Ende wird deshalb wohl der stur-ste Anti-Intellektualismus den Sieg davon tragen).48

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Ohne intellektuelle Redlichkeit kein Fortschritt 87

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Ohne intellektuelle Redlichkeit kein Fortschritt 89

Values and Knowledge Education (VaKE)aus Sicht des Fähigkeiten-Ansatzes

Jean-Luc Patry

Das didaktische Prinzip Values and Knowledge Education (VaKE)1 wurde ausge-hend von den Theorien von Kohlberg2 und von Piaget3 entwickelt4, also völligunabhängig vom Fähigkeiten-Ansatz von Amartya Sen5 und Martha Nussbaum6.Die beiden Konzepte weisen aber große Ähnlichkeiten auf. Im vorliegenden Auf-satz geht es darum, sie miteinander zu vergleichen und den Fähigkeiten-Ansatz alsHeuristik für die Weiterentwicklung von VaKE zu verwenden.

Zunächst wird VaKE dargestellt. Der Fähigkeiten-Ansatz braucht demgegen-über im vorliegenden Zusammenhang nicht ausführlich präsentiert zu werden,vielmehr geht es im zweiten Kapitel darum, jene Elemente herauszuarbeiten, wel-che für den Vergleich von besonderer Bedeutung sind. Im dritten Kapitel wirdsodann der Vergleich durchgeführt, und im vierten Kapitel erfolgt die Diskussion,die sich vor allem darauf bezieht, ob sich auf Grund der Analyse Verbesserungs-möglichkeiten für VaKE ergeben.

1 Patry, Jean-Luc (2000): Werterziehung und Wissensbildung - lässt sich das vereinigen?, S. 423-440.2 Vgl. z.B. Kohlberg, Lawrence (1981): Essays on moral development. Vol. 1: The philosophy of

moral development. Moral stages and the idea of justice; Kohlberg, Lawrence (1984): Essays on moral development, Vol. 2: The psychology of moral development.

3 Vgl. z.B. Piaget, Jean (1976): Die Äquilibration der kognitiven Strukturen.4 Vgl. Patry, Jean-Luc/Weyringer, Sieglinde/Weinberger, Alfred (2007): Combining values and

knowledge education, S. 160-179.5 Vgl. z.B. Sen, Amartya (2002): Capability and well-being, S. 30-53; Sen, Amartya K. (32005):

Development as freedom. Deutsch Ökonomie für den Menschen: Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft.

6 Vgl. z.B. Nussbaum, Martha (2006): Frontiers of justice. Disability, nationality, species mem-bership; Nussbaum, Martha (2001): Women and equality. The capabilities approach, S. 45-65.

C. Sedmak et al., Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten, DOI 10.1007/978-3-531-92749-7_5,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

1. Grundlagen von VaKE

VaKE (Values and Knowledge Education) ist eine theoriebasierte didaktischeMethode, mit der sowohl Moral- und Werterziehung im Sinne von Kohlberg7

als auch Wissenserwerb im Sinne des Auftrags der Schule realisiert werden; imGegensatz zum traditionellen Unterricht handelt es sich allerdings um Wissens-erwerb auf konstruktivistischer Grundlage 8 und mit offenem Unterricht, wo dieLehrerin oder der Lehrer »orchestrator«9 und nicht »information transmitter«9

ist und die Schülerinnen und Schüler weitgehend selbst für ihr Lernen verant-wortlich sind.

Die theoretischen Grundlagen (und damit sozusagen der Stammbaum vonVaKE) sind in Abbildung 1 dargestellt. Ausgangspunkt sind konstruktivistischeKonzepte (a in Abb. 1), die in der Philosophie schon lange als bedeutsam ange-sehen werden; man kann hier beispielsweise auf Immanuel Kant10 und dessenAntwort auf die Frage »Was kann ich wissen?« verweisen. Kant war der Über-zeugung, dass sich die menschliche Erfahrung nicht nach den Gegenständenrichtet, sondern dass es umgekehrt die Anschauungen und die Begriffe desMenschen sind, die den Gegenständen der Erfahrung ihre Bedeutung geben.Diese philosophische Konzeption hat eine Entsprechung in der Wahrneh-mung.11 Das bedeutet letztlich, dass Menschen Wissen nicht entdecken (undschon gar nicht im Sinne des Nürnberger Trichters vermittelt bekommen), son-dern es erfinden, ausgehend von den schon existierenden Begriffsstrukturen(man kann auch von subjektiven Theorien im Sinne von Groeben et al.12 spre-chen).

Jean-Luc Patry92

7 Vgl. Kohlberg, moral development.8 Vgl. z.B. Glasersfeld, Ernst von (1995): Radical constructivism: A way of knowing and learning.9 Salomon, Gavriel (1992): The changing role of the teacher: From information transmitter to

orchestrator of learning, S. 35-49.10 Kant, Immanuel (1989): Kritik der reinen Vernunft. Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der

Urteilskraft.11 Vgl. z.B. Bruner, Jerome S. (1957): On perceptual readiness, S. 123-152.12 Vgl. Groeben, Norbert/Wahl, Diethelm/Schlee, Jörg/Scheele, Brigitte (1988): Forschungspro-

gramm subjektive Theorien. Eine Einführung in die Psychologie des reflexiven Subjekts.

Abbildung 1: »Stammbaum« von VaKE

1.1 Kognitives Lernen, Entwicklung und Unterricht

Lernen und Entwicklung im kognitiven Bereich (b in Abb. 1) folgen nach Piagetdem Prinzip von Assimilation, Desäquilibrium und Akkommodation. Die Wahr-nehmung einer Situation, eines Ereignisses, eines Textes etc. (Beispiel: ein Filmüber Delfine) führt bei hinreichender Motivation zu einer Prüfung, ob diedadurch erhaltene Information in die angesprochene subjektive Theorie passt,also nicht mit dieser im Widerspruch steht (im Beispiel: Kann der Delfin als Fischinterpretiert werden?). Ist dies der Fall, erfolgt die so genannte Assimilation: DieInformation wird in die subjektive Theorie integriert (der Delfin wird als Beispielfür die Kategorie »Fische« aufgenommen). Wird die Information akzeptiert, passtaber nicht in die Theorie (viele Merkmale des Delfins sind anders als bei denFischen), gibt es einen Widerspruch, eine Inkonsistenz oder, wie Piaget sagt, einUngleichgewicht (Desäquilibrium). Menschen versuchen in der Regel, solcheUngleichgewichte auszugleichen, d.h. ins Gleichgewicht zurückzufinden. Dieserfolgt durch die so genannte Akkommodation: Die subjektive Theorie wird ver-ändert, angepasst (im genannten Beispiel wird die subjektive Theorie über Säu-getiere beispielsweise dahingehend erweitert, dass es nicht nur Land-Säuger gibt,wie bislang angenommen, sondern auch Meeressäuger, mit den Delfinen als pro-

Values and Knowledge Education (VaKE) 93

a) KonstruktivismusKant etc.

d) Moralische EntwicklungKohlberg

f) VaKE

e) MoralerziehungBlatt & Kohlberg

c) Konstruktivistischer UnterrichtGlasersfeld

b) Kognitive EntwicklungPiaget

totypischem Beispiel); dies ist die oben genannte Erfindung i.S. von Foerster. Istdiese Erfindung brauchbar, wird sie in das System der subjektiven Theorien inte-griert: Das entsprechende Wissen wird gelernt bzw. es findet kognitive Entwik-klung statt.

Darauf aufbauend kann man den Unterricht konzipieren (c in Abb. 1): alsProblemlösungsprozess.13 In der Unterrichtssituation sehen sich die Schülerin-nen und Schüler mit einem Problem konfrontiert (das beispielsweise von derLehrerin oder dem Lehrer vorgegeben wird, es kann sich aber auch um ein sichspontan ergebendes Problem - einen so genannten »fruchtbaren Moment«14

handeln), das nicht in seine subjektive Theorie passt (Desäquilibrium); dieSchülerinnen und Schüler suchen nach einer möglichen Lösung (sie erfindendiese), und wenn sie sich bewährt, wird sie in die subjektiven Theorien inte-griert: gelernt. Bei dieser Erfindung kann die Schülerin oder der Schüler unter-stützt werden (so genannte »fokussierende Einflüsse«15), und es ist die Aufga-be der Lehrerin oder des Lehrers, Möglichkeiten zu bieten, damit dieSchülerinnen und Schüler prüfen können, ob ihre Erfindung brauchbar ist odernicht (so genannter »Viabilitäts-Check«16) - begabte Schülerinnen und Schülertun dies spontan 17.

1.2 Moralische Entwicklung und Moralerziehung

Im Bereich der Moral wurde das konstruktivistische Prinzip von Kohlberg imRahmen eines Forschungsprogramms systematisch untersucht (d in Abb. 1). ImVordergrund stehen dabei moralische Urteile, d.h. die Argumente (bzw. Argu-mentationsmuster), die Menschen zugunsten oder gegen Normen und Wertegebrauchen. Es geht also nicht um bestimmte Normen und Werte, sondern darum,warum jemand einen bestimmten Wert befürwortet. So kann für den gleichenWert ganz unterschiedlich argumentiert werden. Kohlberg und Mitarbeiterinnen

Jean-Luc Patry94

13 Vgl. dazu z.B. Patry, Jean-Luc (2001): Die Qualitätsdiskussion im konstruktivistischen Unterricht, S. 73-94.

14 Copei, Friedrich (61962): Der fruchtbare Moment im Bildungsprozess.15 Patry, Qualitätsdiskussion im konstruktivistischen Unterricht.16 Patry, Jean-Luc, Viabilität. Manuskript in Vorbereitung.17 Vgl. Weinberger, Alfred (2006): Kombination von Werterziehung und Wissenserwerb. Evalua-

tion des konstruktivistischen Unterrichtsmodells VaKE (Values and Knowledge Education) in der Sekundarstufe I.

sowie Mitarbeiter18 unterscheiden dabei sechs Stufen der moralischen Argumen-tation:

- Stufe 1: Heteronome Moralität: Im Vordergrund stehen Belohnung oder Stra-fe. Moralisch richtig ist also, was positive, moralisch falsch, was negative Sank-tionen nach sich zieht. Die überlegene Macht der Autoritäten wird anerkannt undnicht hinterfragt. Es besteht überhaupt keine Autonomie. Die berücksichtigte Per-sonengruppe ist sehr eingeengt: Es geht nur um mich und um eine als übermäch-tig wahrgenommene Autorität, die Universalität (Geltung für mehr Personen) istnicht gegeben. Beispiel: Die Hausregeln werden befolgt, weil jedes Übertretenbestraft wird.

- Stufe 2: Individualismus, Zielbewusstsein und Austausch: Regeln sind zubefolgen, aber nur dann, wenn es den unmittelbaren Interessen von jemandemdient; es geht darum, die eigenen Interessen und Bedürfnisse zu befriedigen undandere dasselbe tun zu lassen. Gerecht ist auch, was ein gleichwertiger Austausch,ein Handel oder ein Übereinkommen ist. Es gibt hier erste Ansätze zur Autonomie.Nur zwei Protagonisten haben anerkannte Interessen: ich und die Person(engrup-pe), der ich etwas Gutes tue und die mir zum Ausgleich auch Vorteile zukommenlässt (sehr eingeschränkte Universalität). Beispiel: Die Hausregeln sollen befolgtwerden, weil dies die Lehrerinnen und Lehrer positiv stimmt und sie mich dannauch unterstützen und weniger schlechte Noten geben. Sanktionen sind nicht ein-fach hinzunehmen, wie in Stufe 1, sondern können zum wechselseitigen Nutzeneingesetzt werden.

- Stufe 3: Wechselseitige Erwartungen, Beziehungen und interpersonale Kon-formität: Den Erwartungen, die nahe stehende Menschen oder Menschen über-haupt an mich als Träger einer bestimmten Rolle (Sohn, Bruder, Freund usw.) rich-ten, sollen befolgt werden. »Gut zu sein« ist wichtig und bedeutet, ehrenwerteAbsichten zu haben und sich um andere zu sorgen. Es bedeutet, dass man Bezie-hungen pflegt und Vertrauen, Loyalität, Wertschätzung und Dankbarkeit empfin-det. Im Vordergrund steht die Gruppe, zu der man selber gehört; wer außerhalbdieser Gruppe steht, hat keine Bedeutung. Die Autonomie ist hier an die Gruppegebunden, deren Interessen ausschließlich berücksichtigt werden (beschränkteUniversalität). Beispiel: Wenn die Norm der Peer-Gruppe, der man sich zugehörigfühlt, darin besteht, die Grenzen der Hausordnung auszutesten, wird man es alsgerechtfertigt ansehen, das selber auch zu tun. Der wechselseitige Nutzen (Stufe 2)wird auf die ganze Gruppe ausgedehnt.

- Stufe 4: Gesetze sind zu befolgen, weil sie der Regelung des sozialen Zu-sammenseins dienen: Das Recht steht im Dienste der Gesellschaft, der Gruppeoder der Institution. Wenn die Gesetze anderen festgelegten sozialen Verpflichtun-gen widersprechen, die für das Zusammenleben wichtiger sind, haben letztere Vor-

Values and Knowledge Education (VaKE) 95

rang. Die Autonomie besteht u.a. darin, selber zu entscheiden, ob und inwieweit dieRegeln der Gesamtheit dienlich sind und gegebenenfalls Regeln abzulehnen, diedies nicht tun. Die Universalität bezieht sich auf die Gesellschaft, für die die ent-sprechende Regel relevant ist, unabhängig davon, welche Gruppen diese umfasst,zu welcher dieser Gruppen ich gehöre und zu welchen ich allenfalls in Oppositionstehe. Beispiel: Die Hausordnung erfüllt den Zweck, Probleme im Zusammenlebenzu minimieren; sie gelten dann nicht nur für die eigene Gruppe, wie in Stufe 3, son-dern für alle Mitglieder der betreffenden Gesellschaft gleichermaßen, beispiels-weise für Lehrerinnen und Lehrer wie für Schülerinnen und Schüler, außer es gibtgute Gründe für gruppenspezifische Regelungen. Wenn die Regeln als willkürlichund sinnlos wahrgenommen werden, müssen sie nicht eingehalten werden.

- Stufe 5: Sozialer Kontrakt bzw. die gesellschaftliche Nützlichkeit, zugleichindividuelle Rechte: Die Person ist sich der Tatsache bewusst, dass Menschenviele unterschiedliche Werte und Normen vertreten, und dass diese meistens grup-penspezifisch sind. Diese »relativen« Regeln sollten im Allgemeinen im Interesseder Gerechtigkeit befolgt werden; es sind diese sozusagen Vereinbarungen oderKontrakte, an die man sich sinnvollerweise hält. Doch gewisse absolute Werte undRechte wie Leben und Freiheit müssen in jeder Gesellschaft und unabhängig vonder Meinung der Mehrheit respektiert werden. Die Autonomie besteht darin, sel-ber zu entscheiden, welche Prioritäten man diesbezüglich setzen will. Die Regelnsind so formuliert, dass die Bedürfnisse aller Menschen angemessen berücksich-tig werden. Beispiel: Hausregeln sind einzuhalten, wenn sie (im Sinne von Stufe 4)angemessen sind. Wenn sie allerdings diskriminierend sind, muss man sie ableh-nen und bekämpfen.

- Stufe 6: Universale ethische Prinzipien: Die Entscheidung beruht auf selbstge-wählten ethischen Prinzipien. Spezielle Gesetze oder gesellschaftliche Überein-künfte sind im Allgemeinen deshalb gültig, weil sie auf diesen Prinzipien beruhen.Wenn Gesetze gegen diese Prinzipien verstoßen, dann handelt man in Überein-stimmung mit dem Prinzip. Bei den erwähnten Prinzipien handelt es sich um uni-versale Prinzipien der Gerechtigkeit: Alle Menschen haben gleiche Rechte und dieWürde des Einzelwesens ist zu achten. Die Person glaubt an die Gültigkeit univer-saler moralischer Prinzipien und ein Gefühl persönlicher Verpflichtung ihnengegenüber. Autonomie und Universalität sind vollumfänglich gegeben; die inAbschnitt 4 genannten Prinzipien Gerechtigkeit, Fürsorge, Wahrhaftigkeit, Rever-sibilität und Menschenwürde werden so weit wie möglich berücksichtigt. Beispiel:Gerechtfertigte Hausregeln werden beachtet (Stufe 5), doch hält man sich insbe-sondere an selbstgesetzte Regeln, die allen nützen.

Die ersten zwei Stufen werden als »präkonventionell« bezeichnet, die Stufendrei und vier als »konventionell«, weil sie in der Gesellschaft am häufigsten ver-

Jean-Luc Patry96

treten sind, und die Stufen fünf und sechs als »postkonventionell«, weil sie wei-ter gehen als die konventionellen Stufen. Die Entwicklung erfolgt nach der Theo-rie Kohlbergs dadurch, dass die betreffende Person mit moralischen Problemenkonfrontiert ist, die mit dem verfügbaren Argumentationsrepertoire (auf der ent-sprechenden Stufe) nicht befriedigend gelöst werden kann (Desäquilibrium). Aufder Suche nach besseren Lösungsmöglichkeiten erfindet die Person neue Argu-mentationsformen; wenn sie sich bewähren (das sind in der Regel Argumenta-tionsformen der nächsthöheren Stufe), werden sie beibehalten: Akkommodation.Längsschnittstudien19 zeigen, dass die ontogenetische Entwicklung nach der obendargestellten Stufenfolge geschieht, deshalb können die Stufen auch als Entwik-klungsstufen bezeichnet werden.

Die moralischen Probleme weisen die Form von Dilemmata auf.20 Ein Dilem-ma ist eine Situation, in der eine Person eine Entscheidung zwischen den Optio-nen A und B treffen muss; entscheidet sich die Person für Option A, werdenbestimmte der Person wichtige Aspekte nicht berücksichtigt; bei Entscheidung Bwerden diese Aspekte einbezogen, dafür andere vernachlässigt, die bei Entschei-dung A zum Zuge kommen. Welche Entscheidung auch immer getroffen wird,wichtige persönliche Anliegen der Person werden nicht berücksichtigt. MoralischeDilemmata sind Situationen, in denen Werte oder Normen zur Diskussion stehen,die je nach Entscheidung gebrochen werden.

Der oben dargestellte Prozess des moralischen Desäquilibriums und der mora-lischen Akkommodation wurde von Kohlbergs Doktorand Moshe Blatt21 bei derKonzeption einer Interventionsmethode zur Förderung der moralischen Entwik-klung verwendet (e in Abb. 1). Die Schülerinnen und Schüler werden in Gruppenmit einem moralischen Dilemma konfrontiert. In der Diskussion über möglicheLösungen konfrontieren sich die Schülerinnen und Schüler gegenseitig mit Argu-menten verschiedener Stufen der moralischen Urteilsfähigkeit. Diese Argumenteführen zu Desäquilibrium und Akkommodation. Der Übergang von einer Stufe aufdie andere braucht Wochen, oft Monate. Die dargestellte Interventionsmethodekann die Entwicklung, die ohnehin stattgefunden hätte, beschleunigen; wenn aberdie Umwelt ohne Intervention keine weiteren moralischen Herausforderungen

Values and Knowledge Education (VaKE) 97

19 Vgl. Colby, Anne/Kohlberg, Lawrence/Gibbs, John/Lieberman, Marcus (1983): A longitudinal study of moral judgment (Monographs of the Society for Research in Child Development.

20 Vgl. Patry, Jean-Luc/Weinberger, Alfred/Weyringer, Sieglinde: Fächerübergreifende Ansätze: Atmosphäre, Dilemma-Diskussionen, VaKE und Just Community (dzt. im Druck).

21 Vgl. Blatt, M./Kohlberg, L. (1975): The effects of classroom moral discussion upon children´s level of moral judgement, S. 129-161.

gestellt hätte (oder diese vom Individuum nicht wahrgenommen worden wären),kann die Dilemmadiskussion zu einer Entwicklungsförderung führen, die sonstnicht stattgefunden hätte.

2. VaKE

Die Erfahrungen mit Dilemmadiskussionen zeigen, dass (i) Schülerinnen undSchüler sehr motiviert sind, an solchen Diskussionen mitzumachen, aber beiDilemmata, die ein bestimmtes Wissen voraussetzen22, (ii) häufig Informations-defizite aufweisen, was die Argumentation erschwert. Auf dieser Grundlagewurde deshalb das Konzept der Kombination von Moral- und Werterziehung aufBasis der Dilemmadiskussion und des Wissenserwerbs entwickelt: »Values andKnowledge Education«23 (VaKE; f in Abb. 1).

2.1 Die Schritte von VaKE

Die einzelnen Schritte bei VaKE sind in Tabelle 1 zusammengestellt. Die erstendrei Schritte entsprechen denjenigen der Moralerziehung nach Blatt und Kohlberg.Der vierte Schritt leitet zum Wissenserwerb über: Es geht um die Formulierungvon Problemen, die den konstruktivistischen Lernprozess (c in Abb. 1) über einDesäquilibrium auslösen. Die Schülerinnen und Schüler suchen dann selbststän-dig in kleinen Gruppen das Informationsdefizit zu beheben, vor allem im Internet(Schritt 5). Da unterschiedliche Gruppen unterschiedliche Informationen recher-chiert haben, ist es notwendig, dass sie sich gegenseitig darüber austauschen(Schritt 6). Mit verbessertem Wissensstand kann dann im siebten Schritt dieDilemmadiskussion (als Wertediskussion) weitergeführt werden. Die Ergebnissewerden sodann zusammengefasst (Schritt 8), und bei Bedarf (und falls genügendZeit zur Verfügung steht) können die Schritte 4 bis 8 wiederholt werden. DenAbschluss bilden eine Synthese, die sich auf den gesamten Prozess bezieht, sowieAktivitäten, die auf die Verallgemeinerung der Erkenntnisse abzielen (etwa wer-den konkrete Aktionen unternommen).

Jean-Luc Patry98

22 Etwa historische Dilemmata wie »War Ludwig XVI. schuldig im Sinne der damaligen Anklage?«: Um dies kompetent diskutieren zu können, müssen die Schülerinnen und Schüler um diese Ankla-ge wissen und auch die Rahmenbedingungen kennen.

23 Vgl. Patry, Werterziehung und Wissensbildung.

Tabelle 1: Prototypischer Ablauf von Vake24; kursiv: Moral- und Werterziehung;unterstrichen: Wissenserwerb.

2.2 Wichtige Prinzipien von VaKE

Dem Vergleich mit dem Fähigkeitenansatz können mehrere Prinzipien zu Grundegelegt werden, die für VaKE konstituierend sind. Wo entsprechende Untersuchun-gen verfügbar sind, wird auf diese verwiesen. Die Themen sind allerdings so viel-fältig, dass es bislang nicht möglich war, sie alle zu untersuchen. Deshalb werdenin anderen Bereichen anekdotische Erfahrungen berichtet, von denen nicht bean-sprucht wird, dass sie repräsentativ seien, die aber als prototypisch betrachtet wer-den können.

Values and Knowledge Education (VaKE) 99

Schritt Handlung Aufteilung

1 Dilemma einführen Welche Werte stehen zur Diskussion? Klasse

2 Erste Entscheidung Wer ist dafür, wer ist dagegen? Klasse

3 Erstes Argumentieren(Dilemma-Diskussion)

Warum bist du dafür, warum dagegen?Welche Argumente zählen für euch? Gruppe

4 Austausch über Erfahrungenund fehlende Inforamtion

Austausch der Argumente; wie könnte man meinArgument verstärken? Welche Fragen sind offen? Klasse

5 Suche nach Information Sucht adäquate Information unter Zuhilfenahmeverschiedener Informationsquellen! Gruppe

6 Austausch von Information Präsentiert eure Ergebnisse! Sind sie ausreichend? Klasse

7 Zweites Argumentieren Warum bist du dafür, warum dagegen? Gruppe

8 Synthese der Information(Dilemma-Diskussion)

Austausch der Argumente auf der Basisdes neuen Wissens Klasse

9 Wiederholung von 4 bis 8- wenn nötig Sind noch Fragen offen? Gruppe /

Klasse

10 Endprodukt, Synthese Zu welchem Ergebnis sind wir gelangt? Klasse

11 Generalisation Diskussion über andere verwandte Themen Klasse

24 Vgl. Patry, Jean-Luc/Weinberger, Alfred (2004): Kombination von konstruktivistischer Werterzie-hung und Wissenserwerb, S. 35-50 und online.

2.2.1 Konstruktivistische Grundlage

Wie oben dargelegt, beruhen die theoretischen Grundlagen auf dem Konstrukti-vismus (a in Abb. 1). Im vorliegenden Zusammenhang wesentlich ist aber, dassder Konstruktivismus nicht nur eine Grundlage für Lern- und Entwicklungstheo-rien (b und d in Abb. 1) bzw. für Unterrichts- und Erziehungstheorien (c und e inAbb. 1) und damit auch für VaKE, sondern auch eine wissenschaftstheoretischeGrundlegung ist. Eine zentrale Frage ist hierbei, ob es eine oder mehrere Wirk-lichkeiten gibt, und wenn ja, wie diese aussieht oder aussehen.

In VaKE wird von folgender Vorstellung ausgegangen25:- Ob es eine reelle Welt gibt oder nicht, und wenn ja, ob es eine oder mehrere

gibt, sind irrelevante Fragen weil wir ohnehin keine Chance haben, Aussagen über mögliche Wirklichkeiten zu testen. Da diese Fragen nicht beantwortet werden können, ist es sinnlos, sie weiter zu verfolgen.

- Sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft haben wir Theorien (analog den oben diskutierten subjektiven Theorien), welche davon ausgehen, dass es eine reelle Welt gibt und wie diese aussieht. Es ist dies jeweils eine Konstruk-tion des Individuums.

- Der Anspruch ist nicht, dass die Theorie die Wirklichkeit angemessen reprä-sentiert. Vielmehr ist die Theorie bislang viabel26 gewesen, und wir waren in der Lage, mit Hilfe dieser Theorien erfolgreich zu handeln. Wären die Theo-rien nicht viabel gewesen, hätten wir sie durch eine bessere ersetzt, sonst hät-ten wir nicht überlebt27.

Diese Überlegungen haben weitgehende Konsequenzen, auf die hier allerdingsnicht eingegangen werden kann.

2.2.2 Kooperation

Ein wesentliches Merkmal von VaKE ist die Kooperation bei der Erarbeitungvon Wissen und von moralischen Prinzipien. Die Schülerinnen und Schüler tun

Jean-Luc Patry100

25 Vgl. z.B. Berkeley, George (1998): A treatise concerning the principles of human knowledge; Kant, Kritik der reinen Vernunft; Popper, Karl R. (1965): Conjectures and refutations. The growth of scientific knowledge; Putnam, Hilary (1996): Realism and reason; u.a.m.

26 Vgl. Patry, Viabilität.27 Es gibt Menschen mit nicht-viablen Theorien, die mit Hilfe und Unterstützung anderer Menschen

überleben können, etwa psychisch kranke Menschen.

(im Sinne des Konstruktivismus) die entscheidende Lern- und Entwicklungsar-beit und unterstützen sich dabei gegenseitig. Die Moraldiskussionen unter Peerswaren schon von Blatt and Kohlberg28 als entscheidendes Element identifiziert,allerdings sollte dabei auch die Lehrerin oder der Lehrer Argumente beisteuern -in VaKE hält sich die Lehrperson diesbezüglich stark zurück.

In Untersuchungen29 hat sich gezeigt, dass die Förderung des Teamworks zueiner Erhöhung des Wissenserwerbs führt; das angeeignete Wissen wird auch stär-ker in neuen Situationen angewendet. Auch die Zufriedenheit und andere positiveDimensionen sind in der Gruppe mit Teamwork-Förderung höher als in der Grup-pe, in der das Teamwork nicht gefördert wurde. Im moralischen Bereich hat dasTeamwork keinen Einfluss; man kann vermuten, dass bei den Moraldiskussionendie Schülerinnen und Schüler spontan kooperieren, während im Wissensbereichdie Schülerinnen und Schüler spontan als Einzelkämpferinnen und -kämpfer30

auftreten.Die Peers sind auch die wichtigsten Quellen für Viabilitäts-Checks. Dies hat

die wichtige Konsequenz, dass die Schülerinnen und Schüler nicht versuchen, her-auszufinden, was die Lehrerin oder der Lehrer hören will (Lehrerin oder Lehrer alsViabilitäts-Kriterium), sondern ihre Argumente an den Peers messen. Es ist wohlnicht auszuschließen, dass des dabei den Schülerinnen und Schülern darum geht,ihre Peers zu beeindrucken; ob das mit Argumenten oder mit anderen Mitteln31

geschieht, müsste empirisch weiter untersucht werden.

2.2.3 Multiperspektivität

Durch die Diskussionen werden sowohl im moralischen Bereich wie auchbezüglich der Information gleiche Umstände aus ganz unterschiedlichen Sicht-weisen betrachtet. Die Dilemmadiskussion beruht auf der Auseinandersetzung

Values and Knowledge Education (VaKE) 101

28 Vgl. Blatt/Kohlberg, Classroom moral discussion.29 Vgl. z.B. Gastager, Angela/Weinberger, Alfred (2009): Zur Wirksamkeit von Teamwork in einer

innovativen Lernumgebung im Schulunterricht, S. 249-276.30 Kämpferinnen und Kämpfer im wahrsten Sinne des Wortes, kämpfen die Schülerinnen und Schü-

ler doch häufig im Unterricht gegeneinander statt miteinander, weil die schlechtere Leistung des Peers zu einer besseren Benotung der eigenen Leistung führen kann (soziale Bezugsnorm).

31 Etwa sich einem opinion leader anschließen (»basking«) oder die Ansicht eines unbeliebten Peers ablehnen (»blasting«), vgl. dazu etwa Richardson, Kenneth D./Cialdini, Robert B. (1981): Basking and blasting: Tactics of indirect self-presentation, S. 41-53.

zwischen verschiedenen Denkweisen und Überzeugungen. Auch bezüglich desWissens erarbeiten sich die Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Informa-tionen, die sie dann austauschen. Hinzu kommt, dass im Internet zum gleichenGegenstand ganz unterschiedliche, häufig sogar gegensätzliche Information ange-boten wird. Die Schülerinnen und Schüler sind deswegen mit den verschiedenstenPerspektiven konfrontiert und merken dabei, dass verschiedene Perspektivendurchaus sinnvoll sein können.

Dabei werden verschiedene Bereiche angesprochen (Interdisziplinarität). Ineiner VaKE-Diskussion zur Frage, ob Woyzeck aus Büchners Drama des Mor-des an seiner Verlobten Marie schuldig zu sprechen sei,32 wurde beispielsweisewie folgt argumentiert: Woyzeck war Versuchskaninchen eines Arztes, der ihmeine Erbsendiät verschrieb (Literatur). Erbsen haben einen sehr geringen Anteilan Jod (Lebensmittelchemie). Jodmangel führt beim Menschen zu einer geisti-gen Beeinträchtigung (Neurophysiologie). Geistige Beeinträchtigung ist einGrund für Unzurechnungsfähigkeit (Rechtswissenschaft). Deshalb ist Woyzecknicht schuldig. In diesem Argumentationsstrang kommen also ganz unterschied-liche Disziplinen vor und werden aufeinander bezogen - und dies ist generellder Fall.

In VaKE gibt es nicht nur ein einziges Qualitätskriterium: Die Viabilität einerAussage wird immer nach ganz unterschiedlichen Kriterien beurteilt - von unter-schiedlichen Schülerinnen und Schülern, aber häufig auch von der gleichen Schü-lerin oder vom gleichen Schüler. Beispielsweise wurde in einer VaKE-Diskus-sion ein Gerichtsverfahren im Rollenspiel durchgeführt; dabei spielte der gleicheSchüler einmal den Angeklagten, dann den Zeugen der Anklage, dann einen Gut-achter. Andere wechselten die Rolle ebenfalls mit der Notwendigkeit, einmal zuGunsten, dann wieder gegen die gleiche Position zu argumentieren, also die Per-spektive zu wechseln. Dies gehört zum Standard bei VaKE.

2.2.4 Grundbedingungen des Menschen

Das Menschenbild, das VaKE zu Grunde liegt, wurde im Rahmen des Forschungs-programms Subjektive Theorien33 formuliert. Der Mensch wird als Erfinder und

Jean-Luc Patry102

32 Vgl. Weinberger, Alfred/Kriegseisen, Gerhard/Loch, Alexander/Wingelmüller, Petra (2005): Das Unterrichtsmodell VaKE (Values and Knowledge Education) in der Hochbegabtenförderung: Der Prozess gegen Woyzeck, S. 23-40 und online.

33 Vgl. Groeben et al., Forschungsprogramm subjektive Theorien.

Benutzer von Theorien gekennzeichnet; dabei wird davon ausgegangen, dass derMensch die folgenden vier Fähigkeiten hat:

- Die Fähigkeit zur Kommunikation: Menschen können innere Theorien anderen mitteilen, um Konfrontation und/oder Bestätigung zu erreichen.

- Die Fähigkeit zur Autonomie: Sie können den Lernprozess in die eigene Hand nehmen, seine Wirksamkeit prüfen und die Lernwege selbst steuern; der Fokus liegt u.a. auf den Grenzen der Autonomie.

- Die Fähigkeit zur Integration von Denken, Fühlen und Agieren.- Die Fähigkeit zur Reflexivität: Subjektive Theorien dienen der Handlungssteu-

erung und bieten Erklärungen an, so dass große Netze von Erklärungstheorien entstehen.

Dazu gehört auch, dass das Individuum Ziele hat, verfolgt und die eigenen Mög-lichkeiten zu verwirklichen sucht. Es geht also darum, dass nach diesem Menschen-bild der Mensch nicht nur sein Wissen und seine kognitive Struktur konstruiert, wieoben im Zusammenhang mit dem Konstruktivismus dargestellt, sondern auch dieeigenen Talente und Begabungen verwirklichen kann. So haben wir VaKE einer-seits in der Begabtenförderung eingesetzt - und die Teilnehmerinnen und Teilnehmerhaben es genossen, für einmal mit Ihresgleichen (d.h. anderen Begabten) umgehenzu können.34 Aber auch in der Regelschule kann VaKE erfolgreich eingesetzt wer-den; dies wurde von Weinberger in mehreren Untersuchungen für die Hauptschulegezeigt.35 Erfahrungen bestehen in allen Altersstufen vom Kindergarten36 bis zurHochschule37, und das Anforderungsniveau wurde von den Teilnehmerinnen undTeilnehmern entsprechend den eigenen Möglichkeiten gewählt, wobei die Dilemma-ta alters- und themenspezifisch gewählt wurden.

2.2.5 Freiheiten

Offener Unterricht, wie in VaKE praktiziert, bedeutet, dass der Schülerin und demSchüler ein Maximum an Freiheit gewährt wird. Das bedeutet u.a., dass die Schü-

Values and Knowledge Education (VaKE) 103

34 Vgl. Weyringer, Sieglinde (2008): Die Anwendung der VaKE-Methode zur Entwicklung eines Europäischen Bürgerbewusstseins - dargestellt am Platon Jugendforum (Dissertation).

35 Vgl. die verschiedenen Arbeiten von Weinberger.36 Vgl. Hörtenhuber, Birgit Anna (2008): VaKE im Kindergarten (Bacherlor-Arbeit).37 Vgl. Ali, Sahar Nabil Abbas (2006): The Values and Knowledge Education (VaKE) approach and

its impacts on teaching and moral judgment competences of pre-service primary school science teachers (Dissertation).

lerinnen und Schüler selber entscheiden, wohin sie das Schwergewicht ihrerUntersuchung legen wollen. So haben die Schülerinnen und Schüler in der obendargestellten Woyzeck-Diskussion38 entschieden, die Thematik »Erbsendiät« wei-ter zu verfolgen und nicht die meist thematisierte Thematik »soziale Unterdrük-kung« - diese wurde zwar auch diskutiert, war aber letztlich nicht entscheidend.Bei Bedarf - beispielsweise wenn dies durch curriculäre Anforderungen erforder-lich ist - kann die Lehrerin oder der Lehrer steuernd eingreifen, wobei sie/er nachunserer Konzeption diese Steuerung transparent machen soll, was unserer Erfah-rung nach auch sehr gut aufgenommen wird.

Eine solche Freiheit und die Möglichkeit, eigene Wege zu gehen, ist für kon-struktivistisches Lernen eine grundlegende Voraussetzung. Wenn Schülerinnenund Schüler Wissen und moralische Strukturen konstruieren sollen, muss manihnen auch die Möglichkeit geben, sich in diejenige Richtung zu bewegen, dieihnen wichtig ist - nur so ist Lernen möglich. Auch die oben genannte Steuerungmuss deswegen so erfolgen, dass sie für die Schülerinnen und Schüler nachvoll-ziehbar und akzeptierbar ist, also transparent und im Einklang mit dem Interes-sensfokus der Schülerinnen und Schüler steht.

Gleichzeitig bedeutet diese Freiheit immer auch Herausforderungen undInfragestellungen des Bestehenden. So sind zum einen Lehrerinnen und Lehrernicht mehr (alleinige) Besitzer des richtigen Wissens (ein solches entspricht jaauch nicht einem konstruktivistischen Ansatz), sondern ihre Vorstellungen sindselber immer wieder in Frage gestellt. Es zeigt sich wiederholt, dass die Schüle-rinnen und Schüler nach einer VaKE Einheit mehr wissen als die Lehrerin oderder Lehrer vor dieser Einheit (beispielsweise über die Wirkung von Erbsendiät).Die Lehrerin oder der Lehrer ist deswegen immer auch eine lernende Person. DerVerlust des Wissensmonopols ist für viele Lehrerinnen und Lehrer ein Problem,weil er zu Kontrollverlust führt. Er ist aber für diese Art von Unterricht unabding-bar - in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung und -weiterbildung ist es deswegennotwendig, die Lehrerinnen und Lehrer darauf vorzubereiten.

2.2.6 Faktenwissen, Werte und die Verbindung

Im Hinblick auf die Wissensaneignung geht es bei VaKE um nicht-träges Wis-sen; träges Wissen39 ist Wissen, das in der Schule gelernt wurde, aber außerhalb

Jean-Luc Patry104

38 Vgl. Weinberger et al., Woyzeck.39 Vgl. z.B. Renkl, Alexander (1996): Träges Wissen: Wenn Erlerntes nicht genutzt wird, S. 78-92.

der Schule nicht mehr verwendet wird. In der Schule wird in der Regel mit denunteren Ebenen der Lehrzieltaxonomie nach Bloom40 - also dem Wissen - begon-nen, und die weiteren Ebenen (meist allerdings nur bis Ebene 3) werden systema-tisch aufgebaut. Bei VaKE ist es umgekehrt: Ausgehend von einer Bewertungs-frage (Ebene 6) werden systematisch nach unten Fragen gestellt und diese dannwieder von unten nach oben beantwortet. Damit wird jedenfalls verhindert, dassdas Wissen zusammenhangslos aufgenommen und damit träge wird.

Die Bedeutung des Lernzusammenhanges wird in konkreten Erfahrungendeutlich. So berichtete eine Lehrerin, dass die Schülerinnen und Schüler bei derLösung von Problemen, die ein in VaKE erworbenes Wissen erfordert, auf die die-ser VaKE Einheit zu Grunde liegende Dilemma-Situation verwiesen. Man kann indiesem Zusammenhang von Anchored Instruction bzw. situated cognition41 spre-chen. Um deren Grenzen zu überwinden, wurde der elfte Schritt im VaKE Ablaufformuliert (vgl. Tab. 1); dessen Wirkung wurde aber bislang noch nicht untersucht.

Ausgangspunkt für jeden VaKE Prozess ist ein Werte-Dilemma und dessenDiskussion. Eine Auseinandersetzung mit Werten ist deswegen grundlegend. Essei zugestanden, dass dies von vielen Lehrerinnen und Lehrern, die erstmals mitVaKE konfrontiert werden, nicht erkannt wird und dass sie dann ein Dilemma ein-führen, bei dem nicht Werte im Vordergrund stehen; es ist denn auch nicht immerleicht, angemessene Dilemmata zu formulieren. Dies entspricht aber nicht derIntention von VaKE, wo es wesentlich eben auch darum geht, Werterziehung zubetreiben. Dabei geht es - ganz in der Kohlberg´schen Tradition - um die Begrün-dung von Werten und nicht um die Vermittlung bestimmter Werte.

In der Schule wird Werterziehung zwar in den Lehrplänen meist gefordert,aber von den Lehrerinnen und Lehrern kaum realisiert. Dafür können sie vieleGründe angeben,42 u.a. fehlender Konsens über Inhalte, Primat fachlicher Inhalte,Stofffülle, Zeitmangel, Notendruck und mögliche Konflikte mit Erziehungsbe-rechtigten. VaKE kann viele dieser Argumente entkräften; so werden die Fachin-halte nicht nur berücksichtigt, sondern die Schülerinnen und Schüler lernen häufig

Values and Knowledge Education (VaKE) 105

40 Die Taxonomie ist als Hierarchie gedacht und lautet wie folgt: 1. Wissen; 2. Verstehen; 3. Anwen-den; 4. Analyse; 5. Synthese und 6. Bewertung. Vgl. Bloom, Benjamin S./Englehart, Max D./Furst, Edward J./Hill, Walker H./Krathwohl, David R. (1965): Taxonomy of educational objectives. The classification of educational goals. Handbook I: Cognitive domain.

41 Vgl. Cognition and Technology Group at Vanderbilt (1990): Anchored instruction and its rela-tionship to situated cognition, S. 2-10.

42 Vgl. Gruber, Michael: Hindernisse schulischer Werteerziehung aus Lehrersicht. Bestandsaufnahme und Empfehlungen (dzt. im Druck).

mehr als im normalen Unterricht, und da nicht bestimmte Werte, sondern Begrün-dungen im Vordergrund stehen, kann es auch nicht zu Konflikten mit den Wertenkommen, die von den Eltern vertreten werden, sondern allenfalls zu Diskussionenim Elternhaus um die Begründung der Werte, was aus unserer Sicht zu befürwor-ten ist.

Bei VaKE werden die Fakten und die Werte zwar letztlich aufeinander bezo-gen, aber in der Diskussion getrennt behandelt; dies ist uns deshalb wichtig, weilwir nach Möglichkeit den naturalistischen Fehlschluss vermeiden wollen. Aller-dings begehen die Schülerinnen und Schüler diesen Fehlschluss immer wieder43

- es wird deshalb in Hinkunft notwendig sein, diesem Aspekt stärkere Beachtungzu schenken. Es ist uns aber ganz wichtig, dass die Werte und die Fakten aufein-ander bezogen werden. Werte sind ja nicht als Abstraktum relevant, sondern inkonkreten Situationen, die durch bestimmte (faktische) Rahmenbedingungengekennzeichnet sind.

2.2.7 Verantwortliches Handeln

Als letzter Punkt sei noch darauf hingewiesen, dass die Schülerinnen und Schülernach VaKE Prozessen nicht selten spontan beschließen, es nicht bei Diskussionenwichtiger aktueller Probleme zu belassen, sondern eigene Aktionen zu setzten, bei-spielsweise Leserbriefe zu schreiben, Unterschriften zu sammeln u.a.m. AndereErfahrungen zeigen, dass beispielsweise nach einer Diskussion zu Abfalltrennungoder Massentierhaltung einzelne Schülerinnen und Schüler beschließen, dieWerte, zu denen sie in den Diskussionen gekommen sind, in ihrem Alltag konkretumzusetzen. Das Handeln ist also nicht der primäre Fokus von VaKE, fördert aberdie Tendenz, das Gelernte auch konkret umzusetzen.

Es gibt aber Möglichkeiten, die im Einklang mit den Überlegungen von VaKEstehen und auf Kohlbergs Entwicklungstheorie aufbauen: die Just Community44.Hier geht es darum, über moralische Fragen zu diskutieren, die die betreffendeGemeinschaft (beispielsweise die Klasse oder die Schule) betreffen, und danngemeinsam (sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Lehrerinnen und Lehrer)

Jean-Luc Patry106

43 Vgl. Patry, Jean-Luc/Weyringer, Sieglinde/Weinberger, Alfred: Kombination von Moral- und Werterziehung und Wissenserwerb mit VaKE - wie argumentieren die Schülerinnen und Schüler?(dzt. im Druck).

44 Kohlberg, Lawrence (1985): The Just Community approach to moral education in theory and practice, S. 27-87.

gut begründete Beschlüsse zu fassen, die dann auch umgesetzt werden. Diese hand-lungsorientierte Moralerziehung wurde denn auch erfolgreich mit VaKE kombi-niert.45

3. VaKE und der Fähigkeitenansatz im Vergleich

Der Fähigkeitenansatz soll hier nur in Form einer Abbildung dargestellt werden46

- aus Platzgründen und weil dies an anderer Stelle in diesem Band in ausreichen-dem Maße geschieht, wird auf eine differenzierte Darstellung verzichtet, viel-mehr sollen die Prinzipien (2.2.1. bis 2.2.7.) mit den entsprechenden Positionenim Fähigkeitenansatz verglichen werden, ohne dabei jeweils differenziert auf dieArbeiten von Sen und Nussbaum zu verweisen.47

Abbildung 2: Eine stilisierte nicht-dynamische Darstellung der menschlichenFähigkeiten und ihres sozialen und persönlichen Kontextes

Values and Knowledge Education (VaKE) 107

45 Vgl. z.B. Weinberger, Alfred (2007): Gewaltprävention durch positives Sozialklima: die »Just Community« auf Klassenebene, S. 788-795.

46 Vgl. Robeyns, Ingrid (2005): The Capability Approach: A Theoretical Survey, S. 93-114 und online.47 Vgl. insbesondere http://www.capabilityapproach.org/index.php; ferner Sen, Capability; Sen,

Development as freedom; Nussbaum, Frontiers of justice; sowie z.B. Robeyns, Capability Appro-ach; Deneulin, Séverine/Shahani, Lila (2009): An introduction to the human development and capability approach. Freedom and agency.

Social context:

Social institutionsSocial and legal norms

Other people´s behaviourand characteristicEnvironmental factors

(and many, many more...)

Non-marketproduction

Market productionNet income

Transfer-in-kind

Goodsand

services

Capability set

Capabilities

(i.e. opportunity set ofachievable functionings)

Individualconversion

factorsChoice

Achievedfunctionings

Personalhistory andpsychology

Preference formationmechanisms

Social influences ondecision making

Freedom to achieveMeans to achieve(capability inputs)

Achievement

3.1 Wissenschaftstheorie

Martha Nussbaum vertritt einen internalistischen Essentialismus nach Putnam:Es gibt zwar eine vom Menschen unabhängige Wirklichkeit, die aber dem Men-schen nicht zugänglich, sondern von diesem immer interpretiert ist. Das entsprichtder in 2.2.1. dargestellten erkenntnistheoretischen Überzeugung (auf Unterschiedein Detailfragen kann hier nicht eingegangen werden). Dies entspricht auch derkonstruktivistischen Konzeption für die Konstruktion von Strukturen im Werte-wie auch im Inhaltsbereich und dem methodischen Vorgehen, wobei keinAnspruch auf Wahrheit aufgestellt wird, sondern auf rationale Akzeptiertheit oderViabilität.

3.2 Kooperation

Eine der wichtigsten Prioritäten des Fähigkeitenansatzes ist die Wertschätzung desMitmenschen; letztlich geht es Sen um die Verbesserung der Lebensbedingungender Menschen unter Berücksichtigung der verschiedensten diesbezüglich relevan-ten Bereiche, von den (klassischen) ökonomischen Bedingungen (etwa pro-KopfEinkommen bzw. reale Kaufkraft pro Einwohner) über Lebenserwartung, Alpha-betisierung und Schuleinschreibung bis hin zu Menschenrechten und der Bemü-hung einer Gesellschaft, aktiv zur Entwicklung eines besseren Lebens der einzel-nen Mitglieder beizutragen. Dazu gehören ganz wesentlich die politische Freiheitund Partizipation mit besonderer Betonung der Würde des Menschen. Dies bein-haltet insbesondere auch angemessene Formen des Umgangs miteinander. Es gehtauch nicht ausschließlich um Gerechtigkeit, sondern auch um Fürsorge.

In beiden Ansätzen werden somit wichtige humane Werte wie Respekt, Tole-ranz, Würde des Menschen, und Wertschätzung als Bedingungen des Zusammen-lebens thematisiert. Hinzu kommt bei Sen explizite, in VaKE immer mitgedacht,dass der Selbstrespekt auch eine soziale Basis hat. In VaKE stärker thematisiertist demgegenüber der Wert des Beitrags des jeweils anderen zur eigenen Entwik-klung. All diese Faktoren werden in beiden Ansätzen als Basis für politische Par-tizipation gesehen.

3.3 Multiperspektivität

Im Fähigkeitenansatz gibt es nicht nur ein einziges Kriterium (etwa das Brutto-sozialprodukt GNP), sondern eine Kombination, wobei die Ausweitung der Frei-

Jean-Luc Patry108

heiten, die zur Bereicherung des Lebens beitragen, im Vordergrund steht. Auchdie Fähigkeitenliste wurde von Sen offen gelassen, während Nussbaum eineabgeschlossene Liste präsentierte, ohne aber rigide darauf zu beharren. Auch inallen anderen Bereichen, die im Fähigkeitenansatz thematisiert werden, werdendie Prinzipien nicht ein für allemal festgelegt, sondern von Fall zu Fall und unterBerücksichtigung der verschiedensten Sichtweisen argumentiert.

Auch diesbezüglich besteht eine Übereinstimmung zwischen VaKE und demFähigkeitenansatz. Es gilt nie ein einzelnes Kriterium, sondern es ist immer eineKombination von unterschiedlichen, unter Umständen auch widersprüchlichen Kri-terien relevant. Die Gewichtung der einzelnen Kriterien kann dabei von Umstand zuUmstand, von Situation zu Situation unterschiedlich sein48 und ist von Fall zu Fallneu zu argumentieren. Ein wesentlicher Unterschied liegt darin, dass im Fähigkei-tenansatz die gesellschaftliche Perspektive im Vordergrund steht: Es geht umLebensqualität und (Selbst-)Verwirklichung und um die diesbezüglichen Rahmen-bedingungen in der Gemeinschaft. Demgegenüber thematisiert VaKE die Bildungund die Selbstverwirklichung, ausgehend vom Individuum; die Gesellschaft wirdnur thematisiert, insofern diese für das Individuum relevant ist, es wird aber gehofft,dass die so gebildete Person mittelfristig Einfluss auf die Gesellschaft nimmt.

3.4 Grundbedingungen des Menschen

Als Grundbedingungen des Menschen werden im Fähigkeitenansatz u.a. die not-wendigen Fähigkeiten thematisiert, um die eigenen Ziele zu erreichen; diese sindinsbesondere die (Selbst-) Verwirklichung und die Lebensqualität. Demgegen-über geht es bei VaKE nicht um Lebensqualität, sondern - wie bei Nussbaum - umdie Ermöglichung des Möglichen ohne Einschränkung durch äußere Umstände,also auch um Selbstverwirklichung, aber erneut individuell und nicht gesell-schaftlich orientiert.

3.5 Freiheiten

Der Freiraum angesichts der persönlichen und gesellschaftlichen Bedingungenund der Kontrollmöglichkeiten ist das zentrale Thema des Fähigkeitenansatzes.

Values and Knowledge Education (VaKE) 109

48 Vgl. dazu die Theorie der Situationsspezifität: Patry, Jean-Luc (1991): Transsituationale Konsi-stenz des Verhaltens und Handelns in der Erziehung.

Dabei gibt es Wechselwirkungen mit dem Entwicklungsprozess: Die Erweiterungder Freiheiten ist ein Ziel der Entwicklung, aber gleichzeitig sind FreiheitenBedingungen für Entwicklung und für Wertbildung. Hier kommt auch die Wech-selwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft zum Tragen: Freiheiten sindimmer Freiheiten des Einzelnen, aber auch Freiheiten in der Gesellschaft.

Auch in VaKE sind Freiheiten grundlegend: nur durch diese können Voraus-setzungen für individuelles Lernen und Entwicklung sowohl im Informations- alsauch im Wertebereich geschaffen werden. Auch die freie Verfügbarkeit von Wer-ten und Information (im Sinne eines Angebotes, auf das die Schülerinnen undSchüler bei Bedarf zurückgreifen können) ist für VaKE konstituierend, wobei dieSchülerinnen und Schüler letztlich frei entscheiden, ob und inwieweit sie von die-sem Angebot Gebrauch machen wollen. Allerdings sind die Freiheiten in den bei-den Ansätzen auf unterschiedlichen Ebenen situiert. In VaKE bezieht sich dieFreiheit nur auf den Unterricht - wenn dies verwirklicht werden kann, ist diesaber schon immens viel. Auf der anderen Seite gibt es Vergleichbarkeit in einerVielzahl von eher prozeduralen Aspekten wie die Betonung der Demokratie, dieMöglichkeiten, eigene Konzepte zu verwirklichen, Transparenz u.a.m.

3.6 Information, Werte und die Verbindung

Im Fähigkeitenansatz ist Wissen eine wichtige Dimension der Entwicklung undgilt als eine Voraussetzung für Freiheiten. Dies wird in VaKE ganz ähnlich gese-hen. Allerdings thematisiert VaKE zusätzlich den Erwerb der Information.

Das Analoge gilt für die Werte: Sie sind in beiden Ansätzen wichtig und müs-sen explizit gemacht werden; der Unterschied besteht darin, dass im Fähigkeiten-ansatz die Werte ausschließlich von der ethischen oder politischen Perspektiveaus thematisiert werden, während in VaKE die persönlichen Werte der Schülerin-nen und Schüler und die diesbezüglichen Argumente im Vordergrund stehen, dieethischen Überlegungen aber im Hintergrund immer mitberücksichtigt werden:Die Entwicklung der Moral ist immer eine Entwicklung im Hinblick auf eineethisch gesehen bessere Moral.49 Inwiefern im Fähigkeitenansatz (insbesonderevon Nussbaum, die sich wohl stärker mit der Ethik befasst hat als Sen) das Risi-ko des naturalistischen Fehlschlusses thematisiert wird, konnte ich nicht feststel-

Jean-Luc Patry110

49 Vgl. Kohlberg, Lawrence (1981): From is to ought: How to commit the naturalistic fallacy and get away with it in the study of moral development, S. 101-189.

len (Hinweise gibt es etwa bei Donovan50). Bezüglich der Verbindung der Fak-ten und Werte ist für den Fähigkeitenansatz zu betonen, dass die Kriterien immerwertabhängig bestimmt werden. Wie in VaKE ist die Verbindung wichtig, aber ananderen Stellen: im Fähigkeitenansatz ist dies bei der Konzeption von Gesell-schaft und deren Rahmenbedingungen relevant, also bei denjenigen Personen, diediesbezüglich Entscheidungen treffen. Die Fähigkeiten thematisieren aber aus-drücklich die Verbindung von Fakten und Werten beim Individuum.51 In VaKEist die Verbindung demgegenüber beim Zielpublikum angestrebt, bei den Schüle-rinnen und Schülern - also zunächst einmal die Personen, über die im System ent-schieden wird (mit Ausnahme der VaKE Einheiten, vgl. Punkt 3.5 »Freiheiten«).Es wird aber gehofft, dass diese Personen selber einmal Entscheider werden unddann die entsprechenden Fähigkeiten zum Tragen kommen.

3.7 Verantwortliches Handeln

Im Fähigkeitenansatz geht es nicht zuletzt darum, dass Menschen über die Fähig-keit verfügen, verantwortlich zu handeln. Thematisiert werden insbesondere diepolitische Partizipation und das soziale Engagement, aber auch die Verantwortungfür die Umwelt. In beiden Ansätzen werden somit Voraussetzungen für verant-wortliches Handeln angesprochen und so weit als möglich realisiert. Eigenverant-wortung wird betont und (zumindest bei VaKE) ermöglicht, wenn auch nicht inForm von Tun (d.h. dass die Schülerinnen und Schüler selber in einem relevantenKontext aktiv werden) ausdrücklich gefordert; Letzteres wird aber bei Eigeniniti-ative der Schülerinnen und Schüler sicher nicht behindert.

4. Diskussion

VaKE und der Fähigkeitenansatz beziehen sich auf unterschiedliche Bereiche:VaKE zielt auf das Individuum (in der Gesellschaft), auf seine Entwicklung undsein Lernen ab; demgegenüber liegt der Fokus des Fähigkeitenansatzes auf der

Values and Knowledge Education (VaKE) 111

50 Vgl. Donovan, James M. (2007): Human nature constraints. Upon the realistic utopianism of Rawls and Nussbaum, online.

51 Z.B. die Fähigkeiten nach Nussbaum, Women and equality, S. 54: »6. Practical Reason. Being able to form a conception of the good and to engage in critical reflection about the planning of one´s life (which entails protection for the liberty of conscience).«

gesellschaftlichen Perspektive und der Lebensqualität, im Hinblick auf die undinnerhalb derer die Fähigkeiten als (Selbst-) Verwirklichungsmöglichkeiten gese-hen werden.52 Auch ist die Perspektive unterschiedlich: VaKE wurde bislang nurwenig auf Entwicklungs- und Schwellenländer angewandt,53 deswegen wurdendie Prioritäten anders gelegt. So ist die Lebensqualität bei den Teilnehmerinnenund Teilnehmern an VaKE Prozessen nicht problematisch und wird deswegen imGegensatz zum Fähigkeitenansatz nicht thematisiert; wohl aber können sich dieDiskussionen auf die Lebensbedingungen der Protagonisten des jeweiligen Dilem-mas54 beziehen, was wahrscheinlich zu einer Sensibilisierung der Jugendlichenbezüglich dieses Themas führt. Auf der anderen Seite steht in VaKE die indivi-duelle Entwicklungsförderung in den Fakten- wie in den Wertebereichen imVordergrund und ist theoretisch gut verankert, was im Fähigkeitenansatz nicht derFall ist.

Wie die Analyse im Kapitel 3 gezeigt hat, bestehen zwischen den beiden Ansät-zen keine Gegensätze. Wo keine Übereinstimmung besteht, ist dies einerseits aufden unterschiedlichen Fokus und andererseits darauf zurückzuführen, dass jeweilsein Ansatz Lücken aufweist, die durch den anderen gefüllt werden können. Dasbedeutet, dass sich die beiden Ansätze grundsätzlich ergänzen können. Für VaKEjedenfalls gilt, dass der Fähigkeitenansatz viele Ansatzpunkte für weitere Verbesse-rungen beinhaltet.

- Erstens gilt dies im Bezug auf die verschiedenen Komponenten, die inAbbildung 2 dargestellt sind: VaKE zielt insbesondere auf die Entwicklungder Fähigkeiten im Sinne des Fähigkeitenansatzes ab - also als »opportunityset of achievable functioning« -, die anderen Komponenten werden bezüglichder Rahmenbedingungen der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler dem-gegenüber nur vereinzelt berücksichtigt. So fanden viele VaKE Veranstaltun-gen in Sommerakademien mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus mehre-ren mittel- und osteuropäischen Ländern statt; der jeweilige Hintergrund kannin die Komponente oben rechts in der Abbildung 2 aufgenommen werden: alsTeil der social institutions, der social and legal norms und insbesondere als

Jean-Luc Patry112

52 Vgl. dazu den »Social context« in Abbildung 2.53 Die einzige diesbezügliche Anwendung betraf Ägypten (vgl. Ali, Impact). 54 Dies gilt nicht nur für die aktuellen Lebensbedingungen etwa in der Türkei (anlässlich einer

Dilemma-Diskussion über den Bau eines Staudammes), sondern auch für historische Lebensbe-dingungen oder solche, die in der Literatur beschrieben werden (etwa Woyzeck, vgl. Weinberger et al., Woyzeck).

Teil des many, many more. Ein Beispiel für Letzteres ist der Einfluss der Spra-che 55: Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht-deutscher Muttersprache hatten inmehrfacher Hinsicht (hypothesengemäß) mehr Schwierigkeiten bei den Diskus-sionen auf Deutsch als die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die in ihrer eigenenMuttersprache debattieren konnten.

- Zweitens können Themen des Fähigkeitenansatzes problemlos zum Themavon VaKE Einheiten gemacht werden. Sen hat das Konzept ja angesichtsschwerwiegender Probleme in der Welt konzipiert, die auf Konflikten zwischenWerten beruhen - also auf Dilemmata. Um diese aber kompetent diskutieren zukönnen, müssen die entsprechenden Informationsgrundlagen bekannt sein, etwadie Bruttonationalprodukte verschiedener Länder (u.a. Entwicklungsländer) -und dazu muss man wissen, was das BNP ist, etc. Für eine VaKE Einheit wäredies also ideal.

- Drittens schließlich kann man die VaKE Einheiten als Verwirklichung eini-ger Elemente des Fähigkeitenansatzes im Kleinen ansehen. Insbesondere das»achievable functioning« (vgl. Abb. 2) ist in VaKE Prozessen möglich, einerseitsweil es die Rahmenbedingungen (»social influences on decision making«) zulas-sen, andererseits weil die Teilnehmerinnen und Teilnehmer über einige relevanteFähigkeiten verfügen und diese angemessen einsetzen können (insbesondere»practical reasoning, affiliation, other species, control over one´s environment«)56.

Die Befassung mit dem Fähigkeitenansatz hat sich also für VaKE als äußerstfruchtbar erwiesen, und die entsprechenden Überlegungen sollen in die Weiterent-wicklung einfließen. Umgekehrt kann m.E. VaKE auch für den Fähigkeitenansatzwertvolle Hinweise geben, vor allem wenn es darum geht, entsprechende Fähig-keiten und Umsetzungsmöglichkeiten nicht nur zu fordern, sondern Möglichkei-ten zu formulieren, diese auch beim Einzelnen zu entwickeln.

Values and Knowledge Education (VaKE) 113

55 Patry, Jean-Luc/Weyringer, Sieglinde/Weinberger, Alfred (2007): Values and Knowledge Educa-tion (VaKE) in European summer camps for gifted students: Native vs. non-native speakers. Paper read at the 12th Biennial Conference of the European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI) in Budapest 2007.

56 Die Fähigkeiten wurden aus den Arbeiten von Nussbaum übernommen, weil ihre Liste nicht so offen ist wie die Listen bei Sen.

Literatur

Ali, Sahar Nabil Abbas (2006): The Values and Knowledge Education (VaKE) approach and its impacts on teaching and moral judgment competences of pre-service primary school science teachers. Dissertation, University of Salzburg.

Berkeley, George (1998): A treatise concerning the principles of human knowledge. Oxford: Oxford University Press.

Blatt, M./Kohlberg L. (1975): The effects of classroom moral discussion upon children´s level of moral judgement. In: Journal of Moral Education, 4, 129-161.

Bloom, Benjamin S./Englehart, Max D./Furst, Edward J./Hill, Walker H./Krathwohl, David R. (1956):Taxonomy of educational objectives. The classification of educational goals. Handbook I: Cognitive domain. New York: Longmans Green.

Bruner, Jerome S. (1957): On perceptual readiness. In: Psychological Review, 64, 123-152.Cognition and Technology Group at Vanderbilt (1990), Anchored instruction and its relationship to

situated cognition. In: Educational Researcher, 19/6, 2-10.Colby, Anne/Kohlberg, Lawrence (1987): The measurement of moral judgement. Vol 1: Theoretical

foundations and research validation. Cambridge: Cambridge University Press.Colby, Anne/Kohlberg, Lawrence/Gibbs, John/Lieberman, Marcus (1983): A longitudinal study of

moral judgment (Monographs of the Society for Research in Child Development, 48, Nos. 1-2; Serial No. 200). Chicago: University of Chicago Press.

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Jean-Luc Patry116

Soziale Arbeit und das gute Leben -Capabilities als sozialpädagogische Kategorie

Holger Ziegler

1. Gerechtigkeit und Soziale Arbeit

Soziale Gerechtigkeit gilt als ein zentraler Wert der Sozialen Arbeit. Geht mandavon aus, dass die Lebensaussichten von Individuen der Gegenstand einergerechten Verteilung sind, so lässt sich argumentieren, dass es für die SozialeArbeit typisch sei, diese Lebensaussichten im Sinne des Wohlergehens oder einesgelingenden Lebens ihrer AdressatInnen in den Blick zu nehmen. Sofern dieszutrifft, ist die Frage nach sozialer Gerechtigkeit für die Soziale Arbeit mit derFrage nach dem »guten Leben« verknüpft.

Eine Metrik der Gerechtigkeit, die einen Begriff des guten Lebens fokussiert,unterscheidet sich von Ansätzen, die die Verfügung über »Grundgüter« (Rawls)oder eine Gleichheit von Ressourcen (Dworkin) als Maßeinheit zur Bestimmungeiner gerechten Verteilung von Lebensaussichten vorschlagen. In der Tat steht dersozialarbeitstypische Fokus auf ein gutes Leben in einem Spannungsverhältnis zuliberalen Programmen sozialer Gerechtigkeit, die den Vorrang des Rechten vordem Guten betonen (vgl. Rawls 1975).

Die liberale Formulierung von Gerechtigkeit richtet sich im Wesentlichen aufdie Umstände menschlichen Lebens, d.h. die formalen und materiellen Bedingun-gen der Lebensaussichten der Betroffenen.1 Darüber hinaus gilt das Verdikt »Indi-viduum est ineffabile« (vgl. Kersting 1997). Unterstellt man jedoch, dass SozialeArbeit eine gesellschaftliche Einrichtung ist, deren Aufgabe in der Förderungbestimmter - d.h. nicht beliebiger - Formen der Lebensführung, Fähigkeiten undPersönlichkeitszustände besteht (vgl. Oelkers et al. 2008), so stößt dieses liberale

1 Soziale Gerechtigkeit aus der liberalen Perspektive, so erläutert Fleurbaey, Marc (2008: 7) »con-sists in allocating resources in a fair way, letting individuals make use of the resources at their disposal according to their own conception of the good life. If one ignores differences in internal resources (talent, disabilities), the fair distribution is that which maximizes the smallest share of resources - the market valuation appearing the most convenient for the comparison of resource shares.«

C. Sedmak et al., Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten, DOI 10.1007/978-3-531-92749-7_6,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

Gebot an Grenzen. Der liberalen Perspektive auf Gerechtigkeit geht es vor allemum den »Einfluss institutioneller Umstände auf individuelle Lebensführungen«(Kersting 1997: 76). Dieser gilt normativ-politisch nur insofern als bedeutsam, wieer »die Lebenschancen derjenigen bestimm[t …], die in […seinem] Schattenleben, wie […er] also nicht individuell-biographisch, sondern Standard-biogra-phisch wirksam« (Kersting 1997: 76) ist. In diesem Sinne fokussiert die liberalePerspektive offensichtlich eher die »ökonomischen« und »rechtlichen«, als die»pädagogischen Interventionen« des Wohlfahrtsstaats (vgl. Kaufmann/ Rosewitz1983). Begründen lässt sich mit der liberalen Formulierung von Gerechtigkeitdemnach zwar die Absicherung »materieller Standardrisiken durch sozialversiche-rungsförmig organisierte Sicherungssysteme« (Olk/Otto 1987: 6). Eine sozialpä-dagogische Wohlfahrtsproduktion, die darauf gerichtet ist, Motivationen, Orientie-rungen und Kompetenzen und d.h. Personen zu verändern, steht demgegenüber ineinem immanenten Spannungsverhältnis zu liberalen Prämissen.

Sofern soziale Ungleichheiten ihre praktische Relevanz aber nicht nur hin-sichtlich des Ausmaßes an Gütern und Ressourcen entfalten, über die Individuenverfügen, sondern vor allem durch ihre Wirkungen auf das Leben, das Menschenleben möchten, und die Dinge, Beziehungen und Praktiken, die sie wertschätzen(vgl. Sayer 2005: 117), scheint der Fokus auf rein äußere Bedingungen vonLebensaussichten unzureichend. Denn es ist kaum zu bezweifeln, dass individuel-le Menschen unterschiedliche Möglichkeiten haben, ihre Mittel und Ressourceneffektiv zu nutzen, um ein Leben nach ihren Vorstellungen zu realisieren. Auf dieRealisierungsmöglichkeiten eines gelingenden Lebens wirken offensichtlich Vari-anzen der natürlichen und kulturellen Umwelt sowie ein ganzes Bündel von Unter-schieden in der körperlichen und geistigen Konstitution ein (vgl. Roemer 1998;Sen 2009). Wenn solche Variationen der empirische Normalfall sind, während der»normalfunktionierende Bürger« ein Ausnahmefall ist, der - falls überhaupt - nurauf bestimmte Zeitspannen im Leben einiger Menschen zutrifft, ist es für Gerech-tigkeitsurteile nicht ausreichend, lediglich die Mittel in den Blick zu nehmen (vgl.Oelkers et al. 2010) und von Individuen »mit einer konkreten Geschichte, Identitätund affektiv-emotionalen Verfassung« (Benhabib 1989: 460) zugunsten einerKonstruktion ›austauschbarer Individuen‹ zu abstrahieren2.

Sofern davon auszugehen ist, dass unterschiedlich viele Ressourcen von Men-schen benötigen werden, um als Gleiche auftreten zu können, ist eine gerechte

Holger Ziegler118

2 Diese austauschbaren Individuen sind nun nicht einfach »neutral citizen«, sondern, wie eine ganze Reihe von KritikerInnen verdeutlicht hat, erwachsene »bearer of an identity coded white, male, bourgeois, able-bodied, and heterosexual« (Heyes 2002).

Verteilung von Lebensaussichten nicht nur auf standard-biographisch model-lierbare politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Institutionen verwie-sen, sondern wird erst mit Blick auf konkrete, individuelle Biographien undLebensführungen empirischer Individuen wirksam. Es spricht also viel dafür,auch Deutungen, Motive und Aspirationen sowie emotionale, praktische undkognitive Fähigkeiten als relevante Informationsbasis für Gerechtigkeitsurteilezu formulieren. Mit Blick auf diese internen Fähigkeiten ist neben einer Gestal-tung gerechter Basisinstitutionen einer wohlgeordneten Gesellschaft (vgl.Rawls 1975) und anderer objektiver Merkmale der Lebensordnung und Vertei-lung von Lebenschancen auch die Frage einer Bearbeitung von Lebensführungbedeutsam, die auf personale Bewältigungsstrategien bzw. eine »Änderung desphysischen und psychischen Status von Personen« (Olk/Otto 1987: 7) zielt.

Diese Bearbeitung ist der Gegenstand Sozialer Arbeit, der vor allem dorteine wesentliche Rolle zukommt, wo es nicht nur um »Umverteilung von Geld,sondern um die mittel- und langfristige Änderung einer Kultur, also von Hal-tungen, Einstellungen und symbolisch artikulierten Lebensentwürfen geht«(Brumlik 2007: 82). Für die Frage der Gerechtigkeit im Feld der SozialenArbeit scheint daher eine Perspektive auf Gerechtigkeit geboten, die die Viel-schichtigkeit und Diversität menschlicher Lebenspraxis und vor allem die sozi-alen Möglichkeitsbedingungen und »ethische[n] Voraussetzungen der Siche-rung von Individualität« (Sturma 2000: 272) zum Gegenstand hat, die denKernbereich Sozialer Arbeit markieren (vgl. Winkler 1988)3. Diese Perspektivescheint vor allem an Ansätze anschlussfähig, die die Möglichkeit von Wohler-gehen und die Möglichkeiten der Verwirklichung eigener Lebensentwürfe alsMaßeinheit sozialer Gerechtigkeit formulieren4 (vgl. Arneson 1990; Cohen1989, 1990; Roemer 1998) und damit »a conception of well-being (good life) rat-her than as a specification of the goods with which justice is concerned« (Vallen-tyne 2005: 360).

Soziale Arbeit und das gute Leben 119

3 Es geht, wie es Winkler (1988) formuliert, um die Aneignung und Realisierung von Subjektivität im Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft.

4 Dies gilt insbesondere für aristotelische Perspektiven, aber im Prinzip auch für solche, die sich auf subjektives Wohlbefinden richten. Hier treten »die von den Betreffenden selbst abgegebenen Einschätzungen über spezifische Lebensbedingungen und über das Leben im allgemeinen [in denMittelpunkt]. Dazu gehören insbesondere Zufriedenheitsangaben, aber auch generelle kognitive und emotionale Gehalte wie Hoffnungen, Ängste, Glück und Einsamkeit, Erwartungen und Ansprüche, Kompetenzen und Unsicherheiten, wahrgenommene Konflikte und Prioritäten.« (Zapf 1984: 23)

2. Die Erfassung menschlichen Wohlergehens

Doch wie lässt sich Wohlergehen oder das gute Leben konzeptionell erfassen?Hierzu finden sich zwei grundlegende Perspektiven: Die hedonistischen bzw.›wunschtheoretischen‹ Perspektiven auf Wohlergehen stellen die prudentiellenDimension des erlebten Wohlbefindens bzw. die Befriedigung subjektiver Präfe-renzen in den Mittelpunkt. Wohlergehen wird dabei hinsichtlich der »ratio ofpositive to negative feelings« (Myers 2004: 522), d.h. als ein Zustand formuliert,in dem die empfundene Zufriedenheit oder Freude der Subjekte ihr Leid über-wiegt (vgl. Bentham 1996 [1789]). So genannte eudaimonistische Sichtweisenstellen demgegenüber wünschenswerte Realisierungen menschlicher Entfal-tungspotenziale in den Mittelpunk. Wohlergehen ist hier ein Element praktischerLebensführung im Sinne komplexer Zustände, Handlungsweisen und -ziele, dieauf ein ›objektiv‹ erfülltes, gedeihliches Leben (›human flourishing‹) verweisen(vgl. Arneson 1999). »The central feature of well-being«, argumentiert etwaAmartya Sen (1985: 200), im Sinne einer modernen eudaimonistischen Perspek-tive, sei »the ability to achieve valuable functionings5. The need for identificationand valuation of the important functionings cannot be avoided by looking atsomething else, such as happiness, desire fulfillment, opulence, or command overprimary goods.« (Sen 1985: 200)

In der gegenwärtigen sozial- und humanwissenschaftlichen Debatte überwie-gen hedonistische Perspektiven auf Wohlergehen. Dies kann vor dem Hinter-grund der Probleme einer eudaimonistischen Formulierung von Wohlergehennicht verwundern. Denn mit Objektivitätsansprüchen versehene, inhaltliche Aus-formulierung menschlichen Wohlergehens stellen häufig die - moralisch »elitäre«(vgl. Rawls 1975) - Legitimation konservativer politisch-pädagogischer Versucheeiner Kultivierung des Charakters und der Einübungen in das ›Sich-gut-Verhal-tens‹ tugendhafter Individuen dar. Letzen Endes lassen sich Versuche, Individuenzu einer bestimmten Konzeption des guten Lebens zu zwingen, als perfide Formdes Despotismus verstehen. Gegenüber der anti-pluralistischen Anmaßung auseiner ›Beobachterperspektive‹ über das Gute und die menschliche Vervollkomm-nung allgemeinverbindlich zu entscheiden und die Lebensziele beliebiger Einzel-ner von außen zu dekretieren (vgl. Habermas 1996: 44), besteht die hedonistischePerspektive darauf, dass die betroffenen Menschen selbst beurteilen sollen, wel-che Zustände und Lebensweisen sie als wünschenswert erachten: Die Beurteilun-

Holger Ziegler120

5 Functionings sind »beings and doings that people value and have reason to value« (Alkire 2008: 5).

gen der Qualität des eigenen Lebens »must be in the eye of the beholder« (Camp-bell 1972: 442). Diese Perspektive mündet konsequenterweise im Verdikt, dassdie »only defensible definition of quality of life (…) a general feeling of happi-ness« (Milbrath 1978: 36) sei.

Eine solche subjektive Konzeption von Wohlergehen hat entscheidende Vor-teile. Sie verspricht der Pluralität moderner Gesellschaften sowie der TatsacheRechnung zu tragen, dass Vorstellungen eines guten Lebens »nicht allgemein-gültig sind, sondern Personen in ihrer Individualität kennzeichnen und deshalbunaufhebbar partikular sind« (Brumlik 1999: 15). Im Kontext der sozialpädago-gischen Praxis stellt diese Position den normativen Hintergrund der Kritik anmonologischen, expertokratischen und/oder wohlfahrtsbürokratisch verordnen-den Formen der Interpretation von Bedürfnissen der betroffenen Subjekte dar6.In diesen Kontext gehört auch die Forderung, Leistungen der Sozialen Arbeitaus NutzerInnensicht bzw. mit Blick auf den subjektiv wahrgenommenen Nut-zen und d.h. in letzter Instanz mit Blick auf den Beitrag Sozialer Arbeit zum sub-jektiven Wohlbefinden ihrer AdressatInnen zu evaluieren7 (kritisch: Schrödter2007).

Eine Konjunktur der Forschung zu subjektivem Wohlergehen findet sichgegenwärtig jedoch vor allem im Kontext der Psychologie und Ökonomie. Sogilt etwa in der neueren ökonomischen Mikro-Theorie subjektive Lebenszufrie-denheit als taugliche Proxy-Variable, um die mit Blick auf rationales Wahlhan-deln entscheidende Kategorie des individuellen Nutzens zu erfassen (vgl.Frey/Stutzer 2002). Auch in der sozialwissenschaftlichen Wohlfahrts- und Sozi-alindikatorenforschung sind ›subjektive Lebensqualität‹, Zufriedenheit und

Soziale Arbeit und das gute Leben 121

6 Darüber hinaus gewinnt die subjektive Konzeption menschlichen Wohlergehens vor dem Hinter-grund der - empirisch indes kaum haltbaren - Vorstellung an Bedeutung, dass industriekapitalisti-sche Strukturen der Ungleichverteilung objektiver Lebenschancen einer Vielfalt frei gewählter Lebensstile gewichen seien. Hierauf sei mit ›Life Politics‹ zu reagieren, in der den subjektiven Formulierungen von Wohlergehen die höchste politische Relevanz zuzusprechen sei.

7 Es spricht viel dafür, die Kategorie des »subjektiven Nutzen« in den Kontext eines Fokus auf sub-jektives Wohlergehen einzuordnen. Ich halte, so argumentiert etwa Richard Easterlin (2003) »the terms wellbeing, utility, happiness, life satisfaction and welfare to be interchangeable«. Andere argumentieren, dass im Kontext des Diskurses um eine ›NutzerInnenprivilegierung‹ vor allem eine Art ethischer Prozeduralismus verfochten werde, in dem jedoch utilitaristische Argumenta-tionsmuster latent wirksam bleiben und in letzter Instanz durchaus ähnliche Referenzen und Pro-blematiken deutlich werden, wie in subjektiven Wohlfahrtstheorien (vgl. dazu Oelkers et al. 2008).

Glück zu einem festen Bestandteil geworden8. Entsprechende Skalen finden sichu. a. in maßgeblichen Befragungen wie dem Wohlfahrtssurvey, dem Euro-Baro-meter, dem World Value Survey und selbst dem sozio-oekonomischen Panel(SOEP).

3. Subjektives Wohlergehen in der empirischen Forschung

Im Kontext der empirischen Glücksforschung findet sich eine kaum überschau-bare Zahl von Glücks- und Zufriedenheitsskalen, die subjektiv empfundenesGlück als eine einzige, metrisch skalierbare Dimension in den Blick nehmen, diedie unterschiedlichsten Formen des Gut- und Schlechtfühlens umfasst. Subjekti-ve Zufriedenheit erweist sich dabei als eine empirisch valide messbare Formulie-rung von Wohlergehen.

Ein wesentliches Ergebnis der Forschungen zu subjektiver Zufriedenheit istsicherlich das so genannte ›Income-Happiness Paradox‹. Dies verweist darauf,dass es - wenn überhaupt - nur einen schwachen Zusammenhang zwischen mate-riellem Wohlstand und subjektivem Glück gibt (vgl. Easterlin 1974, 1995; Oswald1997). Trotz der gewaltigen Entfaltung der Produktivkräfte des wirtschaftlichenWachstums sowie einer bisher ungekannten Zunahme des Konsumniveaus undWohlstands in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts habe sich der gesamtgesell-schaftliche Mittelwert subjektiver Lebenszufriedenheit in den letzten dreißig Jah-ren praktisch nicht verändert.

Vor allem in relativ wohlhabenden Gesellschaften bleibt das Niveau anLebenszufriedenheit im Lebensverlauf von Individuen weitgehend stabil undwird langfristig nicht durch Steigerungen in Einkommen und Wohlstand beein-flusst (vgl. Kahneman et al. 2006). Insgesamt legen Studien nahe, dass die öko-nomischen bzw. ressourcenbezogenen Verhältnisse von Menschen einen deutlichgeringeren Einfluss auf ihre Lebenszufriedenheit haben als beispielsweise ihresozialen Beziehungen und Bindungen (vgl. Heady 2006). Insofern scheint derWert, den die Soziale Arbeit auf soziale und kommunikative Kompetenzen sowieauf die aktive Teilhabe am Gemeinschaftsleben legt, durchaus Bestätigung zu fin-den. Dass offenbar vor allem den lebensweltlichen, affektiven und symmetri-schen (Freundschafts-)Beziehungen eine große Bedeutung für das subjektiveWohlbefinden zukommt (vgl. Ziegler 2010), ist als eine Bestätigung des Stellen-

Holger Ziegler122

8 Richard Layard (2006) geht so weit, das Herausfinden dessen, was subjektive Zufriedenheit fördert oder hemmt, als die Hauptaufgabe der Sozialwissenschaften insgesamt zu bestimmen.

werts jener Form des ›Sozialkapitals‹ interpretiert worden (vgl. Helliwell/Putnam2005), dem auch z.B. im Kontext einer ›sozialräumlichen Orientierung‹ in derSozialen Arbeit hohe Relevanz zugewiesen wird. So weisen auch die Ergebnisseeiner in der AG Soziale Arbeit der Universität Bielefeld durchgeführten Untersu-chung in ›sozial benachteiligten‹ Stadtteilen darauf hin, dass das nicht formelle,lokale Sozialkapital in einer deutlichen Beziehung zur subjektiven Lebenszufrie-denheit steht (vgl. Tabelle 1)

* Signifikant auf dem Niveau von 0,05; ** Signifikant auf dem Niveau von 0,01

Tabelle 1: Lineare Regression zur subjektiven Zufriedenheit (eigene Besprechungder Daten des DFG-Forschungsprojekts ›Räumlichkeit und soziales Kapital inder Sozialen Arbeit‹ N = 491)

Soziale Arbeit und das gute Leben 123

StandardisierteBeta-Koeffizienten

Sozio-ökonomischer Status .055 (ns)

Alter .061 (ns)

›lokales Kapital‹ 9 .312 **

Zeit verbringen mit FreundInnen,Bekannten, KollegInnen etc.(›weak ties ‹)

.108 *

Zeit verbringen mit Familie undVerwandten (›strong ties‹ ) .118 **

9 Lokales Kapital ist ein Faktor, der das Ausmaß beschreibt, in dem Menschen in ihre Nachbarschaft eingebettet sind und dort Solidarität und die Abwesenheit von Konflikten wahrnehmen. Er umfasst die Zustimmung zu folgenden Einzelitems bzw. Aussagen: ›Ich fühle mich in [Ort] ›zu Hause‹ ?‹ »Wenn Sie in [Ort] unterwegs sind, z.B. einkaufen oder spazieren gehen, wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist es, dass Sie dabei dann Freunde und Bekannte treffen? »Ich bin ein wichti-ger Teil meiner Nachbarschaft.« »Die Menschen hier helfen sich gegenseitig.« »Hier kennen sich die Menschen gut.« »Die Menschen hier halten zusammen.« »Die Menschen hier kommen schlecht miteinander aus.« »Die Menschen hier haben keine gemeinsamen Werte.« und »Die Menschen hier haben keinen Respekt vor Gesetz und Ordnung.« »Sie unterhalten sich mit Ihren Nachbarn.« »Sie und Ihre Nachbarn besuchen sich gegenseitig.« »Sie tun einem Ihrer Nachbarn

Neben solchen Beziehungs- und Sozialkapitaldimensionen gelten in der empiri-schen Glücksforschung vor allem personale Eigenschaften und Persönlichkeitsin-dikatoren als die wesentlichen Prädikatoren subjektiver Lebenszufriedenheit.

Ferner weisen Studien darauf hin, dass z.B. gläubige Menschen in der Regelzufriedener als AtheistInnen sind und auch die eheliche Form der Partnerschaft mitZufriedenheit korreliert. Eindeutig ist auch ein starker negativer Zusammenhangvon Arbeitslosigkeit und subjektivem Wohlergehen (vgl. Clark/Oswald 1994; DiTella et al. 2001; Winkelmann/Winkelmann 1998). Aus diesen Ergebnissen, soargumentiert etwa das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen undJugend »können klare Handlungsempfehlungen für die Politik abgeleitet werden,wie zum Beispiel die aktivierende Arbeitsmarktpolitik ›Welfare to Work‹« aberauch die Stärkung von »bürgerschaftliche[m] Engagement und soziale[m] Kapi-tal« (BMFSFJ 2009: 14, 13).

Darüber hinaus verträgt sich die subjektive Formulierung von Wohlbefindenoffensichtlich gut mit individualistischen und kulturalistischen Diskursen übersoziale Ungleichheit und der damit legitimierten Umgestaltungen des Sozialstaats.Paradigmatisch hierfür steht die von Anthony Giddens als ›positive welfare‹ gefor-derte Form der Sozialpolitik, die nicht zuletzt sozialpädagogischen Interventions-logiken folgt. Ein in »mental-health terms« definiertes Konzept von »wellbeing«fungiert dabei als »core principle around which a new vision of positive welfarecould be organised« (Hoggett 2000: 145) und liefert die Basis einer Wohlfahrts-produktion, die »nicht darauf [zielt], dass man die äußere Welt beherrscht, sonderndass man sein Innenleben in den Griff bekommt« (Giddens 1997: 244) und so weitgegen äußere Umstände resistent wird, dass man selbst noch »trostlosen Lebens-bedingungen befriedigende oder gar bereichernde Erfahrungen abzugewinnen«(Giddens 1997: 246) vermag.

Während sich liberale Formulierung von Gerechtigkeit (etwa von Rawls oderDworkin) im Wesentlichen auf die Umstände menschlichen Lebens konzentrieren,rückt diese für die VertreterInnen subjektiven Wohlergehens in den Hintergrund.Einige ForscherInnen argumentieren, dass äußeren Lebensumständen - seien diesEinkommen und materieller Besitz, Zivilstatus, Wohnortfaktoren oder das metero-logische Klima - zusammengenommen eine Varianzaufklärung von 15-20 % dessubjektiven Wohlergehens zuzuschreiben seien, andere halten den (langfristigen)Einfluss jener objektiver Lebensumstände für gänzlich vernachlässigbar (vgl.Veenhoven 2007). In jedem Falle scheint für eine Gestaltung öffentlicher Wohl-

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einen Gefallen.« »Einer Ihrer Nachbarn tut Ihnen einen Gefallen.« »Sie und Ihre Nachbarn leihen sich gegenseitig Werkzeug oder Lebensmittel oder andere Dinge aus«.

fahrt nach den Prämissen einer Steigerung subjektiven Wohlergehens eine sozial-staatliche Ressourcenumverteilung nicht den probaten Weg zur ›Geatest Happi-ness‹ zu beschreiben. Es ist nicht verwunderlich, dass ProtagonistInnen der›Neuen Rechten‹ die Ergebnisse der Glücksforschung aufgreifen und gegenwohlfahrtstaatliche Politiken in Stellung bringen. Die Interpretation lautet dann,dass soziale Ungleichheit ein viel »kleineres Problem in modernen Gesellschaf-ten zu sein scheint, als die meisten Soziologen glauben« (Veenhoven 2007: 8).Dabei wird zwar nicht bestritten, dass sich die soziale Ungleichheit in der Verfü-gung materieller Ressourcen in den letzten Jahrzehnten deutlich erhöht hat, aberdiesem Faktum wird wenig Relevanz beigemessen, da der Blick auf materielleRessourcen eine beschränkte Perspektive impliziere. Denn die gängigen relativenUngleichheits- und Armutskonzepte würden verkennen, dass Lebensglück nichtunbedingt mit materiellen Ressourcen zusammenhängt (vgl. Miebach 2005). Siewürden sich auf die falsche Surrogatebene der Mittel reduzieren, welche jedochnur indirekte und irreführende Indikatoren für etwas anderes, nämlich Wohlerge-hen und Glück, seien. Zieht man nun ultimativen ›Outcome‹ - das Wohlbefinden- als den unmittelbar relevanten Maßstab von Ungleichheit heran, habe sichUngleichheit keinesfalls erhöht. Vielmehr scheinen die zwanzig Jahre Neo-Libe-ralismus zu einem historisch bisher unbekannten Maß an Gleichheit geführt zuhaben (vgl. Veenhoven 2005). Der Wohlfahrtstaat habe allerdings wenig hierzubeigetragen: Weder die Reichweite sozialer Rechte noch das Ausmaß wohlfahrt-staatlicher Umverteilung, noch der Grad an Universalismus in den Zuteilungslo-giken von Wohlfahrtsleistungen beeinflusse das subjektive Wohlergehen (vgl.Veenhoven 2005, 2007). Die Ergebnisse einer solchen ›ungleichheitsanalyti-schen‹ Wohlergehensforschung sprächen, so betonen ihre ProtagonistInnen, klargegen eine sozial-demokratische Agenda. Sie legen stattdessen zweifelsfrei nahe,»that increasing income inequality can go together with decreasing inequality inhappiness and this conclusion provides moral support for governments develo-ping modern market economics« (Ott 2005: 397). Auch die Forschungen derDeutschen Bank legen nahe, dass - im Nationenvergleich - ein geringer Schutzvon Arbeitsplätzen und deregulierte Märkte (»extensive economic freedom«)positiv mit Zufriedenheit korrelieren (vgl. Bergheim 2007).

Als Argumente für eine Verstärkung einer ›neo-liberalen‹ Gestaltung derSozialpolitik werden auch andere Ergebnisse der empirischen Glücksforschungherangezogen. So beispielsweise Mihaly Csikszentmihalyis Konzept des ›Flow‹(Csikszentmihalyi 1990). Flow-Erlebnisse fänden sich dann, wenn Menschen auseigenen Kräften Aufgaben und Anforderungen meistern. Wesentlich sei dafür dieEinsicht, dass das subjektive Glück in einem hohen Maße mit der »Disposition«der Menschen zusammenhänge »die Verantwortung für ihre eigenen Errungen-

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schaften und ihr eigenes Scheitern zu übernehmen« (Heady 2006: 22). DieseDeutung fügt sich ausgezeichnet in eine neo-liberale Umgestaltung der Sozialpo-litik10 (vgl. Ziegler 2008).

Analytisch besteht ein zentrales Problem subjektiver Konzeptionen von sub-jektivem Wohlergehen darin, dass subjektive Bewertungsstandards, Präferenzenund Erwartungen ungleich verteilt sind und im Sinne habitueller Verinnerlichun-gen erlebter gesellschaftlicher Wirklichkeit systematisch durch soziale Privilegie-rungen und Benachteiligungen strukturiert werden. Dies ist eine solide Erklärungdafür, dass sich ›objektiv‹ widrige Lebensumstände oder ungünstige Lebenslagennur wenig in Bewertungen des subjektiven Wohlbefindens der Betroffenen wider-spiegeln. Die objektive Formbarkeit subjektiver Wertmaßstäbe impliziertzugleich, dass eine Bestimmung von Gerechtigkeit auf der Basis subjektivenWohlergehens Ungleichheiten, Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissemöglicherweise systematisch verschleiert. Sozialwissenschaftlich gibt es kaumZweifel an der Existenz von Adaptions- bzw. Habituationsprozessen, d.h. Prozes-sen der Anpassungen von Ambitionen, Beurteilungsmaßstäben, Grundhaltungen,Empfindungen, Überzeugungen und ästhetischen Vorlieben an die eigenen›objektiven‹ Lebenssituationen und -möglichkeiten (vgl. Olsaretti 2006). Zielset-zungen und Bedürfnisse von Menschen sind demnach keinesfalls einfach ›sub-jektiv‹, sondern zu den objektiven Chancen und sozialen Strukturen relationiert,die die Lebensführungspraktiken der Betroffenen strukturieren. Je länger sozialund materiell deprivierende Situationen andauern, desto stärker tendieren dieBetroffenen dazu, ihre Aspirationen und Neigungen dieser Situation anzuglei-chen. Menschen mögen demnach auch in marginalisierenden Lebenslagen einbeachtlich hohes Maß an Zufriedenheit und Aspirationsbefriedigung angeben,dies geschieht jedoch häufig auf der Basis von »preferences that have adjusted totheir second-class status« (Nussbaum 2003: 33). Gerade mit Blick auf die typi-scherweise wenig privilegierten AdressatInnen Sozialer Arbeit scheint die imwesentlichen utilitaristische, subjektive Wohlergehensmetrik der empirischenGlücksforschung daher unangemessen. Im schlechtesten Fall ist sie insofernzynisch, wie sie die »gesellschaftlich am tiefsten verankerten und wirksamstenVorurteile gegenüber benachteiligten Gruppen [… bedient, nämlich] dass diese

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10 So argumentieren z.B. Thomas Petersen und Tilmann Mayer (2005), dass der Ausbau von sozia-len Rechten und Sicherungen das Wohlergehen nicht befördere, sondern durch eine Unterminie-rung von Eigenverantwortung und des Einsatzes der eigenen Kräfte eingeschränkt habe. Vor die-sem Hintergrund sei ein Abbau von Sozialstaatlichkeit als ein wirksames Programm zur Steigerung des Glücks zu verstehen.

eigentlich gar nicht so hohe Ansprüche an ihr Leben stellen und sich mit einembescheidenen Lebensstandard letztlich sehr wohl zufrieden geben« (Groh/Keller2001: 196).

Politisch besteht das Ziel, subjektives Wohlbefinden in den Mittelpunktöffentlicher Wohlfahrtsproduktion zu stellen demnach häufig darin, dass sichWohlbefinden und subjektive Zufriedenheit auch durch eine systematische Min-derung von Ansprüchen befördern lässt. BefürworterInnen einer solchen Bestim-mung menschlichen Wohlergehens müssten konsequenterweise indifferent zwi-schen Politiken sein, die die Möglichkeiten der Menschen erhöhen oder ihreAnsprüche und Hoffnungen senken, sofern beide vergleichbare Wirkungen aufdas subjektive Wohlbefinden haben. Wird diese Perspektive zum entscheidendenEvaluationskriterium erhoben, hätten soziale Programme und Interventionen, diedie soziale Lage und Lebenschancen ihrer AdressatInnen nicht verbessern, aberderen soziale Erwartungen und Aspirationen senken, als ›objektiv erfolgreich‹ zugelten, während Programme, die Lebenschancen verbessern aber zugleich auf(uneingelöste) Ansprüche verweisen und über verdeckt gebliebene Ungleichhei-ten aufklären, als ›objektiv erfolglos‹ zu betrachten wären. Konsequent zu Endegedacht, legt die Metrik subjektiven Wohlergehens nahe, dass eine Verschleie-rung von Ungerechtigkeit und Unterdrückungsverhältnissen deren Aufhebungethisch-politisch ebenbürtig sei. Für eine emanzipatorische Soziale Arbeit führtder Subjektivismus demnach systematisch in die Irre.

Eine bemerkenswerte Alternative bietet demgegenüber eine auf »Capabili-ties« gerichtete Perspektive auf Wohlergehen.

4. Perspektiven des Capabilities Ansatzes

Der Capabilities Ansatz als Grundlage einer sozialpädagogischen Perspektive aufmenschliches Wohlergehen lässt sich zunächst als ein ›objektiver‹ Ansatz verste-hen, der jedoch die Anmaßung vermeidet, aus der ›Beobachterperspektive‹ überdas Gute beliebiger Anderer verbindlich zu entscheiden. Vielmehr fragen Vertre-terInnen dieses Ansatzes

(…) aus der hypothetischen Perspektive eines beliebigen einzelnen, was es für sie oder ihn bedeuten kann, nach Wohlergehen und Glück zu streben und Leid, Not, Unglück (soweit es denn geht) zu vermeiden. Die Frage, der sie nachgehen, lautet weder: ›Was wollen die Leute wirk-lich?‹, auch nicht: ‚Was wäre für alle Menschen das Beste‹, sondern vielmehr, für ein beliebiges ›Ich‹: ›Was kann ich (im Vollzug meines Lebens) wollen?‹ (Seel 1998: 114).

Soziale Arbeit und das gute Leben 127

Für die öffentliche Wohlfahrtsproduktion geht es aus dieser Perspektive wederdarum, Menschen zu einer bestimmten Form des Lebens und der Lebensführungzu drängen, noch darum, ihre Glücks- und Zufriedenheitsgefühle zu erhöhen,sondern um das Bestreben, »jedem Bürger die materiellen, institutionellen sowiepädagogischen Bedingungen zur Verfügung zu stellen, die ihm einen Zugangzum guten menschlichen Leben eröffnen und ihn in die Lage versetzen, sich fürein gutes Leben und Handeln zu entscheiden« (Nussbaum 1999: 24).

Die Capabilities Forschung fokussiert nicht die Frage sozialer Gerechtigkeitder Verfügbarkeit über ungleiche Ressourcen, sondern die Aussicht auf die Reali-sierung eines »guten Lebens«, das ungleiche Ressourcen einer Person eröffnenkönnen. Es geht demnach um die Entwicklung von Entfaltungsmöglichkeiten undVerwirklichungschancen der Individuen. Mit dem Begriff der Capabilities rücktdemnach die Autonomie von Handelnden in Form ihres empirisch zu ermittelndenSpektrums effektiv realisierbarer und hinreichend voneinander unterscheidbarerHandlungsalternativen (um das Leben führen zu können, das sie mit guten Grün-den erstreben) in den Mittelpunkt. Damit ergibt sich ein analytischer Ausgangs-punkt, der der Pluralität von Werten und Lebensstilen moderner GesellschaftenRechnung trägt und darauf verzichtet, Wohlergehen substanziell oder inhaltlichfestzuschreiben und so auf die Lebensführung Dritter zu dekretieren. Im Zentrumder Analyse steht vielmehr das reale Vermögen von Menschen, für die eigene Kon-zeption eines guten Lebens wertvolle »Funktionen«, d.h. Tätigkeiten und Seins-weisen, praktisch realisieren zu können.

Nicht selten wird der Begriff der Capabilities mit Kompetenzen oder Fähig-keiten übersetzt. Eine solche Übersetzung ist nicht falsch, aber sie droht in die Irrezu führen. Sachlich angemessener erscheinen Übersetzungen wie z.B. »Verwirkli-chungschancen«, »Entfaltungsmöglichkeiten« oder »Befähigungsgerechtigkeit«.Dabei geht es weniger um semantische Finessen, sondern um gegenstandsbezoge-ne Grundfragen. Denn die Rede von Kompetenzen impliziert in der Regel indivi-dualisierende Deutungen, die dem Capabilities Ansatz kaum gerecht werden. Dietheoretische Begründung von Capabilities besteht darauf, dass Verwirklichungs-chancen nicht auf individuelle Eigenschaften oder Dispositionen zu reduzierensind, sondern auf das komplexe Zusammenspiel von Infrastrukturen, Ressourcen,Berechtigungen und Befähigungen verweisen (vgl. Andresen et al. 2007; Bonvin2009). Die Capabilities-Perspektive geht davon aus, dass

(…) individuelle Chancen (…) gesellschaftlich strukturiert [werden]: Ökonomische Ressourcen und institutionelle Anspruchsvoraussetzungen (›Umwandlungsfaktoren‹) bilden zusammen die kollektiven Unterstützungsstrukturen, von denen die Auswahlmenge an Verwirklichungschancen und die Wahlmöglichkeiten bei der individuellen Lebensführung abhängen. (Bartelheimer 2009: 51)

Holger Ziegler128

Vor diesem Hintergrund ist es nicht unproblematisch, wenn z.B. der 13. Kinder-und Jugendbericht (2009) die Metrik der Verwirklichungschancen (d.h. vonCapabilities) in einen Zusammenhang mit anderen Konzepten, wie dem der Salu-togenese, der Resilienz oder der Selbstwirksamkeit, stellt. Denn diese Konzeptescheinen sich vor allem auf die Frage zu beziehen, wie effektiv soziale Akteurein der Lage sind, sich an ungünstige Bedingungen anzupassen und handlungsfä-hig zu bleiben. Demgegenüber geht es der Capabilities-Perspektive gerade nichtum solche Adaptionsfähigkeiten, sondern um das Ausmaß an Verwicklungschan-cen, die bestimmte soziale Arrangements eröffnen oder verschließen. Die Capa-bilities-Perspektive macht darauf aufmerksam, dass Handlungsoptionen systema-tisch an verfügbare Ressourcen zurückgebunden sind, auch wenn Ressourcen dieVarianz von realistisch realisierbaren Handlungsoptionen nicht alleine determi-nieren und Ressourcen nur in Form von »Capabilities« praktisch ungleichheitsre-levant werden. Ungleichheitsrelationen im Bezug auf Verwirklichungschancenbeinhalten Ressourcen, weisen aber über eine ressourcenorientierte Perspektivehinaus, indem sie den Fokus auf »das Wirken strukturell verfestigter Machtpoten-tiale« (Kreckel 2006: 15) lenken.

Über materielle Ressourcen zu verfügen, so das Argument aus der Capabili-ties Perspektive, sei zwar ohne Zweifel eine wesentliche Grundbedingung, abereben nicht alleine dafür entscheidend, welche Lebenschancen und Entfaltungspo-tenziale unterschiedliche AkteurInnen lebenspraktisch auch tatsächlich realisie-ren können. Andere institutionelle, kulturelle - inklusive Fragen von politischerKultur, die sich in solchen Aspekten wie demokratische Grundfreiheiten oderMöglichkeiten zur politischen Teilhabe niederschlagen können (vgl. Scholtes2005) - und gesellschaftliche aber auch personale Aspekte erweisen sich hierfürals ebenso wesentlich.

Statt auf Ressourcen - als Mittel zur Zielerreichung - solle sich der Blick daherauf die tatsächlich realisierbaren Funktionsweisen, d.h. auf die Kombinationenjener Tätigkeiten und Zustände einer Person richten, die diese begründet wert-schätzt (vgl. Sen 1992). VertreterInnen des Capabilities-Ansatzes haben daherargumentiert, die Frage sozialer Ungleichheit mit Blick auf die Ungleichheit derVerteilung von tatsächlichen Handlungsbefähigungen und Verwirklichungschan-cen, d.h. von Capabilities, in den Blick zu nehmen. Auch die Frage der wirtschaft-lichen und sozialen Entwicklung erhält über die analytischen Dimensionen derCapabilities eine fundamentale, normative Zieldimension.

Dabei legt der Capabilities-Ansatz eine relationale Perspektive nahe. Denndiese Perspektive verlangt den materiell und institutionell strukturierten Raumgesellschaftlicher Möglichkeiten zu einem akteursbezogenen Raum individuellerBedürfnisse und Handlungsbefähigungen mit Blick auf die Ermöglichung einer

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selbstbestimmten Lebenspraxis in Beziehung zu setzen (vgl. Otto/Ziegler 2008).Im Sinne einer solchen relationalen Perspektive ist der Capabilities-Ansatz an dieSoziale Arbeit besonders anschlussfähig, weil er - über materielle Aspekte hinaus- auch Anerkennungsverhältnissen und der Frage nach »Kultur« im Sinne vonHaltungen, symbolisch artikulierten Lebensentwürfen und sinngebenden Prakti-ken eine systematische Bedeutung zuweist. Für die Soziale Arbeit angemessen istdie Capabilities-Perspektive auch deshalb, weil sie sich auf die Komplexität vonLebenswelten und Lebensführungen von leibhaftigen, mehr oder weniger abhän-gigen, verwundbaren AkteurInnen »mit einer konkreten Geschichte, Identität undaffektiv-emotionalen Verfassung« (Benhabib 1989) bezieht. Dabei bietet dieCapabilities-Perspektive einen evaluativen Rahmen für die Soziale Arbeit, der anverschiedene Theorien und analytische wie empirische sozialpädagogische Per-spektiven anschlussfähig ist. Die Grundidee einer Bestimmung des Nutzens bzw.der Qualität Sozialer Arbeit aus einer Capabilities-Perspektive besteht darin, denBeitrag Sozialer Arbeit zur Erhöhung der Verwirklichungschancen ihrer Adressa-tInnen in den Blick zu nehmen.

Eine wichtige analytische Unterscheidung ist dabei die zwischen »Funktions-weisen« und »Capabilities« (vgl. Nussbaum 2000a, 2006; Sen 1999). Funktions-weisen verweisen auf tatsächlich realisierte wertgeschätzte Zustände und Hand-lungen, die für das eigene Leben als wertvoll erachtet werden und die dieGrundlagen der Selbstachtung nicht in Frage stellen. Bei den Capabilities geht eshingegen um die realen praktischen Freiheiten, sich für - oder gegen - die Reali-sierung von unterschiedlichen Kombinationen solcher Funktionsweisen selbst ent-scheiden zu können. Martha Nussbaum hat in einer überzeugenden Weise daraufAufmerksam gemacht, dass sich ein gutes und vollständiges Leben menschlicherAkteurInnen letztlich zwar nicht nur in hypothetischen, potentiellen Optionalitä-ten, sondern nur in der Form des tatsächlich verwirklichten real gelebten Lebensmanifestieren könne, aber es

(…) für politische Zielsetzungen nichtsdestoweniger angemessen [sei], dass wir auf die Befähi-gungen zielen - und nur auf diese. Ansonsten muss es den BürgerInnen freigestellt sein, ihr Leben selbst zu gestalten. [... Denn] selbst wenn wir sicher wüssten, worin ein gedeihliches Leben besteht und dass eine bestimmte Funktionsweise dafür eine wichtige Rolle spielt, würden wir Menschen missachten, wenn wir sie dazu zwängen, diese Funktionsweise zu realisieren. (Nussbaum 2000a: 87f.)

Ein solcher Rekurs auf Capabilities als Zielgröße wohlfahrtsproduzierender Pra-xis verspricht für die Soziale Arbeit eine adressatInnenorientierte Perspektive zueröffnen, die über die Frage subjektiver Zufriedenheit und Wunscherfüllung hin-

Holger Ziegler130

ausgeht. In den Mittelpunkt rückt stattdessen das Ausmaß und die Reichweite dessozialpädagogisch eröffneten Spektrums effektiv realisierbarer und hinreichendvoneinander unterscheidbarer Möglichkeiten und Handlungsbemächtigungen(vgl. Sturma 2000), über die AkteurInnen verfügen, um das Leben führen zu kön-nen, welches sie mit guten Gründen erstreben. Damit unterscheidet sich diesePerspektive auch von der konventionellen Wirkungs- und Evaluationsforschung,die in der Regel das Ausmaß messen, in dem pädagogische Interventionen ihreAdessatInnen zu vorab definierten und inhaltlich fixierten Daseins- und Hand-lungsweisen hin verändert haben. Die Frage nach den eröffneten Freiheits- undAutonomiespielräumen rückt hier jedoch in den Hintergrund, während sie auseiner Capabilities-Perspektive den wesentlichen Aspekt des Nutzens SozialerArbeit darstellt. Der Bestimmungs- und Evaluationsmaßstab aus einer Capabili-ties-Perspektive ist der Beitrag Sozialer Arbeit zur qualitativen und quantitativenErweiterung des Raums an Möglichkeiten und Fähigkeiten ihrer AdressatInnen,sich für die Verwirklichung unterschiedlicher Handlungs- und Daseinsweisenentscheiden zu können, für die aus der Sicht des eigenen Lebensplans gute Grün-de sprechen.

Ein Problem der Capabilities Perspektive ist indes ihre potentielle Uferlo-sigkeit. So ist der Raum potentiell förderbarer Möglichkeiten und Fähigkeitensehr vielfältig. Da jedoch nicht alle davon gleichermaßen fundamental sind,scheint es sinnvoll, einen Kernbereich von Capabilities zu begründen, die öffent-liche Wohlfahrts- und Bildungsinstitutionen fördern sollten.

Ein viel beachteter Vorschlag für eine solche Eingrenzung ist eine Liste, demAnspruch nach universeller Basic-Capabilities, die Martha Nussbaum (2000a,2006) begründet hat: Diese Liste von »Befähigungen«, die für ein erfülltes mensch-liches Leben notwendig seien, umfasst folgende zehn Aspekte (vgl. (Nussbaum,1999: 57-58):

1. Die Fähigkeit, ein volles Menschenleben bis zum Ende zu führen;2. Gesundheit insbesondere als Ernährung, Wohnen, Sexualität und Mobilität;3. Fähigkeit, unnötigen Schmerz zu vermeiden und freudvolle Erlebnisse zu

haben;4. Fähigkeit, fünf Sinne zu benutzen, sich etwas vorstellen und denken zu können;5. Bindungen zu Dingen und Personen einzugehen, zu lieben, zu trauern, Sehn-

sucht und Dankbarkeit zu empfinden;6. Sich Vorstellungen vom Guten zu machen und kritisch über die eigene Lebens-

planung nachzudenken;7. Für andere und bezogen auf andere zu leben, verschiedene Formen familiärer

und sozialer Beziehungen einzugehen;

Soziale Arbeit und das gute Leben 131

8. Verbundenheit mit Tieren und Pflanzen und der ganzen Natur zu (er-)leben;9. Fähigkeit zu lachen, zu spielen und Freude an Erholung zu haben;10. Das eigene Leben und nicht das eines anderen zu leben; 10a. Fähigkeit, sein

eigenes Leben in seiner eigenen Umgebung und seinem eigenen Kontext zu leben.

Sozialpädagogisch relevante Aspekte dieser Liste reichen von der Befähigungzur Ausbildung sensorischer Fähigkeiten und grundlegender Kulturtechnikenüber die Möglichkeit und Fähigkeit zur Bindungen mit anderen Menschen bishin zur Befähigung zur Ausbildung praktischer Vernunft und einer eigenenrevidierbaren Konzeption eines gelungenen Lebens im Wissen um die eigenenUmstände und Wahlmöglichkeiten. Nussbaum geht es mit dieser Liste umBerechtigungen, die sie als Aufgaben für öffentliche Institutionen formuliert.Diese Liste zielt explizit nicht darauf, in einer wertbezogenen Weise Wohlerge-hen verbindlich zu definieren. Vielmehr geht es darum, allgemeine Vorausset-zungen für Wohlergehen vorzulegen. Diese sind in ihrer Konkretisierung an diekulturellen und sozialen Erfahrungsbereiche gebunden, in denen Menschen ihrLeben führen. Aus der Perspektive des Capability Ansatzes ist es demnach dieAufgabe der öffentlichen Institutionen, sicher zu stellen, dass sich die Indivi-duen unter vernünftigen und zumutbaren Konditionen für die Verwirklichungdieser Capabilities frei entscheiden können. Es ist aber nicht die Pflicht derIndividuen, sich für die Realisierung dieser Möglichkeiten auch tatsächlich zuentscheiden.

Für moderne Gesellschaften verweist Elizabeth Anderson (2000) noch aufzwei weitere Capabilities, die als notwendig betrachtet werden können, um Akteu-rInnen zu befähigen, aus sozialen Deprivations- und Marginalisierungsverhältnis-sen zu entkommen (vgl. Heite et al. 2007), und die zugleich eine befähigungsorien-tierte Perspektive auf die Idee einer gleichberechtigten demokratischen Teilhabe(vgl. Fraser 2003) eröffnen. Anderson schlägt vor, politisch vor allem die Ermögli-chung jener Capabilities zu fokussieren, die es Menschen erlauben, die Funktions-weise als gleichberechtigte TeilnehmerInnen an einem System kooperativer Pro-duktion zu realisieren und damit die materiellen Bedingungen ihrer Existenzbeeinflussen zu können. Diese Ermöglichung einer Teilnahme an kooperativer Pro-duktion ist nicht als die Legitimation von Welfare-to-Work-Maßnahmen zu verste-hen. Es geht im Gegenteil um das, was Jean-Michel Bonvin (2007: 15) als »capa-bility for work«, als »Fähigkeit zu sinnstiftender Arbeit« beschreibt. Im Mittelpunktsteht dabei die Capability der realen Freiheit, »jene Arbeit zu wählen, die manbegründet als sinnvoll erachtet«. Diese Capability beinhaltet sowohl »die Möglich-keit, eine Arbeit abzulehnen, die man als sinnlos erachtet (bei annehmbarer Exit-

Holger Ziegler132

Option), [… als auch] die Möglichkeit, effektiv an der Festlegung der konkretenArbeitsaufgaben, der Arbeitsorganisation und -bedingungen, der Entlohnung etc.mitzuwirken« (Bonvin 2007: 15).

Eine zweite wesentliche Capability richtet sich darauf, die Funktionsweiseals BürgerInnen eines demokratischen Staates zu ermöglichen (vgl. Anderson2000) und damit sicherzustellen, dass die Betroffenen nicht von der Partizipa-tion an kollektiven Entscheidungen ausgeschlossen sind, die sie selbst betreffenund den Rahmen ihrer Selbstbestimmung darstellen (vgl. Steinvorth 1999).Diese Capabilities in Anlehnung an Martha Nussbaum und Elizabeth Andersonals Maßeinheiten zur Bestimmung des Nutzens Sozialer Arbeit zu formulieren,legt weder völlige Beliebigkeit und Willkür noch eine standardisierte Festlegungsozialtechnologischer Interventionen nahe, die der Tatsache einer (konfliktuö-sen) Pluralität von Haltungen, Auffassungen und Lebensentwürfen (zu) wenigAufmerksamkeit schenken. Demgegenüber erlaubt und erfordert es die Capabi-lities Perspektive, auf individuelle, fallspezifische Konstellationen und sozialeEinbettungen der AdressatInnen einzugehen, und sie eröffnet eine relationaleAlternative zu Ansätzen, die sich alleine auf Zufriedenheit und subjektivesWohlbefinden richten, aber auch zu Ansätzen die eine bestimmte Form vonLebensführung oktroyieren. Dabei nimmt der Capabilities-Ansatz ein klassi-sches Motiv Sozialer Arbeit auf: Die Ermöglichung von Autonomie der Lebens-praxis (vgl. Andresen et al. 2008) und damit den zentralen Gegenstand sozialpä-dagogischer Professionalität.

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Soziale Arbeit und das gute Leben 137

Gesundheit als Basic Capability.Einflüsse von Armut und Benachteiligung aufdas Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen

Stephan Sting

»Gesundheit« stellt im capability approach eine »basic capability« (Nussbaum1999: 57) dar. Sie gilt als zentrale Verwirklichungschance für eine positive indi-viduelle und soziale Entwicklung. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ver-sucht schon seit einigen Jahrzehnten, ein breites Verständnis für Gesundheit alsVoraussetzung für eine befriedigende und gelingende Lebenspraxis zu etablieren.Gesundheit wird über die bloße Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen hin-aus als umfassendes »körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden«(www.api.or.at 2009) definiert. Wohlbefinden ist dabei einerseits ein an das In-dividuum gebundenes Kriterium; Wohlbefinden und Gesundheit realisieren sichnicht in Gruppen oder Gesellschaften, sondern nur in der je einzelnen Person.Andererseits erschöpft sich Wohlbefinden nicht in der rein subjektiven Lebenszu-friedenheit oder in einer positiven Selbsteinschätzung des eigenen Gesundheits-zustands. Durch den Bezug auf objektivierbare medizinische Daten im Hinblickauf die somatische und psychische Gesundheit erhält das Wohlbefinden eine diesubjektive Wahrnehmung überschreitende Bedeutung, die zugleich offen ist fürnormative Vorgaben und Leitvorstellungen.

Der WHO-Begriff des »Wohlbefindens« deckt sich weitgehend mit dem Kon-zept des »Wohlergehens«, wie es Ziegler aus dem capability approach ableitet undmit dessen Hilfe er versucht, nicht-subjektivistische Kriterien für »reale Verwirk-lichungschancen« zu erstellen (vgl. Ziegler 2009: 136f.). Die Förderung des Wohl-ergehens verbindet sich im capability approach programmatisch mit der Betonungvon Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit (vgl. Nussbaum 1999: 77ff.) -ein Zugang, der sich mit Grundanliegen des sozialpolitisch ausgerichteten Kon-zepts der Gesundheitsförderung deckt. Zugleich kann Gesundheit aufgrund ihresobjektivierbaren Charakters und ihrer Sichtbarkeit als Indikator für das Wohlerge-hen insgesamt, auch für das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen, betrach-tet werden. Daher erscheint mir das Feld der Gesundheit in besonderer Weisegeeignet, exemplarisch auf Möglichkeiten und Grenzen des capability approachhinzuweisen.

C. Sedmak et al., Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten, DOI 10.1007/978-3-531-92749-7_7,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

1. Gesundheit im Wandel der somatischen Kultur

Die gegenwärtig diskutierten Gesundheitsprobleme von Kindern und Jugend-lichen wie Übergewicht, Stress, Bewegungsmangel oder Substanzkonsum sindIndikatoren für eine generelle Besorgnis um die Entwicklungspotentiale und Ver-wirklichungschancen von Heranwachsenden in unserer Gesellschaft (vgl. z.B.Homfeldt/Sting 2006: 139). In pädagogischen Zusammenhängen wird die Bedeu-tung des Körpers für Entwicklungs- und Bildungsprozesse zunehmend erkannt.Im Säuglingsalter z.B. öffnet erst die Befriedigung elementarer körperlicherBedürfnisse den Horizont für Explorationen und Selbstbildungsaktivitäten. BeiKleinkindern sind der Körper und motorische Körpererfahrungen Bezugspunktfür die Selbst- und Welterkenntnis und damit Basis für die Entwicklung zahlrei-cher kognitiver, emotionaler, sozialer und sprachlicher Fähigkeiten. Im Jugendal-ter stellt die Verarbeitung der massiven körperlichen Veränderungen in der Puber-tät eine wichtige Weichenstellung für die weitere psychosoziale Entwicklung dar.Zugleich wird der Körper zu einem zentralen Medium der Selbstvergewisserungund Identitätsbildung (vgl. Sting 2007).

Die neue Aufmerksamkeit auf Körper und Gesundheit in Pädagogik undSozialer Arbeit geht mit einem Wandel der somatischen Kultur einher, bei demtradierte Praktiken im Bereich der Ernährung, der Sexualität, der Körperstilisie-rung, des Umgangs mit Gesundheit und Krankheit ihre Selbstverständlichkeitverlieren und der Selbstverfügung im Rahmen pluraler Gestaltungsmöglichkeitenüberlassen werden (vgl. Rittner 1999). Familiäre Essgewohnheiten, Formen derBewegung im und der Rhythmisierung des Alltags pluralisieren sich, wobei dieOrientierung auf die Gesundheit und die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinderneu reflektiert und hergestellt werden muss. Im Jugendalter wird der Körperdurch seine Verbindung mit dem Gefühl, der Steigerung von Empfindungen unddem Spüren von körperlichen Grenzen und physischem Schmerz zum »Wahr-heitskriterium für die eigene Identität« (v. Kardorff/Ohlbrecht 2007: 165). DurchSelbsterprobungen wie Rauschtrinken oder Drogenkonsum, durch »body modifi-cations« mittels Bodybuilding, Tattoos, Piercing oder Diäten, z.T. auch durchSelbstverletzungen werden Grenzen des Körpers ausgetestet und überschrittenund wird der Körper zur formbaren Gestaltungsmasse für Selbstinszenierungen(vgl. Kasten 2006).

Rittner betont zu Recht, dass die Selbstverfügung über den Körper nurscheinbar dem Einzelnen überlassen bleibt. Zugleich geht es auch um die Herstel-lung des »richtigen Körpers« (Rittner 1999: 108), der einerseits Individualitätund Lebensstil demonstriert und der andererseits gesellschaftliche Idealbildervon Glück, Schönheit, Erfolg, Jugendlichkeit, Attraktivität und Gesundheit ver-

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körpert. Wie der Körper erscheint auch Gesundheit zunehmend als Resultat einerdynamischen, aktiven »Herstellung« (Laaser/Hurrelmann 1998: 402) durch dieSubjekte. Labisch hat schon vor einiger Zeit die Herstellbarkeit von Körper undGesundheit als eine neue Etappe im historischen Prozess der Körperdisziplinie-rung und -formierung bezeichnet (vgl. Labisch 1992: 321f.). Die Zwänge dergegenwärtigen Arbeitswelt stellen hohe Anforderungen an Mobilität, Kommuni-kationsfähigkeit und allzeitige Arbeitsbereitschaft. Der »flexible Mensch« wirdfür den Erhalt und die Reproduktion seiner körperlichen Leistungsfähigkeit selbstverantwortlich erklärt. Er benötigt dazu einen »flexiblen Körper«, dessen Aus-druck die Körpertransformationen des body modification sind und der Gesund-heit und Fitness zur unabdingbaren Voraussetzung hat. Die Zwänge, die mit die-ser Entwicklung verbunden sind, zeigen sich z.B. bei pubertierenden Mädchen,die entgegen ihrer biologischen Reifung, die eine Anreicherung des Fettgewebesim Körper zur Folge hat (vgl. Fend 2003: 235), einem Schönheitsideal ausgesetztsind, das sich an der Grenze zur Magersucht bewegt und extreme Formen derSelbstdisziplinierung im Ess- und Bewegungsverhalten nahe legt.

Im Kontext des Wandels der somatischen Kultur wird bei Kindern undJugendlichen eine »neue Morbidität« (Ravens-Siebener et al. 2007: 871) konsta-tiert, die weniger durch akute Infektionskrankheiten und Folgen von Mangeler-scheinungen wie z.B. unzureichender Ernährung gekennzeichnet ist als vielmehrdurch chronisch-degenerative Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen,Krebs, Atemwegserkrankungen und Allergien, durch eine Zunahme psychischerErkrankungen und durch eine neue Bedeutung gesundheitsgefährdender Lebens-stile und Verhaltensweisen. Eine Konsequenz der aktuellen gesellschaftlichenVeränderungen besteht darin, dass sich nach sozialepidemiologischen Studien diegesundheitliche Situation der Heranwachsenden, insbesondere im Jugendalter,verschlechtert hat - entgegen des sonstigen Trends zur Verbesserung der Gesund-heitsdaten. Diese Entwicklung lässt sich für Österreich z.B. mit Hilfe der Datender HBSC-Studien (»Health Behaviour in School Aged Children«) erkennen (vgl.Dür et al. 2007).

Ein erheblicher Teil der Gesundheitsprobleme im Kindes- und Jugendaltergilt als Resultat eines über kollektive Lebensweisen vermittelten, eher kontingen-ten Fehlverhaltens, das durch soziale und individuelle Anstrengungen prinzipiellveränderbar erscheint. Da die frühen Lebensabschnitte für die Herausbildunghandlungsbestimmender Lebensstile entscheidend sind und sich in dieser Zeit einkörperlicher Habitus sowie gesundheitsrelevante Verhaltensweisen und Einstel-lungen etablieren (vgl. Lohaus 1993: 25; Palentien et al. 1998: 79), scheint dieBerücksichtigung gesundheitlicher Themen in der pädagogischen Arbeit mit Kin-dern und Jugendlichen unumgänglich. Die »Internationale Arbeitsgemeinschaft für

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Jugendfragen« (IAGJ) hat deshalb eine »öffentliche Verantwortung« für Gesund-heitsprobleme von Kindern und Jugendlichen eingefordert, die in einem Bündnisaus Kindergarten, Schule und Jugendhilfe wahrgenommen werden soll (vgl. IAGJ2004). Nur so könne das in der UN-Kinderrechtekonvention verankerte Recht jedesKindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit (vgl. UN-KRK, Art. 24,Abs. 1) umgesetzt werden.

2. Gesundheitsförderung und capability approach

Zur Aufrechterhaltung und Sicherstellung von Gesundheit als basic capability undVoraussetzung positiver Entfaltungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichenscheinen also besondere Anstrengungen erforderlich zu sein, denen die WHO seitnunmehr gut 20 Jahren mit dem Konzept der »Gesundheitsförderung« gerecht zuwerden versucht. Das Konzept der Gesundheitsförderung nimmt nicht explizit aufden capability approach Bezug, ist aber insofern interessant, als hier von Anfangan eine Verbindung aus Ressourcenorientierung und Kompetenzförderung, aussozialpolitischen und Individuum- bzw. verhaltensbezogenen Interventionen ange-strebt worden ist. Die Potenziale und Schwierigkeiten, die sich in der Gesundheits-förderung bei Kindern und Jugendlichen zeigen, können daher aktuellen Diskus-sionen zum capability approach als Reflexionsfolie dienen. Zugleich stellt sich dieFrage, inwiefern der capability approach zur Weiterentwicklung der Gesundheits-förderung beitragen kann.

Mit der Verabschiedung der »Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung« imJahr 1986 erklärte die WHO die Förderung von Gesundheit jenseits der Vermei-dung von Risiken und Krankheiten zu einer eigenständigen, positiven Aufgabe.Sie vertrat einen im Kern sozialpolitischen Ansatz, der die Selbstbestimmung undPartizipation ins Zentrum rückte. Gesundheitsförderung sollte die Menschen inihren alltäglichen Lebenszusammenhängen ansprechen, auf die aktive Mitwirkungund Selbstbestimmung der Bevölkerung setzen, da jeder Experte seiner eigenenGesundheit ist und Einfluss auf die Gesundheit in seiner unmittelbaren Umgebungnehmen kann, und sie sollte übergreifende Rahmenbedingungen von Gesundheitwie Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit, Frieden und Befriedigung vonGrundbedürfnissen (z.B. Wohnen, Arbeit, Lebenssinn) einbeziehen (vgl. Ottawa-Charta 1995). Gesundheitsförderung wird in den Horizont sozialer Lebensbedin-gungen eingebettet und mit der Stärkung persönlicher Lebenskompetenzen undsozialer Ressourcen verknüpft. Sie setzt eher auf die Förderung der »capabilities«,der Fähigkeiten und Befähigungen, als auf die Beeinflussung der Tätigkeiten undVerhaltensweisen (vgl. Nussbaum 1999: 40f.). Sie ist nicht nur Aufgabe des Indi-

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viduums, sondern eine gesamtgesellschaftliche Querschnittsaufgabe unterschied-licher Politik- und Handlungsfelder, bei der die Erschließung sozialer Ressourcenund Partizipationschancen mit der Erweiterung gesundheitsbezogener Entfaltungs-und Handlungsmöglichkeiten einhergeht (vgl. Franzkowiak/Wenzel 2001: 718).

Das WHO-Konzept zur Gesundheitsförderung erfuhr breite Zustimmung vonunterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren; dennoch werden inzwischen imVerlauf der Umsetzung eine Reihe von Problemen und Kritikpunkten diskutiert.Der scheinbare Vorteil - Anschlussfähigkeit in alle Richtungen zu bieten - verkehrtsich in den Nachteil, an niemand Konkreten gerichtet zu sein, der die Gesundheits-perspektive gegen andere Lebensinteressen (z.B. ökonomische) sozialpolitischdurchsetzt. In der Praxis der Gesundheitsförderung dominieren deshalb individu-umzentrierte Zugänge zur Beförderung eines gesundheitskonformen Verhaltens,zur Stärkung des Gesundheitsbewusstseins und zur Entwicklung gesundheitsrele-vanter Lebenskompetenzen. Der ursprünglich auf Selbstbestimmung und Partizi-pation setzende Ansatz droht dabei in eine Sozialdisziplinierung umzukippen, beider die positive Orientierung auf Gesundheit in eine »Pflicht zur Gesundheit«(Herzlich 1991: 298) und zur individuellen Verantwortung für sein eigenes Wohl-befinden umschlägt.

Zur Erklärung dieser Transformation der Gesundheitsförderung lassen sichzwei Grundprobleme anführen: Das erste Problem betrifft das Postulat, dass die»Selbstbestimmung über Gesundheit« quasi zwangsläufig zum Engagement fürdie Verbesserung der Gesundheit führt. Dem ist leider nicht so. Schon Gehlen hatdarauf hingewiesen, dass es sich bei Gesundheit um eine »sekundäre Zweckmä-ßigkeit« handelt, die den Menschen unintendiert zuwächst und kein direktesHandlungsmotiv darstellt. Gesundheit lässt sich demnach »nur über Umwege«fördern, z. B. als Nebeneffekt von »Ich-Stärke, Sinnhaftigkeit, erwartungssicherenSozialstrukturen etc.« (Bauch/Bartsch 2003: 5). Aus der Sicht des capabilityapproach bedeutet dies, dass Gesundheit als »capability« nicht in gesundheitsbe-zogene »functionings« (Tätigkeiten) umgewandelt wird (vgl. Bonvin 2009: 9ff.).In vieler Hinsicht ist Gesundheit auf der Ebene der capabilities aber wiederum nurunter Berücksichtigung entsprechender functionings bzw. gesundheitsbezogenerPraxisformen herstellbar.

Das zweite Problem betrifft die positive Orientierung auf Gesundheit: Zwarsind im Rahmen der Entwicklung der Gesundheitsförderung eine ganze Reihe vonpositiven Zugängen zur Kompetenz- und Ressourcenförderung und zur Stärkungvon Protektivfaktoren entstanden, aber der zentrale Wert - Gesundheit selbst - bleibtdunkel. Über die Abwesenheit von Krankheit hinaus ist Gesundheit nicht spürbar;sie bedarf zu ihrer Wahrnehmung der Inszenierungen, Symbolisierungen und Sub-stitute (z.B. Fitness, Stärke, Natürlichkeit; vgl. Zimmermann 1996). Gesundheit ist

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im Kern eine historisch wandelbare soziale Konstruktion mit hohen fiktivenSinnüberschüssen, die mit einer sozialen und kulturellen Formierung des Körpersund des körperlichen Habitus verbunden ist. Das Gesundheitsdispositiv des kör-perlich attraktiven, vitalen und sozial kompetenten Menschen, das Laaser undHurrelmann zum Zweck einer positiven Imagebildung von Gesundheit aufstellen,ist gesundheitswissenschaftlich nicht begründbar, sondern es ist Ausdruck dervon Labisch skizzierten neuen »biologischen Normativität« (Labisch 1992:321f.), die die gegenwärtige Veränderung der Lebensbedingungen und Lebens-weisen mit sich bringt.

Gesundheitsförderung bewegt sich also im Spannungsfeld von individuellenBestrebungen zur Steigerung und Erhaltung des Wohlbefindens und normativengesellschaftlichen Anforderungen an den Organismus und dessen Erhaltung.Betrachtet man Gesundheit aus der Perspektive des capability approach, dannwird deutlich, dass Gesundheit eine zentrale Kategorie für das individuelleWohlbefinden oder Wohlergehen darstellt. Es bleibt aber offen, wie die Balancezwischen subjektivem Wohlbefinden und objektivierbarer Gesundheit herge-stellt werden kann, ohne dass die Erweiterung der Verwirklichungschance»Gesundheit« (capability-Ebene) in eine repressive Durchsetzung gesundheits-bezogener Normalitätserwartungen der Gesellschaft abgleitet (functioning-Ebene) und welche gesellschaftlichen Akteure die Einhaltung dieser Balancegarantieren können.

3. Gesundheitsförderung bei sozialer Benachteiligung

Ein Indiz dafür, dass Gesundheit eine starke soziale Komponente enthält unddamit den Horizont individueller Verantwortlichkeiten überschreitet, liefert derZusammenhang von sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit. Seit den 1990erJahren weisen sozialepidemiologische Studien immer deutlicher darauf hin, dassein Zusammenhang zwischen sozialem und gesundheitlichem Status besteht.Wer sozial benachteiligt ist, zeichnet sich durch einen schlechteren Gesundheits-zustand aus. Im Zuge der zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung ist diesoziale Kluft in Bezug auf viele gesundheitliche Belastungen angestiegen. D.h.die sozial besser gestellten Bevölkerungsgruppen haben proportional stärker vonder Verbesserung der Gesundheitssituation profitiert als die sozial schwächerenBevölkerungsgruppen (vgl. Mackenbach 2006: 8). Für Österreich gibt es hierzukaum substantielle Studien, aber die wenigen vorhandenen Daten (z.B. die EU-SILC-Daten; vgl. Statistik Austria 2009) bestätigen diesen internationalenTrend.

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In dem Zusammenhang sind zwei Aspekte bemerkenswert: GesundheitlicheUngleichheit lässt sich nicht nur an den höheren Belastungen in den sozialbenachteiligten und armutsgefährdeten Bevölkerungsgruppen festmachen.

Vielmehr durchzieht die Ungleichverteilung von Gesundheit und Krankheit die gesamte Sozial-struktur einer Gesellschaft. So existiert ein deutlicher sozialer Gradient in der Sterblichkeit, d.h. mit einer stufenweisen Abnahme des Einkommens erhöht sich das Risiko frühzeitiger Sterblich-keit kontinuierlich. (Richter/Hurrelmann 2006: 14)

Zwischen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit besteht also eine kontinuierli-che, lineare Verknüpfung. Zugleich tritt gesundheitliche Ungleichheit nicht erst inspäteren Lebensjahren in Erscheinung, sondern sie ist bereits im Kindesalter erkenn-bar und beeinflusst Entwicklungs- und Bildungsprozesse von Heranwachsenden.Für eine Reihe von gesundheitlichen Belastungen ist die ungünstigere Situation beiHeranwachsenden aus sozial niedrigeren Statusgruppen belegt: für Säuglingssterb-lichkeit, psychische Gesundheit, Unfälle und Verletzungen, Kopfschmerzen, Adipo-sitas, Bewegungs- und Ernährungsverhalten, Rauchen und für verschiedene Ent-wicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten (vgl. z.B. Lampert/Richter 2006: 203ff.;Ravens-Siebener 2007: 875; Kurth et al. 2007: 746).

Alle aufgezählten Belastungen sind lebensstilabhängig und damit mitgesundheitsrelevanten Einstellungen, Handlungsformen und Werthaltungen ver-schränkt (vgl. Hradil 2006: 49). So hängt z.B. Übergewicht bei Kindern undJugendlichen unmittelbar mit dem Ernähungs- und Bewegungsverhalten zusam-men. Es steht also in der Begrifflichkeit des capability approach in enger Bezie-hung zu den functionings, zum faktisch realisierten Gesundheitshandeln. Vor demHintergrund liegt es nahe, dass Gesundheitsförderung sich an der Beeinflussungdes individuellen Gesundheitsverhaltens orientiert. Eine Analyse der Umsetzungdes WHO-Rahmenkonzepts »Gesundheit 21«, das explizit auf Chancengleich-heit, Solidarität und Teilhabe verpflichtet ist (WHO 2005: 13f.), ergab fürDeutschland, dass sich die realisierten Maßnahmen für das »gesunde Aufwach-sen« von Kindern und Jugendlichen auf die Themen »Bewegung, Ernährung undStress« konzentrieren. Ein Blick in die Liste der durch den »Fond gesundesÖsterreich« geförderten Projekte oder in den Aktivitätenkatalog des »Gesund-heitslands Kärnten« zeigt, dass die Prioritäten in Österreich ganz ähnlich liegen(vgl. www.fgoe.org 2009; www.gesundheitsland.at 2009).

In der Praxis der Gesundheitsförderung dominiert ein medizinisch orientiertesInterventionsmodell, das gesellschaftliche Gesundheitsprobleme in individuelleSymptomatiken transformiert und eine individualisierende Problembearbeitungbetreibt (vgl. Sting 2009: 97ff.). So wird z.B. das Szenario einer »globalen Über-

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gewichtsepidemie« (Homfeldt/Sting 2006: 137) entworfen, dem dann mit der För-derung eines »gesunden Ernährungsverhaltens« vom Kindesalter an in Familien,Kindergärten und Schulen begegnet wird. Auf die »Verhältnisse« oder Strukturenbezogene Maßnahmen erschöpfen sich in Aktivitäten zur »Unterstützung gesun-den Ernährungsverhaltens«, zur Reduktion der »Zahl der Verführer« und zurBereitstellung von »Angeboten für fehlernährte Kinder« (BMG 2008: 27ff.). Spe-zifische Maßnahmen zur »Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten« ver-folgen in der Regel keine anderen Zielstellungen, sondern sie versuchen mittelsVernetzung und gemeinwesenbezogenen Strategien »geeignete Zugangswege fürschwer erreichbare Kinder, Mütter und Väter« zu erschließen (BMG 2008: 27-33).

Evaluationen bisheriger Präventions- und Gesundheitsförderungsprogrammebringen allerdings zum Vorschein, dass sie gerade bei sozial benachteiligten, vonArmut betroffenen Bevölkerungsgruppen scheitern. Gesundheitsförderungscheint - ebenso wie andere Bildungs- und Entwicklungsangebote - sozial unglei-che Wirkungen hervorzurufen. Sozial besser gestellte Bevölkerungsgruppen pro-fitieren eher von Gesundheitsförderung, wodurch sie entgegen ihres sozialpoliti-schen Anspruchs zur Verstärkung gesundheitlicher Ungleichheit beiträgt. Bauerbezeichnet diesen Effekt am Beispiel des schulischen Präventionsprogramms»Erwachsen werden« als »Präventionsdilemma« (Bauer 2005: 14):

Obwohl Heranwachsende in sozial benachteiligter Lebenslage von einem erhöhten Risiko der Ausbildung selbst- und fremdschädigender Verhaltensweisen betroffen sind, ist die Erreichbarkeit dieser Klientel mit Angeboten der Gesundheitsförderung besonders defizitär. (Bauer 2005: 14)

Möchte Gesundheitsförderung ihrem sozialpolitischen Anspruch gerecht werdenund zur Verbesserung der Gesundheitschancen von sozial benachteiligten Kin-dern und Jugendlichen beitragen, dann muss sie weniger auf die kurzfristige Ver-änderung der functionings (des Gesundheitsverhaltens) als vielmehr auf einebreit angelegte Verbesserung der capabilities setzen. In dem Zusammenhang gehtes vor allem um die Erweiterung des Raums für gesundheitsförderliche Entschei-dungs- und Handlungsspielräume. Die Erweiterung der capabilities gelingt nurim Rahmen einer langfristigen Entwicklungs- und Bildungsarbeit mit Heran-wachsenden. Dafür spricht die Verflechtung von Gesundheit mit der Persönlich-keitsentwicklung insgesamt.

Nach Antonovsky (1997: 33ff.) stellt das Kohärenzgefühl einen zentralenFaktor für Gesundheit dar. Als positives Selbst- und Lebensgefühl verstärkt es die»Resistenz« der Menschen und trägt so zur Verbesserung der Gesundheitschancenbei. Die Herausbildung des Kohärenzgefühls ist von sozialen Rahmenbedingun-gen abhängig. Es entsteht im Entwicklungsprozess auf der Grundlage von kohä-

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renten Lebenserfahrungen, die nach Keupp für Heranwachsende generell und fürsozial Benachteiligte im Besonderen schwierig geworden sind. Für sozial Benach-teiligte führt die Propagierung pluraler Lebensoptionen in Verbindung mit derindividualisierenden Zuschreibung der Verantwortung für das eigene Leben beigleichzeitiger Verknappung der Ressourcen zur »Demoralisierung« (vgl. Keupp2000). Demgegenüber müssten entlang der differentiellen EntwicklungsverläufePerspektiven einer »positiven Jugendentwicklung« eröffnet und mit konkretenMöglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe verknüpft werden (vgl.Weichold/Silbereisen 2007), um kohärente Lebenserfahrungen hervorzubringen.

Ein zentraler Aspekt kohärenter Erfahrungen ist der Erwerb sozialer Aner-kennung. Von Kardorff und Ohlbrecht (2007) betrachten z.B. Essstörungen beiHeranwachsenden nicht als Folge individuellen Fehlverhaltens, sondern alsResultat von »Statusstress« und als »soziosomatisches Phänomen«. Adipositas(krankhaftes Übergewicht) wird als ein »Reaktanzphänomen auf wahrgenomme-ne Überforderung, etwa als ein Aus-dem-Feld-Gehen und/oder als Reaktion aufMisserfolge im Bildungssystem und in der beruflichen Eingliederung sowie alsReaktion auf veränderte Familienwelten« beschrieben. Die Diskrepanz zwischenden gesellschaftlich kursierenden Körperbildern und Lebensstilvorgaben und dereigenen Erfahrung des Scheiterns führt zu nicht nur psychologisch, sondernsoziologisch rekonstruierbaren Reaktionen des Widerstands oder der Verweige-rung. Essstörungen sind damit Ausdruck einer gesellschaftlich produzierten »kör-perlichen Unordnung«. (vgl. Kardorff v./Ohlbrecht 2007: 159-165)

Gesundheitsförderung in Bezug auf Adipositas erfordert also zunächst eineAuseinandersetzung mit Statusstress und sozialen Ausgrenzungserfahrungen.Soziale Anerkennung und Teilhabe stellen auf der Ebene der capabilities wesent-liche Momente einer Gesundheitsförderung bei sozial benachteiligten Kindernund Jugendlichen dar. Zugleich lässt sich aber die Ebene der functionings nichtausblenden; denn insbesondere im Kindes- und Jugendalter steht der dicke Körpereiner Rückgewinnung von sozialer Anerkennung im Weg. Der Körper blockiert alseigener Faktor Teilhabe und Inklusion.

Die Beschäftigung mit Körper und Gesundheit -auf der Ebene der functio-nings - muss in die Gesundheitsförderung einbezogen werden, nicht im Sinneeiner repressiven Verhaltenssteuerung, sondern im Sinne einer langfristigen Bil-dungsarbeit, die sich als Anregung zur Selbstbildung und Selbstbestimmungbegreift. Die Förderung gesundheitsrelevanter Tätigkeiten und Verhaltensweisenstellt jedoch nur ein Element von Gesundheitsförderung dar, das um die Ebeneder capabilities ergänzt werden muss: um die Sicherstellung gesundheitsbezoge-ner Ressourcen im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung sowie auf die sozioö-konomischen Rahmenbedingungen für eine gesundheitsbezogene Lebensweise

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(vgl. Nussbaum 1999: 65), um die Bereitstellung »kultureller Gesundheitsressour-cen« in Form von Gesundheitswissen und gesundheitsrelevantem kulturellenKapital (vgl. Abel et al. 2006) und um die soziale und entwicklungsbezogeneBeförderung von psychosozialen Verwirklichungschancen wie Anerkennung, Teil-habe und Kohärenz.

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Links

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Gesundheitsland Kärnten - Aktivitätenkatalog:http://www.gesundheitsland.at, 03.12.2009.

Stephan Sting150

Frühkindliche Mentalisierungals eine zentrale »capability« wider die Armut

Bernhard Schwaiger

1. Einleitung und Fragestellung

Ein 15-jähriger Jugendlicher aus armen Familienverhältnissen, den ich psycho-therapeutisch begleitete, tat sich schwer, innere Zustände wie Gefühle, Wünsche,Überzeugungen sowohl bei sich als auch bei anderen Menschen wahrzunehmen,zu beschreiben, zu unterscheiden und sie in seinen Handlungsentscheidungen zuberücksichtigen. Er reagierte viel eher auf äußere Merkmale von Situationen undwar aus diesem Grund in seinem Handeln sehr abhängig von den sich geradeergebenden Konstellationen. Er verfügte über keinen inneren Spielraum, umnegative Emotionen wie Ärger, Zorn, Enttäuschung oder Trauer zu bearbeitenund zu regulieren. Stattdessen verfiel er in oft heftige verbale und körperlicheAktionen, griff seine Umgebung an und war für seine ErzieherInnen schwierig zuführen. Die in der Literatur genannten typischen Begleitsymptome von Kinderar-mut wie Kleinkriminalität und Rückzug aus dem Bildungssystem traten deutlichhervor. Er war zwar prinzipiell gewillt, einen Lehrberuf zu erlernen, hatte dazuauch die intellektuellen Voraussetzungen, war aber ständig in Gefahr, von seinemLehrherrn wegen seiner mangelnden Impulskontrolle gekündigt zu werden undwie alle seine näheren Verwandten ein Leben in Armut am Rand der Gesellschaftzu führen.

Meine These zu dieser Fallskizze: Wenn das Vermögen, eigene mentaleZustände - vor allem Affekte - und solche von anderen Menschen im Handelnautomatisch berücksichtigen zu können (= Mentalisierung1), eingeschränkt ist,stellt dieser Mangel eine Form von Armut im Sinne des capability approach2 darund führt häufig zu Armut im herkömmlichen Sinne, nämlich materieller Armut.

1 Vgl. Fonagy, Peter/Gergely, György/Jurist, Elliot L./Target, Mary (2004): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst.

2 Vgl. Nussbaum, Martha C. (2000): Women and human development. The capabilities approach; Sen, Amartya (32005): Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft.

C. Sedmak et al., Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten, DOI 10.1007/978-3-531-92749-7_8,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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Freilich führt auch materielle Armut nicht selten zu Veränderungen des Fami-lienklimas, welche »… sich generalisierend als Rückfall in oder Verstärkung vonautoritären Interaktionsstrukturen auf der Basis traditioneller Geschlechtsrollen-verteilung kennzeichnen (lassen)«3, und materielle Armut kann somit einemMangel an Mentalisierung Vorschub leisten. Die kognitive Neurowissenschafthat sich, ausgehend von den schon lange bekannten Zusammenhängen zwischensozioökonomischem Status (socioeconomic status = SES) und Intelligenz sowieSchulleistungen, der Frage zugewandt, ob Unterschiede im SES mit Unterschie-den in bestimmten neurokognitiven Systemen einhergehen.4 So gibt es etwaexperimentelle Hinweise, dass ein Zusammenhang zwischen niederem SES undklinisch auffälligen EEG-Mustern im präfrontalen Kortex von 9-10-jährigenKindern besteht.5 Der präfrontale Kortex ist ein wichtiges Kontrollzentrum fürdie Handlungssteuerung und Regulierung von Emotionen. Sein optimales Funk-tionieren liegt der Fähigkeit zur Mentalisierung zu Grunde.6 Unterschiedlichbeantwortet wird die Frage, worauf diese Zusammenhänge zurückzuführensind. Verursacht der je unterschiedliche SES eine je unterschiedliche Gehirnent-wicklung und wie soll man sich im Einzelnen diesen Einfluss vorstellen? Odergeben Eltern mit unterschiedlichem SES jeweils unterschiedliche genetischeInformationen an ihre Kinder weiter, welche sich dann in unterschiedlichenGehirnentwicklungen manifestieren? Ich schätze bei der Behandlung dieserFragen den Einfluss des psychosozialen Faktors auf die Gehirnentwicklung alsbedeutsam ein und schließe mich dabei den Argumenten an, die Fonagy et al.7vorgetragen haben. Aufschlussreich sind deren Überlegungen im Hinblick aufdie Frage, ob und wie sich nachteilige äußere Umstände auf die psychische Ent-wicklung von Kindern auswirken. Offensichtlich spielen rein äußere (odergenetische) Umstände nicht die ihnen oft zugedachte entscheidende Rolle. Viel-mehr kommt es darauf an, ob Kinder frühzeitig und ausreichend von ihrenBezugspersonen mentalisiert werden, d.h. ob sie als Wesen behandelt werden,

3 Beisenherz, H. Gerhard (2002): Kinderarmut in der Wohlfahrtsgesellschaft. Das Kainsmal der Globalisierung, S. 84.

4 Vgl. Hackman, Daniel A. / Farah, Martha J. (2009): Socioeconomic status and the developing brain, S. 65-73.

5 Vgl. Kishiyama, Mark M./Boyce, W. Thomas/Jimenez, Amy M./Perry, Lee M./Knight, Robert T. (2009): Socioeconomic disparities affect prefrontal function in children, S. 1106-1115.

6 Vgl. Bateman, Anthony W./Fonagy, Peter (2004): Psychotherapy for Borderline Personality Disorder: Mentalization-based treatment, S. 80.

7 Vgl. Fonagy et al., Affektregulierung, S. 105-150.

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deren mentale Zustände wahrgenommen und in der Interaktion berücksichtigtwerden.

Mentalisierung wird von Fonagy et al. als eine Fähigkeit definiert, »sich men-tale Zustände im eigenen Selbst und in anderen Menschen vorzustellen«8, und hat- weil eben als Fähigkeit verstanden - zumindest begrifflich eine Nähe zum sogenannten Fähigkeitenansatz von Amartya Sen und von Martha Nussbaum. Obüber die bloß begriffliche Nähe inhaltlich aufschlussreiche Zusammenhänge zwi-schen diesen Konzepten bestehen, möchte ich im Folgenden beleuchten. Ich geheso vor, dass ich den Fähigkeitenansatz von Martha Nussbaum als Gerüst verwen-de und das Konzept der Mentalisierung an Hand dieses Gerüsts abzubilden versu-che. Dies deshalb, um zu sehen, ob eine wechselseitige Erhellung, Ergänzung oderKritik der Konzepte sichtbar wird.

2. Capabilities nach Martha Nussbaum

Martha Nussbaum9 schlägt eine Liste von basalen Fähigkeiten für ein gelingen-des menschliches Leben vor, welche ich als Ausgangspunkt für die folgendenÜberlegungen verwende10.

1. Life [Fähigkeit, ein volles Menschenleben bis zum Ende zu führen (…)]2. Bodily Health [Fähigkeit, sich guter Gesundheit zu erfreuen; sich angemessen

zu ernähren (…)]3. Bodily Integrity [Fähigkeit, unnötigen Schmerz zu vermeiden und freudvolle

Erlebnisse zu haben (…)]4. Senses, Imagination, and Thought [Fähigkeit, die fünf Sinne zu benutzen, sich

etwas vorzustellen, zu denken und zu urteilen (…)]5. Emotions [Fähigkeit, Bindungen zu Dingen und Personen außerhalb unserer

selbst zu haben (…)]6. Practical Reason [Fähigkeit, sich eine Vorstellung vom Guten zu machen, sein Leben

danach einzurichten und kritisch über die eigene Lebensplanung nach zudenken (…)]

8 Fonagy et al., Affektregulierung, S. 31.9 Vgl. Nussbaum, Women, S. 78-80.10 Ich übernehme die Übersetzungen von Jörn Müller (2006, S. 151-152) und kürze die Beschrei-

bungen der einzelnen Fähigkeiten etwas ab, wobei ich diese Kürzungen durch Klammeraus-drücke (…) kennzeichne; vgl. Müller, Jörn (2006): Physis und Ethos. Der Naturbegriff bei Ari-stoteles und seine Relevanz für die Ethik.

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7. Affiliation: A) Being able to live with and toward others (…), B) Having the social bases of self-respect and non-humiliation (…) [Fähigkeit für andereund bezogen auf andere zu leben; Fähigkeit eine soziale Basis zu haben für Selbstrespekt und Ausbleiben von Demütigungen]

8. Other Species [Fähigkeit, in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der gan-zen Nattur zu leben]

9. Play [Fähigkeit zu lachen, zu spielen und Freude an erholsamen Tätigkeiten zu haben]

10. Control over One´s Environment: A) Political (…), B) Material (…) [Fähig-keit, effektiv an politischen Entscheidungen teilnehmen zu können; Fähigkeit, Eigentum an Land und beweglichen Gütern zu haben].

Nussbaum unterscheidet in ihrer Konzeption drei Ebenen von Fähigkeiten, nämlichbasic capabilities, internal capabilities und combined capabilities. Die Erstgenanntenstellen grundlegende Fähigkeiten im Sinne angeborener Anlagen und Entwicklungsmög-lichkeiten für den Erwerb weiterer Fähigkeiten dar, welche sich durch Reifung und/oderUnterstützung durch die Umwelt entwickeln und der zweiten Ebene (internal capabili-ties) zugerechnet werden. Die dritte Ebene beschreibt, wie interne Fähigkeiten durchexterne Umweltbedingungen in ihrer praktischen Realisierung gefördert oder behindertwerden. Der so konzipierte Aufbau menschlicher Fähigkeiten steht in der Tradition desaristotelischen Denkens über den Zusammenhang von Physis und Ethos11. Nussbaumversteht die von ihr vorgelegte Liste von Fähigkeiten als eine Liste kombinierter Fähig-keiten. Die grundlegende Idee ihres Fähigkeitenansatzes besteht darin »that certainhuman abilities exert a moral claim that they should be developed«12. Die von ihr vorge-schlagenen Fähigkeiten sieht Nussbaum als untereinander nicht ersetzbar an, d.h. mankönne z.B. nicht eine Fähigkeit zu Lasten einer anderen ausbauen. Dennoch misst siezwei Fähigkeiten eine zentrale Bedeutung zu, nämlich practical reason und affiliation,denn »they both organize and suffuse all the others, making their pursuit truly human«13.Wer nicht die Möglichkeit habe, seine Fähigkeiten zu entfalten, sei in Gefahr, ein Lebenzu führen, das eigentlich als ein nicht wirklich menschliches zu bezeichnen sei. Auf dieArmutsforschung angewendet, könnte man dann von einem Leben in Armut sprechen.14

11 Vgl. Müller, Physis, S. 148ff.12 Nussbaum, Women, S. 83.13 Nussbaum, Women, S. 82.14 Vgl. Böhler, Thomas (2004): Der Fähigkeiten-Ansatz von Amartya Sen und die »Bevorzugte

Option für die Armen« in der Befreiungstheologie - Zwei Ansätze auf dem Weg zur ethischen Begründung von Armutsforschung und Armutsreduktion (Working Papers).

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3. Basic capabilities für Mentalisierung

Sowohl Philosophen15 als auch Kognitionspsychologen16 haben sich mit derFrage auseinander gesetzt, wie sich unsere Fähigkeit, anderen Menschen kausalementale Zustände zuzuschreiben, entwickelt. Diese Fähigkeit ermöglicht uns,Vorhersagen über das Verhalten von Akteuren zu treffen und stellt(e) einen evo-lutionären Vorteil dar. Zumeist wurden Überzeugungen (z.B. false beliefs übereinen faktischen oder möglichen Sachverhalt) oder Wünsche (Vorstellungen überkünftige Verhältnisse) untersucht. Zu mentalen Zuständen sind aber auch Gefüh-le zu zählen, denn auch sie haben intentionalen Charakter, d.h. sie beziehen sichauf einen Gegenstand, sind ebenfalls durch die semantische Eigenschaft der refe-rentiellen Opazität gekennzeichnet und zeichnen sich dadurch aus, dass manjemandem, dem man ein Gefühl zuschreibt, auch eine Verhaltensdispositionzuordnet, die es ermöglicht, ihr/sein Verhalten vorherzusagen. Das Konzept derMentalisierung erfasst vor allem die Wahrnehmung und Regulierung vonGefühlszuständen. Folgende Fragen ergeben sich an die Säuglingsforschung:

(a) Wie lernen Säuglinge, welchen dispositionellen Inhalt Gefühle haben? (b) Wie erkennen sie, worauf sich der emotionale Zustand bezieht? (c) Wann beginnen sie, anderen diese Informatio-nen zuzuschreiben, um über Verhalten besser nachdenken zu können? (d) Wie lernen sie die Bedingungen kennen, unter denen die Attribution von Emotionen an andere - oder auch an sie selbst - gerechtfertigt ist?17

In geraffter Form kann man diese Fragen wie folgt beantworten: Das Neugebore-ne bringt ein Set von Basisemotionen mit (nachgewiesen sind jedenfalls die Emo-tionen Interesse, Freude, Ekel, Überraschung und Kummer). Von Anfang an rich-ten sich diese Basisemotionen an die Mutter und beide (Mutter und Baby) bildenein affektives Kommunikationssystem, in welchem die Mutter die zentrale Auf-gabe hat, die Affekte des Babys zu regulieren. Die Regulation durch die Mutterist unverzichtbar, denn die vom Baby mitgebrachten Regulationsmechanismen(z.B. Abwenden oder Daumenlutschen) reichen nicht aus, um die oft intensivenGefühlsstürme selbstständig bewältigen zu können. Die genetisch grundgelegteAusstattung mit Basisemotionen stellt - so könnte man mit Martha Nussbaumsagen - eine basic capability für die Mentalisierung dar.

15 Vgl. Dennett, Daniel (1987): The Intentional Stance.16 Vgl. Perner, Josef (1991): Understanding the representational mind.17 Fonagy et al., Affektregulierung, S. 156.

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Als eine weitere grundlegende Fähigkeit ist der so genannte Kontingenzent-deckungsmechanismus, ein basaler Lernmechanismus, zu nennen. Gergely undWatson18 haben die Existenz eines angeborenen Kontingenzentdeckungsmodulspostuliert, welches durch zwei voneinander unabhängig variierende Mechanis-men charakterisierbar ist, dem Hinlänglichkeitsindex (HI; prognostisch ausge-richtet) und dem Notwendigkeitsindex (NI; retrospektiv ausgerichtet). Illustrier-bar ist der damit verbundene Grundgedanke am bekannten SäuglingsexperimentSchnur am Beinchen, bei welchem ein Mobile durch eine Schnur bewegt wird.Wenn das Mobile nur durch die am Beinchen befestigte Schnur bewegt wird, sindHI und NI für das Baby gleich 1.0 (= perfekte Kontingenz). Wenn es auch durchden Experimentator bewegt wird, bleibt HI gleich und NI sinkt vielleicht auf 0.5.Starke These: Der Säugling experimentiert aktiv, wenn er merkt, dass HI und NIunterschiedlich ausfallen, indem er entweder die von ihm untersuchte Reaktions-kategorie reduziert (wenn NI > HI) oder erweitert (HI > NI). Beispiel: Der Säug-ling bemerkt - während er mit beiden Beinen strampelt -, dass das Mobile, wel-ches nur an einem Bein befestigt ist, sich wie HI=0.5, NI=1.0 verhält. Er wird nundie von ihm untersuchte Reaktionskategorie vielleicht reduzieren, d.h. er stram-pelt nur mit dem Bein, an dem die Schnur befestigt ist und optimiert dadurch HIin Richtung 1.0. Untersuchungen an Säuglingen deuten darauf hin, dass diese inden ersten drei Lebensmonaten besonders an perfekten Kontingenzen interessiertsind. Perfekte Kontingenzen ergeben sich zwischen körperlichen Aktionen unddem daraus resultierenden Feedback (aus der Muskulatur, Tiefensensibilität etc.)und weniger bei der Wahrnehmung von Reizen aus der äußeren Welt. Es könntealso sein, dass Säuglinge in den ersten drei Lebensmonaten eine primäre Reprä-sentanz des Körperselbst in Abgrenzung zur Umwelt aufbauen. Nach drei Mona-ten scheint sich der Kontingenzentdeckungsmechanismus reifungsbedingt aufzwar hohe, aber nicht perfekte Grade an (sozialer) Kontingenz umzustellen, wiesie typischerweise im Austausch mit den ersten Bindungsfiguren erlebbar sind. Inder sozialen Situation mit der Mutter werden realistischerweise HI und NI nichtperfekt sein, denn selbst die feinfühligste Mutter ist nicht immer gleich zur Stel-le (HI<1.0) und reagiert auch manchmal falsch (NI < 1.0). Es erfolgt also eine ArtVerlagerung von der intensiven Selbsterforschung zur Erforschung und Reprä-sentanz der sozialen Welt. Eine zentrale Funktion des Kontingenzentdeckungs-mechanismus besteht in dieser Entwicklungsphase darin, dass der Säugling fürReizhinweise auf innere Zustände (Affekte) sensibilisiert wird, die er - zunächst

18 Vgl. Gergely, György/Watson, John S. (1999): Early social-emotional development: Contingencyperception and the social biofeedback model, S. 101-137.

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ohne sie klar wahrzunehmen - aufgrund angeborener Reaktionsmuster (Basise-motionen) einfach via Mimik, Vokalisierung etc. abführt. Auf die solcherart dis-tanzlos - d.h. ohne für sie sekundäre Repräsentationen zur Verfügung zu haben -gezeigten Emotionen reagiert die Mutter durch markierte Spiegelung derselbenund der Kontingenzentdeckungsmechanismus ermöglicht dem Säugling, einenZusammenhang zwischen den von der Mutter gespiegelten Emotionen und sei-nen inneren Zuständen herzustellen. Dieser Vorgang wird im Punkt 4.1 nochnäher beschrieben.

4. Internal capabilities für Mentalisierung

In etwas schematischer Form lassen sich die bisherigen Überlegungen in folgen-der Weise zusammenfassen. Die genetisch grundgelegten Fähigkeiten des Säu-glings, Basisemotionen zu äußern und über ein Kontingenzentdeckungsmodul zuverfügen, stellen basic capabilities im Sinne von Martha Nussbaums Konzept dar.Diese Fähigkeiten können nun in der Interaktion mit den primären Bezugsperso-nen zu weiteren Fähigkeiten (internal capabilities) entwickelt werden, dabeibesonders zur Mentalisierung. Wie kann man sich das nun vorstellen, dass derSäugling die zunächst implizit (automatisch, unbewusst, prozedural, primärpro-zesshaft) ablaufenden emotionalen Regungen nun langsam in eine explizite (kon-trollierte, bewusste, deklarative, sekundärprozesshafte) Repräsentationsformbringt und dadurch die Hinweisreize für seine inneren Zustände bewusst regi-strieren und zum Schluss den Gegenstand der Emotion und spezifische disposi-tionelle Emotionszustände identifizieren kann?

4.1 Das soziale Biofeedbackmodell der mütterlichen Affektspiegelung

Dieser Entwicklungsschritt wird durch das so genannte soziale Biofeedbackmodellder mütterlichen Affektspiegelung zu erklären versucht. Die äußere Präsentation(Spiegelung) eines Gefühlszustandes des Säuglings durch die Mutter wird vomSäugling als mit seinem aktuellen inneren Zustand kontingent identifiziert. Aberwieso sollte das so funktionieren? Man kann zur Veranschaulichung auf einenbekannten Prozess verweisen, der Strukturähnlichkeiten mit dieser These hat, näm-lich dem Trainingsverfahren des Biofeedbacks. Dabei werden innere Zustände(z.B. Blutdruck), die zunächst nicht wahrnehmbar und auch nicht kontrollierbarsind, durch kontinuierliche Messungen äußerlich sichtbar gemacht. »Das wieder-holte Erleben einer solchen externalisierten Repräsentanz des inneren Zustandes

führt schließlich zur Sensibilisierung für den inneren Zustand und ermöglicht inbestimmten Fällen sogar die Kontrolle über ihn.«19 Bei der mütterlichen Affekt-spiegelung läuft ein analoger Prozess ab. Die Mutter bietet dem Säugling intuitiveinen mit dem Zustand des Säuglings - bestehend aus inneren, physiologischenZustandsveränderungen, Ausdrucksverhalten und dessen Rückmeldung - kontin-genten äußeren Biofeedback-Hinweis durch ihre empathische Widerspiegelung deszustandsexpressiven Emotionsausdrucks des Säuglings. Durch wiederholte Spiege-lungserfahrungen lernt der Säugling durch nachträgliche (NI) und vorausgreifende(HI) Kontingenzanalyse innere und äußere Hinweisreize bei sich zu identifizieren,zu einer Selbstzuschreibung zu kommen und sie zu einer Gruppe (Erweiterung oderVerkleinerung der Kategorie je nach Verhältnis von NI und HI) zusammenzufassen,die sich durch denselben dispositionellen Zustand auszeichnet. Der zentrale Lern-mechanismus, der diesem Biofeedbacktraining zugrunde liegt, ist der schon bespro-chene Mechanismus der Kontingenzentdeckung und Kontingenzmaximierung.Eine empathische Mutter wird auf die unlustvollen Affektäußerungen ihres Kindesnicht so reagieren, dass sie sofort und beständig jeden Affekt spiegelt, sondern eswird Pausen geben, in denen sie das Kind auf andere Weise beruhigt (durch Halten,Schmusen etc.). Spiegelung erfolgt also zyklisch, empathische Reaktionen sindeher kurze Gesten (auch zwischen Erwachsenen). Das bedeutet aber im Sinne derKontingenzmaximierungshypothese, dass der NI höher ist als der HI, was denSäugling veranlasst, die Reaktionsklasse zu reduzieren,

(…) um zu sehen, ob er damit eine höhere Übereinstimmung zwischen den beiden Indizes errei-chen kann, und um den wirklichen Grad seiner kontigenten Kontrolle über das Spiegelungsver-halten der Mutter zu identifizieren. Infolgedessen wird der Säugling das Set und/oder die Häu-figkeit und Intensität von Emotionsreaktionen, die er produziert, verkleinern. Der Nettoeffekt seines Versuchs, den maximalen Grad seiner kontingenten Kontrolle über das Spiegelungsver-halten zu identifizieren, ist also die Reduzierung der Häufigkeit und Intensität des negativen Gefühlsausdrucks, und diese führt zur Regulierung (Abschwächung) des negativen Affektzu-standes.20

Hinzu kommt vermutlich, dass durch die Erfahrung der kausalen Effektanz beider Kontrolle und Erzeugung von affektspiegelnden Äußerungen der Mutter einpositiver Affekt beim Säugling erzeugt wird, weil das Erleben von Kontingenz-kontrolle in ihm seit jeher eine positive Erregung erzeugt. Auch dadurch wird der

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19 Fonagy et al., Affektregulierung, S. 169.20 Fonagy et al., Affektregulierung, S. 180.

negative Affekt abgeschwächt. Der Säugling wird sich bei dieser Form derAffektregulierung, bei welcher er selbst durch sein Bestreben nach Kontingenz-maximierung so aktiv involviert ist, als aktiven Urheber der Regulierung erleben.Fortwährende Erfahrungen dieser Art schaffen die Grundlage für ein Gewahrseindes Selbst als selbstregulierender Akteur. Andere Formen von Affektregulierungunterscheiden sich in dieser Hinsicht oft deutlich, etwa die disruptive Form vonBeruhigung. Bei dieser wird einem negativen Affekt ein intensiver positiverAffekt entgegengesetzt, etwa durch Kitzeln oder In-die-Luft-Werfen des Babys.Bei solchen Formen von Beruhigung dürfte sich das Baby nicht als selbstregulie-render Akteur erleben.

4.2 Die Markierungshypothese

Wenn der Säugling in einem negativen Affektzustand ist, wie kann man sichdas dann vorstellen, dass die Spiegelung dieses negativen Affekts durch dieMutter eine Beruhigung beim Baby erzeugen kann? Müsste es nicht vielmehrzu einer Art Negativspirale, einer Eskalation kommen? Woher weiß das Baby,dass die Spiegelung durch die Mutter nicht ein Ausdruck des Affektzustandesder Mutter ist (und damit potentiell bedrohlich, z.B. bei Wut oder Furcht), son-dern dass sich die Spiegelung auf den eigenen Zustand bezieht? DiesesZuschreibungsproblem wird durch ein spezifisches Wahrnehmungsmerkmalder affektiven Äußerung der Mutter gelöst, welches als Markierung bezeich-net wird. »Die Markierung wird in der Regel dadurch erreicht, daß die Muttereine übertriebene Version ihres realistischen Gefühlsausdrucks produziert«21.Dies wird etwa erreicht durch eine erhöhte Stimmlage, eine übertriebeneStimmlagenmodulation (Babytalk; Ammensprache) und einen übertriebenenmimischen Ausdruck. Durch die Markierung wird die Zuschreibung desAffekts an die Mutter gehemmt und der mit dem Affekt verbundene disposi-tionelle Zustand von der Mutter abgekoppelt (referentielle Entkoppelung). Dersolcherart abgekoppelte Gefühlsausdruck wird vom Säugling durch den hohenGrad an kontingenter Beziehung zwischen Mutter und Säugling referentiell inihm selbst verankert, d.h. als Selbstzustand.

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21 Fonagy et al., Affektregulierung, S. 184.

5. Combined capabilities und Mentalisierung

Martha Nussbaum versteht unter combined capabilities eine Kombination voninternal capabilities und dazugehöriger Passung der externen Bedingungen.22

So können Menschen zwar die Fähigkeit zu freier Rede entwickeln, vermögendiese aber unter bedrängenden politischen Rahmenbedingungen oft nicht zuaktualisieren. Die politische Stoßrichtung des Ansatzes von Nussbaum in Rich-tung auf die Herstellung und Verbesserung demokratischer Gesellschaftsstruk-turen wird dabei deutlich. Der Versuch, das Mentalisierungskonzept unter dieso verstandene Rubrik combined capabilities einzuordnen, gelingt eher nicht.Wer unter einem nichtdemokratischen Regime aufwächst, aber von seinenEltern mentalisiert worden ist, wird auf diese Fähigkeit auch (oder gerade)unter schwierigen politischen Rahmenbedingungen zurückgreifen, weil sieeine Art Puffer, einen Schutz vor Traumatisierung bietet. Denkbar wäre, dassdie schon erworbene Mentalisierungsfähigkeit in Extremfällen vom Individu-um dann nicht aktualisiert wird, wenn die Einfühlung in die Innenwelt desAnderen allzu bedrohlich scheint. Stellt man allerdings in Rechnung, dass fürNussbaum die Unterscheidung zwischen internal und combined capabilitiesohnehin nicht so scharf ausfällt, wie es die bisherigen Überlegungen nahele-gen, »because developing an internal capability usually requires favorableexternal conditions«23, erweist sich die Frage der Einordnung als beinahe über-flüssig, weil die Unterscheidung zwischen internal und combined capabilitiesselbst verschwimmt. »Where there is lifelong deprivation, the distinction is notso easy to draw: persistent deprivation affects the internal readiness to func-tion.«24

6. Mangel an Mentalisierung und der Bezug zu Armut

Im Folgenden will ich dem Zusammenhang von Mangel an Mentalisierung, d.h.Armut im Sinne des capability approach, und Armut im herkömmlichen Sinne,nämlich materielle Armut, umrisshaft nachgehen. Dazu stelle ich zuerst einige typi-sche Mangelkonstellationen dar und zeige in einem zweiten Schritt den Zusammen-hang zur Armutsthematik auf.

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22 Vgl. Nussbaum, Women, S. 84-85.23 Nussbaum, Women, S. 85.24 Nussbaum, Women, S. 85.

6.1 Mangel an Mentalisierung

Ein Mangel an Mentalisierung kann dann auftreten, wenn die primären Bezugsper-sonen nicht in ausreichendem Maße in der Lage sind, die vom Säugling gezeigtenAffekte markiert zu spiegeln. Die Mutter produziert dann den gleichen - kategori-al kongruenten - Emotionsausdruck in unmarkierter, realistischer Version. Das hatzur Konsequenz, dass das Baby a) den Affekt, weil er nicht von der Betreuungs-person via Markierung abgekoppelt ist, ihr als reales Gefühl zuschreibt, b) keinesekundäre Repräsentanz des primären Emotionszustandes herstellen kann, was zueiner defizienten Selbstwahrnehmung und defizienten affektiven Selbstkontrolleführt, c) den eigenen Affekt als draußen, als zum Anderen gehörend erlebt und d)nicht beruhigt, sondern tendenziell traumatisiert wird.

Im Fall der so genannten fehlenden kategorialen Kongruenz erfolgt dieAffektspiegelung zwar markiert, aber verzerrt, d.h. der Säugling wird im Endef-fekt eine verzerrte sekundäre Repräsentation seines primären Emotionszustandesherstellen. Vom Säugling gezeigte Gefühle der Freude und Lust werden z.B. mit»heute bist du aber wieder böse« kommentiert. Ein auf diese Weise entstehendesfalsches Selbst kann zu einer kritischen Abhängigkeit von der physischen Präsenzdes Anderen als Träger der Externalisierung insofern führen, als der verfolgende,misshandelnde Teil des Anderen, welcher internalisiert wurde, vom Kind / Jugend-lichen / Erwachsenen im Wege der projektiven Identifizierung nach außen verla-gert wird, um dadurch zumindest für eine gewisse Zeit ein Erleben von Selbstko-härenz zu erzeugen.

Ein Mangel an Mentalisierung zeigt sich auch darin, dass die so heranwach-senden Kinder in der Wahrnehmung und Unterscheidung von äußerer und innererWirklichkeit Schwierigkeiten haben. Im so genannten Äquivalenzmodus nimmtdas Kind die äußere Realität als mit seinen Gedanken und Gefühlen übereinstim-mend wahr. Es kann sich nicht vorstellen, dass z.B. ein böse drein schauenderErwachsener nur so tut, als ob er böse wäre. In der Entwicklung des Säuglingszwischen 18 Monaten und dem vierten Lebensjahr ist daher der spielerischeUmgang mit Gedanken und Affekten sowie deren Ausdruck von großer Bedeu-tung. Der Ausdruck im Spiel und die Antwort der Bezugsperson ersetzt hier dieSpiegelung der ersten Säuglings- und Kleinkindphase. Im Als-Ob-Spiel übt dasKind die neu entdeckten Innenseiten ein, die Betreuungspersonen stellen die Ver-bindung zwischen Spiel und Wirklichkeit her und verhelfen ihm so zur Integra-tion dieser neuen Fähigkeit. Ist es dem Kind nicht möglich, seine Affekte im Spielauszudrücken, oder wird es beispielsweise durch Gewalterfahrungen in der Fami-lie gezwungen, die Realität zu ernst zu nehmen, lernt es nicht, seine Gedanken alsRepräsentation der Wirklichkeit anzunehmen.

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Insgesamt können Mängel in der Mentalisierung als strukturelle Mängel dermenschlichen Psyche bezeichnet werden25 und liegen diagnostisch gesehen vorallem den so genannten Persönlichkeitsstörungen zugrunde. Eine Borderline-Per-sönlichkeitsstörung etwa ist als strukturelle Störung zu verstehen, in der demBetroffenen wichtige Grundlagen für den sozialen Austausch, aber auch für diereflexive Erfassung der eigenen Selbststruktur fehlen.

6.2 Bezug zu Armut

Chassé, Zander und Rasch26 unterscheiden bei Kindern im Grundschulalterdrei Typen von möglichen Armutskonstellationen.

- Beim Typ 1: Elterliche Armut - Kindliche Kompensation gelingt den Kin-dern trotz schwieriger materieller Rahmenbedingungen ein insgesamt erstaun-lich gesundes Heranwachsen verbunden mit dem Erwerb differenzierter Bewäl-tigungsmöglichkeiten, dem Eingehen förderlicher Sozialkontakte, demErzielen guter Schulleistungen usw. Eine solche Entwicklung kann aus derSicht der AutorInnen dann stattfinden, »wenn Anerkennung das übergreifendePrinzip in den sozialen Erfahrungsfeldern der Kinder darstellt« 27. Das Haupt-unterscheidungsmerkmal der Kinder dieses Typs von Kindern der beiden ande-ren Typen sehen sie »in der deutlich positiven Eltern- (bzw. Mutter-)Kind-Beziehung (…); auf dieser Basis ist eine gute Beziehung zum Kind undAnteilnahme an dessen Leben möglich« 28. Die von den AutorInnen gewähltenFormulierungen weisen mehr oder weniger direkt auf das hier interessierendePhänomen der Mentalisierung hin. Mentalisierung bietet so etwas wie eineImmunisierung, einen Schutz vor Traumatisierung durch Armut, denn durchden entstehenden inneren Spielraum schlagen mögliche äußere (Armuts-)Attacken nicht so ohne weiteres verletzend auf das Selbst durch. Sie könnenbedacht, interpretiert, abgefedert etc. werden, während etwa im Modus der psy-chischen Äquivalenz kein derartiger Filter vorhanden ist und das Handeln vom

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25 Vgl. dazu die Achse Struktur in der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD): Arbeitskreis OPD (Hrsg.) (1996): Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik. Grundlagen und Manual, S. 63-73 und S. 154-177.

26 Vgl. Chassé, Karl August/Zander, Margherita/Rasch, Konstanze (32007): Meine Familie ist arm. Wie Kinder im Grundschulalter Armut erleben und bewältigen, S. 267ff.

27 Chassé et al., Meine Familie, S. 275.28 Chassé et al., Meine Familie, S. 276.

Individuum als nicht selbst steuerbar erlebt wird und die durch die Armut aus-gelösten Affekte als nicht bewältigbar.

- Der Typ 2 (Das Mittelfeld): kindliche Benachteiligungen in unterschiedlichenKombinationen steht zwischen Typ 1 und Typ 3 und wird hier nicht näherbetrachtet.

- Hingegen erinnert der von Chassé et al. geschilderte Typ 3: Elterliche stren-ge Armut - starke und mehrfache Belastung der Kinder in vielen Merkmalen andie zuvor skizzierten Varianten von mangelnder Mentalisierung. Das Fehlen vonSpiegelung kommt etwa in folgender Fallskizze eines Jungen (Frank, 8 Jahre)zum Ausdruck:

Allerdings dürften die Eltern ihn bei der Entwicklung und Verfolgung von Interessen auch wenig unterstützen. Seine Äußerungen und Wünsche finden bei den Eltern kein Echo und bleiben ohne Rückhalt. So fehlt ihm die Möglichkeit, Interessen gleichsam vor sich selber wahrzunehmen, zuzulassen und zu entwickeln. Das Wechselspiel zwischen Eltern und Kind bleibt hier aus. So scheint es, dass Frank, gerade weil er ungestützt und insofern abhängig von den Eltern bleibt, wenig Selbständigkeit in Bezug auf sein Kinderleben und die Eigengestaltung entwickeln kann.29

Die AutorInnen finden aus meiner Sicht mit der Wortschöpfung von der struktu-rellen Vergleichgültigung eine treffende Formulierung für die den Nöten dieserKinder zugrunde liegenden Ursachen: »Eine strukturelle ›Vergleichgültigung‹ inder Eltern-Kind-Beziehung von Seiten dieser Eltern scheint ein wesentlichesKennzeichen von Familien in vielfach belasteten Lebenslagen zu sein.«30

Die bisherige Armutsforschung hat somit das Konzept der Mentalisierungimplizit durchaus schon berücksichtigt. Die explizite Einführung dieses Konzep-tes in die Armutsforschung bietet aus meiner Sicht eine theoretische Präzisierungund eine empirische Unterfütterung bisheriger Untersuchungen. Darüber hinauskann dieses Konzept auch für weiterführende Überlegungen fruchtbar gemachtwerden. So dürften sich Resilienzkinder dadurch auszeichnen, dass sie einen hin-reichend hohen Grad an Mentalisierung erreicht haben, z.B. durch familienfrem-de Personen, die ihnen eine Beziehung, d.h. Spiegelung anbieten.31 Die Erklärungdes Phänomens der transgenerationalen Weitergabe von Armut erfährt durch dasMentalisierungskonzept ebenfalls eine Vertiefung. Mangelnde Mentalisierung

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29 Chassé et al., Meine Familie, S. 278.30 Chassé et al., Meine Familie, S. 285.31 Brooks, Robert B. (2006): The Power of Parenting, S. 297-314.

dürfte durch Eltern erfolgen, die selber in diesem Bereich Defizite aufweisen unddeshalb ihren Kindern keine Mentalisierung anbieten können. Gravierende Defi-zite in der Mentalisierung äußern sich in Form von Persönlichkeitsstörungen, wel-che sich bekanntermaßen armutsgefährdend auswirken können. Wenn man diequantitativen Angaben zu sicherer und unsicherer Bindung als Indikator für dieHäufigkeit des Auftretens von Mangel an Mentalisierung in der Bevölkerung her-anzieht, kann man mutmaßen, dass gravierende Mentalisierungsdefizite in derBevölkerung in einem Ausmaß von etwa 15 % vorhanden sind.32

Bedenkenswert scheint mir, dass ein Mangel an Mentalisierung nicht nur miteinem Verbleiben oder Abdriften in materielle(r) Armut und damit an dem/denunteren Rand der Gesellschaft verbunden sein muss. Mentalisierungsdefizitedürften sich - um bei dieser Einteilungsschablone zu bleiben - auch im oberenBereich der Gesellschaft finden, etwa dort, wo sich Akteure in Politik und Wirt-schaft aus einem problematischen Narzissmus heraus an keine sie begrenzendenRegeln mehr halten. Die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise spülte solcheGestalten in das Blickfeld der überraschten Öffentlichkeit. Eine empirischeUntersuchung dieses Phänomens bzw. Zusammenhangs steht allerdings noch aus.

6.3 Interventionsmöglichkeiten

Welche Möglichkeiten, der durch mangelnde Mentalisierung verursachten Armutgegenzusteuern, gibt es? Ich verweise hier exemplarisch auf eine Möglichkeit,nämlich die so genannte Entwicklungspsychologische Beratung (EPB)33. Diesegreift das bindungstheoretische Konzept der Feinfühligkeit auf. Letztere wird defi-niert als Fähigkeit der primären Bezugspersonen, die Signale des Kindes wahrneh-men, sie richtig interpretieren und prompt und angemessen auf sie reagieren zukönnen. Feinfühligkeit der Eltern wird als zentral für die emotionale Entwicklung

Bernhard Schwaiger164

32 Vgl. dazu die Metaanalyse von IJzendoorn, Marinus H. Van/Goldberg, Susan/Kroonenberg, Pieter M./Frenkel, Oded J. (1992): The relative effects of maternal and child problems on the quality of attachment: A meta-analysis of attachment in clinical samples, S. 840-858. Nach dieser sind rund 15 % der Kinder in der Normalbevölkerung unsicher-desorganisiert gebunden. Dieser Bindungs-stil führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Mangel an Mentalisierung, weil er häufig mit Traumatisierungen auf Seiten der Kinder einhergeht. Solche Konstellationen verhindern quasi ex definitione eine Mentalisierung des Kindes.

33 Vgl. Ziegenhain, Ute/Fries, Mauri/Bütow, Barbara/Derksen, Bärbel (22006): Entwicklungspsychologische Beratung für junge Eltern. Grundlagen und Handlungskonzepte für die Jugendhilfe.

des Kindes angesehen. Das verwandte Konzept der Mentalisierung betont dieInnenseiten der an feinfühligen Interaktionen beteiligten Akteure, nämlich derenmentale Zustände wie Affekte, Wünsche und Überzeugungen. In der entwik-klungspsychologischen Beratungspraxis steht die Perspektive des Kindes imMittelpunkt, erfahren die Eltern etwas über die allgemeine Entwicklung von Säug-lingen und Kleinkindern, beobachten und verstehen die Eltern die Fähigkeiten undStärken ihres eigenen Kindes und werden die Eltern in ihrer Elternrolle bestärkt.Das Ziel der EPB besteht in der Unterstützung der Eltern, feinfühliger und damitletztlich mentalisierend mit ihrem Kind umzugehen. Dabei hat sich der Einsatzvon Film- bzw. Videosequenzen inzwischen bewährt und etabliert.

7. Erbringt die Einordnung des Mentalisierungskonzepts in den capability approach weiterführende Aufschlüsse?

Die von Martha Nussbaum vorgelegten Unterscheidungen zwischen verschiede-nen Fähigkeiten und deren Ebenen haben programmatischen Charakter und sindnicht als taxative Auflistung zu verstehen. Das Konzept der Mentalisierung kannder Fähigkeitenliste nicht eindeutig zugeordnet werden. Die Fähigkeiten Nr. 5(Emotions) und 7 (Affiliation) weisen inhaltlich deutliche Verbindungen auf.34

Frühkindliche Mentalisierung als eine zentrale »capability« wider die Armut 165

34 Der Vollständigkeit halber möchte ich diese Fähigkeiten noch einmal zur Gänze anführen; vgl. dazu Nussbaum, Women, S. 79-80: »5. Emotions. Being able to have attachments to things and people outside ourselves; to love those who love and care for us, to grieve at their absence; in general, to love, to grieve, to experience longing, gratitude, and justified anger. Not having one´s emotional development blighted by overwhelming fear and anxiety, or by traumatic events of abuse or neglect. (Supporting this capability means supporting forms of human association that can be shown to be crucial in their development.) (...) 7. Affiliation. A. Being able to live with and toward others, to recognize and show concern for other human beings, to engage in various forms of social interaction; to be able to imagine the situation of another and to have compassion for that situation; to have the capability for both justice and friendship. (Protecting this capabilitymeans protecting institutions that constitute and nourish such forms of affiliation, and also pro-tecting the freedom of assembly and political speech.) B. Having the social bases of self-respect and non-humiliation; being able to be treated as a dignified being whose worth is equal to that of others. This entails, at a minimum, protection against discrimination on the basis of race, sex, sexual orientation, religion, caste, ethnicity, or national origin. In work, being able to work as a human being, exercising practical reason and entering into meaningful relationships of mutual recognition with other workers.«

Bei der Fähigkeit Nr. 5 steht der Gedanke einer möglichst ungehinderten emotio-nalen Entwicklung im Zentrum von Nussbaums Überlegungen. Dieser allgemeineGedanke kann ohne Schwierigkeit mit dem Mentalisierungskonzept in Verbin-dung gebracht werden. Bei der Fähigkeit Nr. 7 thematisiert Nussbaum das Vermö-gen, soziale Beziehungen differenziert und kompetent zu gestalten und im konkre-ten Miteinander respektvoll zu agieren. Dafür ist die Fähigkeit, eigene und fremdementale Zustände berücksichtigen zu können eine unabdingbare Basis und inso-fern kann das Mentalisierungskonzept auch dieser Fähigkeit zugeordnet werden.Darüber hinaus besteht auch zur Fähigkeit Nr. 6 (Practical Reason)35 insoferneine Affinität, als das Nachdenken über die Konzeption des Guten und den eige-nen Lebensentwurf zur Voraussetzung hat, dass man in der Lage ist, die eigeneSelbststruktur reflexiv zu erfassen. Diese Fähigkeit wiederum ist ein Resultatgelungener Mentalisierung. Nussbaum weist - wie bereits eingangs erwähnt - denFähigkeiten Nr. 6 (Practical Reason) und Nr. 7 (Affiliation) - nicht hingegen Nr.5 (Emotions) - eine zentrale Bedeutung zu, denn »they both organize and suffu-se all the others, making their pursuit truly human«36. Wenngleich sie die Rolleder Emotionen unterschätzt, indem sie diesen nicht dieselbe zentrale Bedeutungzumisst wie den Fähigkeiten Nr. 6 und 7, trifft sie mit ihrer Einschätzung etwasRichtiges, ohne im Einzelnen genauer zu erläutern, warum gerade diesen Fähigkei-ten ein derart organisierendes, menschlich zentrales Gewicht zukommen soll. DasMentalisierungskonzept bietet sich an dieser Stelle an, eine empirische Begründungfür die vorgenommene Gewichtung zu liefern. Wer in seinem Heranwachsen men-talisiert worden ist, verfügt in ihrer/seiner psychischen Struktur über eine basaleFähigkeit, welche vorbewusst in praktisch alle Handlungsvollzüge hineinwirkt.Wer nicht mentalisiert worden ist, dem fehlt ein entscheidender Mosaikstein zueinem vollen menschlichen Leben. Wenn Mentalisierung somit eine Art Basisaus-stattung der psychischen Struktur darstellt, wird die organisierende und vermensch-lichende Strahlkraft dieser Fähigkeit in Richtung auf die anderen Fähigkeiten ver-ständlich. Insgesamt scheint es mir notwendig zu sein, die Liste der von MarthaNussbaum vorgeschlagenen Fähigkeiten um die (Fähigkeit zur) Mentalisierung zuergänzen. In welcher Form das geschieht, ob als bloße Hinzufügung oder als Meta-konzept, ist vielleicht zweitrangig. Der Fähigkeitenansatz profitiert jedenfalls,wenn die narrativ aus Mythen, Dramen und Märchen eruierte Fähigkeitenliste für

Bernhard Schwaiger166

35 Vgl. Nussbaum, Women, S. 79: »6. Practical Reason. Being able to form a conception of the good and to engage in critical reflection about the planning of one´s life (This entails protection for the liberty of conscience.).«

36 Nussbaum, Women, S. 82.

eine empirische Überprüfung geöffnet wird, indem empirisch bewährte Konzepte,wie das Mentalisierungskonzept eines ist, an sie herangetragen werden.

Die Einordnung des Mentalisierungsansatzes in die drei von Martha Nuss-baum vorgeschlagenen Ebenen war nicht immer trennscharf möglich. Vor allemdie Einordnung der markierten Affektspiegelung erwies sich als schwierig.Gehört sie zu den basic oder den internal capabilities? Auch combined capabili-ties und Mentalisierung ließen sich nicht zwanglos zueinander fügen. Das hat sei-nen Grund u.a. darin, dass das komplexe Ineinandergreifen von genetisch mitge-brachten Fähigkeiten und deren Entfaltung durch eine förderliche Umwelt durchden Drei-Ebenen-Ansatz von Nussbaum in ein zu starres Schema gepresst wird.Auch hier müsste man weitere Überlegungen anstellen.

Umgekehrt lassen sich auch für das Konzept der Mentalisierung aus demcapability approach Anregungen ableiten. Die Einordnung in einen größerenZusammenhang von anthropologisch relevanten Fähigkeiten ermöglicht eine ArtOrtsbestimmung für das Mentalisierungskonzept. Zum einen - das geht aus denbisherigen Überlegungen hervor - bestätigt sich die Einschätzung, dass diesesKonzept eine besonders wichtige menschliche Fähigkeit thematisiert. Zum ande-ren rücken durch den Blick auf andere Fähigkeiten der Nussbaum´schen ListeForschungsfragen für das Mentalisierungskonzept in den Vordergrund, die anson-sten vielleicht übersehen würden. Als untersuchenswert erachte ich Zusammen-hänge zwischen Mentalisierung und lebenszeitlichem Verlauf (Inwieweit beein-flussen z.B. Abbauprozesse im Alter die Mentalisierung?), körperlicher Gesundheit(Inwieweit verändert sich z.B. das Körpererleben durch Mentalisierung; gibt esAuswirkungen auf das Gesundheitsverhalten?), Bewältigung schmerzlicher Lebens-ereignisse (Coping) oder Humor und Spiel (Wie hängen z.B. Mentalisierung undFreizeitverhalten zusammen?).

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Frühkindliche Mentalisierung als eine zentrale »capability« wider die Armut 167

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»Agency« in der mittleren Kindheit:Feldspezifik und Konsequenzen

Christian Alt · Andreas Lange

1. Konzeptimport und Interdisziplinarität als Impulsefür die Kindheitsforschung

Die Lebenslage von Kindern ist seit etwa zehn bis fünfzehn Jahren im Rahmenvon empirischen Studien und konzeptionellen Betrachtungen verstärkt analysiertworden. Detailreich wird abgebildet, welche Ressourcen sowohl Familien alsauch Gesellschaft für Kinder zur Verfügung stellen, welche Problemkonstellatio-nen kindliches Aufwachsen erschweren und wie sozial-ökologische Kontexte denErwerb von Kompetenzen fördern. Im Rahmen tief greifender sozial-strukturel-ler wie gesellschaftlicher Veränderungsprozesse zeichnet sich ab, dass in Zukunftvermehrt Individuen als Träger wichtiger gesellschaftserhaltender Fertigkeitengefragt sein werden. Dies ist ein Grund dafür, Überlegungen anzustellen, wie dieKinder einerseits dazu befähigt werden können, diese Ansprüche zu meistern,und andererseits dazu in die Lage versetzt werden können, ihre Potenziale undeigenen Interessen zu entwickeln, um auch ihre Lebensziele im weiteren Lebens-lauf realisieren zu können. In diesem Zusammenhang erscheinen zwei Konstruk-te diskussionswürdig, die in jüngerer Zeit in die Bildungs-, Sozialisations-, Kind-heits- und Jugendforschung importiert werden: nämlich die Konstrukte Agencyund Capability. Wir orientieren uns im Folgenden an dem soziologisch-sozialwis-senschaftlichen Konstrukt der »Agency« (Lange 2008), das in normativer undgerechtigkeitstheoretischer Hinsicht eine Fortschreibung und Ergänzung in denÜberlegungen zu den »Capabilities« (Otto/Schrödter 2009) findet. Eine Kombi-nation und Zusammenführung beider Konzepte ist in späteren Arbeiten zu leisten.

Das Interesse an neuen Herausforderungen, die an Kinder als Akteure imgesellschaftlichen Wandel gestellt werden, verknüpfen wir hier mit einem diszipli-nenpolitischen Ansinnen. Es geht uns darum, neue Wege für die Kindheitsfor-schung zu bahnen. Diese hat sich in den letzten zehn Jahren rasant entwickelt unddabei mehrere unterscheidbare Phasen durchlaufen. Theoretische Zugangsweisensowie inhaltliche Schwerpunkte haben sich in diesem Prozess stark ausdifferen-ziert (Lange/Alt 2009). Nach einer intensiven Phase der Konstitution der Kind-heitsforschung als einer von den üblichen Kinderwissenschaften getrennten Unter-

C. Sedmak et al., Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten, DOI 10.1007/978-3-531-92749-7_9,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

nehmung (Schweizer 2007) geht es künftig um Weichenstellungen für empirischewie konzeptionelle Weiterentwicklungen des Feldes. Gangbar sind dabei im Prin-zip drei Pfade, die hier kurz umrissen werden sollen.

Der erste Pfad besteht in einer abgrenzenden, hermetisch gedachten Kind-heitssoziologie, die sich konzeptionell in Opposition zu den anderen als »Kinder-wissenschaften« qualifizierten Disziplinen begibt und vor allem konstruktivi-stisch bzw. dekonstruktivistisch operiert. Bevorzugt bearbeitete Themen sindDiskurse über Kindheiten im sozialen und politischen Raum, insbesondere auchunter Aspekten des Machtgefälles zwischen den Generationen (vgl. Hengst/Zei-her 2005).

Der zweite, eher pragmatische Pfad verläuft entlang der Aufarbeitung einerVielzahl von unterschiedlichen empirischen Problemen. Man bedient sich hierder Methoden und Ergebnisse vielfältigster kinderwissenschaftlicher Bezüge,ohne dabei allzu große theoretische Ambitionen zu verfolgen. Hier stehen sowohldas jeweilige Thema im Vordergrund als auch eine Reihe von »materialen« Wis-senschaften. Sport- und Medienwissenschaften, Pädagogik und Medizin sind hierals wichtige Wissenslieferanten zu nennen.

Ein dritter Pfad, den wir hier näher ausflaggen wollen, verläuft entlang voninterdisziplinären Methoden- und Konzeptimporten, die im Rahmen einer größt-möglichen Passfähigkeit zu erarbeiten und umzusetzen sind. Darüber hinaus sol-len sie - in unserem Falle - die Überprüfung der heuristischen Potenz von »Agen-cy« ermöglichen. Wir gehen davon aus, dass eine solche Orientierung derKindheitsforschung dazu verhilft, die Bedeutsamkeit der jeweiligen sozialen Kon-texte für die tatsächlichen Handlungs-, Entscheidungs- und Gestaltungsmöglich-keiten von Kindern noch dezidierter in den Blick zu nehmen. InterdisziplinärerBezug meint insbesondere den Brückenschlag zur Sozialisationsforschung und zuanderen Gebieten, die Instrumente und Einsichten zur Modellierung der Agencysowie der darauf abstrahlenden unabhängigen Variablen und deren Konsequenzenanzubieten haben. Damit kann der Gefahr einer »Essentialisierung«, also einerstarken Zuschreibung einer irgendwie von sich aus wirksamen Handlungsmacht,quasi als urwüchsiger Gegenstruktur zur Gesellschaft - ohne Kontext -, und aucheiner, wie wir meinen, einseitigen Überzeichnung der Agency von Kindern (vgl.Prout 2003) entgegengewirkt werden.

Kinder werden, unter ausdrücklichem Rekurs auf die neuere Kindheitsso-ziologie, zu eigenständigen Akteuren »ihrer« Entwicklungs- und Sozialisa-tionsprozesse konzeptualisiert. Die Betonung liegt zum einen auf ihrer aktivenRolle im Individuations- und Vergesellschaftungsprozess. Gleiches gilt für diein der Entwicklungspsychologie und Sozialisationsforschung schon seit gerau-mer Zeit mitbedachte Einsicht in die Eigenanteile des Kindes, in deren Ent-

Christian Alt · Andreas Lange170

wicklung von allgemeinen Lebensführungs- bzw. Handlungskompetenzen (vgl.Lerner/Theokos/Jelicic 2005).

Zum anderen wird innerhalb dieses dritten Pfads berücksichtigt, dass dieaufwogende Euphorie, die zu Beginn der Entdeckung des Kindes als Subjekt derGesellschaft in den Anfängen der Kindheitssoziologie hierzulande merklichspürbar war, in den letzten Jahren deutlich relativiert worden ist (vgl. Albus u.a.2009). Es hat sich durch die Zunahme der empirischen Forschungsarbeiten ins-besondere zur mittleren Kindheit herausgestellt, dass Mädchen und Jungendurchaus ein hohes Maß an Selbstständigkeit für einige Lebensbereiche zuge-standen bekommen und dies von ihnen auch ausgelebt wird. In anderen Berei-chen sind Kinder jedoch stark von den umgebenden materialen und sozialenUmfeldern abhängig. Diesem Spannungsfeld werden wir näher nachgehen undgewissermaßen »agency-resonante« und »agency-non-resonante« soziale Struk-turen und Felder unterscheiden.

Nach der Positionierung im Feld der Kindheitswissenschaften diskutierenwir in Abschnitt 2 die aktuellen Diskurse um Agency. Abschnitt drei veranschau-licht dann ausgewählte Felder, in denen sich Agency entfalten kann bzw. aufResonanzen trifft, und solche Felder, in denen Agency blockiert wird, wobei wirdies gleichzeitig mit Aussagen zu bestimmten Populationen von Kindern, auchunter Aspekten der Ungleichheit, verknüpfen.

2. Agency - heuristische Potenziale für die Kindheitsforschung

Mit den aktuellen Debatten um »Agency« öffnet sich eine neue Zugangsweise fürdie Kindheits- und Jugendforschung zur Rekonstruktion der Handlungsbefähigun-gen. Sie kann mit Überlegungen zur sozialisatorischen Praxis als Grundlage derPersönlichkeitsentwicklung verbunden werden und knüpft an die allgemeine Sozi-alökologie menschlicher Entwicklung sowie an Thesen zur besonderen sozialisa-torischen Potenz generationaler Beziehungen an (vgl. Bronfenbrenner/Morris2000; Lüscher/Liegle 2008). Diese sind wiederum folgendermaßen zu verknüp-fen: mit zeitdiagnostischen Überlegungen zur Relevanz und Ausdifferenzierungneuer sozialer Felder der Agency (vgl. Bertram/Bertram 2009) sowie mit dengleichzeitig zunehmenden Anforderungen und vermehrten Spielräumen für Agen-cy aufgrund von Destandandardisierungen von Alltagswelt und Lebenslauf (vgl.Heinz 2009; Settersten/Ganon 2009) und schließlich mit aktuellen Entwicklungender gesellschaftlichen Lage im Zusammenhang mit der Wirtschafts- und Finanz-krise (vgl. Mansel/Spaiser 2010). »Agency« verstanden als Handlungsbefähigung(Emirbayer/Mische 1998), die strukturellen Einschränkungen unterworfen ist,

»Agency« in der mittleren Kindheit 171

spielt mittlerweile auch eine Rolle in aktuellen kindheitswissenschaftlichen Debat-ten (vgl. Eßer 2008). Wegweisend waren hierzu die Arbeiten von Corsaro (2005),der die einzelnen Elemente kollektiver Agency anhand teilnehmender Beobach-tungen rekonstruiert und diese in enger Anlehnung an die Überlegungen von Emir-bayer und Mische (1998) für Vorschulkinder wie folgt abbildet: »Corsaros Ver-dienst ist es, eine differenzierte Beschreibung des Prozesses zu liefern, in dessenRahmen die Kinder unter Heranziehung kultureller Muster und Praktiken sowiematerialer Artefakte gemeinsam eine geteilte Handlungsebene hervorbringen.«(Eßer 2008: 140). Solle Agency aber auch als Begriff verwendet werden, der eineBeurteilung kindlicher Lebenslagen einschließt, dann müssen, so Eßer (2008) wei-ter, die Bedingungen ausgelotet werden, unter denen Kinder tatsächlich bestimm-te Handlungsmöglichkeiten haben. Genau das wiederum ist im Rahmen der beste-henden kulturellen und generationalen Ordnungen jeweils differenziert zubestimmen, wozu wir in Teil 3 detaillierte Vorschläge unterbreiten werden.

Über diesen kindheitswissenschaftlichen Rahmen hinaus hat der Agency-Begriff zeitdiagnostisch-gesellschaftstheoretische Wurzeln und rekurriert darauf,dass aufgrund des partiellen Orientierungsverlustes, mit der Offenheit der Ent-scheidung und der Pluralität der Sinngebungsmöglichkeiten, die Anforderungenfür eigenverantwortliche Lebensgestaltung im Prinzip in allen Lebensaltern stei-gen - sowohl auf der Ebene praktischer Herausforderungen als auch auf einerdiskursiven Ebene. Mehr als früher wird menschliche Agency, d.h. individuellesGestaltungsvermögen und -handeln, verlangt, wodurch Information und Wissenals Handlungsressourcen an Bedeutung gewinnen (vgl. Kaltenborn 2001).

Neuere soziologische Ansätze (vgl. Hitlin/Elder 2007; Hitlin/Long 2009)konzeptionalisieren Agency als eine voraussetzungsreiche Handlungsbefähigung,die im Schnittpunkt von äußerlichen Handlungsbedingungen und inneren Persön-lichkeitsmerkmalen entsteht und damit nahezu zwangsläufig interdisziplinär zubetrachten ist. In den konkreten Handlungsvollzügen verbinden sich dieseMomente in den handlungsvorbereitenden und handlungsreflektierenden Inter-pretationen und führen zu neuen strukturellen Konstellationen, die dann wiede-rum auf den Akteur - das Kind - zurückwirken können, womit der Gedanke derin der Literatur heftig debattierten Figur der Selbstsozialisation (vgl. Lange 2007;Zinnecker 2002) eingeführt ist. Überdies wird deutlich, dass das Vorhandenseinvon Möglichkeiten zur Ausübung von Agency in vielen Bereichen des alltäg-lichen Lebens eine Grundbedingung für die Erfahrung der Selbstwirksamkeitdarstellt - eine Erfahrung, die mit einer Reihe von positiven Entwicklungskonse-quenzen verbunden ist (vgl. Bandura 2006; Bundesministerium 2009).

Mitgedacht werden sollte bei aller notwendigen Betonung der Eigenaktivitä-ten und Potenziale der Kinder immer auch der Aspekt der Ko-Konstruktion von

Christian Alt · Andreas Lange172

Handlungsbefähigungen sowie spiegelbildlich dazu die »Resistenzen« intentio-naler wie nicht-intentionaler Natur gegenüber den Handlungsprojekten von Kin-dern. Sowohl in der konzeptuellen Arbeit wie auch in der empirischen Forschunggeht es um das Aufdecken des jeweiligen relativen Anteils, der vom Kind her inProzessen der Interaktion mit der Umwelt, die beispielsweise in Felder und Set-tings ausdifferenziert werden kann, verstehbar ist. Es gilt jene Strukturen heraus-zuarbeiten, die Kinder generell zu bestimmten Handlungen und daran anschlie-ßend zu bestimmten Entwicklungen und Kompetenzen befähigen.

Dies wirft die Frage nach den gesellschaftlichen Erwartungen an die Hand-lungsfähigkeiten von Kindern auf. Wo werden ihnen welche »Handlungsmächtig-keiten« eingeräumt? In welchen Arenen wird definiert, welches die erwünschtenAgencies von Kindern sind? Welche Akteure positionieren sich hier? Hitlin/Long(2009: 150) prägen dafür den Begriff der »agency norms« und machen die damitverbundenen Spannungsfelder beispielhaft deutlich:

If a young child exerts too much agency, without regard of norms proscribed by the parents or teachers, that child would most likely face punishment for disobedient or nonconforming beha-vior. The same child might, later in life, be admonished for ›not trying hard enough‹ on an aca-demic or extracurricular activity. (Hitlin/Long 2009: 150)

Vor dieser Folie betrachten wir im Folgenden wichtige Handlungsfelder undbestimmen anhand vorliegender empirischer Literatur jeweils das Verhältnis von»Resonanz« und »Resistenz«. Wir operieren dabei mit der Figur des modernenDurchschnittskindes, wohl wissend, dass ethnische und sozialstrukturelle sowieinsbesondere milieuspezifische Differenzierungen (vgl. Grundmann 2006b) dieAusprägung der Agency wesentlich mitbestimmen.

3. Familie, Medien, Sport und Schule:Felder und Resonanzen von Agency in der mittleren Kindheit

3.1. Familie

Das erste Feld kindlicher Agency ist die Familie, das gilt auch in der mittlerenKindheit. Allerdings hat die Familienforschung diese Sichtweise lange Zeit ver-deckt, weil primär die Eltern als die Akteure des Familienlebens im Vordergrundstanden und die Kinder als passive »Rezipienten« elterlicher Sozialisationsimpul-se angesehen wurden (vgl. Morrow 2003). Mittlerweile ist dieser Bias überwun-den und es zeigt sich, dass Kinder je nach deren Alter und dem Ermessen der

»Agency« in der mittleren Kindheit 173

Eltern in Entscheidungen sowie in die Gestaltung familialer Routinen und Ritua-le einbezogen und ihre Interessen mehr oder weniger stark berücksichtigt werden(vgl. Baumann 2009). Damit ist über die Akzeptanz kindlicher Interessenslagenhinaus auch die Möglichkeit gegeben, dass - innerhalb bestimmter Grenzen -kindliches Handeln weitgehend selbstkontrolliert ablaufen kann. Kinderlebenerfährt so eine Aufwertung an Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit.Gelungene Aushandlungsprozesse führen zu vermehrter Partnerschaftlichkeitund erhöhen die Bereitschaft, die Entscheidungsbeteiligung der Kinder im Laufeder Zeit zu erweitern. Im Rahmen des DJI-Kinderpanels konnten dieseZusammenhänge teilweise empirisch abgebildet werden (vgl. auch Alt u.a. 2005).

Eine allgemeine Einschätzung der Beteiligungsberereitschaft der Elternwurde mit zwei Fragen erhoben, die das Kind jeweils in Bezug auf Mutter undVater beantworten sollte. Die erste Frage »Wie oft fragt deine Mutter (dein Vater)dich nach deiner Meinung, bevor sie (er) etwas entscheidet, was dich betrifft?«fokussiert auf die Autonomie des Kindes, d.h. auf Mitbestimmungsmöglichkeitenbei Belangen, die ausschließlich die Person des Kindes betreffen. Etwa zwei Drit-tel der Kinder geben an, dass die Mutter sie häufig oder sehr oft nach ihrer Mei-nung fragt, bevor sie Dinge entscheidet, die sie als Kind betreffen. Jedes vierteKind (26 Prozent) wird manchmal gefragt und nur knapp zehn Prozent der Kin-der geben an, selten oder nie nach ihrer Meinung gefragt zu werden.

Bereits dieser erste empirische Befund macht deutlich, dass Kinder in hohemMaße in der Interaktion mit der Mutter Gehör finden und Einfluss auf Entschei-dungen nehmen, die sie betreffen. Die Entscheidungsspielräume der Kinder vari-ieren allerdings je nachdem, um welche Angelegenheiten es sich handelt. 52 Pro-zent der Kinder im Alter von neun bis zehn Jahren können selbstständig darüberentscheiden, was sie anziehen, 64 Prozent darüber, wofür sie ihr Taschengeld aus-geben und fast 40 Prozent darüber, was sie mit dem Computer machen. Es gibtjedoch auch Bereiche, in denen die Eltern keine Mitsprache zulassen: Die mei-sten Mütter und Väter entscheiden, wann ihre Kinder abends zuhause sein müs-sen (83 Prozent) und wie aufgeräumt das Kinderzimmer sein soll (58 Prozent).

Grundschulkinder werden heute in großem Umfang von ihren Eltern um ihreMeinung gefragt, wenn es um Dinge geht, die sie unmittelbar betreffen. Da die-ses Interesse an den kindlichen Bedürfnissen weitgehend unabhängig von Bil-dung, Familienstand oder sozioökonomischem Status ist, kann diese Art derBeteiligung auch als typisch für die heutige Kindheit gelten. Moderne Kindheitist damit zu einem Gutteil eine partizipatorisch bestimmte Kindheit.

Mitwirkungsmöglichkeiten in Familienangelegenheiten sind teilweise abhän-gig von sozialstrukturellen Bedingungen: Für die Vorgehensweise von Mütternund Vätern zeigt sich hinsichtlich des sozioökonomischen Status und der Höhe des

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Haushaltseinkommens ein signifikanter Zusammenhang. Eltern mit höherem Ein-kommen bzw. höherem sozioökonomischen Status lassen ihre Kinder häufiger anFamilienentscheidungen mitwirken als Mütter und Väter aus einkommensschwä-cheren bzw. statusniedrigeren Familien. Darüber hinaus lässt sich ein Zusammen-hang mit der Bildung der Mutter in der erwarteten Richtung konstatieren: Je höherihr Schulabschluss, desto häufiger berücksichtigt die Mutter die Meinung des Kin-des. Damit gilt auch die Annahme als empirisch belegt, dass Partizipation in jenenAngelegenheiten, welche die Familie als Ganzes betreffen, schichtabhängig vari-iert. Mit steigendem Einkommen - und damit einhergehend mit steigendemsozioökonomischem Status - nimmt die Bereitschaft zu, die Interessen der Kinderin der Familie zu beachten.

Diese Zusammenhänge werden durch weitere Studien untermauert und ver-feinert: Fatke und Schneider (2005, 2007) finden in einer speziellen Befragungzur Partizipation heraus, dass Kinder und Jugendliche nach eigener Einschätzungin der Familie viel mitbestimmen können und mit den Ergebnissen ihrer häus-lichen Mitbestimmung insgesamt zufrieden sind. Die ZDF-Studie »Kinder ohneEinfluss« erhärtet dies und arbeitet heraus, dass Kindern die Mitbestimmung zuHause wichtig ist und Kinder mit der Mitbestimmung daheim sehr zufrieden sind(vgl. Schneider/Stange/Roth 2009: 11).

3.2. Medien

Heute kann man sich den Alltag, die Freizeit- oder Arbeitsaktivitäten, das Fami-lienleben oder das Beisammensein mit Freunden nicht mehr ohne die Güter derKonsum- und Unterhaltungsindustrie und schon gar nicht ohne Medien- undKommunikationstechnologien vorstellen (vgl. Livingstone 2009). Nur in einerKonsumgesellschaft im weitesten Sinne ist eine dispositive Lebensführung mög-lich, in der über die unmittelbare Sicherung der materiellen Existenz hinaus Wah-lakte hinsichtlich konkreter Produkte für immer mehr Menschen, tendenziellauch für Kinder, zum selbstverständlichen Teil der Lebenswelten werden; in einersolchen Gesellschaftsform ist auch eine Akzeptanz bestimmter Tätigkeiten vonKindern als deren legitime Freizeitbeschäftigung anerkannt und der »Catwalk desKonsums« zur Entwicklungsaufgabe geworden (vgl. Ekström 2009). In deröffentlichen Diskussion finden sich viele Stimmen, die in der Verbreitung neuerMedien und Medientechnologien einen Verfalls- und Degenerationsprozesssehen. Heute stehen besonders die so genannten neuen Medien im Verdacht, dassoziale und kulturelle Leben zu deformieren. In der wissenschaftlichen Diskus-sion ist demgegenüber unstrittig, dass Neue Medien und softwarebasierte Umge-

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bungen, sowohl in der Arbeitswelt als auch im Bereich der Freizeit, zu einemintegralen Bestandteil unseres alltäglichen Handelns werden, ohne dass breitflä-chige Degenerations- und Zerfallsprozesse zu konstatieren wären. Vor diesemHintergrund sollten sie bei der Untersuchung gesellschaftlicher Strukturen unddes Sozialraums eingeblendet werden (vgl. Unger 2010).

Medien haben heute zweifelsfrei eine herausragende Bedeutung für den All-tag der Kinder und Jugendlichen erlangt. Einerseits vertreiben sie die Langeweileoder sind eine kostengünstige Freizeitbeschäftigung, für den Einzelnen wie auchfür ganze Gruppen. Andererseits bieten sie Anknüpfungspunkte dafür, Wissen zuerlangen und geben Orientierung, Vorbildfunktion, Projektionsrahmen und Werto-rientierungen. Sie stellen dabei eine wertvolle Unterstützung bei der Bewältigungvon Alltagsproblemen und Entwicklungsthemen und somit zur individuellen Ent-wicklung dar. Wegener (2010) sieht denn auch den Mediengebrauch als Ausdruc-ks- und Kommunikationsmittel, welcher wesentlich dazu beiträgt, ein (neues)Selbstbild herauszubilden. Dieses wird in sozialen Kontexten zur Ausformulie-rung einer eigenen Identität eingesetzt. Vorlieben, die Art und Weise der Wissens-rezeption und das daraus resultierende (soziale) Handeln dienen nicht selten dazu,eine entsprechende Anerkennung in der jeweiligen sozialen Umwelt (Peers, Fami-lie, Schule) zu erfahren. Das »richtige« Medium und das richtige Medienformatsind nicht selten ausschlaggebend für die Gruppenzugehörigkeit und einen ent-sprechenden sozialen Status (vgl. Wegener 2010). Übersetzt in eine allgemein-soziologische Formulierung heißt dies, dass der vielfältige und ausdifferenzierteMediengebrauch, die Ausschöpfung der Agency als eine Quelle der Selbstermäch-tigung von Mädchen und Jungen fördert: »Mediale Praktiken sind Trainingsfelderder Wahrnehmung und der Kognition und der Affektivität und werden vom moder-nen Subjekt primär als solche Räume der Selbstformierung eingesetzt.« (Reckwitz2006: 59). In besonderem Maße ist dies der Fall, wenn Kinder an Formen aktiverMedienarbeit partizipieren.

Die Medienpräferenzen und -aktivitäten Jugendlicher treffen jedoch häufigauf konträre Vorstellungen der Eltern. Diese wünschen sich nämlich oft, dasswegen der zu erwartenden negativen Auswirkungen neuer Medien auf das Ler-nen und den Schulerfolg stattdessen der Umgang mit Büchern einen größerenStellenwert einnehmen sollte. Dennoch zeigt sich bei der Befragung der Jugend-lichen nach den Absprachen, die mit ihren Eltern bezüglich der Mediennutzunggetroffen werden, dass in nahezu gleicher Art und Weise und im selben UmfangEinvernehmen hergestellt wird.

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3.3 Sport

Stecher und Zinnecker (2007) haben herausgearbeitet, dass sich in modernenGesellschaften neben Beruf und Bildung weitere Handlungssysteme herausgefil-tert haben, in denen Statuserfolg bzw. sozialer Aufstieg möglich ist. Zu diesen»statusbedeutsamen« Handlungssystemen zählen sie die Felder der Musik, Kir-che/Religion sowie den Sport. Daraus kann man schließen, dass sich das Feld derKultur auch für Kinder ausdifferenziert hat und neben dem schulischen Kanonein außerschulisches Bezugsfeld für den Transfer und den Erwerb von kulturel-lem Kapital verfügbar wurde. Dies gilt in besonderer Weise für den Sport.

Schmid (2008) hat im Rahmen des Zweiten Deutschen Kinder- und Jugend-berichtes die hierfür wesentlichen Daten und Argumente zusammengetragen:Demnach manifestiert sich die zentrale Rolle sportiver Orientierungen im Kin-desalter, also die Bewegung »vom spielenden zum sportiven Kind«, zuerst ein-mal in der Mitgliedschaft in Sportvereinen. Es gibt dementsprechend keine ande-re soziale Altersgruppe, die so stark in das System des Sports inkludiert ist wieKinder in der späten Kindheit, also die etwa 10- bis 13-Jährigen. Schmidt (2008:374) dokumentiert anhand der einschlägigen Studien einen eindrucksvollenZuwachs der Rekrutierungsquote von Kindern in den Sportvereinen bis hin zurheutigen markanten Ziffer: Fast neun von zehn Kindern sind in ihrer Kindheitmehrere Jahre Mitglieder in Sportvereinen; andere Vereine bringen es hingegenkaum auf fünf Prozent.

Sportliche Bewegungsaktivitäten spannen damit für Kinder ein besondersattraktives und wichtiges Handlungsfeld auf (vgl. Podlich 2008). Hier haben siedie Möglichkeit, leistungsthematische Situationen aufzusuchen und ihre Fähig-keiten darin zu erproben. Zu unterstreichen ist die große Bedeutung der intrinsi-schen Motivation, die von einem Interessengebiet ausgehen kann und ganzbesonders dazu beiträgt, sich anzustrengen und die Grenzen der eigenen Fähig-keiten zu überschreiten. Über sportliche Bewegungsaktivitäten, sei es in traditio-nellen, sei es in den neuen Trendsportarten, werden weit mehr als nur körperlicheund motorische Fähigkeiten entwickelt. Kognitive, soziale, emotionale und moti-vationale Kompetenzen können ausgeformt und in die Identität integriert werden,was sich nachhaltig auf das Selbstkonzept auswirken wird. Ebenso ist Sport einwichtiges Beispiel für die oben angeschriebenen Praktiken der Subjektivierung.Immer mehr wird auch der Bildungswert sportlicher Aktivitäten betont. Komplet-tiert wird das Bild sportiver Kindheiten durch die ebenfalls für den Zweiten Deut-schen Kinder- und Jugendbericht zusammengetragenen Überlegungen und Datenzum nicht vereins- und schulgebundenen informellen Sport (Burrmann 2008):Demnach beteiligt sich die überwiegende Mehrzahl der Kinder auch im informel-

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len Rahmen an der Sportkultur. Im informellen Sport dominieren alltagskulturel-le sportliche Praktiken, die sich insbesondere deshalb als alltagstauglich erwei-sen, weil sie jederzeit in variablen sozialen Konstellationen und in der näherenoder weiteren Wohnumgebung praktiziert werden können. Die vor allem von Ver-tretern kulturkritischer Defizithypothesen vorgebrachte Skepsis bezüglich derLebens- und Bewegungswelt heutiger Kindergenerationen lässt sich mittelsempirischer Befunde zu den Aufenthaltsorten und zur Nutzungsdauer natürlicherBewegungsräume für Kinder nur bedingt aufrechterhalten.

Sport hat sich im Verlauf der Moderne und insbesondere der späten Moder-ne als eigenständiges Handlungsfeld heraus differenziert (vgl. Cachay/Thiel2000) und übt auch auf Kinder eine zunehmende Attraktionskraft auf. Insbeson-dere für die Phase der Kindheit wird das Körperkonzept als wesentliches Teilkon-zept des Selbstkonzepts bezeichnet. Durch bewertende Prozesse, die die körper-lichen und motorischen Fähigkeiten betreffen, leitet das Kind Anteile seinesSelbstkonzepts ab.

Insbesondere Kinder im Übergang zur Jugendphase brechen nicht selten ausden Räumen des formellen Sports aus, der sie auch in der Moderne gerne in hoch-strukturierte Lernorte integrieren und auf den Leistungscode »Sieg und Niederla-ge« verpflichten will. Freizeitpräferenzen folgen dieser Entwicklung hin zu einerPerformanz individuellen Könnens und Vermögens. Dabei wird der institutionel-le Rahmen der Vereine verlassen, stattdessen werden die Straße oder die Hinter-höfe, die Spielplätze oder die Einkaufszentren zu neuen Orten sportlicher Akti-vitäten ausgewählt. Selbstgewählte Formen sportlicher Aktivitäten finden so eineneue Ausdrucksform, in der die Kinder nach selbstgestalteten Inszenierungenaktiv sein können (vgl. Gutman/Coninck-Smith 2008).

3.4 Beteiligung in der Grundschule

Beteiligung in der Grundschule unterliegt nicht nur den persönlichen Erziehungs-vorstellungen der jeweiligen Lehrkraft, der Ausprägung ihres Kinderbildes odereiner mehr oder weniger partnerschaftlichen Grundhaltung, obwohl diesen Aspek-ten sicherlich große Bedeutung zukommt. Vielmehr wird sie in ihren Möglichkei-ten durch schulische und gesetzliche Vorgaben bestimmt.

Solch formale Verfahren der Mitwirkung sind allerdings in den meistenBundesländern erst ab der Sekundarstufe verbindlich vorgesehen. Für die Grund-schule dagegen sind diese Formen oft nicht vorgesehen, teilweise auch explizitausgeschlossen - sicherlich aufgrund der Vorstellung, dass eine solche Mitwir-kung jüngere Kinder überfordern würde.

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Beteiligung in der Grundschule richtet sich demnach weniger auf formale Ver-fahren, sondern findet ihren Platz in der Gestaltung des Klassenlebens und desUnterrichts. Grundlegend dafür ist das umfassende Bildungsverständnis derGrundschule, das sich nicht nur auf die Vermittlung von Kulturtechniken, sondernauch auf die Entwicklung der Persönlichkeit richtet. In jüngerer Zeit wurde einestärkere Individualisierung gefordert, die mehr Möglichkeiten zu selbsttätigemLernen, aber auch eine Verstärkung des sozialen Lernens beinhaltet. OffenerUnterricht, Freiarbeit, handelndes Lernen oder projektorientierter Unterricht gehö-ren zu den pädagogisch-didaktischen Ansätzen für eine »innere Reform« derGrundschule, die auf eine stärkere Beteiligung der Kinder setzen und damit auchihre Rolle als eigenständige Akteure stärker hervorheben. Inwieweit diese neuenAnsätze aufgenommen werden, ist abhängig von Vorgaben der Schulbehörden,von Klima und Konzepten der jeweiligen Schulen und vom Engagement einzelnerLehrkräfte.

Der Bertelmannstudie 2007 (Fatke 2007) kann man eine ganz ähnliche Aus-sage entnehmen. Gesellschaftliche Modernisierungsprozesse führen zu Verunsi-cherungen, beispielsweise durch eine gesteigerte Bindungslosigkeit, durch unge-wisse offene Biographien und gesellschaftliche Desintegrationsprozesse. DieBeteiligung von Kindern und Jugendlichen z.B. in der Schule zielt darauf ab, dennegativen Folgen gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse entgegen zu wir-ken. Partizipation von Kindern und Jugendlichen wird in diesem Kontext alsModus der sozialen und politischen Integration angesehen. Versucht man aber denMöglichkeiten und Grenzen der Partizipation in der Schule näherzukommen, stelltsich alsbald heraus, dass Schülern wenige Möglichkeiten geboten werden, sichPartizipationskompetenzen anzueignen. Nur 15 Prozent der befragten Kinder undJugendlichen geben an, in der Schule viel oder sehr viel mitzubestimmen (vgl.Fatke/Schneider 2005). In der ZDF-Partizipationsstudie (Schneider/Stange/Roth2009: 16ff) ergibt sich ein analoges Bild - und insbesondere auch ein markanterKontrast zu den Verhältnissen in der Familie:

Auch die Analyse der themenbezogenen Mitbestimmungsintensität belegt das sehr geringe Mit-bestimmungsniveau von Kindern in der Schule. Während in der Familie bei sieben der insgesamt 13 abgefragten Themen ein Wert größer als 2,5 - dem Skalenmittelpunkt - zu verzeichnen war, (…) liegen im Bereich Schule alle Themen deutlich unter diesem Schwellenwert. (Schnei-der/Stange/Roth 2009: 16f)

Obwohl sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr die Einsicht durchgesetzt hat,dass insbesondere von den Lehrern erwartet wird, sich nicht mehr autoritär zu ver-halten (vgl. Zeiher 2009: 121), sondern Kinder in ihrer Agency ernst zu nehmen

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und zu unterstützen, sind diese Reformbemühungen immer wieder an Grenzengestoßen. Um hier einen fundamentalen Wandel in Gang zu setzten, erfordert esneben pädagogischen Bemühungen auch ein Aufbrechen der stark verfestigtenOrganisationsstrukturen. Die aktuellen Anstrengungen auf diesem Gebiet sind,wie die zitierten Studien zeigen können, noch nicht weit gediehen. Erst die älterenKinder können davon profitieren, weil für sie eine Beteiligung formal vorgesehenist. Interessant sein wird, inwiefern die immer breitere Durchsetzung der Ganz-tagsschulen hier veränderte Formen von Partizipation und der Eröffnung von»agency-resonanten« Räumen mit sich bringen kann und auch wird (vgl. Coelen2009).

4. Konsequenzen und Schlussfolgerungen:»Wirkungen« von Agencyerfahrungen

Nachdem die Strukturen der Agency, die Resonanzen auf kindliche Handlungsim-pulse wie auch Resistenzen exemplarisch von uns beschrieben worden sind, sollnun abschließend auf die Konsequenzen mehr oder weniger starker Resonanz vonAgency eingegangen werden. Dazu knüpfen wir an die neuere Glücks- und Wohl-befindensforschung an, um zu umreißen, welche Indizien sich hier für die Folgender unterschiedlichen Handlungsfelder und die in ihr zum Tragen kommendeAgency auffinden lassen.

Die Kindheitsglückssurvey - durchgeführt von Anton Bucher (2001, 2009)mit 1.319 Schulkindern im Bundesland Salzburg - verweist auf Folgendes: Jungenund Mädchen im Alter von elf Jahren bilanzierten ihr bisheriges Leben mehrheit-lich positiv: 54 Prozent als total glücklich, 39 Prozent als glücklich. Besondersglücklich sind sie in den Ferien, draußen im Freien, bei Tieren und ihren Freundensowie in ihren Familien; weniger glücklich hingegen fühlen sie sich in der Schu-le. Primärer Zweck der Studie war es, Faktoren zu eruieren, die das Wohlbefindenvon Kindern bestimmen. Es zeigte sich, dass die üblichen soziodemografischenVariablen (Geschlecht, Wohnumgebung etc.) dies kaum leisten (sechs Prozenterklärte Varianz). Bedeutsam sind hingegen Tätigkeitsvariablen, die man in Annä-herung als »erlebte Agency« interpretieren kann. Sie erklären 45 Prozent der Vari-anz. Besonders glücklich sind demnach Kinder, die in ihrer Freizeit aktiv und inBewegung sind, mit Freunden und ihrer Familie viel unternehmen, dafür auchgelobt werden und Anerkennung erfahren.

Bezieht man diesen Befund auf die eben beschrieben Handlungsfelder, las-sen sich die dabei gewonnen Erkenntnisse wie folgt zusammenfassen: Die Agen-cy von Kindern variiert stark mit den vorzufindenden »Resistenzen« auf Seiten

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der erwachsenen Akteure, die sich durch andere Ziele für die Kinder und andereZiele mit den Kindern erklärt. Trifft man auf eine mehr oder weniger starke Ko-Produktion, führt das in der Konsequenz zu einem deutlichen Anstieg eigenver-antwortlichen Handelns auf Seiten der Kinder und zu einer förderlichen Rah-mung für die Ausbildung eigener Identität. Dies verdeutlicht die Beschreibungder familialen Lebenssituation der Kinder und der Partizipationsbestrebungen inAngelegenheiten, die die Kinder oder die Familie betreffen. Wird die Agency ein-geschränkt, sei es durch Formalien oder durch eine rigide institutionelle Struktur,weichen Kinder auf weniger strukturierte Felder aus, sofern es, wie im Sport,diese Möglichkeit gibt. Im schulischen Kontext werden die Lernfelder und Erfol-ge dann gelegentlich außerhalb der Institution gesucht, indem Lernen auf eigeneFaust und mit Hilfe elektronischer Medien bewerkstelligt wird. Räumt man denKindern eigene Kompetenzen und Wissensvorsprünge ein, wie im Bereich derMedien, können sie sich eigene Handlungsfelder erobern, in denen die Eltern alsKo-Produzenten nicht selten als zweiter Sieger vom Platze gehen. Gleichzeitigtrifft zu, dass Kinder immer dann mit großer Hingabe an der Ausübung ihrerAgency interessiert sind, wenn ihr Verhalten - und sei es auch in institutionalisier-ten Kontexten - auf Anerkennung stößt, wenn sie als verantwortliche Wesenbehandelt werden und man mit ihnen verhandelt, statt ihnen nur Anweisungen zugeben.

Dies belegt auch eine amerikanische Studie, die mit qualitativen wie quanti-tativen Methoden vorgegangen ist. Sie bestätigt den Zusammenhang zwischeneigeninitiierten Tätigkeiten von Kindern, ihrem Selbstwert sowie Wohlbefinden:Es schält sich ein Muster balancierter Lebensführung für Kinder heraus:

The majority of children and their families in our study had attained a measure of »balance«, meaning that they were involved in activities and organizations beyond the family… According to our definitions, such children had one or two activities, and the total weekly time in such acti-vities was less than 4 hours over the two diary days. Such involvement appears to be both normal and valuable to child development; it was associated with lower stress and higher self-esteem on a variety of measures. (Hofferth u.a. 2008: 35)

Für die Forschung stellt sich damit abschließend die Aufgabe, das Bedingungsge-flecht zwischen Agency, sozialen Feldern und den jeweiligen sozialen Ressourcender Kinder näher zu erforschen, denn es ist unbestritten, dass damit ein wichtigerVermittlungszusammenhang zwischen makrogesellschaftlichen Strukturen undindividueller Entwicklung sowie individuellem Wohlbefinden aufgedeckt werdenkann.

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Kinder, die sich nicht biegen lassen.Psychologische Skizzen zur Resilienz

Anton A. Bucher

Wie entwickelt sich ein Mädchen, das als siebtes von zehn Kindern geboren wird,die Mutter ohne Schulabschluss, heimlich tagsüber Schnaps trinkend, der Vatermeist arbeitslos und ein schwerer Trinker, ein Säugling, den die Mutter nicht still-te, weil dies Zeitverschwendung sei. Gleichwohl zeigte das kleine Mädchen - mitdem Namen Amy, 1955 auf der Hawaii-Insel Kauai geboren -, panische Ängste,wenn es von der Mutter getrennt wurde, bis hin zum Erbrechen. Mutter und Vaterstritten häufig, worauf erstere wieder trank oder hysterisch umher schrie, auchSelbstmord androhend.1 Gemäß psychologischen Alltagstheorien, die durch trivi-alisierte Traumatheorien geprägt sind2, trägt dieses Mädchen, das in den erstenLebensjahren immer wieder die schreienden und streitenden Eltern hörte, eineschwere Hypothek ins Leben. Orale Beeinträchtigungen - prädisponiert für Such-terkrankungen. Frühe Augenzeugin körperlicher Gewalt - eine höhere Wahrschein-lichkeit, sich später an solchen Modellen zu orientieren. Mangelndes Urvertrauen -später weniger Optimismus und ein grundsätzliches Misstrauen dem Leben - undauch anderen Menschen - gegenüber.

Doch es kam anders. In seiner Schulzeit war das Mädchen zwar zurückgezo-gen, schüchtern und ängstlich, aber es lernte leicht und gut, gelegentlich angelei-tet von ihrer ältesten Schwester, die beteuerte, fest an Amy zu glauben. In derJugend unternahm sie zwar einen Suizidversuch, erholte sich aber und erlernteeinen Beruf in der Verwaltung. Als 35-jährige Frau war sie, nach einem fünfjäh-rigen Konkubinat, um sich ihres Partners sicher zu sein, verheiratet; sie hatte Kin-der, denen sie sich intensiv widmete, und ihre Ehe war, trotz gelegentlicher Kon-flikte, die nie vor den Kindern ausgetragen wurden, stabil.

Für die Entwicklungspsychologin Emmy Werner ist Amy ein Musterbeispielfür ein Kind, das Resilienz an den Tag zu legen vermochte. »Resilienz« bezeich-

1 Beispiel aus: Werner, Emmy/Smith, Ruth (1982): Overcoming the odds - High risk children from birth to adulthood.

2 Vgl. Nuber, Ursula (1995): Der Mythos vom frühen Trauma. Über Macht und Einfluss derfrühen Kindheit.

C. Sedmak et al., Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten, DOI 10.1007/978-3-531-92749-7_10,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

nete ursprünglich Spannkraft (wie bei einem Pfeilbogen), oder Elastizität, unddamit die Fähigkeit, nach einer Einwirkung wieder in den Ausgangszustandzurückzukehren. Resilient ist infolgedessen auch ein Getreidehalm, den der Windgebogen hat, der sich wieder aufwärts richtet und gerade steht. Oder ein Boxer, dereinen schweren Hieb einsteckt, taumelt, sich aber wieder aufrafft, fasst und dieFäuste ballt, um zurückzuschlagen. Oder im psychischen Bereich: Eine Person,die schwer gekränkt wird, dies wegstecken und ihren Tätigkeiten weiter nachge-hen kann.

In die Psychologie eingeführt wurde »Resilienz« erst von Fritz Redl3 imJahre 1969. Das damit Bezeichnete ist aber wesentlich älter4. Schon HildegardHetzer5, in ihrer klassischen Studie über Kinder, die in teils bitterer Armut auf-wuchsen, beobachtete, dass sich viele von ihnen ganz vorzüglich entwickelten,obschon sie im Vergleich zu anderen Jungen und Mädchen schwer benachteiligtwaren, materiell ebenso wie psychisch. In der psychologischen Forschung bedeu-tete Resilienz ursprünglich die Fähigkeit speziell von Kindern, sich auch in sol-chen Settings einigermaßen gesund zu entwickeln, an denen andere zerbrochenwären. Mittlerweile wird der Begriff aber weiter gefasst: Nicht nur die psychischeWiderstandskraft in Extremsituationen - beispielsweise Kinder in Konzentra-tionslagern, wie sie von Anna Freud untersucht und in ihrer weiteren Entwik-klung begleitet wurden6 -, sondern auch im Alltag, beispielsweise der Schule, amArbeitsplatz. Von daher wird auch verständlich, dass dem Begriff »Resilienz«gegenüber »Coping« der Vorzug gegeben wird: Letzteres bezieht sich auf dieBewältigung situativer kritischer Lebensereignisse, etwa Verlust eines Eltern-teils, wohingegen Resilienz auch als überdauerndes stabiles Persönlichkeitsmerk-mal aufgefasst wird. Diskutiert wurde in dem Zusammenhang auch der vonEmmy Werner angesprochene Begriff der »Invulnerabilität«, der Unverwundbar-keit. Er hat sich deswegen nicht durchgesetzt, weil traumatisierte und verwahrlo-ste Kinder sehr wohl Resilienz entwickeln können, auch wenn sie in ihrer Psychefaktisch schwer verwundet wurden. Zu Recht sprechen die Autorinnen der Kauai-Studie von zwar »verletzlichen, aber unbesiegbaren« Kindern7.

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3 Vgl. Redel, Fritz (1969): Adolescents - just how do they react.4 Vgl. Tusaie, Kathleen/Dyer, Jancye (2004): Resilience: A historical review of the construct, S. 3-10.5 Vgl. Hetzer, Hildegard (1935): Kindheit und Armut. 6 Vgl. Freud, Anna (1965): The writings of Anna Freud, Volume 5, Research at the Hampstead

Child-Therapy Clinic and other papers.7 Vgl. Werner, Emmy/Smith, Ruth (1982): Vulnerable, but invincible. A longitudinal study of

resilient children and youth.

Im Folgenden werde ich zunächst wichtige Studien zu Resilienz skizzieren,als erste die bereits erwähnte Studie von Emmy Werner und Ruth Smith, sodanndie Bielefelder-Erlangen-Studie, durchgeführt mit Kindern und Jugendlichen, diein Heime kamen, gut die Hälfte als resilient eingestuft, die andere als auffällig. InAbschnitt 2 kommen die bisher eruierten biologischen Faktoren zur Sprache, diesich bei resilienten Personen nachweisen ließen, und in Abschnitt 3, bisherumfangreicher untersucht, die psychologischen Korrelate dieser Widerstands-kraft, welche bewirkt, dass niedergebogene Kinder und Jugendliche sich dochwieder aufrichten. Abgeschlossen wird der zugegebenermaßen fragmentarischbleibende Beitrag mit pädagogischen Implikationen, wobei eine vorwegzuneh-men ist: Resiliente Personen berichten in aller Regel, eine Bezugs- bzw. Bin-dungsperson gekannt zu haben, die an sie glaubte; für die eingangs geschilderteAmy war das ihre älteste Schwester, ohne die sie die Verletzungen ihrer Kindheitund die Irrungen und Wirrungen ihrer Jugend niemals überstanden hätte.

1. Klassische Studien zu Resilienz

Die Resilienz eines Hartgummiprodukts lässt sich in einem einmaligen Experi-ment untersuchen, das Studium psychologischer Resilienz hingegen, sofern es zuwirklich kausalen Aussagen führen soll, erfordert longitudinale Daten. Die wohlbedeutendste Längsschnittstudie begannen Emmy Werner und Ruth Smith imJahre 1955, indem sie alle in diesem Jahre geborenen Einwohner der kleinenHawaii-Insel Kauai untersuchten (N = 698).8 Eine Vielzahl von Merkmalenwurde auch nach dem ersten Lebensjahr erhoben, sodann ein Jahr später, in derMitte der Kindheit (im Alter von 10 Jahren), am Ende der Jugend und abschlie-ßend im 32. Lebensjahr. Knapp ein Drittel dieser Kinder wuchs in denkbarungünstigen Verhältnissen auf: Chronische Armut, prä- und perinatale Schwierig-keiten, Alkoholismus oder psychische Krankheit eines Elternteils etc., etc. Vondiesen Jungen und Mädchen wuchs ein Drittel zu kompetenten, selbstbewussten,verantwortungsvollen Jugendlichen und jungen Erwachsenen heran, genaugleich, wie die deutliche Mehrheit derjenigen Kinder, die in wohlbehütete Ver-hältnisse hinein geboren worden waren.

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8 Aus der umfangreichen Literatur: Werner/Smith: Vulnerable, but invincible; Werner, Emmy (1995): Risk, resilience, and recovery: Perspectives from the Kauai longitudinal study, S. 503-515. Sekundärdarstellungen: Dornes, Martin (2000): Die emotionale Welt des Kindes, S. 113-117.

Was unterscheidet diese resilienten Kinder von denjenigen, die in der Jugendin ernsthafte Probleme gerieten (zumeist depressive Verstimmungen), Verhaltens-auffälligkeiten zeigten, bis hin zu Straffälligkeit, speziell aufgrund von Drogenund Diebstahl? Im Kleinkindalter wurden sie von ihren Bezugspersonen als sehraktiv beschrieben, die Mädchen als anschmiegsam, die Jungen als gutmütig undpflegeleicht - offensichtlich hängt Resilienz, wie noch zu erörtern ist, auch vongenetischen Faktoren ab, speziell den Temperamenten, die von der stärker soziali-sationsorientierten Entwicklungspsychologie vernachlässigt wurden, aber in denletzten Jahren eine Rehabilitierung erfuhren.9 In der Vorschulkindheit erlebten nurdie wenigsten der resilienten Kinder eine längere Trennung von den Bindungsper-sonen; vielmehr konnten »alle (…) eine feste Bindung zu mindestens einer Bezu-gsperson ausbilden«10, die vielfach als Ersatzeltern fungierten, sei es ein Großel-ternteil, seien es ältere Geschwister oder Nachbarn.

In der Grundschule kamen sie mit ihren Klassenkameraden gut zurecht, blie-ben in ihren Leistungen nicht hinter den anderen zurück; vor allem aber hattenalle mindestens einen engen Freund und darüber hinaus - was schon in der frü-hen Kindheit besonders hilfreich war - eine erwachsene Bezugsperson, die an sieglaubte und sie unterstützte, sei es ein Lieblingslehrer, der ein Rollenvorbild,Freund oder Vertrauter wurde, sei es ein Jugendleiter, ein Pfarrer, Leute in einerkirchlichen Gruppe, ein Sozialarbeiter (damals auf Kauai kaum vorhanden).

Im Erwachsenenalter schließlich waren die Resilienten leistungsorientierterund fast ausnahmslos eingebunden in eine feste Arbeit; sie hatten häufiger eineeigene Familie, die resilienten Frauen zu 85 %, die Männer hingegen mit 40 %deutlich seltener. Überdurchschnittlich ausgeprägt waren bei den Resilienten inter-nale Kontrollüberzeugungen, deren Effekt auf psychische Gesundheit nicht zuunterschätzen ist11, und häufiger als die in behüteten Verhältnissen Aufgewachse-nen gaben sie an, aus religiös-spirituellen Ressourcen Unterstützung erhalten zuhaben12. Gefragt, ob sie mit ihrem jetzigen Leben zufrieden seien, bejahten siedies mehrheitlich, häufiger sogar als die Gruppe ohne Entwicklungsrisiken. Einmöglicher Grund dafür besteht in der Genugtuung, es doch geschafft zu haben.

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9 Vgl. Zentner, Marcel (1995): Die Wiederentdeckung der Temperamente. Eine Einführung in die Kinder-Temperamentsforschung.

10 Lösel, Friedrich/Bender, Doris (1997): Schutz- und Risikofaktoren der gesunden Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in der Familie und deren Umfeld, S. 57.

11 Vgl. Flammer, August (1990): Erfahrung der eigenen Wirksamkeit. Einführung in die Psychologieder Kontrollmeinung.

12 Vgl. Bucher, Anton (2007): Psychologie der Spiritualität.

Insgesamt rechtfertigt die Kauai-Studie zwei Schlüsse:

- Erstens: Prekäre Kindheitsumstände erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Fehlentwicklungen im Kindes- und Jugendalter. Zwei Drittel der von Werner und Smith nach der Geburt und in den ersten Lebensjahren als hochriskant eingestuften Kinder entwickelten sich ungünstig: häufigeres Versagen in der Schule, Verhaltensauffälligkeiten, psychische Probleme (speziell Depressio-nen), bis hin zu Devianz und Konflikten mit dem Strafgesetz. Dass nicht alle Kinder es schaffen, schädliche Kindheitseindrücke abzustreifen, ist deshalb zu betonen, weil gelegentlich eine weitgehende Reversibilität der Folgen früh-kindlicher Traumatisierungen behauptet wird.13

- Zweitens: Desolate Kindheitsumstände führen aber nicht zwingend dazu, dass sie im weiteren Lebenslauf gleichsam fortgeschrieben werden. Eine nicht unbeträchtliche Quote von Kindern (ca. ein Drittel) verkraftet trau-matisierende Lebensumstände besser als ein von der Psychoanalyse (Trau-matheorie) inspiriertes Denken voraussagen würde.

Eine im deutschen Sprachraum durchgeführte Studie zu Resilienz (Querschnittund prospektiver zweijähriger Längsschnitt) verdanken wir Friedrich Lösel undMitarbeitern14, die sogenannte Bielefeld-Erlangen-Studie. Sie untersuchtenJugendliche (Durchschnittsalter 15,6 Jahre) aus Heimen der Jugendhilfe und bil-deten nach gründlichen Diagnosen zwei Gruppen: Resiliente (mit bislang relativgesunder psychischer Entwicklung), und Auffällige, die schwerwiegende Erle-bens- und Verhaltensprobleme entwickelt hatten. In der Querschnittstudie stelltensich die Resilienten als flexibler heraus, zudem als intelligenter, ruhiger undzugleich selbstwirksamer; vor allem aber konnten sie auf ein größeres und trag-fähigeres soziales Netzwerk zurückgreifen. Dem gegenüber zeigten sich bei denAuffälligen vor allem signifikant höhere Werte auf den Skalen des externalisie-renden Syndroms, speziell bei Aggressivität und Delinquenz.15 Je schwächer diesoziale Einbettung war, desto geringer das Selbstwertgefühl.

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13 Vgl. Nuber, Der Mythos vom frühen Trauma; Hemminger, Hansjörg (1982): Kindheit als Schik-ksal? Die Frage nach den Langzeitfolgen frühkindlicher seelischer Verletzungen.

14 Vgl. Lösel, Friedrich (1994): Protective effects of social resources in adolescents at high risk for antisocial behavior, S. 281-301.

15 Vgl. Achenbach, Thomas/Edelbrock, Craig (1986): Manual for the teacher´s report form and teacher version of the child behavior profile.

Besonders interessant war die prospektive Studie, maßgeblich ausgeführtvon Doris Bender16. Nach zwei Jahren zeigten sich bei gut einem Drittel derResilienten Hinweise auf Erlebens- und Verhaltensprobleme. Einmal festgestell-te Resilienz ist keine Garantie für eine störungsfreie Weiterentwicklung. Hinge-gen schaffte es von den als auffällig und riskant eingestuften Jugendlichen einDrittel - ähnlich wie in der Kauai-Studie -, sich positiv zu entwickeln und dasProblemverhalten zu überwinden, und zwar sowohl internalisierendes (Sucht,melancholische Verstimmung) als auch externalisierendes (Aggressivität, Devi-anz, Vandalismus)17.

2. Biologische Faktoren von Resilienz

Dass wir Menschen auch biologische Wesen sind, hervorgegangen aus einer Evo-lution, die spätestens vor gut 65 Millionen Jahren mit mäuseähnlichen Säugetie-ren begann, die die Dinosaurier überlebten, wird aus dem psychologischenSchrifttum nicht immer hinreichend ersichtlich18. Entsprechend konstatierenHoltmann und Stadler: »Dass auch biologische Faktoren die individuelle Wider-standsfähigkeit gegen Belastungen beeinflussen, scheint seit langem unzweifel-haft. Bemerkenswerterweise wurde aber erst in den vergangenen Jahren diesenbiologischen Aspekten der Resilienz vermehrt Beachtung geschenkt.«19 Ein mög-licher Grund dafür könnte in der Befürchtung liegen, ein biologischer Zugang zuResilienz führe zu einem biologistischen Determinismus, der pädagogische För-dermaßnahmen als zweitrangig oder obsolet erscheinen lässt.

Was ist bisher zur Biologie der Resilienz bekannt? Zum einen, dass dieGeschlechtsvariable nicht zu unterschätzen ist. Deutlich mehr Jungen als Mäd-chen sind von Dyslexie betroffen, von autistischen Störungen, dem viel strapa-zierten Aufmerksamkeits-Defizit/Hyperaktivitätssyndrom - Beeinträchtigungen,die die Resilienz nach psychischen Verletzungen erschweren. Holtmann undHaupt räumen diesbezüglich ein, über die zugrunde liegenden kausalen Mecha-

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16 Vgl. Bender, Doris (1995): Psychische Widerstandskraft im Jugendalter: Eine Längsschnittstudie im Multiproblem-Milieu (Dissertation).

17 Zu dieser Differenzierung: Flammer, August (2002): Entwicklungspsychologie der Adoleszenz. Die Erschließung innerer und äußerer Welten im Jugendalter.

18 Vgl. Birbaumer, Niels (42006): Biologische Psychologie.19 Holtmann, Martin/Stadler, Christina (2007): Wider die künstliche Dichotomie. Über biologische

Resilienzfaktoren, S. 8-11.

nismen (Hormone?) sei »noch wenig bekannt«20.Wenn Kinder etwas Schreckli-ches erleben - beispielsweise: ein Kindergartenkamerad fällt vom Klettergerüst,verletzt sich und muss notärztlich versorgt werden -, ist zu beobachten, dass eini-ge Jungen und Mädchen nach kurzer Zeit weiterspielen, als ob nichts geschehenwäre, andere hingegen längere Zeit vor Schreck wie erstarrt (und zumeist blass)sind. Entsprechend ist nachgewiesen, dass der Schreckreflex - die »rasche, pro-tektive Antwort der Muskulatur auf überraschende Reize«21 - schon im Kindes-alter unterschiedlich beschaffen ist. Kinder, bei denen sich im linken Stirnlappeneine stärkere Aktivität zeigt (was bereits im Alter von zehn Monaten nachgewie-sen werden kann), verfügen über eine effektivere affektive Resilienz als jene, beidenen sich eine stärkere Aktivität in der rechten Hälfte zeigte. Bezeichnender-weise wurde auch festgestellt, dass an positiven Emotionen (Glück, Freude, Neu-gier, Begeisterung) die linke Hemisphäre des Neocortex stärker beteiligt ist, anden negativen Emotionen (Angst, Melancholie, Scheu) hingegen stärker die rech-te Hemisphäre.22 Auch die Dunedin-Studie, ein epidemiologischer Längsschnittvon der frühen Kindheit bis ins Alter von 26 Jahren, widmete sich der Frage,warum belastende Lebensereignisse von einigen Individuen besser verarbeitetwerden, andere Männer und Frauen hingegen in depressive Verstimmungen hin-untergezogen werden. Caspie und Mitarbeiter fanden bei jungen Erwachsenen,die Krisen wie Arbeitslosigkeit, Ende von Beziehungen, finanzielle Probleme bishin zu Obdachlosigkeit überstanden, ohne nennenswert depressiv zu werden,einen Polymorphismus des Serotonin-Transporter-Gens (5-HTT)23. Personen, indenen dieses Gen nur in einer kurzen Version vorhanden war, gerieten aufgrundkritischer Lebensereignisse - wie den eben erwähnten - viel häufiger in klinischmanifeste Depressionen, bis hin zu Suizidgefährdung. Auch über die genauenWirkweisen von Serotonin, das im (populärwissenschaftlichen) Volksmund alsGlückshormon gepriesen wird, ist noch immer zu wenig bekannt; dennoch ist dasgeschilderte Faktum ein eindrücklicher Beleg dafür, dass Resilienz auch von bio-logischen, speziell hormonellen Faktoren abhängt.

Männer und Frauen spüren, wenn sie in Stress geraten, dass sich der Puls-schlag beschleunigt und der Blutdruck steigt. Von Personen, bei denen dies leich-ter und zeitlich länger geschieht, nimmt der psychologische Hausverstand an,

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20 Holtmann/Stadler, Wider die künstliche Dichotomie, S. 9.21 Holtmann/Stadler, Wider die künstliche Dichotomie, S. 10.22 Vgl. Bucher, Anton (2009): Psychologie des Glücks. Ein Handbuch, bes. S. 57.23 Vgl. Caspi, Avshalom et al. (2003): Influence of life stress on depression: moderation by a poly-

morphism in the 5-HTT gene, S. 386-389.

dass ihre Hemmschwelle für aggressives und deviantes Verhalten - ein gängigerIndikator für weniger Resilienz - niedriger liegt. Doch wie die Metaanalyse zahl-reicher entsprechender Studien zeigt, ist das Gegenteil der Fall.24 Ein niedrigerRuhepuls ist einer der am besten replizierten neurophysiologischen Prädiktorenfür aggressives Verhalten. Raine und Mitarbeiter konnten in einer Längsschnittstu-die zeigen, dass bei solchen Jugendlichen, die mit 15 Jahren wegen ihrer Aggres-sivität ernsthafte Probleme hatten, aber mit 29 Jahren friedliche, unauffällige Bür-ger geworden waren, bereits während der Adoleszenz der Ruhepuls erhöht und diekardiovaskuläre Reaktivität flexibler war als bei denjenigen, die sich weiterhindeviant verhielten.25 Erwiesenermaßen ist das autonome Nervensystem, das dieHerzfrequenz regelt, stark genetisch determiniert.

Wiederholt bestätigt ist zudem, dass Kinder mit vererbter niedriger MAOA-Aktivität (Monoaminooxidase, ein für Neurotransmitter relevantes Enzym), wennsie Traumaopfer werden (z.B. Tod eines Elternteils, lange Trennung, Alkoho-lismus etc.), in der Adoleszenz doppelt so häufig deviant werden wie - ebenfallstraumatisierte - Kinder ohne diese genetische Variante.26 Auch wenn Holtmannund Stadler einräumen, die Relevanz von biologischen Faktoren für Resilienz seialles andere als ausreichend erforscht, steht außer Zweifel, dass solche in Rech-nung zu stellen sind. Dies umso mehr, als Resilienz auch von Temperamentseigen-schaften abhängt, die in einem beträchtlichen Ausmaß bei der genetischen Lotte-rie bei der Zeugung festgelegt werden. Der Resilienz wenig förderlich sindTemperamente mit einer ausgeprägten Neurotizismuskomponente. Hinzu kommt- was folgenschwerer ist -, dass Bindungspersonen bei einigen Temperamentsei-genschaften von Kindern eher so reagieren, dass dies ihrer Resilienz förderlich ist.Dies ist besonders der Fall, wenn die Babys nicht leicht irritierbar, sondern ruhigund pflegeleicht sind.27 Anders hingegen schwierige Babys, die oft schreien undleicht verunsichert sind - sie sind häufiger die Zielscheibe elterlicher Kritik, Reiz-barkeit und Feindseligkeit.28 Psychologischen Mechanismen, die der Resilienzförderlich sind, wenden wir uns im Folgenden zu.

Anton A. Bucher194

24 Vgl. Raine, Adrian (1996): Autonomic nervous system activity and violence, S. 145-168.25 Vgl. Raine, Adrian et al. (1995): High autonomic arousal and electrodermal orienting at age 15

years as protective factors against criminal behaviour at age 29 years, S. 1595-1600.26 Vgl. Frazzeto, Giovanne et al. (2007): Early trauma and increased risk for physical aggression

during adulthood: The moderating role of MAOA genotype, e486. 27 Vgl. Schwartz, Charles E. et al. (1996): Early childhood temperament as a determinant of exter-

nalizing behaviour in adolescence, S. 527-537.28 Rutter, Michael (1990): Psychosocial resilience and protective mechanism, S. 181-214.

3. Psychologische Faktoren, die Resilienz begünstigen

Als Erstes ist zu nennen und zu unterstreichen: »Emotional sichere Bindung aneine Bezugsperson«29. Spätestens seit den epochalen Forschungen von JohnBowlby ist bekannt, wie günstig eine sichere frühestkindliche Bindung für dieweitere Psychogenese ist.30 Kinder, wenn sicher gebunden, nehmen früher undhäufiger explorative Tätigkeiten auf und erkunden beispielsweise, was hinterdem Gebüsch auf dem Spielplatz sein könnte; sie geraten nicht in Stress - beglei-tet von Kortisolausschüttung -, wenn die Mama kurz die Szenerie verlässt, wiedies bei unsicher oder ambivalent gebundenen Kindern der Fall ist. Wie sehr eseine sichere Bindung Kindern erleichtert, Krisen zu bewältigen und sich eineTraumatisierung zu ersparen, ist vielfältig belegt, so bei Kindesmissbrauch31,Scheidung32 und nicht zuletzt multiplen Problembelastungen33. Kritisch wirdeine enge Beziehung erst dann, wenn sie zu emotionaler Abhängigkeit in einemLebensalter wird, in dem der/die Heranwachsende die Schritte in die Autonomie(selber) gehen muss.

Begünstigt wird Resilienz durch ein Erziehungsklima, das anregend, emotio-nal warm und gut strukturiert ist, auch und gerade mit Regeln, die in der emanzi-patorischen Pädagogik vielfach diskreditiert wurden. Besonders dann, wenn dasübrige soziale Umfeld durch ein hohes Ausmaß an (chaotischer) Anomie charak-terisiert ist, sind klare Verhaltensregeln, wie von ErzieherInnen eingeführt undauch argumentativ begründet, der Entwicklung (und Resilienz) besonders förder-lich.34 Auch wenn für das kleine Kind die Kernfamilie die Welt schlechthin ist,stellte die Resilienzforschung überzeugend heraus, wie wichtig auch die sozialeUnterstützung von außerhalb ist - die Kauai-Studie belegte dies ebenso ein-drücklich wie die Bielefeld-Erlangen-Studie. Großeltern, Lehrer, Personen inder Nachbarschaft etc. können zu Modellen werden, an denen zu ersehen ist, wie

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29 Lösel/Bender, Schutz- und Risikofaktoren der gesunden Entwicklung von Kindern, S. 58.30 Vgl. Bowlby, John (2004): Bindung als sichere Basis. Grundlagen und Anwendung der Bin-

dungstheorie.31 Vgl. Farber, Ellen/Egeland, Byron (1987): Invulnerability among abused and neglected children,

S. 253-288.32 Vgl. Neighbors, B. (1993): Resilient adolescents and interparental conflict, S. 462-471.33 Vgl. Wyman, Peter/Cowen, Emory/Work, William/Parker, Gayle (1992): Developmental and

family milieu correlates of resilience in urban children who have experienced major life stress,S. 405-426.

34 Vgl. Baldwin, James et al. (1990): Stress resistant families and stress resistant children, S. 257-280.

auch widrige Lebensumstände bewältigt und Krisen gelöst werden können. Indem bekannten Song »Großvater« der STS (Steinbäcker-Timischl-Schiffkowitz)erinnert sich der Sänger: »Und durch die Art, wie du dein Leben g´lebt hast, habi a Ahnung ´kriegt, wie man´s vielleicht schafft.« Wie wichtig Modelle, traditio-nell: Vorbilder sind, darauf verwies in den letzten Jahren eindrücklich dieGehirnforschung, speziell anhand der Spiegelneuronen35.Untersucht wurdenauch zahlreiche psychologische Korrelate von Resilienz. Nebst den bereitsbesprochenen Temperamentseigenschaften sind es insbesondere soziale Kompe-tenzen, die heranwachsenden Kindern Resilienz erleichtern. Kinder, wenn siemehr Empathie aufbringen können und zugleich in der Lage sind, sich emotio-nal auszudrücken, stecken traumatische Beeinträchtigungen leichter weg.36

Weniger konsistent sind die Ergebnisse bezüglich der Intelligenz. Mehr davongarantiert keineswegs mehr psychische Widerstandskraft und weniger Problem-verhalten, im Gegenteil: Masten et al. fanden, dass besonders intelligente Kin-der, wenn in widrige Lebensumstände verstrickt, häufiger zu internalisierendemProblemverhalten neigen (deprimierendes Grübeln etc.) 37 als weniger intelli-gente Kinder - möglicherweise deswegen, weil sie ihre soziale Umwelt differen-zierter wahrnehmen und infolgedessen auf Belastungen sensibler reagieren.Jedoch scheint es der Fall, dass Intelligenz im Falle von Traumatisierungen einSchutzfaktor im Hinblick auf externalisierendes Problemverhalten ist (Aggres-sivität, Vandalismus)38. Kinder und Jugendliche, die als resilient diagnostiziertwurden, zeigten mehr Selbstvertrauen, ein positiveres Selbstwertgefühl sowiestärkere Selbstwirksamkeitsüberzeugungen39 - gerade letztere sind hinsichtlichder psychischen Gesundheit und Widerstandskraft nicht hoch genug zu veran-schlagen, wie zumal die Forschungen von Bandura40 zeigten. Solche als ursäch-lich für Resilienz zu behaupten, ist jedoch problematisch, weil gerade die Erfah-

Anton A. Bucher196

35 Vgl. Bauer, Joachim (2007): Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneuronen.

36 Vgl. Luthar, Sunyia/Zigler, Edward (1991): Vulnerability and competence; A review on research on resilience in childhood, S. 6-22.

37 Vgl. Masten, Anne (1988): Competence and stress in school children: The moderating effects of individual and family qualities, S. 745-764.

38 Vgl. Radke-Yarrow, Marian/Brown, Earnestine (1993): Resilience and vulnerability in children of multiple-risk families, S. 581-592.

39 Vgl. Cowen, Emory/Parker, Gale/Wyman, Peter (1990): The Rochester Child Resilience Project: Overview and summary of first Year findings, S. 193-212.

40 Vgl. Bandura, Albert (1994): Self efficacy. The Exercise of Control.

rung, an widrigen Umständen nicht zu zerbrechen, nicht nur dem Selbstwertge-fühl enorm förderlich ist, sondern auch die Gewissheit stärkt, die Kontrolle nichtzu verlieren, und dass es letztlich gut ausgeht.

Ein weiteres, gut gesichertes Korrelat von Resilienz ist das Konstrukt Kohä-renzsinn (»sense of coherence«) von Antonovsky41. Dieser Sinn geht mit demgrundsätzlichen Vertrauen einher, dass

1.) die Anforderungen im Lebenslauf vorhersagbar und erklärbar sind, 2.) Ressourcen zur Verfügung stehen, um sie zu managen, bestenfalls zu be-

wältigen, und 3.) es lohnenswert ist, sich den Herausforderungen zu stellen.

Religiöse und spirituelle Einstellungen begünstigen Kohärenzsinn, und damitauch Resilienz.42 Ob Resilienz gelingt, hängt auch von den Kausalattribuierun-gen der widrigen Lebensumstände bzw. Traumas ab. Ungünstig ist, wenn sichPersonen primär als Opfer fühlen, sich oft selber als solche beklagen und bejam-mern, und sich so mitunter noch mehr in die Tiefe ziehen - die Psychologin desGrübelns, Susan Nolen-Hoeksema, präsentiert zahlreiche, nachdenklich stim-mende Fallbeispiele.43 Von daher ist Ursula Nuber Recht zu geben, wenn sie anden vielen populären Kind-in-uns-Therapien kritisiert, dass diese primär dasJammern darüber intensivieren, was uns als Kinder alles angetan worden ist, undzu wenig konstruktiv in die Zukunft blicken.

4. Pädagogische Implikationen

Solche lassen sich mühelos aus den bisher geschilderten psychologischen Resi-lienzfaktoren herleiten. Erziehung steht und fällt mit anthropologischen Vorausan-nahmen, insbesondere mit dem Bild des Kindes. Resilienzförderliche Erziehung44

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41 Vgl. Antonovsky, Aaron/Franke, Alexa (1997): Salutogenese: zur Entmystifizierung der Ge-sundheit.

42 Vgl. Anthony, E. James (1987): Risk, vulnerability, and resilience: An overview, S. 3-48.43 Vgl. Nolen-Hoeksema, Susan (2008): Wege aus der Frustfalle. Warum Frauen zu viel grübeln, zu

viel essen und zu viel trinken.44 Vgl. Jaede, Wolfgang (2008): Kinder für die Krise stärken. Selbstvertrauen und Resilienz

fördern; Opp, Günter/Fingerle, Michael (2008): Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz.

geht von der grundsätzlichen Annahme aus, dass das Kind ein aktives Wesen ist,dessen Hirn regelrecht begierig ist, neue Erfahrungen zu sammeln und stets zu ler-nen45. In metaphorischer Weise spricht auch die große Pädagogin Montessori vomKinde als dem »Baumeister seiner selbst«46, und Piaget attestierte dem Kinde, dieWirklichkeit je neu aufzubauen.

Ob Resilienz - wenn aufgrund von Schicksalsschlägen, widrigen Umständenerforderlich - gelingt, hängt entscheidend davon ab, ob ein Kind sicher gebundenist. Gemäß der jüngeren Psychologie des Kleinkindes kommt dieses nicht mitangeborenem Neid (etwa auf die Mutterbrust: so die KinderpsychoanalytikerinMelanie Klein47) zur Welt, sondern mit einem tief sitzenden Bedürfnis, gehaltenund getragen zu werden und sich zu binden.48 Nichts ist natürlicher als Säuglin-ge oft zu tragen - keine Schimpansenmutter käme auf die Idee, ihr Neugeborenesin einen Wagen zu legen und vor sich her zu schieben. Solche Erziehung kanninsofern als spirituell gewürdigt werden, als eine Kernkomponente von Spiritua-lität in der Verbundenheit bestimmt wurde49. Resilienzförderliche Erziehungwird sich bemühen, Kindern immer wieder die Erfahrung des Gelingens zuermöglichen. Hilfreich dafür ist das Konzept des flow-Kanals, wie ihn der ausUngarn gebürtige Glückspsychologe Csikszentmihalyi50 eingebracht hat. Dieserbesagt, dass Menschen dann die optimalsten Erfahrungen machen, wenn ihreFähigkeiten maximal beansprucht werden bzw. wenn - wie schon RousseauGlück definierte - ein Gleichgewicht zwischen Wollen und Können besteht. BeiKindern trifft dies zu, wenn sie auf der Schaukel so kräftig schwingen wie mög-lich, oder wenn ihr Turm aus Holzklötzen schon so hoch ist, dass sie die Zehen-spitzen strecken müssen, um noch einen Baustein platzieren zu können. Nach sol-chen Erfahrungen, die zu Recht an die Polarisation der Aufmerksamkeit nachMontessori erinnern, stellt sich, auch bei Kindern, ein tiefes Gefühl von Glückund Freude ein, was - so die Erweiterungs- und Aufbautheorie positiver Emotio-nen51 - der Bildung weiterer Ressourcen förderlich ist. Und wünschenswert istnicht zuletzt, wenn Kinder, wenn sie etwas geleistet haben, auch gelobt werden.

Anton A. Bucher198

45 Vgl. Spitzer, Manfred (2002): Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens.46 Montessori, Maria (51977): Die Entdeckung des Kindes.47 Vgl. Klein, Melanie (1987): Die Psychoanalyse des Kindes.48 Vgl. Dornes, Martin (1997): Die frühe Kindheit. Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre.49 Vgl. Bucher, Anton (2007): Wurzeln und Flügel. Wie spirituelle Erziehung für das Leben stärkt.50 Vgl. Csikszentmihalyi, Mihaly (1995): Dem Sinn des Lebens eine Zukunft geben. Eine Psycho-

logie für das 3. Jahrtausend.51 Vgl. Bucher, Psychologie des Glücks.

Dies ist keineswegs selbstverständlich; fast täglich gelobt werden allenfalls 13 Pro-zent52 der Kinder in der Bundesrepublik Deutschland. Bei Lob ist jeweils angemes-sen, allgemein zu formulieren: »Du machst das immer gut!« Singulär-episodischwäre zu formulieren, wenn an Kindern etwas zu tadeln ist: »Ich verstehe, dass duheute gestritten hast …«. Nur zu oft erfahren Kinder genau das Umgekehrte unddeshalb wirkt Erziehung daran mit, dass sich später Menschen in therapeutischePraxen begeben und dort klagen: »Ich mache immer alles falsch, ich kannnichts«, etc.

Viele Kinder verfügen über erstaunliche Resilienzkräfte, trotz der vielenDemütigungen, die ihnen immer wieder angetan werden. Piaget schrieb gegenEnde seiner Studie »Das moralische Urteil beim Kinde«: »Das Kind stellt dasVerzeihen über die Rache, weil es mit der Rache nicht fertig würde.«53

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München: Reinhart.

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52 Vgl. Bucher, Anton (2009): Was Kinder glücklich macht? Eine glückspsychologische Studie des ZDF, S. 94-195, hier S. 140.

53 Piaget, Jean (1954): Das moralische Urteil beim Kinde, S. 367.

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Anton A. Bucher202

Autorenverzeichnis

Christian Alt ist stellvertretender Leiter der Abteilung Zentrum für Dauerbeoach-tung und Methoden am Deutschen Jugendinstitut in München. Dort beschäftigt er sich mit Prozessen des Aufwachsens von Kindern und den Folgen von Depri-vationen vor dem Hintergrund sich verändernder Lebenswelten.

Bernhard Babic ist Research Advisor und Leiter des Forschungsprojekts »Appro-aching Capabilities with Children in Care«, SOS-Kinderdorf International Innsbruck.

Reinhold Bauer ist Geschäftsführer und Pädagogischer Leiter von SOS-Kinder-dorf e.V. in München.

Anton A. Bucher ist Universitätsprofessor für Religionspädagogik (Fachbereichs-leiter Praktische Theologie) und Lehrbeauftragter an den Fachbereichen Erziehungswissenschaften und Psychologie der Universität Salzburg. Arbeitsschwer-punkte: Empirische Untersuchungen zur religiösen Entwicklung von Kindern und zum Religionsunterricht; Evaluation der Ethikschulversuche in Österreich; Glücksforschung; Psychologie der Spiritualität; Spirituelle Erziehung.

Gunter Graf ist Research Fellow am Internationalen Forschungszentrum Salzburg.

Andreas Lange ist Grundsatzreferent für Familienwissenschaften in der Abtei-lung Familie und Familienpolitik am Deutschen Jugendinstitut in München. Dort beschäftigt er sich mit Prozessen der Entgrenzung von Arbeit sowie der Mediatisierung der Lebenswelten im Hinblick auf familiale Lebensführung.

Ortrud Leßmann ist freie Wissenschaftlerin und Lehrbeauftragte an der Hoch-schule für Angewandte Wissenschaften Hamburg sowie an der Hamburg School of Business Administration.

Jean-Luc Patry ist Universitätsprofessor für Pädagogik an der Universität Salzburg. Arbeitsbereiche: soziale Interaktion in der Erziehung (v.a. Situationsspezi-fität), Moral- und Werterziehung (mit diversen Projekten, u.a. vom Jubiläums-fonds der Nationalbank und vom FWF); Fragen der Forschungsmethoden.

C. Sedmak et al., Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten, DOI 10.1007/978-3-531-92749-7,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

Autorenverzeichnis204

Christian Posch ist Internationaler Direktor »Programme Development« von SOS-Kinderdorf International mit Sitz in Innsbruck.

Bernhard Schwaiger ist Assistenzprofessor am Fachbereich Philosophie der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Universität Salzburg.

Clemens Sedmak ist Leiter des Zentrums für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg sowie Präsident des ifz-salzburg - internationales forschungszentrum für soziale und ethische fragen.

Stephan Sting ist Professor für Sozial- und Integrationspädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Arbeit und Gesundheit, Suchtprä-vention, Sozialpädagogische Bildungsforschung, Sozialpädagogik im Kindes- und Jugendalter.

Holger Ziegler ist Professor an der Abteilung für Sozialarbeit und Sozialpädagogikan der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: der Wandel in der Jugend-hilfe sowie die Wechselwirkung zwischen einer »Erziehung zur Armut« und der Entstehung einer »neuen Unterschicht« in der Gesellschaft.