DER DEPERSPEKTIVIERTE RAUM DDB 05 2008

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34 u SCHWERPUNKT Die Deutsche Bühne 5 I 2008 35 SCHWERPUNKT t Die Deutsche Bühne 5 I 2008 stehen, die man so noch nicht gesehen (oder gehört) hat. Das Finden neuer Formen bedeutet Recherche und All- tagsbeobachtung, „Realitätsstudien“ einerseits und deren Verlinkung zu in- haltlichen Ankerpunkten andererseits. In der Herkunft der Bezeichnung Ba- rock als „unregelmäßige Perle“ 11 sehe ich mein Raumverständnis gut aufge- hoben. Idealerweise haben meine The- aterräume eine geschlossene, logische Form und darüber hinaus etwas Unerklärliches, Rätsel- und Ma- kelhaftes. 1 z. B. die barocke Kirche „San Carlo alle Quattro Fontane“ von Francesco Borromini oder das Gemälde „Die Botschafter“ von Hans Holbein dem Jüngeren 2 Walt Whitman 3 Claus Spahn in Die Zeit: „Genieße das Dunkel!“ 4 Peter Kümmel in Die Zeit: „Die Entfesselungs- künstler“ 5 Stephan Berg über Gregory Crewdson 6 Peter Kümmel in Die Zeit: „Die Entfesselungs- künstler“ 7 Peter Kümmel in Die Zeit: „Die Entfesselungs- künstler“ 8 Aktuelle Werbung für einen Flachbildschirm 9 „fremd“, UA von Hans Thomalla, Forum Neues Musiktheater der Staatsoper Stuttgart, März 2006 10 „Last Desire“, Forum Neues Musiktheater der Staatsoper Stuttgart, Dezember 2004, sowie „Der Fall des Hauses Usher“, Neuköllner Oper Berlin, April 2005. 11 Portugiesisch „barocco“: schief, unregelmäs- sig geformt ( von der Perle); aus: Deutsches Fremdwörterbuch. I n seinem kürzlich erschienenen Buch „Hitze“ über seine Erlebnisse als Koch erzählt der Autor Bill Bu- ford am Beginn eines Kapitels von der Genese der Polenta. Er kommt zu dem Schluss, dass erst um 1600 der Mais als Lebensmittel in Italien eingeführt wur- de und dieser die Gerste als bisherigen Hauptbestandteil der Polenta ersetzte. Aus einem Gericht wurde plötzlich ein anderes. Es gibt nicht vorherzusehen- de Umstände (zur selben Zeit, eben- falls in Italien, entsteht die Oper), unter denen aus etwas Atbekanntem etwas Gleiches und doch völlig Neues, etwas anderes werden kann. Die Digitalität ist der Mais in meiner Polenta, sie hat eine entscheidende Veränderung mei- nes räumlichen Denkens mit sich ge- bracht. Durch die Präsenz digital verän- derter Bilder etwa in der Werbung oder in der Kunst gräbt sich unterbewusst die digitale Sehweise ins allgemeine Sehverständnis ein. Diese digitale Sehweise habe ich bei einem Projekt, auf das ich später zu sprechen komme, auf die architektoni- sche Struktur des Raumes übertragen. Ich verzerre ihn, als würde er implo- dieren. Schon in der barocken Malerei und Architektur waren Verzerrung und Aufblähung Stilmittel 1 , aber erst die Digitalität hat mir diese Verbindung klargemacht. Ich weiß nicht, ob dem Musiktheater ein Wandel von Gerste zu Mais bevorsteht. Ich werde im Fol- genden versuchen, meine derzeitigen Eindrücke und, anhand des erwähnten Projektes, meine persönliche Erfahrung zu beschreiben. The window is new and the plumbing is strange / beside of all that nothing has changed. 2 Es war eine zeitlang in der Oper ziem- lich en vogue, sich der scheinbar fest- gefahrenen Stückrezeption wenn nicht auf der narrativen, so auf der visuellen Ebene zu entziehen und die Handlung schlicht zu verlegen. Man fand Mozart in der Bronx, Gounod im Altenheim und Händel im Hotel. Die gelungeneren Verlegungen sind das Ergebnis der Su- che nach einer Zeitgenossenschaft der Stücke vergangener Jahrhunderte, die weniger gelungenen verleihen einen neuen Anstrich, die Erzählweise bleibt jedoch gleich. Eine andere Tendenz der letzten Zeit sind radikal entkernte Räu- me. „Warum stecken Opernregisseure ihre Helden in Kerker?“ 3 Diese Raumfin- dungen werden „wie ein letztes Hemd, das die Insassen desselben umkleidet“ 4 , beschrieben, als „Inbild des Nichtmehr- weiterkönnens“ 5 . Die entleerten, glatten Bühnenräume entpuppen sich in ihrer Seelenlosigkeit als riesige Rückkopp- lungsapparate, die den Menschen in sei- ner Unperfektheit zeigen können („List? Wie lächerlich! Flucht? Wie sinnlos!“ 6 ), aber auch dieser Zugriff verkommt zur Attitüde, je öfter man ihn sieht. Ob Repertoirestück oder Uraufführung, das Bezwingende des Abends kann nur die jeweils eigene Sichtweise sein. Büh- nenbild als pars pro toto eröffnet die Möglichkeit, eine Geschichte, einen Text, eine Musik anders wahrzunehmen. Wie die Musik den Zuhörer, ergreift das Bild den Zuschauer direkt. Erst der Verstand ordnet das Gesehene und Gehörte. Ich sehe es somit nicht nur als Freiheit, sondern auch als Aufgabe, als Bühnen- bildner diesen direkten Zugriff zu nut- zen und den Zuschauer partizipieren zu lassen, indem ich dem Gesamterlebnis Theater den gestalteten Raum als zu- sätzliche Dimension hinzufüge. Die Ziel- formulierung des Theaters ist eine Uto- pie; ein Un-Ort, ein Noch-nicht-Ort, und das gemeinsame Erleben des Theater- Sebastian Hannak, Autor dieses Beitrages, ist frei- schaffender Bühnen- und Kostümbildner. Geboren 1976, studierte er Bühnen- und Kostümbild an der Kunstakademie Stuttgart bei Jürgen Rose und Mar- tin Zehetgruber. Währenddessen Arbeitsaufentalt bei David Hockney in Los Angeles. Zusammenarbeit un- ter anderem mit den Regisseuren Joachim Schloemer, Michael von zur Mühlen, Simon Solberg. Arbeiten von ihm wurden mehrfach ausgestellt, zuletzt auf der Pra- ger Quadriennale 2007 im deutschen Pavillon. Er war Stipendiat des Forums Neues Musiktheater 2004/06 und der Akademie Musiktheater Heute 2005-07. Das Tanzstück „Louder! Can you hear me“ von Eun-Me Ahn in Hannaks Ausstattung hat arte im Format Tanzfilm produziert. In diesem Jahr gestaltet Sebasti- an Hannak die Titelbilder der Deutschen Bühne. abends im Hier und Jetzt ermöglicht es, dass sich dieser U-Topos materiali- siert, am Zuschauer kondensiert und an ihm als Erkenntnis abperlt. Das vom jeweiligen künstlerischen Team gestal- tete Erlebnis Theater kann Ausblick auf eine Welt geben, die über die bisher erlebte und erfahrene hinausgeht und doch von dieser Welt aus lesbar ist. In dem oben zitierten Artikel von Peter Kümmel ist auch die Rede von der Hirn- forschung, die vor kurzem eine neue Art von Zellen entdeckt hat, die „Spie- gelnervenzellen“. Sie ermöglichen uns die Einfühlung in andere Menschen. „Wo kann man diese Zellen besser sti- mulieren als im Theater?“ 7 Erleben, was andere nur sehen können 8 Das Erlebnis Theater erfordert teilneh- mende Wahrnehmung. Für den The- aterraum bedeutet dies, dass er mehr als formgebendes Element sein kann. Er kann gefühlskonstituierend sein. Ich möchte hier das Beispiel meiner ei- genen Arbeit anführen. Bei der Arbeit an „fremd“ 9 , einer Uraufführung am Forum Neues Musiktheater der Staats- oper Stuttgart, die auf „Medea“ von Grillparzer basiert, kam ich über die in- haltliche Auseinandersetzung auf ein Neu–Denken von Räumen mittels der Computerterminologie. Von Medea gehen Kräfte aus – warum nicht den Raum verzerren? Der verzerrte Raum von „fremd“ vermittelt ein leicht deko- dierbares Bild, das man aus der Zweidi- mensionalität kennt. Die Situierung des Raumes im (The- ater-)Raum, einer 400 qm großen, leeren black box, ermöglichte es, den Gesamtraum differenzierter zu be- setzen als im Guckkastentheater. Der von mir entworfene Gesamtraum für den Abend ging von der Schaffung von Polaritäten aus. Das verzerrte klassi- zistische Zimmer war in die äußerste hintere Ecke platziert, das Publikum saß auf einer Zuschauerpodesterie wie auf einer Insel. Der umgebende Raum und die Zuschauerpodesterie verhiel- ten sich dazu wie zu einem verscho- benen Zentrum. Da es kein Portal gab, sah man beim Betreten des Raumes die beschriebene Situation zuerst von der Seite, beim Einnehmen der Plätze rückte sich die Perspektive zurecht. Der Verzicht auf die Zentralperspektive des Guckkastentheaters schaffte einen theatralen Raum aus allen Perspek- tiven. Ich habe in dieser und anderen Arbeiten 10 versucht, den Zuschauer zu- sammen mit den Darstellern und den Musikern durch diesen Gesamtraum in das Geschehen zu integrieren. Die- ses Partizipieren machte die Zustände der Figuren anders les- und erlebbar, indem der Raum den Zuschauer mit der geschaffenen Raumsituation kon- frontiert, ihn zum Voyer macht. In die- sen Raumentwürfen sehe ich einen Ausgangspunkt für weitere Arbeiten. Neue Formen entstehen nur selten so zufällig wie die heutige Polenta. Im Er- kennen der Zeitgenossenschaft von al- ten Formen können neue Formen ent- Musiktheater ist ein Gesamtkunstwerk, bei dem die Änderung eines Parameters die aller anderen nach sich zieht. So wie die Regisseure Theaterformen jenseits geschlossener Werke suchen, suchen Bühnenbildner Räume jenseits von Realismus und Zentralperspektive. Sebastian Hannak formuliert hier seine Utopie eines „logischen Raumes“ mit einem Rest von Unerklärlichkeit. SEBASTIAN HANNAK Der deperspektivierte Raum 1 I Der virtuelle Raum der Kunst: Sebastian Hannaks Büh- nenbild zur Ur- aufführung von Hans Thomallas „fremd“, die 2006 in der Regie von Hans-Werner Kroesinger am Forum Neues Musiktheater der Staats- oper Stuttgart herauskam. 1 I Foto: Sebastian Hannak

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Der Bühnenbildner Sebastian Hannak beschreibt seine Arbeit als Bühnenbildner in der Fachzeitschrift Die Deutsche Bühne

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34 u SCHWERPUNKT

Die Deutsche Bühne 5 I 2008

35SCHWERPUNKT t

Die Deutsche Bühne 5 I 2008

stehen, die man so noch nicht gesehen (oder gehört) hat. Das Finden neuer Formen bedeutet Recherche und All-tagsbeobachtung, „Realitätsstudien“ einerseits und deren Verlinkung zu in-haltlichen Ankerpunkten andererseits.

In der Herkunft der Bezeichnung Ba-rock als „unregelmäßige Perle“11 sehe ich mein Raumverständnis gut aufge-hoben. Idealerweise haben meine The-aterräume eine geschlossene, logische Form und darüber hinaus etwas Unerklärliches, Rätsel- und Ma-kelhaftes. 1 z. B. die barocke Kirche „San Carlo alle Quattro

Fontane“ von Francesco Borromini oder das Gemälde „Die Botschafter“ von Hans Holbein dem Jüngeren

2 Walt Whitman 3 Claus Spahn in Die Zeit: „Genieße das Dunkel!“ 4 Peter Kümmel in Die Zeit: „Die Entfesselungs-

künstler“ 5 Stephan Berg über Gregory Crewdson 6 Peter Kümmel in Die Zeit: „Die Entfesselungs-

künstler“ 7 Peter Kümmel in Die Zeit: „Die Entfesselungs-

künstler“ 8 Aktuelle Werbung für einen Flachbildschirm 9 „fremd“, UA von Hans Thomalla, Forum Neues

Musiktheater der Staatsoper Stuttgart, März 2006

10 „Last Desire“, Forum Neues Musiktheater der Staatsoper Stuttgart, Dezember 2004, sowie „Der Fall des Hauses Usher“, Neuköllner Oper Berlin, April 2005.

11 Portugiesisch „barocco“: schief, unregelmäs-sig geformt ( von der Perle); aus: Deutsches Fremdwörterbuch.

In seinem kürzlich erschienenen Buch „Hitze“ über seine Erlebnisse als Koch erzählt der Autor Bill Bu-

ford am Beginn eines Kapitels von der Genese der Polenta. Er kommt zu dem Schluss, dass erst um 1600 der Mais als Lebensmittel in Italien eingeführt wur-de und dieser die Gerste als bisherigen Hauptbestandteil der Polenta ersetzte. Aus einem Gericht wurde plötzlich ein anderes. Es gibt nicht vorherzusehen-de Umstände (zur selben Zeit, eben-falls in Italien, entsteht die Oper), unter denen aus etwas Atbekanntem etwas Gleiches und doch völlig Neues, etwas anderes werden kann. Die Digitalität ist der Mais in meiner Polenta, sie hat eine entscheidende Veränderung mei-nes räumlichen Denkens mit sich ge-bracht. Durch die Präsenz digital verän-derter Bilder etwa in der Werbung oder in der Kunst gräbt sich unterbewusst die digitale Sehweise ins allgemeine Sehverständnis ein.

Diese digitale Sehweise habe ich bei einem Projekt, auf das ich später zu sprechen komme, auf die architektoni-sche Struktur des Raumes übertragen. Ich verzerre ihn, als würde er implo-dieren. Schon in der barocken Malerei und Architektur waren Verzerrung und Aufblähung Stilmittel1, aber erst die Digitalität hat mir diese Verbindung klargemacht. Ich weiß nicht, ob dem Musiktheater ein Wandel von Gerste zu Mais bevorsteht. Ich werde im Fol-genden versuchen, meine derzeitigen

Eindrücke und, anhand des erwähnten Projektes, meine persönliche Erfahrung zu beschreiben.

The window is new and the plumbing is strange / beside of all that nothing has changed.2

Es war eine zeitlang in der Oper ziem-lich en vogue, sich der scheinbar fest-gefahrenen Stückrezeption wenn nicht auf der narrativen, so auf der visuellen Ebene zu entziehen und die Handlung schlicht zu verlegen. Man fand Mozart in der Bronx, Gounod im Altenheim und Händel im Hotel. Die gelungeneren Verlegungen sind das Ergebnis der Su-che nach einer Zeitgenossenschaft der Stücke vergangener Jahrhunderte, die weniger gelungenen verleihen einen neuen Anstrich, die Erzählweise bleibt jedoch gleich. Eine andere Tendenz der letzten Zeit sind radikal entkernte Räu-me. „Warum stecken Opernregisseure ihre Helden in Kerker?“3 Diese Raumfin-dungen werden „wie ein letztes Hemd, das die Insassen desselben umkleidet“4,

beschrieben, als „Inbild des Nichtmehr-weiterkönnens“5. Die entleerten, glatten Bühnenräume entpuppen sich in ihrer Seelenlosigkeit als riesige Rückkopp-lungsapparate, die den Menschen in sei-ner Unperfektheit zeigen können („List? Wie lächerlich! Flucht? Wie sinnlos!“6), aber auch dieser Zugriff verkommt zur Attitüde, je öfter man ihn sieht.

Ob Repertoirestück oder Uraufführung, das Bezwingende des Abends kann nur die jeweils eigene Sichtweise sein. Büh-nenbild als pars pro toto eröffnet die Möglichkeit, eine Geschichte, einen Text, eine Musik anders wahrzunehmen. Wie die Musik den Zuhörer, ergreift das Bild den Zuschauer direkt. Erst der Verstand ordnet das Gesehene und Gehörte. Ich sehe es somit nicht nur als Freiheit, sondern auch als Aufgabe, als Bühnen-bildner diesen direkten Zugriff zu nut-zen und den Zuschauer partizipieren zu lassen, indem ich dem Gesamterlebnis Theater den gestalteten Raum als zu-sätzliche Dimension hinzufüge. Die Ziel-formulierung des Theaters ist eine Uto-pie; ein Un-Ort, ein Noch-nicht-Ort, und das gemeinsame Erleben des Theater-

Sebastian Hannak, Autor dieses Beitrages, ist frei-schaffender Bühnen- und Kostümbildner. Geboren 1976, studierte er Bühnen- und Kostümbild an der Kunstakademie Stuttgart bei Jürgen Rose und Mar-tin Zehetgruber. Währenddessen Arbeitsaufentalt bei David Hockney in Los Angeles. Zusammenarbeit un-ter anderem mit den Regisseuren Joachim Schloemer, Michael von zur Mühlen, Simon Solberg. Arbeiten von ihm wurden mehrfach ausgestellt, zuletzt auf der Pra-ger Quadriennale 2007 im deutschen Pavillon. Er war Stipendiat des Forums Neues Musiktheater 2004/06 und der Akademie Musiktheater Heute 2005-07. Das Tanzstück „Louder! Can you hear me“ von Eun-Me Ahn in Hannaks Ausstattung hat arte im Format Tanzfilm produziert. In diesem Jahr gestaltet Sebasti-an Hannak die Titelbilder der Deutschen Bühne.

abends im Hier und Jetzt ermöglicht es, dass sich dieser U-Topos materiali-siert, am Zuschauer kondensiert und an ihm als Erkenntnis abperlt. Das vom jeweiligen künstlerischen Team gestal-tete Erlebnis Theater kann Ausblick auf eine Welt geben, die über die bisher erlebte und erfahrene hinausgeht und doch von dieser Welt aus lesbar ist.

In dem oben zitierten Artikel von Peter Kümmel ist auch die Rede von der Hirn-forschung, die vor kurzem eine neue Art von Zellen entdeckt hat, die „Spie-gelnervenzellen“. Sie ermöglichen uns die Einfühlung in andere Menschen. „Wo kann man diese Zellen besser sti-mulieren als im Theater?“7

Erleben, was andere nur sehen können8

Das Erlebnis Theater erfordert teilneh-mende Wahrnehmung. Für den The-aterraum bedeutet dies, dass er mehr als formgebendes Element sein kann. Er kann gefühlskonstituierend sein. Ich möchte hier das Beispiel meiner ei-

genen Arbeit anführen. Bei der Arbeit an „fremd“9, einer Uraufführung am Forum Neues Musiktheater der Staats-oper Stuttgart, die auf „Medea“ von Grillparzer basiert, kam ich über die in-haltliche Auseinandersetzung auf ein Neu–Denken von Räumen mittels der Computerterminologie. Von Medea gehen Kräfte aus – warum nicht den Raum verzerren? Der verzerrte Raum von „fremd“ vermittelt ein leicht deko-dierbares Bild, das man aus der Zweidi-mensionalität kennt.

Die Situierung des Raumes im (The-ater-)Raum, einer 400 qm großen, leeren black box, ermöglichte es, den Gesamtraum differenzierter zu be-setzen als im Guckkastentheater. Der von mir entworfene Gesamtraum für den Abend ging von der Schaffung von Polaritäten aus. Das verzerrte klassi-zistische Zimmer war in die äußerste hintere Ecke platziert, das Publikum saß auf einer Zuschauerpodesterie wie auf einer Insel. Der umgebende Raum und die Zuschauerpodesterie verhiel-ten sich dazu wie zu einem verscho-benen Zentrum. Da es kein Portal gab, sah man beim Betreten des Raumes die beschriebene Situation zuerst von der Seite, beim Einnehmen der Plätze rückte sich die Perspektive zurecht. Der Verzicht auf die Zentralperspektive des Guckkastentheaters schaffte einen theatralen Raum aus allen Perspek-tiven. Ich habe in dieser und anderen Arbeiten10 versucht, den Zuschauer zu-sammen mit den Darstellern und den Musikern durch diesen Gesamtraum in das Geschehen zu integrieren. Die-ses Partizipieren machte die Zustände der Figuren anders les- und erlebbar, indem der Raum den Zuschauer mit der geschaffenen Raumsituation kon-frontiert, ihn zum Voyer macht. In die-sen Raumentwürfen sehe ich einen Ausgangspunkt für weitere Arbeiten.

Neue Formen entstehen nur selten so zufällig wie die heutige Polenta. Im Er-kennen der Zeitgenossenschaft von al-ten Formen können neue Formen ent-

Musiktheater ist ein Gesamtkunstwerk, bei dem die Änderung eines Parameters

die aller anderen nach sich zieht. So wie die Regisseure Theaterformen

jenseits geschlossener Werke suchen, suchen Bühnenbildner Räume jenseits von Realismus und Zentralperspektive.

Sebastian Hannak formuliert hier seine Utopie eines „logischen Raumes“ mit

einem Rest von Unerklärlichkeit.

SEBASTIAN HANNAK

Der deperspektivierte Raum

1 I Der virtuelle Raum der Kunst:

Sebastian Hannaks Büh-

nenbild zur Ur- aufführung von Hans Thomallas

„fremd“, die 2006 in der Regie von

Hans-Werner Kroesinger am

Forum Neues Musiktheater

der Staats- oper Stuttgart

herauskam.

1 I Foto

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