Der Diskurs um die Cultural Turns

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WORKING PAPER „2.2.1 BACHMANN-MEDICK1/19 Working Paper Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Studiengang Cultural Engineering Serjoscha Gerhard serjoscha.gerhard [at] ovgu.de Stand 4. Mai 2011 Der Abschnitt aus einem größeren Forschungsprojekt analysiert am Beispiel von Doris Bachmann-Medicks Cultural Turns die aktuelle Diskussion um den Status der Kulturwissenschaften als (inter-) disziplinäre Wissenschaft.

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Der Abschnitt aus einem größeren Forschungsprojekt analysiert am Beispiel von Doris Bachmann-Medicks Cultural Turns die aktuelle Diskussion um den Status der Kulturwissenschaften als (inter-) disziplinäre Wissenschaft.

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Working Paper

Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

Studiengang Cultural Engineering

Serjoscha Gerhard

serjoscha.gerhard [at] ovgu.de

Stand 4. Mai 2011

Der Abschnitt aus einem größeren Forschungsprojekt analysiert am

Beispiel von Doris Bachmann-Medicks Cultural Turns die aktuelle

Diskussion um den Status der Kulturwissenschaften als (inter-)

disziplinäre Wissenschaft.

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1 Bachmann-Medick: Kulturwissenschaftliche

Wenden

Das Buch Cultural Turns von Doris Bachmann-Medick1 eignet sich

hervorragend, um neuere Streitpunkte in und zwischen den

Kulturwissenschaften aufzuzeigen. Zum einen ist es weit rezipiert

worden, was sich an vier Auflagen innerhalb von fünf Jahren zeigt

(12006, 22006, 32009, 42010) und einer ausstehenden polnischen

Übersetzung. Zum anderen ist es ebenso umfassend rezensiert worden.

Doris Bachmann-Medick versammelt allein zwölf entsprechende

Beiträge auf ihrer Internetseite. Ihr Buch liegt zwischen

kulturwissenschaftlicher Einführung und eigenem Forschungsbeitrag,

wobei der Einführung eine spezielle Perspektive zwischen

Literaturwissenschaft und angloamerikanischer Kulturanthropologie

vorgeworfen und ihre Eigenleistung der Kartographisierung der

Kulturwissenschaften in turns immer wieder Ziel epistemologischer

Kritik wurde. Gleichzeitig wird ihre Leistung dabei fast durchgehend

gewürdigt. Eine Ausnahme bildet hier vor allem Hartmut Böhme,2 der

massiv Kritik übt und damit vor allem sein eigenes Projekt einer

singulären Kulturwissenschaft verteidigt,3 welches von Doris

Bachmann-Medick explizit abgelehnt wird.4

Meine Analyse konzentriert sich auf die dritte und überarbeitete

Auflage. Die Überarbeitung bezieht sich vor allem auf das Nachwort,

welches Stellung zu den vom Buch angeregten Debatten und zu den 1 Cultural turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 3rd Aufl. (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2009). 2 „Vom  »turn«  zum  »vertigo«: Wohin drehen sich die Kulturwissenschaften? Rezension zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2006“, JLTonline (Mai 19, 2008), http://www.jltonline.de/index.php/reviews/article/view/26/178. 3 Hartmut Böhme, Peter Matussek, und Lothar Müller, Orientierung Kulturwissenschaft: Was sie kann, was sie will, 3rd Aufl. (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2007).

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Rezensionen nimmt. So kann die Verschränkung mit den Rezensionen

und Debatten dargestellt werden. Dabei ist hervorzuheben, dass sich

die Rezensionen auf die erste Auflage ohne diese Ergänzung beziehen.

Im Folgenden gehe ich auf unterschiedliche Aspekte der Diskussion

ein, nachdem ich zuerst in die Inhalte und Positionen von Doris

Bachmann-Medicks Studie in aller Kürze eingeführt habe.

1.1 Eine kurze Vorstellung des Buches

Den Hauptteil der Studie bildet ein Handbuchteil sieben turns in den

Kulturwissenschaften. Ausgangspunkt und Metaturn bildet der von

Richard Rorty 1967 geprägte linguistic turn, auf den der sich

diversifizierende cultural turn aufbaut. Die sich vervielfältigenden

Arbeitsgebiete als eigene Analysekategorie stellt Doris Bachmann-

Medick darin ausführlicher vor. Als Abwendung von der Priorität der

Sprache im Umgang mit der Welt im linguistic turn und Verschiebung

hin zu Raum, Körper, Inszenierung und Handlung, etc. folgen

nacheinander sieben turns: interpretive turn, performative turn,

reflexive turn, postcolonial turn, translational turn, spatial turn und

iconic turn. Eine gute Zusammenfassung der Ausführungen von Doris

Bachmann-Medick zu den einzelnen turns findet sich in der

Rezension von Vera Elisabeth Gerling,5 auf eine inhaltliche

Darstellung der einzelnen turns kann an dieser Stelle demnach

verzichtet werden, zumal sie als Schlagworte hinreichend bekannt sein

dürften. [Verweis auf Tab. Zur Übersicht der turns von DBM]

Den Handbuch- und Einführungscharakter erhält die Studie vor allem

durch den gleichartigen Aufbau der sieben Kapitel zu den einzelnen

4 Cultural turns, 11f. 5 Vera Elisabeth Gerling, „Rezension zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2006“, Philologie im Netz, Nr. 41 (2007): 63-67.

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turns: Abstract zum Begriff, Entstehungskontext, spezifische

Problemstellungen, methodische Ansätze, Ausformung in einzelnen

Disziplinen, Kritikpunkte und Literaturliste.6 Diese von Doris

Bachmann-Medick geleistete Arbeitsebene der Zusammenstellung

wird insofern nicht angezweifelt, als sie wichtige Vertreter und

Theorien der einzelnen turns zusammenträgt.

Die Rezensenten folgern, die Lücken innerhalb der turns seien

problematisch.7 Dies gelte auch hinsichtlich dessen, was in der

Auswahl der sieben turns nicht berücksichtigt werde. Die Lücken

werden von den verschiedenen Rezensenten unterschiedlich betont,

tauchen aber übergreifend auf und werden jeweils von den eigenen

Beobachtungsstandpunkten formuliert. Die blinden Flecken der

Ausarbeitung von Doris Bachmann-Medick erscheinen dann je

nachdem auf dem Gebiet der historischen Kulturwissenschaften, der

Cultural Studies, der Sozialwissenschaften, der Sozialanthropologie,

französischer Kulturwissenschaft usw. zu liegen. Dabei wird zugleich

meist ein anderes an zuviel der Perspektive formuliert, zumeist eine

Kritik an der Bevorzugung von Kulturanthropologie und

Literaturwissenschaft als Leitwissenschaften der

Kulturwissenschaften. Andere Gebiete der Kulturwissenschaft hätten

sich in andere Richtungen gewendet.8

Insgesamt werden solche unterschiedlichen Ansprüche an die Studie

und die darin formulierten nicht-linearen Genealogien dadurch

erleichtert, dass die Frage, was vor den turns war, ungeklärt bleibt.

6 vgl. Christoph Conrad u. a., „Diskussion zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2007“, L’Homme Z.F.G. 18, Nr. 2 (2007): 128. 7 Anja Gerigk, „Just follow the Turns - kulturwissenschaftliche Wenden: Rezension zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2006“, KulturPoetik 7, Nr. 2 (2007): 273. 8 Conrad u. a., „Diskussion zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2007“, 125.

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Dies gilt dann auch für die Differenz, welche die turns ausmachen:9

Was war vorher, wer ist dabei, wer nicht, usw.?

Nichtsdestotrotz wird die Studie in den Rezensionen fast durchweg

aufgrund ihres Wertes als Einführung gewürdigt. Es wird bereits eine

Ablösung von Hartmut Böhme et al.10 als Standardbuch zur

Kulturwissenschaft diskutiert.11 Beide Bände sind bei Rowohlt

erschienen und heben sich bereits durch ihren für Einführungen nicht

irrelevanten günstigen Preis von den Konkurrenzveröffentlichungen

ab. Die Formulierungen der Würdigungen in den Rezensionen stellen

hohe Erwartungen, der Band sei »auf höchstem Niveau«12, er vereine

Inhalt »zwischen moderner Wissenschaftsgeschichte, systematischer

Theorieforschung und vorausweisender Perspektivierung«13 oder er

sei »sowohl informatives Hand- und Lehrbuch als auch innovativer

Forschungs- und Diskussionsbeitrag. Es koppelt Konsensualität mit

Momenten produktiver Irritation.«14 Solche Würdigungen sind aber

teilweise absurd, weil zumindest die Rezensionen von Gießener

Wissenschaftlerinnen auf jegliche Kritik verzichten und einen

ausschließlich euphorischen Tonfall anschlagen.15 Ein solcher

9 Ebd, 130. 10 Böhme, Matussek, und Müller, Orientierung Kulturwissenschaft: Was sie kann, was sie will. 11 Wolfgang Thomas Göderle, „Rezension zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2006“, in Moderne: Kulturwissenschaftliches Jahrbuch, hg v. Helga Mitterbauer und Katharina Scherke, Bd. 3 (Innsbruck u.a.: Studienverlag, 2007), 238. 12 Ebd, 240. 13 Jan Standke, „Rezension zu Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg, 2006“, H-Soz-u-Kult, Nr. 4/12/2008 (2008), http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-4-200. 14 Ebd. 15 vgl. Anett Löscher, „Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 3., neu bearb. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2009. (Rezension)“, Kult_online, Nr. 18 (2009), http://cultdoc.uni-giessen.de/wps/pgn/kd/det/KULT_online/1/1055/bachmann-medick-doris-cultural-turns-neuorientierungen-in-den-kulturwissenschaften-3-neu-bearb-aufl-reinbek-bei-hamburg-rowohlt-2009/; Birgit Neumann, „Rezension zu

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Verzicht auf Kritik kann darüber erklärt werden, dass Doris

Bachmann-Medick aktiv in das Gießener Forschungs- und

Graduiertenkolleg eingebunden ist und den ebenfalls dort arbeitenden

Nachwuchsforscherinnen eine gewisse Abhängigkeit unterstellt

werden kann.

Das andere Extrem bildet die skeptische Perspektive von Hartmut

Böhme auf die Studie, der als Studiengangsgründer in Berlin und

etablierter Professor eine andere Macht- und Interessenslage

vorweisen kann. Dieser urteilt, dass die Studie sich als – in dieser

Hinsicht gute – Einführung auf amerikanische cultural turns

beschränke und deshalb als Orientierung problematisch sei.16 Hier

wird auch auf Ebene des Handbuchteils ein negatives Fazit gezogen,

das ansonsten positiv ausfällt. Jenseits der Beschränkung, eine

bestimmte Auswahl aus der Breite der Kulturwissenschaften für ihre

Studie gewählt zu haben, wird die Zusammenstellung der turns

grundsätzlich positiv gesehen. Die Darstellung der turns sei deskriptiv

und an sie werde in Einleitung, Ausblick und Nachwort ein

apologetischer Analyseteil angeschlossen.17 Dieser Analyseteil

fokussiert auf den Begriff der turns und deren Rolle im Feld der

Wissenschaften. Die damit ausgelöste Kontroverse ist Gegenstand des

folgenden Abschnitts.

Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2006“, Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 245, Nr. 2 (2008): 406-408. 16 Böhme, „Vom  »turn«  zum  »vertigo«: Wohin drehen sich die Kulturwissenschaften? Rezension zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2006“. 17 Göderle, „Rezension zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2006“, 238.

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1.2 Paradigmen und turns

Nach dem linguistic turn verfolgt die Autorin die Vielfältigkeit der

Forschungsperspektiven in einer Gleichzeitigkeit einer Pluralität von

turns, die keine Meta-Narrative, keine großen Erzählungen mehr

sind.18 Damit grenzt sie sich insbesondere auch vom Konzept der

Paradigmenbrüche ab,19 wie es Thomas S. Kuhn dargelegt hat20 und

sieht die turns quer zu Gruppen von Wissenschaftlern verlaufen.21

Turns sind nicht an Themen, Disziplin, Schulen oder Theoretikern

festgemacht, sondern methodisch.22 Die Entstehung von turns

beschreibt Bachmann-Medick folgendermaßen:

Zunächst kommt es zur Entdeckung und Freilegung neuer Gegenstandsbereiche, auf die sich die Forschung quer durch die Disziplinen hindurch konzentriert, z.B. Ritual, Übersetzung, Raum usw. Auf dieser Gegenstands- und Inhaltsebene werden neue Forschungsfelder ausgelotet.23

Das Kriterium für turns ist die Verschiebung von der Gegenstands-

auf die Ebene von Analysekategorien und Konzepten, das heißt dass

Gegenstände zu Erkenntnismittel und -medium werden.24 Es geht in

dieser Differenz zwischen solchen Konzepten um eine

wissenschaftstheoretische Fragestellung, wie das Feld oder das

System der Kulturwissenschaft(en) zu konzipieren sei. Während z.B.

Andreas Reckwitz eine systematische Theoriegeschichte vor allem 18 Jean F. Lyotard, Das postmoderne Wissen: Ein Bericht, 4th Aufl. (Wien: Passagen Verlag, 1999); vgl. zu diesem Argument auch Penny Paparunas, „Rezension zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2006“, Variations, Nr. 15 (2007): 291-293 und Matthias Benzer, „Review of Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2006“, Cultural Sociology 2, Nr. 3 (2008): 418f. 19 Göderle, „Rezension zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2006“, 239. 20 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2nd Aufl. (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1976). 21 Bachmann-Medick, Cultural turns, 16. 22 Ebd, 10f., 22. 23 Ebd, 26.

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soziologischer Kulturtheorie entwirft und dabei einen

evolutionstheoretischen Ansatz mit der Feldtheorie verbindet, die er

aufgrund des Kräfteverhältnisses in Theorien von Kultur als Praxis

münden lässt, spricht sich Doris Bachmann-Medick gegen

evolutionistische Konzepte der Wissenschaft ebenso wie gegen

teleologische aus,25 stattdessen nimmt sie eine Gleichzeitigkeit der

Forschungen an. Sie verwendet den spatial turn um ihren eigenen

Gegenstand zu beschreiben, indem sie ihn als Wenden kartiert.

Kulturwissenschaften erscheinen hier also als Feld,26 in dem vielerlei

Bewegungen zugleich stattfinden. Erst die Bewegungen im Feld

machen dann die Kulturwissenschaften aus, nicht abstrakte

Kulturkonzepte.27

Zwischen den Disziplinen – programmatisch interdisziplinär –, welche

die gleichen Analysekonzepte verwenden, ergeben sich über eine

Verbindung von Übersetzungsprozessen zusammenhängende

Bedeutungsgewebe.28 Hier wird der translational turn ebenfalls für

die Analyse des wissenschaftlichen Feldes fruchtbar gemacht. Der

translational turn ist der wahrscheinlich inspirierendste turn, zugleich

bleibt er aber weitgehend eine Metapher29 und wird nicht konsequent

24 Ebd. 25 Ebd, 20f. 26 Conrad u. a., „Diskussion zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2007“, 123. 27 Eine solche Vorgehensweise scheint auf den ersten Blick im Einklang zu stehen mit Michel de Certeau, Kunst des Handelns (Berlin: Merve Verlag, 1988), sie ignoriert jedoch die damit einhergehenden Machtimplikationen. 28 Bachmann-Medick, Cultural turns, 384; zu recht darf man sich hier an Clifford Geertz, „Dichte Beschreibung: Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur“, in Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, by Clifford Geertz (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987), 7-43 erinnert fühlen. 29 Böhme, „Vom  »turn«  zum  »vertigo«: Wohin drehen sich die Kulturwissenschaften? Rezension zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2006“.

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zur Analysekategorie ausgearbeitet.30 Was genau unter diesen

Übersetzungsleistungen zwischen den Disziplinen zu verstehen sei

bleibt offen. Die Übersetzungskategorie wird zumindest zum

methodischen Modus der Auseinandersetzung zwischen den

Disziplinen erklärt. Mit einer solchen Konzeption sind die Disziplinen

zwar nicht in sich homogen,31 ihre Grenzen bleiben aber gesichert.

Letztendlich führt die Rückversicherung über die nie eins zu eins

gelingenden Übersetzungen zwischen den Disziplinen zu einem

erhöhten Reflexionsbedarf über das eigene Vorgehen, der wiederum

auf den reflexive turn anspielt und ihn somit zu einer weiteren

Grundlage der Kulturwissenschaften erklärt.32 In allen Fällen werden

die spezifischen turns zu wissenschaftstheoretischen Grundlagen, die

den Kulturwissenschaften zugrunde liegen. Das passiert aber am

Rande, ohne dass dies von Doris Bachmann-Medick explizit

reflektiert werden würde. Man gelangt aber erneut zu der Einsicht,

dass Kulturwissenschaften die eigenen Methoden auf sich selbst

anwenden und damit ihren eigenen blinden Fleck auch in ihrer

Selbstbeobachtung reproduzieren.

Im Sinne dieser Selbstbeobachtung sind die Wenden eine Form der

Modernisierung33 bzw. der Reform34, die sich in Hinsicht auf eine

Offenhaltung differenter Konzepte und allgemeiner Pluralität der

30 Eine solche Fundierung als Analysekategorie liesse sich mit Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora: Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaften (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002) leisten. 31 Bachmann-Medick orientiert sich hier am Konzept des ›third space‹ von Homi K. Bhabha, „Die Verortung der Kultur“, in Texte zur Kulturtheorie und Kulturwissenschaft, hg v. Roland Borgards (Stuttgart: Reclam, 2010), 234-249. 32 Hier schließt die Reflexion einseits an bekannte ethnographische Konzepte an, sie geht aber andererseits auch darüber hinaus, vgl. James Clifford, „On ethnographic authority“, in The predicament of culture: twentieth-century ethnography, literature, and art (Boston, MA: Harvard University Press, 1988), 21-54. 33 Conrad u. a., „Diskussion zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2007“, 130.

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Kulturwissenschaften auswirkt.35 Es kann hier aber nur um ein

unspezifisches Offenhalten oder Modernisieren gehen, weil Doris

Bachmann-Medick abgesehen vom linguistic turn versäumt eine

Abgrenzungsfolie für die sich drehenden turns zu geben, vor der sie

sich von etwas unterscheiden könnten.36 Das unterstreicht die in der

Studie vorgebrachte Ablehnung von systematischen,

evolutionistischen und teleologischen Wissenschaftskonzepten,

gleichzeitig erreicht die von der Autorin vorgenommene Kartierung so

nur eine Verräumlichung ohne Koordinaten und Orientierung, weil

woher und wohin dunkel bleiben.

Abgesehen von der Orientierungsleistung der turns, muss die Frage

gestellt werden, was es denn zur Folge hat, wenn Disziplinen über zur

methodischen Analysekategorie gewordenen Gegenstandsfeldern

verbunden werden. Im klassischen Sinne sind dies die Kriterien für

eine Disziplinenbildung. Auch diese Konsequenz formuliert Doris

Bachmann-Medick nicht aus. Im Gegenteil, sie versteht die turns als

programmatisch für interdisziplinäre Forschung. Dass bei ihr nichts

zusammen kommt, ist ein Resultat der räumlichen Trennung in

»Königreiche der Forschung«37. Aus deren Absolutismus man wohl

nur schlussfolgern kann, dass die Übersetzungsleistung nicht so hoch

ist wie angenommen und die Gouvernementalität der Disziplinen auf

Territorien und damit stabile Grenzen ausgerichtet bleibt.38 Eben

dieser Beharrungseffekt von territorialer Disziplinierung verhindert, 34 Böhme, „Vom  »turn«  zum  »vertigo«: Wohin drehen sich die Kulturwissenschaften? Rezension zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2006“. 35 Ebd. 36 Conrad u. a., „Diskussion zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2007“, 130. 37 Bachmann-Medick, Cultural turns, 382. 38 vgl. zur Verbindung von Disziplin und Territorium mittels des Gouvernementalitätsbegriffes Michel Foucault, Sicherheit, Territorium,

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dass der Wandel der turns auf die Analyseebene weiterreichende

Folgen mit sich bringt.

Die muss berücksichtigt werden, wenn immer wieder die Kritik

vorgebracht wird, die Vielzahl der Wenden sei »schwindelerregend«,

»drehwurmträchtig«, löse ein »Schleudertrauma« aus,39 oder ihre

Vervielfältigung sei »Blödsinn«40. Einerseits gilt es jeweils zu prüfen,

ob die von Doris Bachmann-Medick aufgestellten Ansprüche erfüllt

werden, also ein Umschlag auf die Analyseebene erfolgt und es darf

nicht blind jeder Selbstbeschreibung eines turns gefolgt werden.41

Andererseits weist die Autorin die Kritik auch zurück, sieht selbst eine

Absurdität einer solchen Wenderhetorik durch eine massive

Pluralisierung der Wenden. Mit einem Aufzeigen weiterer möglicher

turns hätte sie eben diese Problematik verdeutlichen wollen.42 Eine

Beliebigkeit kann nicht angenommen werden. Epistemologisch geht

nicht alles, sondern in einem bestimmten Kontext zu einer bestimmten

Zeit fast nichts.43

Während die turns konzeptionell an eine Wendung zur

Analysekategorie gebunden werden und damit an wissenschaftsinterne

Bedingungen geknüpft, so bleiben sie in ihren

Entstehungsbedingungen doch an wissenschaftsexterne Faktoren

Bevölkerung: Geschichte der Gouvernementalität I (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004), 27. 39 o.A., „Cultural Turns (Rezension)“, Die Welt, Juli 22, 2006, Abschn. Literarische Welt. 40 Böhme, „Vom  »turn«  zum  »vertigo«: Wohin drehen sich die Kulturwissenschaften? Rezension zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2006“. 41 Böhme, „Vom  »turn«  zum  »vertigo«: Wohin drehen sich die Kulturwissenschaften? Rezension zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2006“. 42 Doris Bachmann-Medick, „»Diebin in der Nacht«  - Gender diesseits oder jenseits kulturwissenschaftlicher turns? Fragen und Antworten in einer kontroversen Debatte“, L’Homme Z.F.G. 19, Nr. 1 (2008): 137, Fn. 15. 43 Eine umfassende Einordnung in die Wissenschaftstheorie leistet Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien, 2nd Aufl. (Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2008), 194ff.

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gebunden.44 Dies nicht trennscharf ausgearbeitet zu haben rächt sich

für die wissenschaftstheoretische Verwendung des Begriffes, sobald

man aus dem Bereich des Kulturalismus hinausgeht und auch

soziopolitische Aspekte mit einbezieht.

Wenn treibende Faktoren für den Umschlag zur Analysekategorie

nicht nur interne Faktoren sind, dann sind die turns auch an

gesellschaftliche Machtfragen gebunden. Das wird gerade beim

postcolonial und beim translational turn offensichtlich, die sich auf

Teilhabe marginalisierter Gruppen in postkolonialen Staaten richten

und auch von entsprechenden Theoretikern angeregt wurden. Ob

Wenden wissenschaftsintern oder -extern bzw. beides zugleich ihre

Dynamik verdanken, klärt Doris Bachmann-Medick nicht, spätestens

wenn es um die Frage geht, ob gender studies einen eigenen turn

haben sollten/müssen/könnten [vgl. Kap 2.2.1.3] oder wie das

Verhältnis von Symbol und Sozialem sein soll, wird die Frage im

Verhältnis zu den Cultural Studies wieder aufgeworfen [vgl. Kap

2.2.1.4]. Kohl argumentiert in seiner Rezension beispielsweise, dass

eine Orientierung an den Cultural Studies nicht in Frage komme, da

im deutschen Diskurs keine entsprechenden externen Faktoren

marginalisierter Gruppen vorzufinden seien, stattdessen handele es

sich um einen wissenschaftsinternen Diskurs der

Geisteswissenschaften, die über Kultur als Thema aneinander

ausgerichtet würden.45

Geht man von einem Zusammenspiel interner und externer Faktoren

aus, dann stellen sich gesellschaftliche Dynamiken als externe

Irritationen eines wissenschaftlichen Feldes wie dem der 44 Prägnant formuliert diesen Vorwurf Böhme, „Vom  »turn«  zum  »vertigo«: Wohin drehen sich die Kulturwissenschaften? Rezension zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2006“.

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Kulturwissenschaften dar, die diese Irritationen aber nach eigenen

Logiken aufnehmen und diesen entsprechend als Information

verarbeiten. Für turns gilt dann zweierlei zu klären: Erstens, ob sie

epistemologisch einen Umschlag auf die Analyseebene bedeuten, was

anhand von wissenschaftsinternen Kriterien passieren muss und

zweitens, was die gesellschaftlichen Dynamiken sind, die eine solche

Irritation im Wissenschaftssystem stärken und stabilisieren, etwa

anhand eines Verweises auf Umbrüche im Geschlechterverhältnis

oder der Artikulation marginalisierter Gruppen.

1.3 Ist Gender ein turn?

Verhältnismäßig kurz ansprechen, da hauptsächlich auf der

Inhaltsebene, stellt aber die Frage nach dem Verhältnis von

Kulturwissenschaften und studies. Stephan Moebius beispielsweise

lehnt eine Zuschreibung als turns ab und spricht

wissenschaftstheoretisch weniger voraussetzungsreich von studies:

governmentality studies, queer studies, postcolonial studies, science

studies, space studies, visual studies und cultural studies.46 Letztlich

ist die Debatte, ob Genderforschung als turn konzipiert werden

müsse,47 eine thematische Frage, keine der Ebene einer

Analysekategorie und mithin nicht im Kartierungsraster der turns zu

verhandeln, gender hat keinen Ort,48 ist überall und nirgends.

Entsprechend abschlägig fällt die Replik durch Doris Bachmann-

45 Karl-Heinz Kohl, „Keine Wende ohne Migrationshintergrund“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, November 3, 2006, 37. 46 Stephan Moebius, Kultur (Bielefeld: Transcript, 2009), 162ff. 47 Conrad u. a., „Diskussion zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2007“. 48 Ebd, 129.

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Medick aus. Gender sei kein turn, da hier auf wissenschaftsexterne

Faktoren verwiesen werden müsse.49

Anstelle sich auf einen gender turn einzulassen nutzt Doris

Bachmann-Medick die Kritik an einer unzureichenden

Berücksichtigung der Geschlechterfrage dazu, eine weitere Kritik

anzugehen, nämlich die nicht zu übersehene Vernachlässigung des

Sozialen und ihrem damit einhergehenden Kulturalismus arbiträrer

Symbole. Gender, so die Idee, soll als »Vermittlungsscharnier«

dienen, als »traveling concept«, nicht als Themenreservoir,50 wie bei

den Cultural Studies als »race, class, gender, etc.«51 Damit soll über

die Übersetzungsmetapher die gesellschaftliche Relevanz in die

Kulturwissenschaften zurückkommen.

1.4 Kulturwissenschaften zwischen Symbolen und Sozialem

Mit der Frage, ob turns wissenschaftsintern und/oder -extern

angebunden sind stellt sich auch die Frage des Verhältnisses von

Kultur und Gesellschaft erneut. Hier kristallisiert sich heraus, dass es

nicht reicht, die Kulturwissenschaften umfassend von den

Naturwissenschaften abzugrenzen, sondern über die Unterscheidung

Kultur/Natur auch die von Kultur/Gesellschaft, also zu den

Sozialwissenschaften verhandelt werden muss.

Dies alles [Machtkritik, SPG] unter das Vorzeichen von ›Kultur‹ statt ›Gesellschaft‹ gestellt zu haben, erwies sich dann allerdings als eine zwiespältige Errungenschaft der Kulturwissenschaften, die insgesamt ihre Kulturalisierungsneigung verstärkt haben dürfte. Eine Schubumkehr in Richtung gesellschaftlicher Rückbindung könnte Gender wieder stärker in die Kulturwissenschaften zurückholen, nicht

49 Bachmann-Medick, „»Diebin in der Nacht«  - Gender diesseits oder jenseits kulturwissenschaftlicher turns? Fragen und Antworten in einer kontroversen Debatte“. 50 Ebd, 140-142. 51 So eine Kapitelüberschrift in Oliver Marchart, Cultural Studies (Konstanz: UVK, 2008).

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hingegen als einen bloßen turn, sondern als Produktivkraft einer Übersetzungskategorie beziehungsweise eines ›traveling concepts‹.52

Dies liest sich als ein Plädoyer für eine Hinwendung zur Gesellschaft,

zur Politisierung und zum Anschluss an gesellschaftliche Relevanz

kulturwissenschaftlicher Forschung, die mit dem Rückzug auf eine

Kulturalisierung verloren gegangen sei. Dies ist insbesondere deshalb

überraschend, weil sich Doris Bachmann-Medicks Studie vor allem

durch eine Absenz gesellschaftlich bezogener Literatur abgrenzt.

Sowohl Soziologie als auch Cultural Studies, französische

Poststrukturalisten und kulturell erweiterte Sozialgeschichte werden

weitgehend ignoriert. Ihr inhaltlich genau definiertes Segment der

Kulturwissenschaften berücksichtige nur, was Kultur und nicht

Gesellschaft bespreche und das unter dem Fadenscheinigen Argument,

dass ansonsten Kultur- und Sozialtheorie zu eng verschränkt seien.53

Doris Bachmann-Medick bietet, das kann nur die Konsequenz sein,

keinen umfassenden Überblick über die Kulturwissenschaften oder im

Anschluss an Hartmut Böhme: Sie liefert keinen systematischen

Überblick.54 Elisabeth Timm bringt es noch einmal drastisch auf den

Punkt, indem sie ausspricht, dass der Verzicht auf die

gesellschaftliche Ebene keine wissenschaftliche Neuorientierung sei,

sondern Merkmal bürgerlicher Kulturbegriffe.55 Die

Kulturwissenschaften Doris Bachmann-Medicks sind also

52 Bachmann-Medick, „»Diebin in der Nacht«  - Gender diesseits oder jenseits kulturwissenschaftlicher turns? Fragen und Antworten in einer kontroversen Debatte“, 135. 53 Conrad u. a., „Diskussion zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2007“, 136; vgl. zur Kritik am Übergang von Gesellschaft zu Kultur auch o.A., „Cultural Turns (Rezension)“. 54 Böhme, „Vom  »turn«  zum  »vertigo«: Wohin drehen sich die Kulturwissenschaften? Rezension zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2006“. 55 Conrad u. a., „Diskussion zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2007“, 136.

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unterschwellig normativ, anstelle sich auf die Ebene des

bedeutungsorientierten Kulturbegriffs zu beschränken.56

Die Trennung von wissenschaftsinternen Faktoren und

wissenschaftsexternen Faktoren wird gekoppelt an Kultur und

Gesellschaft. Kultur ist dann intern und unpolitisch, Gesellschaft

extern und politisch. Kultur und Gesellschaft sind hier zwei Sphären,

die getrennt betrachtet werden und auch nicht zusammen kommen, die

aber über »Übersetzungsscharniere« verfügen, etwa die gender

studies. Im Sinne der Hegemoniewahrung kann man sich des

Eindrucks nicht erwehren, dass diese Konzeption nicht

wissenschaftstheoretisch tragfähig ist, sondern lediglich zur

Machtlegitimation der Aufrechterhaltung disziplinärer Grenzen

dient.57 Zu dieser Einschätzung passt die konkrete Wortwahl der

Empfehlung einer Verknüpfung zum Sozialen: man solle dies

»vielleicht erst einmal«58 versuchen.

Erst dieser genauere Blick entschlüsselt die Empfehlung als vielleicht

durchaus gemeint, aber doch nicht selbst vollzogen. Doris Bachmann-

Medick widerspricht sich mit der Forderung einer Politisierung über

das Soziale selbst, da sie zugleich die Cultural Studies ablehnt, die

eine solche Verbindung leisten [Bezug zu Kapitel 2.3 Cultural

Studies]. Dies verdeutlicht erneut, dass die Kulturwissenschaften –

zumal in Form der Literaturwissenschaften – sich an Hochkultur

orientieren und damit selbst entpolitisieren. Die Ablehnung der

Cultural Studies zielt dabei gleichzeitig auf eine Ablehnung externer

56 vgl. Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien. 57 Aus Sicht der Kultursoziologie formuliert Werner Gephart, Handeln und Kultur: Vielfalt und Einheit der Kulturwissenschaften im Werk Max Webers (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998), 188ff. das Problem getrennter Sphären von Gesellschaft und Kultur. 58 Bachmann-Medick, „»Diebin in der Nacht«  - Gender diesseits oder jenseits kulturwissenschaftlicher turns? Fragen und Antworten in einer kontroversen Debatte“, 142.

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Einflussfaktoren und kann so eine wissenschaftsinterne Selbstreferenz

an Wahrheit schließen, sich auf deskriptives Vorgehen berufen ohne

sich mit eigenen Positionen und normativen Urteilen

auseinandersetzen zu müssen. Konfliktreich verläuft dann nur noch

der wissenschaftsinterne Theorieimport von Kulturanthropologie aus

Nordamerika nach Deutschland, der aufgrund seiner differenten

Hintergründe bitte nicht für Schlussfolgerungen für die

Wissenschaftspolitik einer deutschen Kulturwissenschaft

heranzuziehen sei.59

Doris Bachmann-Medick gelingt es eine – umstrittene – neue

wissenschaftstheoretische Begrifflichkeit für die Analyse

wissenschaftlicher Felder einzuführen und dies an profund

recherchierten und didaktisch gelungen dargestellten turns

vorzuführen. Dabei werden je nach Perspektive unterschiedliche

Fehlstellen in der Literaturrezeption moniert, was für die Diversität

des Diskurses und eigene Disziplinpräferenzen in den Genealogien

spricht. Gleichzeitig wird mit den turns das Verhältnis zwischen

wissenschaftsinternen und wissenschaftsexternen Faktoren auf die

Felddynamik der Kulturwissenschaften deutlich, was sich erst in den

kritischen Verhältnissen zu Cultural Studies und gender studies zeigt.

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59 Böhme, „Vom  »turn«  zum  »vertigo«: Wohin drehen sich die Kulturwissenschaften? Rezension zu Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2006“.

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