Der Eigene : 1899-03

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    DER EIGENE

    s t r e b t e i ne n ge i s t i ge n T umme l p l a t z K uns t und E i ge na r t s c hä t z e n

    de n M e n sc he n z u b i e t e n . S c h önh e i t und L i e be , Wi s se ns c ha f t ,

    F r e i he i t und V a t e r l a nd s i nd d i e G ü t e r , um d i e e r kä mpf t . —

    E i n Ba hn br e c h e r „ ne u he l l e n i s c he r " K u l t u r - I de e n , w ill e r d i e

    L e be nsa uf f a s sun g de r G e d a nke n l os i gke i t mi t i h r e r E l e nds - und

    M i t l e i dsm or a l , s a m t de n K ne c h t s - I do l e n i h r e r G l e i c hhe i t s fl e ge l e i,

    du r c h e i ne s e l bs t be w uss t e , z uku nf t she r r l i c he ve r d r ä n ge n he l f e n ,

    i n de r da s o f fi zi el l G e a i c h t e , da s H e r de nm ä ss i ge , de n e i nsa m e n

    E i g e nc h a r a k t e r n i c h t e r d r üc k t . — E r f o r de r t d i e fr e i e , du r c h

    ke i ne A u t o r i t ä t ge he mmt e Be t hä t i gung de s I nd i v i duums , w e i l s i e

    d i e s i c he r s t e G a r a n t i e f ü r de n soz i a l e n F or t s c h r i t t b i e t e t , f ü r d i e

    e n t w i c ke l ung smä s s i ge , ge w a l t l o se N e uo r dnun g de r D i nge , . di e

    j e de n i n de n S t a nd s e t z t , a u f s e i ne e i ge ne We i se g l üc k l ic h z u

    se i n . S e i n Z i e l i s t so : d i e g r ös s t mö g l i e hs t e W ohl f a h r t A l l e r

    * * * * * J a h r e s - A b o n n e m e n t s * * * * *

    f ür 4 , 50 M k. ne hme n a us se r A do l f B r a n d ' s V e r l a g , Be r li n -

    Neurah nsdor f , a l le Buch hand lungen des Ju- und Auslandes an,

    eben so a l le Ze i t l ingshändler — auf die Son der -A usga be zu 10 Mk.

    auch a l le Posta usta l ten . Postze i tung sl i s te  M   22 42. 4 4- 4. 4 4

    E s komme n j ä h rl i c h 24 N um me r n he r a us . Z w a ng l ose s E r sc he ine n

    d e r H ef te v o rb e ha l ten . 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4

    * * * * * * A u f W u n s c h * * * * * *

    er folgt b r ie f l iche Zuste l lu ng u nd b esondere Kuver t ie r ung be i ent

    s pr e ch en de r P or to -E rh öh un g. 4 4 4 4 . 4 4 4 4 4 4 4 4

    * * * * * * P r o b e n u m m e rn * * * * * *

    s t e he n j e de r z e i t z u r We r bun g ne ue r A bonne n t e n g r a t i s z u r V e r

    fügu ng. Um solche di rek t an Inte ressenten versenden zu könn en,

    is t jed och auch die An ga be neu er Adressen s te ts e rwünsch t .

    -Hs-

      -;£- •*- -M.- U ns er e F re u n d e -*- -#- -#- -*-

    w e r de n d r i nge nd g e be t e n , übe r a l l , w o s ic h G e le ge nhe i t da z u

    bie te t , für die Verb re i tu ng des Pla t tes beso rgt zu se in und in

    Re s t a u r a n t s , Ca f e s , K ond i t o r e i e n , Buc hha nd l unge n un d be i de n

    Z e i t ungshä nd l e r n i mme r w i e de r de n E i ge ne n z u ve r l a nge n . 4 4

    N A C H D E M G E W I T T E R .

    Violenbleiche Lichter f lirr 'n durch Schill und Bied.

    Nachtwolken f la t te rn — und der Nachen z ieht

    ' Hel lge lbe furc hen durch das schwarze Moni .

    Mat ts i lbr ig schwimmt in weissem Nebel l lor

    Die ö de I le ide —

    l ' i id Abend sonnet ise id e ,

    ( Johl - und rubinrot ,

    Wie E lfenschmuck an Busch und Binsen loht .

    Pr s teht im Kahn . Se in schöner Le ib e rglüht ,

    Wi e M a r mor be be nd , P ur pur übe r gös se n ,

    Vor knabenhaf te r Scheu. — Sein dunkles Auge sprüht

    Unm ut und L iebe , Trau r igk e i t umf lossen —

    Und macht das Leben mir so weh

      w\d

      w u n d

    l''-r Kip^ne.

    AMtvi-Ui-ri I'' "'.

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    —  Er  kämpft  und  ringt  mit  Scham  und  wacher Brunst,

    Wie Koboldspuk  im  glühen N ebeldunst.

     iEr

      will versagen

      doch

      die

      Kraft entflieht,

    W ie   er mir  tief  und  stumm  ins Ant litz sieht.

    Die Lenden zittern  und es  zuckt sein Mund —

    Verzeihung schmeichelt seine weiche Hand

     —

    Die roten Lippen pressen sich  auf  meine —

    Ich küsse seinen Nacken still  und  weine

    —   Und  traumverloren rudern  wir ans  Land.

    jfcdolf Brand

    r

      Eigene .

    7 —

    Augustheft   1899.

    SONJA

    Die kleine Fürstin Sonja feierte ihre Hochzeit.

     —

    Das ganze Palais  war  hell erleuchtet,  und im  grossen Saal

    fing man eben erst  an zu  tanze n. Sonja stand aber schon oben an

    der Treppe  und  nahm Abschied  von  ihrer Mutter,  die sie  umarmt

    hielt und mit  feierlicher Miene über ihrer Stirn  ein  Kreuz schlug

    und Segensworte dazu sprach.

     — Die

      ganze Dienerschaft stand

      im

    Hintergründe, weinte und wünschte Glück und Segen,  und Marussja,

    die alte Amme, die sie in  ihrer Kindheit gewartet hatte, küsste  ihr

    weinend  die Hände  und  machte ebenfalls  das Zeichen  des Kreuzes

    über sie.

    Dann ergriff

      ihr

      Gatte ihren

      Ann

    führte

      sie die

     Treppe hin-

    unter  zum Schlitteu,  der  unten stand,  und hob sie hinein.  — Die

    Pferde griffen  aus und der  Schlitten flog davon. —

    Sonja sass ganz still  in  ihrem Pelz  und den  vielen Decken

    da.   — Manchmal  sah sie den  Mann,  der da  neben  ihr  sass, scheu

    von der Seite  an. Er  hatte den Pelzkragen  in die Höhe geschlagen

    und sprach ebenfalls nichts;  es war  aber auch  so  kalt, dass der

    Hauch  am  Munde gefror,  und in den  vielen Umhüllungen konnte

    man sich fast  gar  nicht rühren.  Zu Zärtlichkeiten  war  also jetzt

    durchaus nicht  der  rechte Moment.

    "Sonja schloss  die  Augen  und  vergrub  das  Naschen  in den

    weichen Pelz.  Der Schnee knirschte unter  den Schlittenkufen,  die

    Glöckchen klingelten lustig,  und manchmal flog ihr ein wenig Schnee

    ins Gesicht. — Das w ar alles so angenehm und so seltsam dabei

    so ganz anders,  wie eine gewöhnliche Schlittenfah rt.

    —  Und während  der Schlitten dahinsauste, träumte die kleine

    Sonja.

    Sie träumte  von der  Liebe, jenem grossen R ätsel, dessen

    Lösung  sie nur  dunkel ahnte.  Ihr  bangte  vor  dieser Lösung und

    doch sehnte  sie sie  herbei.  Es  musste etwas Wunderbares sein,

    Der Eigene .

      _ 71 —

      A ugus the f t

     1899.

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    etwa s Grosses, Hohes und dabei doch unendlich Süsses. Sie ahnte

    etwas davon . . . ja, sie wusste schon . . .

    Diese kleine Sonja hatte ein Geheimnis, ein grosses Geheimnis.

    Und es war so gross, dass sie nicht einmal ihren besten Freundinnen

    etwas davon erzählt hatte.

    Vor bald einem Jahre war es gewesen — gerade zu Ostern,

    und sie war eben aus dem Institute nach Hause gekommen. — Ihre

    Mutter sah sie selten, denn die Fürstin war wenig zu Hause und

    Sonja durfte sie noch nirgendhin begleiten; sie wurde immer auf

    den nächsten Win ter vertröste t. Nur in die Isaaksk irche sollte sie

    mitgehen, in der Oster nacht. Darauf freute sie sich kindisch; denn

    der Kaiser würde auch da sein und der ganze Hof und sie war

    noch niemals in der Osternacht in der Kirche gewesen

    Gerade am Ostersonnabend fühlte sich die Fürs tin aber so

    leidend, dass sie zu Bett liegen bleiben musste. — Sonja musste

    also natürlich auch zu Hause bleiben.

    Mit verweinten Augen sass sie in ihrem Zimmer und fühlte

    sich sehr unglücklich. Die Lampe hatte sie ausgelöscht; im Finstern

    konnte sie besser auf die Strasse sehen und das musste sie doch

    wenigstens thun

    Es war sehr hell da unten, und die Menschen strömten nur

    so vorbei. Alle gingen sie zur Kirche, und nur sie musste zu

    Hause bleiben. —

    Da kam ihr plötzlich ein toller Gedanke.

    Wie, wenn sie auch hinging — heimlich — — allein

    Die Isaak skirche war ja ganz nahe. — Alle Dienstboten waren

    fort, ausser dem Mädchen, das bei der Mutter war die Mu tter

    selbst schlief — niemand würde sie also jetzt suchen. Wenn sie

    sich ganz dicht verhüllte und die Schlüssel von der Hinterpforte

    nahm . . . . Sie wusste ja , wo sie hingen, und der Portier war

    auch in de r Kirche . . . .

    Unschlüssig starrte sie auf die Strasse.

    Niemand würde etwas merken niemand — Es war zu

    verlockend

    Und Sonja schlüpfte in ihre Pelzstiefelchen, band ein dunkles

    Tuch um das lichte Haar, nahm einen langen Mantel um und

    dann stand sie auf der Strasse, zum erstenmale allein.

    Wie war das herrlich

    r  E ige n e . — 72 — A ugus the f t 1899.

    Sie liess sich von dem Menschenstrom in die Kirche schieben,

    wo die Messe schon begonnen hat te, und drückte sich dort möglichst

    in eine Ecke. — Es w ar schön in der Kirche, so feierlich. Die

    Popen beteten mit singender Stimme, die Chorknaben sangen und

    der Weihrauch wallte in Wolken auf und stieg zur Decke empor.

    Ob der Kaiser auch da w ar, konnte sie nicht sehen, denn wie sie

    sich auch reckte und sich auf die Zehen hob: sie konnte nicht

    über die vielen Köpfe fortsehen.

    Allmählich wurde ihr aber unbehaglich zu Mute. Diese sich

    bekreuzigende Menge mit den Wachskerzen in den Händen, die

    nach Schweiss und Schmierstiefeln roch, der monotone Gesang, der

    Weihrauchduft — — alles das betäubte sie förmlich. —

    Dann kam der grosse Rundgang um die Kirche. — Voran

    schritten die Popen, und das Yolk drängte nach. Sonja wurde m it-

    gerissen. Ängstlich versuchte sie aus dem Gedränge herauszukommen,

    aber sie konnte es nicht mehr. Und so kam sie mit den anderen

    auch wieder zurück zum Eingange.

    Das Volk stürzte rücksichtslos herein; wer schwächer war,

    wurde bei Seite gestossen, und Sonja ge riet in Gefahr, n ieder-

    geworfen zu werden. Sie schrie laut auf vor Angst.

    Da legte sich ein Arm um sie und sie wurde emporgehoben

    auf den Vorsprung ein er der mächtigen Säulen, die den gewaltigen

    Bau stützen. Halb ohnmächtig lehnte sie sich an ihren Beschützer.

    — Sie hatte ihm nicht ins Gesicht gesehen; sie sah nur etwas

    wie einen dunklen Bart. Das Gesicht war von einer Militärmütze

    halb verdeckt und die Hand, die ihren Arm stützte, schlank

    und kräftig.

    Unten drängte und stiess die Menge, schimpfend und  fluchend —

    Die Glocken der Kathedrale fingen mit einem Male   dumpf-

    dröhnend zu läuten an und die Glocken der anderen Kirchen ant-

    worteten ihnen. Ein M eer von Tönen wogte plötzlich über Pet ers-

    burg hin.

    Der Priester hatte soeben verkündet:

    „Christus ist auferstanden "

    Und die ungezählte Menschenmenge in der Kirche und auf der

    Strasse jauchzte:

    „Er ist w ahrhaftig auferstanden " Und alles fiel sich gegen-

    seitig in die Arme und küsste sich. —•

    Der Eigene.

    — 7 —

    Augustheft 1809.

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    Zwei dunkle leuchtende Augen  sah Sonja plötzlich  in  nächster

    Nähe vor sich und

     ein

     bärtig er Mund drückte sich

     auf den

     ihren. —

    Dann wurde  sie  wieder freigegeben. —

    Wie  im Traume sah sie die Stufen vor sich, die auf die Strasse

    führten,

      und wie

     im Traume flog

     sie

     sie hinab und eilte nach Hause.

    Dort  war alles ruhig. Niemand hatt e  ihr Fortgehen bemerkt.

    Fiebernd entkleidete  sie  sich  und  legte sich schnell  zu  Bett.  Sie

    fühlte immer noch den weichen Druck  der  fremden Lippen,  und ihr

    Herz klopfte heftig  und  ihre Wangen brannten. —

    Seit dieser Osternacht träumte die kleine Sonja von den Küssen

    des Mannes  und von der Liebe.

    Im Sommer ging

      die

     Fürstin

      mit

      ihrer Tochter

      in ein

    fashionables  Bad und im  Anfang  der Winter saison wurde Sonjas

    Verlobung  mit dem Grafen Nikolai Ossipowitsch Eristow bekannt

    gemacht.

      — Sie

     hatten sich

      im

     Bade kennen gelernt,

      d. h. die

    Fürstin stellte den Grafen ihrer Tochter vor,  und als er  bald darauf

    um Sonjas Hand anhielt, wurde dieser gesagt, dass  sie ihn zu

    heiraten habe. Die Fürstin

      war es

      müde, eine erwachsene Tochter

    zu behüten;

      der

     Graf

      war

      eine passende Partie

      —

      also unisste

     sie

    ihn heiraten. —

    Und Graf Eristow  kam  dann jeden  Tag,  brachte Sonja  ein

    Boukett, küsste  ihr die Hand  und unterhielt sich mit ihr eine halbe

    Stunde  in  Gegenwart  der  Mutter.  —  Dann ging  er  wieder fort.

    Und die arme kleine Sonja  war  immer  so schüchtern  und ver- .

    legen, wenn

      er da war. Er war so

      viel älter

      wie sie —

      schon

    35 Jahre  und immer  so ernst;  sie wagte  ihn  kaum anzusehen. —

    Manchmal wurde  sie  sehr traurig, wenn  sie  daran dachte, dass sie

    ihu heiraten müsse,

      und

      weinte. Einmal fragte

      sie

      ihre Mutter:

    „Sag' mal, Mamuschka, muss  man seinen Mann nicht lieben ?

    Ich weiss nicht,  ob ich  Nikolai Ossipowitsch liebe.  Ich  fürchte

    mich fast

      vor ihm "

    Die Fürstin antwortete: „Wenn

      er

      erst dein Mann sein wird,

    wirst  du ihn  schon lieben."

    Darauf wurde Sonja wieder ganz vergnügt. — Ja,  ganz gewiss,

    wenn er ihr Mann  war und sie küssen durfte, würde  sie ihn  sicher

    auch lieben

      und

     sich nicht mehr fürchten.

    Und jetzt sass  sie an  seiner Seite  und  fuhr  mit ihm fort —

    zu  ihm.

    Der Eigene

    — 74 —

      Augustheft

     1899

    Der K utscher schnalzte mit der Zunge, knallte mit der Peitsche,

    und lustig klingelten  die  Glocken. —

    Es

      war am

     andern Morgen.

    Sonja erwachte nach einem kurzen unruhigen Halbschlummer

    an  der  Seite ihres Gatten. —

    Mit einem beklemmenden Gefühl

      von

     Angst richtete

      sie

      sich

    auf.  Wie fremd alles  um sie her war:  dieses prächtige Zimmer,

    das von der kleinen Lampe vor dem H eiligenbilde schw ach erleu chtet

    wurde. —

      - Sie

     fühlte jemand plötzlich neben sich

      und

      hätte fast

    aufgeschrieen  vor Schreck. Dann erinnerte  sie  sich, dass  sie ja

    verheiratet  war. —

    Sie beugte sich

      vor und sah dem

     Manne neben sich

      ins

    Gesicht. —

    Er schlief fest.  — Der Kopf  war ihr  zugewandt  und ein

    widerlicher Weingeruch

      kam aus

      seinem Munde.

      Er

      hatte viel

     ge

    trunken  am  Abend vorher.  — Das Hemd  war aufgerissen  und die

    Brust  lag  nackt  da.  Eine eingefallene Brust  — die  Haut gelb,

    wie ledern

      und mit

      Finnen bedeckt.

    Sonja starrte  ihn an — entsetzt,  mit weitgeöffneteu Augen .

    Sie fand  ihn abscheulich.  Wie  konnte  man nur  diesem fremden,

    hässlichen Manne erlauben, sich neben

      sie zu

      legen?

    Das also war die  Liebe,  von der sie so  sehnend geträumt

    Schauder  des  Ekels schüttelten  sie. — Ihr  Kopf  und ihr

    ganzer Körper thaten

      ihr weh. — In

      ihrem weissen Nachtkleide

    stand  sie auf.  Ihre Arme hingen müde herab,  wie die  gebrochenen

    Schwingen eines armen kleinen Vogels.

    Vor

      dem

     Heiligenbilde glit t

      sie

      nieder,

      mit der

      Stirne

     den

    Teppich berührend.

    Und über

      die

     Dächer kroch langsa m

      der

     graue Wintermorgen

    Petersburgs

      . . . .

    budmilla von F^ehren

    Der Eigene — 75 —  Augustheft 1899

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    L I E B E S L I E D

    Ein se l t sam Lied vo l l süsser Klage

    Sa n g m i r m e i n F r e u n d z u r H a r f e Sp i e l ,

    A l s^ t r ä u m e n d v o m e n t sc h w u n d 'n e n T a g e ,

    D i e B l u m e

      schlief

    der Tau schon fiel.

    Wir sassen in der Gar ten laube

    Bei e iner Am pel ros 'gem S chein ,

    Es rank te r ings d ie wi lde Traube

    Mit b lassen Winden im Vere in .

    M e i n F r e u n d sc h l u g w u n d e r b a r d i e Sa i t e n

    U n d sa n g , d a s L i e d u n n e n n b a r w e i c h —

    Ich füh l te meine Brust s ich wei ten

    Und wähnte mich den Göt tern g le ich .

    D i e Sa i t e n r a u sc h t e n i n Ak k o r d e n ,

    Melod isch f lu te te der Sang ,

    Un d mit den t ie fempfund 'nen W or te n

    V e r sc h m o l z s i c h sü s s d e r H a r f e K l a n g . —

    Be i m l e t z t e n T o n sc h l a n g i c h d i e Ar m e

    U m m e i n e n he i s sg e l ie b t e n F r e u n d ,

    U n d p r e s s t e i h n a n s H e r z , d a s w a r m e ,

    D e n sc h ö n e n Sä n g e r , m e i n e n F r e u n d

    Ich küsste ihm den Mund , d ie Augen ,

    E r schmieg te s ich an meine B rust ;

    Au s se inen Bl icken dür f t ' ich saugen '

    D e r h e i l ' g e r i L i e b e r e i n e L u s t

    — D i e H a r f e s c h w i e g — i m g r ü n e n L a u b e

    D i e Am p e l l o sc h — r i n g s w a r d e s N a c h t

    D i e Wi n d e sc h l a n g s i c h u m d i e T r a u b e

    I n e i n e r w a r m e n So m m e r n a c h t .

    b o u i a f r a n c h e .

    Der Eigene.

    — 7 —

    Augusthaft 1890.

    K L A S S I S C H E N A C H T .

    Wa n n u m A la b a s t e r l e ib e r

    Spie l t e in we iches Wcihrauchschvvingen

    l>n d a u s b l a u e n N ä c h te u e i t e n

    S in k t e in m ä re l i c n s c h u e re s K l in g e n . .

    Ferdinand Max Kur th

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    L I E BE

    A u s : „ B r i e f e a n L i l i . V .

    Meine l iebe Lil i ,

    er inners t du dich, dass du mich einmal aus lachtes t , a ls ich

    dich bat , deine Füsse küssen zu dürfen? Da sagtes t du m ir :

    „G eh ' , Han ns , du muss t auch immer was Besonde res ha ben "

    Nun hab ' ich wieder mal was Beson deres ge hab t — und

    das wil l ich dir erzählen.

    Im Somm er, weisst du, war ich in Wie sbad en. Dor t lernte

    ich Palo mita kenn en; au ch du kenns t s ie ja aus meinen Lied ern.

    S ie war das Kin d deu tscher Elt ern aus Buenos Ayre s , war

    nach D eu t s ch land gekomm en , ih r e V er w a nd ten zu bes uchen . I h r

    Ve tte r war Lan dr ich ter in Wie sbade n, dor t traf ich s ie . Acht-

    zehn Jahr war s ie und war schlank und blond — so blond, wie

    du bist, Lili.

    E ines Tag es t r ug i ch B lumen zu de r F r au Land r ich te r .

    P a lom i ta w ar do r t ; s ie t r ug e in he l l e s, l angs ch leppendes M or gen -

    kleid , mit bunten Blumen gemuste r t . Fra u Kla ra Hess Sekt br ingen ,

    und w i r t r anken und f u t t e r ten Er d bee r en und r auch ten C iga r e t t en .

    F r au K la r a s chw atz te und l ach te , s i e hus ch te he r um, s as s am

    Flü gel , b l ickte durch s Fens t er — o so geschä f t ig und lebhaf t

    Ab er Palom ita rühr te s ich nicht , sprach kaum ein Wo rt . S ie

    ha t te d ie Füsschen auf d ie Chaiselon gue heraufge zogen, da sass

    s ie ,

      s t ippte ' e in Cake in das spi tze Glas und sah mich gross an

    mit den blauen Aug en. Als Fra u Kl ar a hinausging auf einen

    A ugen b l i ck , g ing i ch zu P a lomi ta , nahm ih r e H än de und küs s te

    s ie .

      — Sie l iess mich ruhig gewähren.

    Ich weiss n icht mehr , wann es uns zum Bewüss tsein kam ,

    das s w i r zw e i uns l i eb ha t t en . — J eden N a chm i t t ag gegen 4 U hr

    gin g ich zu ihr . Dann war der La ndr i cht er weg, aufs Ger icht ,

    von da g ing e r s t e t s zum A bends chopp en . S o w ar en w i r unges tö r t

    b i s gegen A ch t . — Er s t t r anken w i r Th ee zu d r e ien ; dann g ing

    Frau Klara aus , l iess uns al lein .

    Der Eigene.

    — 78 —

    Augustheft 1899.

    U nd immer d ie s e lbe P h r as e : „En t s chu ld ig t mich — a ber

    ich muss wirkl ich zur Schn eider in " — „Verzeiht , Kin der , h eut '

    muss ich die Prob ebild er vom Pho togr aph en holen" ich

    weiss n icht , was s ie al les holen muss te — ein leichtes Lächeln ,

    dann war s ie zur Thüre hinaus .

    Meis t s tanden wir am Fens ter und nickten ihr noch einmal zu.

    „Seid ar t ig , Kin der ," r ief s ie , „ Ma ma kommt gleich wieder "

    Aber s ie kam nie vor acht Uhr .

    — Wir sprachen so wenig, Palo mita und ich. S ie war so

    faul und langsam in jede r Bewegu ng, d iese deutsche Süd länder in ,

    abe r ihre Faulhei t ha t te etwa s Gött l ich es , Souverän es . Of t kniete

    s ie vor m ir , s tü tzte d ie Ellen boge n auf meine Kniee , s tar r te mich

    an ; dan n s treichel te ich ihre W an gen oder las ihr meine Lie der vor .

    Od er s ie sass am Klavie r und spiel te . Ein weiches , duf tendes ,

    zi t tern des Spielen. — D ann k aue r te ich an ihrer Sei te . — Nah m

    auch wohl ihren Fuss , zog Schuh aus und Strumpf und bedec kte

    den süssen, weissen Fuss mit g lühenden Küssen.

    Sie fand das ganz natür l ich ,

     

    fand gar n ichts (Besonderes '

    dar in , wie du, Li l i

    — W ir beiden l iebten uns ja , Palom ita und ich Und ihre

    jun ge , entzü ckend e, ers te Liebe schläfer te mich ein , l iess mich

    al les da draussen vergessen , in d iesem roten Para dies , dessen

    schw ere türkische Vo rhän ge ka um einen kleinen Sonnens trahl

    einliessen.

    Das war das Glück, das mich wieder lachend in seine Arm e

    schloss . Ich schr ieb dir n ichts dav on, Li l i? — Ha b ' ich dir

    jemals geschr ieben, wenn ich glücklich war? —

    Ab er meinem Spezi erzäh l te ich davon, weiss t du, dem

    hübsc hen, k leinen Char les . Eine m muss te ich ' s sage n Ich nahm

    ihn auch einmal mit in d ie Schlosss trasse. Da s t iessen wir v ier

    an , F r au K la r a , Char l e s und w ir be ide — auf uns e r e L ieb e U nd

    P a lomi ta l eg te ih r en A r m um meinen H a l s :

    „ O m ein Hann s , wie ich dich l ieb ha be "

    — — Nu r zwei Monat e — da nn m uss te s ie zurück üb ers

    Wa sser . Und so bew og s ie ihre Kou s ine, dass s ie n ichts ,mit-

    zuma chen ' b r auch te , ke ine Tenn i s p a r t i e , ke in Wet t r ennen , w ede r

    K onz er t e noch Thea t e r . S ie b l i eb zu H aus e , — a ll e in — —

    Der Eige ne. — 7a — Augustheft 1899.

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1899-03

    9/24

    Der Landr ich ter wunder te s ich ; mein te sch l iess l ich , s ie habe

    wohl e ine ung lück l iche Liebe .

    Aber s ie ha t te e ine g lück l iche .

    — So g ing ich wieder e inmal   hinauf am-18 . Jun i war es .

    Fra u Klar a war schon for t und Palomita lag , wie gewöhnl ich ,

    lang gest reck t au f dem Sopha. W ir sag ten uns gu ten Ta g ,

    küss ten uns. Plötz lich, wie meine Ha nd über ihre Schläfen fuhr,

    seufzte si e; sie schien einzuschlafen. Ich str ich ihr noch ein

    paarmal über d ie St i rne — wirk l ich s ie  schlief.  Seit meh r als

    zwei Jahren ha t te ich n ich t mehr hypno t is ie rt , se i t München n ich t .

    Du er inners t d ich , L i l i , dor t war es ja unser täg l iches Sp ie l

    P a l o m i t a  schlief.  Leise löste ich ih re Ha are , g rub meinen

    Kopf e in in d ie weichen Locken meiner b londen Her r in — .

    Dan n schel l te es . Frau Klara kam zurück , s ie b l ieb heu te

    bei uns. Und nun hypnot is ie r te ich Palom ita wiede r und wieder ;

    sie wa r ein prach tvolle s Med ium. Jed en Befehl führte sie sofort

    .•ins,  dek lam ier te , s ang , sp ie l te — wir hä t ten so auf d ie Bühne

    gehen können . Fra u Klara war begeis te r t — —

    Den fo lgenden Ta g kam ich wieder ; und a ls wir a l lein

    waren — ein le ich ter Druck der Han d — „Sch lafe , L iebch en " ,

    und s ie lehn te s ich zurück , sch lummer te . Es war mir e in unbe

    kan nte s, unbe schreib lich süsses Gefühl, sie so schlafend in meinen

    Armen zu wissen .

    Atem los, unbewegl ich lag s ie da . I ch küsste ih re Lock en ,

    ih re Au gen , den Mund , d ie Hände . Un d dann — o ich wusste

    kaum, was ich tha t — r iss ich ih r Kle id auf und bedeck te mi t

    Küssen ih re weissen Brüste .

    Un d jeden T a g nun Hess ich sie einschlafe n; wenn wir eben

    al le in waren , jeden Tag .

    Am 24 . Jun i g lüh te d ie Sonne am Himm el , o s ie g lüh te .

    Und an dem Tage jag te und pu ls te mein Blu t , wie es n ie ge than .

    Ich kam zu Palomita . Frau K lara g ing , und s ie sch l ie f in meinen

    Arm en . Da geschah es . I ch zog s ie aus , Rö cke und He md ,

    a l les nahm ich ih r weg . Sie rühr te s ich n ich t . Un d dann nahm

    ich ihre süsse Unschuld —

    Sie wehr te s ich n ich t , ih re Augen b l ieben gesch lossen . Nu r

    e in k le iner Schre i d ra ng aus ih ren Lippen . E in Schre i , wie ihn

    das Reh ausst iess , das meine Kug el e inst t r a f im Kot tenfo rs te .

    Der Eigene

    Augusthelt 1899

    Sei tdem habe ich Palom ita kaum mehr wac hend ge sehe n ;

    war ich be i ih r , sch läfer te ich s ie e in . E in paar Tag e spä t er

    befahl ich ihr:

    „Hörst du mich , L iebc hen? Ich wi l l , dass du heu t ' Na ch t

    mich zu dir lässt. Du sollst trac hten , den Hausschlü ssel zu be

    komme n, ehe du auf de in Zim mer gehst . Hörs t du? — Heu te

    Na ch t um 12 Uhr n immst du de n Sch lüsse l , b indest ihn an e ine

    lange Schnur , d ie läss t du zum Fen ster h inaushängen . Du w irs t

    de ine Th üre n ich t versch l iessen . Du wirs t L ich t b rennen lassen ,

    damit ich sehe , dass du mich erwar test . Hörst d u , was ich d i r

    befeh le? — D u wirs t — d as — al les — th un "

    Palom ita z i t te r te , ih r nack ter Leib beb te in meinen Armen .

    „Hast du mich gehör t? — Wirst du das thun?"

    Ihr „Ja " k lang widerwi l l ig , ge zwunge n .

    Aber ich ach te te n ich t  darauf.  — U m 12 Uh r eilte ich die

    Sch lossst rasse  hinauf.  Ich sah nach oben — ih re Fenster waren

    er leuch te t . I ch k le t te r te über das Gi t te r , sp ran g durch den Vor

    gar ten . Von ihrem Zim mer hinab hing der Schlüs sel. Ich r iss

    d ie Leine herun ter , ö f fnete d ie I lausth ür , e i l te d ie Tre ppe n h inauf

    b is zum zwei ten Stock . Ih re Thü re war n ich t versch lossen ; s ie

    sass ha lb angek le ide t au f dem B et te .

    Ih r Bl ick war se l t sam, er schreck t und ung läub ig . Sie sch ien

    zu g lauben , dass s ie t räume mit o f fenen Augen .

    Und wohl um den Traum festzuhal ten , sch loss s ie d ie Augen .

    Ras ch sp rang ich auf s ie zu , e in Wor t , e in Ha uch : s ie

      schlief.

    Ich aber h ie l t s ie in meinen Arm en , d ie ganz e her r l iche

    N a c h t ü b e r .

    Un d d ie nächste Na ch t und d ie übernäc hste — el f wunder

    b a r e , m ä r c h e n sc h ö n e N ä c h t e

    . Am 10. Aug ust sollte sie abrei sen. Sie sollte in Bade n-B aden

    Onkel und Ta n te t re ffen , d ie auch zurückfuhren . Dann nach

    Genua und von dor t in d ie Heimat mi t der „Alster" . — Sie wol l te *

    n ich t , dass ich mi tfuhr nach Bade n-B ade n , w o s ie noch zwei

    T ag e bleiben sollte. S o bat ich sie , f lehte sie an, von dort noch

    einmal zurückzukom men, auf e inen T a g nur , auf e in paa r Stun den .

    Schliesslich befah l ich es ihr in der Hy pno se. Sie verspr ach es.

    — O, ich fü rch te te mich so vor ih rer Abre ise . Dann w ar

    ich a l le in , mi t mir se lbst , mi t meinen — en tse tz l ichen Ged anke n

    Der Eigene

    — 81 —

    Augustheft 1899

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1899-03

    10/24

    Bis s ieben Uhr mor gens wa r ich bei ihr . Dan n ei l te ich

    nach H a us e , bade te , k l e ide te mich um. U m neun U hr f uh r s i e ,

    i ch b r ach te ih r B lumen zum   Bahnhof.

    „Au f "Wiederseh 'n mo rgen abe nd " r ief s ie .

    D an n w ar s i e f o r t. I ch ve r abs ch iede te mich von dem L and

    r ichter und seiner Frau, schlender te durch die S trassen.

    U nd nun gleich f ing es an. Es klet te r te mir d ie Brus t

      hinauf

    sch nür te mir d ie Ke hle zu. Es kram pfte s ich mit g lühenden

    Fin ge rn in meinem Hirn und l iess mir d ie Aug en in den I löhlen

    b r enne n . Es quä l t e , mar te r t e mich ung laub li ch .

    „M ein G o t t me in G o t t "

    Ich versuchte mich zu beruhig en. — „Pa h — du — und

    G e w i s s e n "

    Ab er es g ing nicht .

    Ich muss te jemand haben, der mich vor mir selbs t in Schutz

    nah m. I ch s p r ang in d ie nächs te D r os chke , f uhr zu Char l e s .

    D e r S pez i w ar zu H aus e , G o t t s e i D an k — Er l ag noch

    im Uett ; ich setzte mich auf d ie Kante.

    „N un, Jun ge," r ief er mich an, „du s iehs t ja g ot ts jäm merl ich

    aus W as i s t denn lo s ?"

    „W er d ' d i r 's s chon s agen , S pez i , l a s s mich nu r — D u

    weiss t doch, dass ich s ie l iebe?"

    „ W e n d e n n ? "

    „S chaf s kop f — P a lom i ta "

    „H m — ja , — es scheint so "

    „Und du weiss t auch, dass s ie mich l iebt?"

    „H m — ja — s chon m ög l i ch "

    Un d nun erzähl te ich ihm al les , a l les , keinen kleinen Um

    s tan d ve r s chw ieg i ch ihm. S ag te , w ie i ch s ie hypno t i s i e r t e ; w ie

    ich s ie im Schlafe verführ t e; wie ich Na cht für Na ch t bei ihr

    g e w e s e n .

    Als ich zu En de war , s t ier te ich ihn an. Es war mir , a ls

    müs s te mi r von ihm mein U r te i l s s p r uch kommen .

    E r r äus pe r t e s i ch . D an n— langs am — : „D ar au f s t eh t —

    Z u c h t h a u s "

    „P a h — Zuch thaus — das s che r t mich den Teu f e l A ber

    eins has t du vergessen , Spezi , ich t l ia t das al les , und ich —

    l iebe s i e U nd des ha lb s t eh t

      darauf—

      für mich — W ahns in n "

    Der Eige ne. 82 August holt 1899.

    — Dann sprang ich auf, aus dem Zimmer , nach Ha use

    Und nun ver lebte ich ein pa ar S tund en, o Lil i , so fürchter l ich ,

    so entsetzl ich weiss t du, Li l i , ich lernte da kenne n,

    wie dem Mörder zu Mute is t , wenn ihm zum Bewuss tsein kom mt,

    w as e r ge than —

    Um zwei Uhr kam Char le s . Ich bem erkt e ihn ers t , a ls er

    mir d ie Hände auf d ie Schultern legte.

    „Komm' mit ," sagte er , „wir wollen ausfahren."

    Er s ch lepp te mich f ö r ml ich h inaus . D en N ach mi t t a g na hm

    er mich au fs Land , den A bend i r gendw o in s T inge l t a nge l , dann

    in die Kneipe.

    Kein Wort sprach er ,davon ' .

    Er brachte mich nach Hause, b l ieb , b is ich zu Bette g ing-

    Dann gab er mir ein s tarkes Schlafpulver . Ging e rs t , a ls ich

    schon eingeschlafen.

    Als ich aufwachte, sass er auf meinem Bett .

    „End lich " r ief er , „ ich war te schon eine gesch lagen e S tun de,

    ob du aufwachen w il ls t Hö re," fuhr er for t , „ ich ha b ' mir d ie

    Gesch ichte über legt , für d ich gieb t ' s nur ein Mit t el He ute abe nd

    kommt s ie zurück, sags t du? — Also gehe hin und sage ihr al les "

    Ich bebte zurück vor d iesem Gedank en, Ab er ich fühl te ,

    dass er recht hat te .

    „Wills t du es thun?" f ragte er .

    Ich versprach es ihm.

    — Um sechs Uhr w ar ich in der Schlosss trasse; s ie war

    schon zurück und empfing mich mit heissen, g lühenden Küssen;

    kaum konn te i ch mich lo s machen aus ih r en U mar mungen .

    „-Palomita, lass mich, ich muss dir wa s sa ge n "

    . „So sp r ich "

    Aber es g ing nicht . Ich lief wie verrü ckt im Zim mer h erum ,

    ich konnte es n icht sagen, konnte nicht . Meine Hä nd e zi t ter te n ,

    wühlten in den Ta sch en herum. Auf dem Schreib t isch lag ein

    Brief

    ich nahm ihn, r is s ihn in viele Fetze n, s teck te s ie in d ie

    Tas ch e . N ah m Ble i st i ft e , F ede r ha l t e r — b r ach a l l e s in k le ine

    S tücke .

    P a lomi ta t r a t zu mi r :

    „M ein l i ebe r J un ge "

    Der Eigene.

    — 83

    Augustheft 1899.

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1899-03

    11/24

    Die Thrä nen s tü rz ten  mir aus den  A u g e n ,  sie  küsste  sie

    vo n  der  W a n g e  weg,  e inze ln , Thräne  für T h r ä n e .  Als sie  auch

    meinen M un d küssen wol l te , s tiess  ich sie weg.

    „Lass mich ,

      du

      weisst nicht,

      wen du

      k ü ss t

    - —

      Lass mich

     —

    ich will dir 's sage n alle s "

    U n d  ich  erzäh l te  ihr, was ich  g e t h a n ,  mit  zusammen

    geb issenen Lippen ,  die  A u g e n  auf dem  Boden .

    Ic h

      war

      fer t ig , ab er

      ich

      w a g t e n i c h t ,

      sie

      anzusehen .

    Schliesslich

      hob ich

      doch

      den

      Blick

      —

    U n d

      da sah ich auf

      i h re n L i p p e n

      ein

      L ä c h e l n ,

      so

      seltsam,

    so wunder l ich

      — — oh, ein

      L ä c h e l n

      — so

      teuflisch

      — so

    kokot tenhaf t

      —

    Keine Sekunde b l ieb

      ich im

      Z i m m e r .

      Sie

      rief

      mir

      nach :

    „ H a n n s L i e b s t e r H a n n s " , a b e r

      ich

      a c h t e t e

      es

      kaum.

    Zu Hause erwar te te mich Char les .

    „ N u n ? "  f rag te

      er.

    „Ich that alles,

      wie du

      gewol l t , sa g te

      ihr

      alles, alles

    Als

    ic h

      zu

      E n d e

      war — — —

      lächel te

     sie "

    „Un d — ?"

    „Sie lächel te ,

      sag' ich dir — Und in

      d iesem Lächeln sag te

    si e

      mir,

      dass

      sie

      a lles gewusst , dass

      sie

      m i c h b e t r o g e n ,

      so

      infam

    belogen

     und

     be t rogen , wie

     nie

     e in W eib e inen Mann be t rogen ha t "

    Ich ballte

      die

      F ä u s t e

      in den

      T a s c h e n

      . . . — Da zog ich

    einen Pap ier fe tzen hera us;

      las

      darauf ih re Schr i f t .

      — Ich

      se tz te

    mich

      hin und

      leg te so rgsam

      die

     Fe t z e n z u sa m m e n , K o u v e r t

      und

    Bogen .

    E s

      war ein

      Br ief Pa lom itas

      an

      F r a u K l a r a ,

      den sie von

    Baden-Baden gestern abend geschr ieben .

    „Du sollst mitlesen, Spezi."

    Wir lasen :

    Liebes Klärchen ,

    ich muss  dir  rasc h eine fre udige

    Mit te i lung machen .  Es ist  end l ich  da Als ich heu te morgen

    T a n t e  und Onkel eben beg rüsst ha t te und so  r a sc h d i e T r e p p e n

    hinauflief,  fühlte  ich  p lö tz l ich e inen hef t igen Sc hmerz .  Auf

    m e i n e m Z i m m e r b e m e r k t e  ich,  d a s s  ich  gan z voll Blut war.

    So sind  die  Befürch tungen  der  l e t z t e n a c h t T a g e g o t t l o b

    unnütz gewesen —  Hoffentlich wird heute morgen dein Mann

    Der Eigeno. 84

    Augustheft

     1809.

    nich ts gem erk t habe n ; Hanns g ing er s t  um  sieben  Uhr  fort

    und dabei knar r te  die  e ine Treppe nstu fe noch  so  g r ä s s l i c h

    W e n n  ich  j e tz t w e g g e h e , K l ä r c h e n ,  so behal te m ich n ich t

    in  zu  sch lech tem Andenken .  Du hast  mir ja so t reu geho lfen ,

    wenn  du  mich auch oft genug aussch impftest , Klä rche n Sieh ' ,

    ic h  war ja  boden los le ich ts inn ig  und  h a b e m e in M ä d c h e n t u m

    und meine Juge nd verschenk t  für das  kurze Glück weniger

    W o c h e n A b e r  ich  liebte  ihn  doch  so  g renzen los ,  so  u n a u s

    sprech l ich — Sei  n ich t a l lzu böse , liebes K lärc hen

    Bis morgen A bend

    D e i n e Pa l o m i t a .

    p . s.  W e n n  du  Hanns s iehst ,  so  küsse se ine l ieben A ug en

    „Sie  hat  d ich sehr ge l ieb t " sag te  der  Spezi .

    Ich weiss nicht,  was ich  sag te .

      — — — Leb '

     wohl , L i l i

    Hanns Heinz Ewers.

    Der Eigene.

    85

    Aujustheft 1899.

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1899-03

    12/24

    N O N N E N M E S S E .

    Ev a n g e l i u m a m 2 7 . So n n t a g n a c h Tr i n i t a t i s .

    G l o c k e n g e l ä u t e . . .

    J e t z t g e h e n s i e b e t e n .

    V e r s c h l a f e n t r e t e n

    d i e t h ö r i c h t e n B r ä u t e

    D u r c h s h o h e P o r t a l ,

    U m G n a d e z u b e t t e l n .

    v o r G o t t e s T h ü r e n - — .

    Gab e r euch Kraf t ,

    s i e z u v e r z e t t e l n

    I n t r o t z i g e n S c h w ü r e n ? —

    W a h r l i c h ic h s a g e e u c h :

    Der Got t , de r euch e rschaf f t ,

    i s t L i e b e

    D e r s e l b e G o t t , d e r e u c h b e t h ö r t

    z u L i e b e

    D e r s e l b e G o t t , d e r e u c h z e r s t ö r t

    i n L i e b e

    L i e b e t

    so hab t ih r Go t t .

    L i e b e t

    s o h a t e u c h G o t t .

    L i e b t d i e s en G o t t

    d o c h b e t t e l t n i c h t :

    E r g a b e u c h a l l e s

    W u c h e r t m i t s e i n e m S c h a t z —

    . . Ih r so l l t ihn n ich t ve rs t ec ke n

    I n s c h w e r e n K u t t e n u n d i n e n g e n R ö c k e n .

    So l l s ich fü r euch de r Got t noch regen ,

    S o g e h t m i t v o l l e n L a m p e n i h m e n t g e g e n

    T heodor E t ze l .

    Der Eigene. — 86 — Anguatheft 1899.

    < * * ~ h sJ^

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1899-03

    13/24

    R E I G E N DE R T O T E N T A N Z E

    JL O D Ein Wo r t , kurz und knap p, schar f und gew al t ig , wie e in

    furchtbarer auf schre iender Donner nach e inem gie ren Bl i t z , der gezündet ha t .

    Tod. Da s ewige ragende Frageze ichen des Wesen s , Lebens , Se ins . Zule t z t —

    ü b e r a l l e m : T o d . Ke i n Ga u k e ls p i e l e i n e r e i nz e ln e n b a u e n d e n P h a n t a s ie . —

    Ein Dase in . Aber wesenlo s . J edem fühlbar — ke inem s i chtbar . Meh r a l s

    g e a h n t e Üb e r k ra f t , we n i g e r a ls b e wu s s t e k n e c h t e n d e A l l ma c h t . . .

    Die Menschen l eb ten . Lebten lus t ig — t raur ig . Sie b i lde ten in Gruppe n

    Kre i se , di e durch Fami l i en- , Verw nndt sch af t s - und Freunde sbez iehungen ge

    schlossen wurden. Da kam in d ie und j ene d ieser Gemeinschaf t en Einer .

    Einer — der ke iner war . ü a wa r e r . — Ein ge l ieb te r Mensch wurde ge wal t sam

    aus e inem Zi rke l herau sger i s sen . Rück s icht s los . Unba rmherz ig . — Kr s t a rb .

    Jeder fühl t e : da war Einer gewesen , h a t t e mi t f r echer Hand d ie Ket t e ihres

    f reudigen Lebens durchschlag en. De r Vers torb ene machte of t schreckl i che

    Wan dlungen des Ausse ren durch . Die Ges icht s fa rb e verb lass t e ins Gelb l i ch-

    wei sse , d i e Augen sanken t i e f in d i e Höhlen zurüc k. Spi t z t r a t en Kinn,

    Backenk nochen und Schläfen hervor . Etw as Gr insendes , Höhni sches l eg te s ich

    in d ie Züge . Die Hau t schla ff t e s i ch übe r dem Brus tkorb , den Hand- und

    Beinknochen, l eg te s i ch an Rippen und Gl i eder schla f f an , da d ie Fe t t schicht

    geschw unden war . Schau r ig sahen d ie Leben den den fürchte r l i chen Ver fa ll

    ihres to t en Genossen . Das , was da ausg es t reck t auf der Bahre l ag , ha t t e

    n icht s Lebendiges mehr in s i ch , n i cht s von Lebendem mehr an s i ch , war to t —

    wa r i hn e n d e r T o d .

    So kamen Küns t l e r und Bi ldner

      darauf

    d e n T o d a l s a b g e ma g e r t e n

    zer fa l lenen Menschen darzus te l l en . Ab er den Uran fang, d i e dumpfe Gewa l t

    des Todes s innl i ch und b i ld l i ch zu verkörpern , bedeute t das n i cht .

    Wi r bewahren aus dem Al te r tum Vas en auf , d eren Umschm uck — be

    f lüge l tes Weib — unzw ei fe lhaf t d as grosse Ende — den To d symbol i s i e ren .

    Die Lemu ren der Röm er , der German en Walkü ren , d i e Er innyen, H arpyien ,

    Si renen, d i e Nem es i s , der Hade s — f rüher pe r sönl i ch , sp ä te r ör t l i ch auf-

    gefass t — das Tote n- oder Höl l enpferd , welch es s i ch zuwei l en in e inen Adler

    oder Delphin verwan del t , bed euten imm er im l e t z t en Sinn e ine Al l egor i e der

    furchtbaren u nbekan nten Macht , d i e schl i ess li ch a l l es zerm ürbt . Auch d ie Vor

    s t e l lung der Schicksa l s f rauen Holda , Behr t a , Abundia gehö r t h i e rzu . Den T od

    a l s S k e l e t t a u f g e fa s s t, s u c h e n w i r z u j e n e r Z e i t v e r g e b l i c h . Z wa r e r z ä h l t

    Der Eigene. - 88 — Jlugustheft 1899.

    Herod ot (Buch II cap . / 8) , dass in Ägy pten be i der Tafe l d i e F igur e ines

    s k e l e t t a rt i g e n M e n s c h e n h e r u mg e r e i c h t wu r d e . Da s b e d e u t e t e a b e r : „ I s s , t r i n k '

    und unterha l t ' d i ch , denn wenn du s t i rbs t , so b i s t du d iesem Abbi ld äh nl i ch ."

    Echt d i e Auf fassung e ines Sinnesepiku reer s . Ni rgend wei sen d ie e r s t en zwöl f

    Jahrh unde r t e nach Chr i s t i den Tod a l s Knoch enma nn auf . A uch d ie ana tom isch e

    Unkenntni s des innern Baues des Menschen b i s dahin ha t wohl dazu be ige t ragen.

    Ers t d i e Gnos t ike r , j ene e igentüml iche n Sekten , d i e s i ch das Re cht nah men ,

    in a l l e r le i Säche lche n Dinge h ine inzudeuten , d i e andere un mög l i ch au s ihnen

    herausf inden konnten , gaben e ine ske le t t förmige Dars t e l lu ng des To des . Ab er

    ihre Ausd ehnun g und ihr Ein l luss war doch zu ger ing , a l s dass s i e d i eser

      Auf-

    f assung des Tod es hä t t en Gel tun g ver schaffen können. Da s „Popular i s i e re n

    1

    '

    — wenn m an so wi l l — bl i eb e r s t e inem Orden vorb eha l t en , der s i ch u m das

    dre izehnte Jahrh unde r t b i lde te und s i ch d ie „Hei l igen Pau lus -Er em i ten " oder

    „ B r ü d e r d es T o d e s " n a n n t e . S e i n e M ö n c h e t r u g e n au f ih r e n G e wä n d e r n

    Ab b i l d u n g e n v o n T o t e n k ö p f en u n d Ge b e i n en , u n d d i e g e me i n s a me n T a f e l n

    schm ückten Mens chensc häde l , welche an d ie b l i t za r t ige Ver gäng l i chk e i t a l l es

    I r d i s c h en g e ma h n e n s o l l te n . D e r Or d e n wu r d e i m s i e b z e h n t e n J a h r h u n d e r t

    von Urban VI I I . aufgehoben.

    A n f a n g de s v i e rz e h n te n J a h r h u n d e r ts e n ts t an d d er T r i u m p h d e s T o d e s .

    J e n e s W e r k , we l c h e s m a n l a n g e Z e i t d e m f l o re n t in i s ch e n M e i s t e r A n d r e a

    C i o n e — n a c h s e i n e m T o d e g e wö h n l i c h O r c a g n a g e n a n n t — z u g e s c h r i e b e n

    hat t e . Das Bi ld , welches in se iner e twa s zer r i s senen Kom pos i t ion verw i r ren d

    wi rkt , ha t e inen hohen s i t t l i chen Gehal t . — Ein Fürs t mag g em ord e t se in .

    Se in f rüheres Weib h a t den e l enden Ver r ä t e r j enes Man nes gehe i ra t e t . Um

    den Sche in im Volke zu wahren , en t schl i ess t man s i ch , mi t gro ssem Gefolge

    die Gräb er des Ent schla fen en und se iner Vor fahren zu besuchen. Eine Le iche

    i s t schon b i s auf s Ger ipp e ausgef ressen worden. Schlang en winden s i ch aus

    den Toten t ruhe n heraus . Ent se t z t r i ch tet der Fe ig l ing d ie s t a r ren Aug en auf

    dies Werk der Zers tö rung — auf den Tr ium ph des Todes . . . Abse i t s s t eh t

    e in Ere mi t ; e r hä l t dem Kai ser d i e Beicht t a fe ln h in und fo rder t auf , Busse

    zu thun. Den ober en l inken Tei l des Gemäldes n imm t e ine Eins i ede le i m i t

    s t i l lem Winkel f r i eden e in . Verschla fen t r äum t e ine k le ine Kapel l e , f romm es

    Get i e r be lebt d i e Gege nd. Hier wi rd der Tod e in l i eber Gas t se in . Au ch d en

    Lahm en, Bl inden, Krüp peln , Gre i sen wi rd se ine Einkehr Er lösu ng bede uten .

    Nich t so in dem Kre i se junger , anm ut iger , l i ebre i zender , l ebens lus t iger Frau en,

    d ie s i ch durch Lautensp ie l zu e rgötzen t r achten . Da schw ebt das a l t e , häss -

    l i che , bef lüge l te Weib , w elches w i r oben bere i t s kennen l e rn ten , hera n und

    schw ingt d i e Sense . Der nächs te Auge nbl i ck wi rd in d i e f röhl i che Rund e

    bi t t e ren Schmerz br ingen. Den Himm els raum des Bi ldes bevölkern v ie l e Höl l en

    ge i s t e r , Teufe lchen m i t l üs t e rnen Tige r - und Geier f ra tzen , l angen Pike n mi t

    Widerhaken und Fledermausf iüge ln , Fr i edensges ta l t en , Engel mi t wei ssen Tauben

    f i t t ichen und Stang en, an deren Enden s i ch Kreuze bef inden. Hier z wän gen

    Teufe l nackte Menschle in in of fene Flamm engräb er , da s t r e i t en Engel und Gei s t

    um die Her r scha f t übe r e in See lchen. Lus t ig t r ag en Bediente Bee lzebubs an

    d e n F ü s s e n z u s a mm e n g e s c h n ü r t e Kö r p e r i n Hä n d e n u n d a n g e r e i h t a u f i h r e n

    Spiessen zur Höl l e . Auf e inem Haufen geschic hte t l i egen wie ruhend Kö nig

    Der Eigene.

    89 -

    Augustheft 1899.

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1899-03

    14/24

    Bischof

    Ar z t , H i r t , No n n e z u m Z e i c h e n , d a s s d e r T o d e s s c h l a f al le S t a n d e s

    u n t e r s c h i e d e a u s g l e i c h t . Da s W e r k , in s e i n e r Ge s a m t h e i t b e t r a c h t e t , i s t wo h l

    a n g e t h a n , d e m n a i v e n Vo l k s s i n n d e n T r i u mp h d e s T o d e s z u v e r d e u t l i c h e n .

    Die Neigun g, s i ch durch Bi lder des Tod es , na ch e iner Se i t e , auf das

    s c h n e l l e Ve r g e h e n u n d Ve r b l ü h e n d e s L e b e n s a u f me r k s a m z u ma c h e n , n a c h

    der andern Se i t e , s i ch zu vergege nwä r t igen , dass man d ie Genü sse des kurzen

    S e i n s v o ll a u s k o s t e n mü s s e , h a t t e we i t e r e u n d we i t e r e Ve r b r e i t u n g g e f u n d e n .

    S o w e i t e , d a s s m a n b ei f e ie r li c he n G e l e g en h e i t en s o g e n a n n te „ T o t e n t ä n z e

    v e r a n s t a l t e t e , d . h . S c h a u s p i e l e , in we l c h e n d e n Z u s c h a u e r n e i n e D i c h t u n g v o r

    g e f ü h r t w u r d e mi t v i e le n Hu n d e r t M i t w i r k e n d e r , d e r e n E i n e r a ls Ac t e u r d e n

    T o d v o r s t e l l t e . — E i n F e s t d i e s e r Ar t , v o n we l c h e m wi r Na c h r i c h t h a b e n , h a t

    1453 in Besa ncon s t a t tg efund en. Au ch in Brüg ge ha t das Jah r 1449 e inen

    s o l c h e n T a n z ( Da n s e M a c a b r e ) g e s e h e n . — E s s c h e i n t n a t ü r l i c h , d a s s Kü n s t l e r

    Gefa l l en an so lchen Spie l en fanden un d s i e b i ld li ch fes t zuha l t en ver su chten .

    S o e n t s t a n d d e r e r s t e T o t e n t a n z i m M i n o r i t e n k l o s t e r a u x I n n o c e n t s . E s i s t

    d i ese Bi lder re ih e d ie ä l t es t e ihre r Ar t , welche wi r kenne n. Zw ar g laubten

    wi r b i sher , dass in Kle inbase l das Jahr 1312 schon e inen so lchen Cvklus her

    v o r g e b ra c h t h ä t t e . D a s h a t j e do c h B u r c k h a r t - B i e d e r m a n n a ls f al sc h b e

    wie sen , i nde m man i r r tüm l ich d ie Jahre szah l 1512 für 1812 ge lesen ha t t e .

    E s k a n n i m e n g e n R a h me n d i e s e s B ü c h e l c h e n s , d a s n ic h t l e h r e n , n u r

    anre gen wi l l , na tür l i ch n icht meine Aufg abe se in , d ie geschich t l i che Ent -

    w i c k e h mg d e s T o t e n t a n z e s i n a l le n b e k a n n t e n P u n k t e n f e s t z u l e g e n. I c h mu s s

    mi c h v i e l me h r b e s c h r ä n k e n , d i e Ha u p t g r u n d z ü g e z u s k i z z ie r e n . W e r e i n e

    F o r s c h e r a r b e i t ü b e r d a s T h e m a l e se n w i ll , d e m e m p f eh l e i c h : „ A l e xa n d e r

    Go e t t e ; H o l b e i n s T o t e n t a n z u n d s e in e Vo r b i l d e r ; i n S t r a s s b u r g b e i K . J . T r ü b n e r ,

    1897 . Et wa s engherz ig i s t der Ver fasser gew esen, wenn er be i der Bet rach

    t u n g , d a s s e r s t Ho l b e i n s T o t e n t a n z i n s e i n e r L o s l ö s u n g v o m T e x t l i c h e n d e n

    W e r t d e s s e l b s t ä n d i g e n Ku n s t w e r k s e r s t r e b e , s c h r i e b : „ Di e s e s d u r c h Ho l b e i n

    e r r e i c h t e Z i e l i s t d e r Hö h e p u n k t u n d e i g e n t l ic h e Ab s c h l u s s i n d e r E n t wi c k e l u n g

    d e s T o t e n t a n z e s ; e s f o lg e n n u r n o ch N a c h a h m u n g e n m i t si ch s t et i g a b

    s c h w ä c h e n d e m E r f o l g ; u n d w e n n u n s e r J a h r h u n d e r t m i t n e u e m I n te r e s s e di e s e n

    Ge gen s tan d ver fo lg t , so geschieh t es nur noch in kul tur - und kuns th i s tor i sch cr

    R i c h t u n g . A l s l e b e n d i g e s Z e u g n i s d e r Z e i t g e h ö r t d e r T o t e n t a n z h a u p t s ä c h l i c h

    d e m M i t t e l a l t e r a n . Nu n , i c h we r d e s p ä t e r k l a r z u l eg e n v e r su c h e n , d a s s g e r a d e

    in den l e t z t en fünfz ig Jah ren Küns t l e r wie Geniessende „den Geg ens tan d a l s

    Zeu gni s der Ze i t mi t neue r Liebe und neuen Gedanken zu pf l egen und zu

    f ö r d e r n t r a c h t e t e n .

    An d ieser Ste l l e wü rde es s i ch — bei f lüchtiger B et rac htun g — vie l

    l e i c h t n i c h t ü b e l u n d u n g e l e h r t a u s n e h me n , e i n e C h r o n i k a l l er T o t e n t ä n z e i n

    Ki r c h e n , K l ö s t e r n , a u f F r i e d h o f ma u e r n , G l o c k e n , S k u l p t u r e n , A l t a r d e c k e n ,

    T e p p i c h e n , v o n d e n e n w i r Ku n d e h a b e n , e in z u f ü g e n . I c h k ö n n t e d i e c ir c a

    s e c h z i g Da r s t e l l u n g e n d i e s e r Ar t , we l c h e b i s j e t z t b e k a n n t g e wo r d e n s i n d , i n

    t r o c k e n e r R e i h e n f o l g e mi t An g a b e n d e s E n t s t e h u n g s - , W i e d e r a u f fi n d u n g s - u n d

    Z e r s t ö r u n g s j a h r e s u . m . h i e r h e r s e t z e n .

    E r s t e n s wä r e e i n e s o l c h e M a s s n a h me g e g e n Z we c k u n d C h a r a k t e r d i e s e s

    W e r k c h e n s g e r i c h t e t — z we i t e n s wü r d e s i e d e m L e s e r i n t e r e s s e l o s u n d e r mü d e n d

    Der Eigene. — 60 — Augustheft 1890.

    s c h e i n e n — u n d d r i tt e n s i s t ü b e r d ie s e n Ge g e n s t a n d — a l s F o r s c h u n g s

    g e b i e t — e i n e u n g e h e u r e e i n g e h e n d e L i t t e r a t u r g e s ch a f fe n w o r d e n ; i c h e r i n n e r e

    n u r a n d i e b e k a n n t e s t e n B ü c h e r v o n M a s s n i a n n , W a c k e r n a g e l u n d S e e l m a n n .

    Um e inen Begr i f f d i eser gema l t en Totentän ze in Ki rch en und Klö s te rn

    zu geben, wi l l i ch mich mi t e inem Hau ptve r t r e t e r d i eser Ga t tu ng beschä f t igen ,

    d e r u n s b e s o n d e r s i n t e r e s s ie r e n w i r d : i c h me i n e d en in d e r B e r l i n e r M a r i e n

    k i r c h e . Um s o me h r , a l s d ie s e s Ku n s t w e r k l a n g e Z e i t h i n d u r c h u n s e r n B li c k e n

    d u r c h T ü n c h e e n t z o g e n wa r , d i e we n i g s t e n s d a s Gu t e i m Ge f o l g e g e h a b t h a t , d a s s

    die Bi lder vor schlechten und ver schlechte rnden Res taura toren ver schont gebl i eben

    s ind und uns so fas t noch in ihren Or ig ina l fassungen über l i e fe r t worden s ind ,

    was s i ch von ähnl i chen We rken in ande ren Städten n icht gera de behaup ten l äss t .

    I m J a h r 1 86 0 g e l a n g e s d e m Ob e r b a u r a t S t ü l e r , d a s Ge mä l d e a n d e r

    W a n d d e s T u r m e s d e r M a r i e n k i r c h e z u e n t d e c k e n . Na c h j a h r h u n d e r t e l a n g e r

    Ve r s u n k e n h e i t u n t e r d e r a ll e s v e r s c h l i n g e n d e n k a l t e n T ü n c h e , wu s s t e e r d e n

    Cyklus wieder an das Lich t zu fördern . Wesh alb und durch we n das Bi ld

    den Bl i cken der Men ge entzo gen wo rden , i s t n i cht mi t Siche rhe i t f es t zus te l l en

    g e we s e n . An z u n e h m e n i s t j e d o c h , d a s s d a s s i e b z e h n te J a h r h u n d e r t d i e Ha n d

    z u r Z e r s t ö r u n g g a n z e r Ku n s t we r k e u n d z u Ve r s c h l e i e r u n g e n d e r s e l b e n g e b o t e n

    ha t , v i e l l e i cht in a l l zu fana t i schem Ei fe r , Neuem , Kom me ndem die We ge zu

    bahne n. Über den Erschaf fe r des We rkes f ehl t , wie be i so v ie l en Schöpfung en,

    j e d e r An h a l t . S o g a r ü b e r d e n B a u p u n k t d e r K i r c h e s e l b s t s c h we b t e i n i g e s

    Dunk el . Er s t das Jah r 1294 h in te r l äss t uns e ine Urkun de , aus deren Inha l t

    wi r auf das Vorhand ense in de r Mar ienki rc he schl i essen können. Sie war zu j ene r

    Zei t völ l ig anders e ing er i ch te t a l s heute und ha t v i e l e Verä nder unge n, Ver

    besserun gen ü ber s i ch e rge hen l assen müsse n . In unserer Geschic hte i s t s i e

    h in längl i ch dad urch b ekan nt gew orde n, dass 1327 der Pro ps t Nicolaus von

    Bernau aus dem Schi f f von e iner b l ind e r regten Menge h inausge t r i eben wurde

    u n d i n d e r Nä h e d e s Ha u p t e i n g a n g e s j ä h l i n g s e r s c h l a g e n wu r d e . No c h j e t z t

    e r i n n e r t d a s Kr e u z li n k s v o m P o r t a l a n je n e M o r d t h a t . D i e Ge me i n d e w u r d e

    mi t ihre r Ki rche in Acht und Bann ge t han und e r s t end gül t ig im Jahr 1347

    daraus bef re i t . Vom gross en Brande der Stad t Ber l in (1380) wu rde das Got t es

    haus n icht ver sc hont , so ndern vol l s t ändig e ingeäsch er t . 1405 schen kte e in

    Bischof

    J o h a n n v o n L e b u s , d e r K i r c h e me h r e r e R e l i q u i e n , wo r a u s z u e r s e h e n

    i s t , dass s i e schon in den Hauptzüg en wieder aufgeführ t se in mus s te . Mi t t e

    d e s f ün f z eh n te n J a h r h u n d e r t s wu r d e d a n n wo h l d e r T u r m g e b a u t , s o d a s s d e r

    Au s f ü h r u n g d e s B i l d we r k e s n i c h t s me h r i m W e g e s t a n d . M a n v e r ä n d e r t e

    spä te r Ein iges an der Vorh a l l e und zer s tö r t e dadurch l e ider t e i lwei se e t l i che

    F i g u r e n d e s T o t e n t a n z e s . I n d i e s e r T u r m h a l l e , we l c h e , d i e n ö r d l i c h e S e i t e d e s

    Hause s e innimmt , e r s t r eck t s i ch , an der l inken Innense i t e des Haup tpor t a l s

    beginne nd, s i ch b i s zum Anfa ng des Schi f fes, welches von un serm Rau m durch

    e ine Ma uer ge t re nnt i s t , h inz ieh end, d er ungefä hr 23 Met er l ange und gege n

    2 M e t e r h o h e T o t e n t a n z . Z i em l i ch h ü b s c h v o m D ü s s e ld o r fe r F i s c h b a c h   auf-

    gef r i scht , h a t heut das Gem älde auf den Besch auer e ine t r e f f l i che , e rns t e

    W i r k u n g . E s g e h t e i n l e i s e r Z u g k ü n s t l e r i s c h e n F o r me n g e f ü h l s d u r c h d i e

    R e i h e , d a s b e m ü h t i s t , j e d e r e i n z e l ne n Ge s t a l t i h r e P r ä g u n g z u g e b e n , I m

    Gege nsa tz zur sons t übl i chen pupp enhaf t e n und hölzernen Scha bioni s i e rung der

    Der Eigene. - 91 -

    Augustheft 189».

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1899-03

    15/24

    Figu ren . Da s g iebt uns d ie Berec ht igun g, den Zei tpunkt der Ent s t ehun g d ieses

    Tan zes nach 1450 anzu nehm en, in welch er Epoch e si ch d ie Kuns t bem ühte ,

    vom Typi schen zum Indiv idue l l en , vom blu t losen fes t s t ehenden zum kraf tvol l

    aufbau enden und s i ch zer s töre nden Leben zu ge langen. Die Bi lder re ihe s t e l l t

    s i ch wen iger a l s Tan z , denn meh r a l s Reigen dar . Und zwar d ie l ebhaf t e re

    Bewegung sehen wi r be i den Todesges ta l t en — halb ske le t t - , ha lb menschen

    ar t igen Wes en. Die Per so nen a l l e r Stände , welche mi t den Tod esges ta l t en

    — banal , aber imm erhin chara kte r i s i e re nd g esag t — bunte Reihe b i lden , geh en

    nur ungern , widerwi l l ig in den aufgezwungenen Reigentakt e in .

    Die Reihe zer fä l lt i n zwei Te i l e . S ie wi rd durch e ine Jesusg ruppe mi t

    Mar ia und Johan nes ha lb ie r t . Zur Linken d ie ge i s t l i chen Körpersc haf t en , zur

    Rec hten d ie Ver t re t e r des wel t l i chen Reiches . Jene Abte i lun g bes t eht a us

    vie rzehn Personen, und auch d iese würde s i ch wohl aus ebenso v ie l en zusammen

    se tzen , wenn n icht , wie bere i t s oben gesagt wurde , durch Umbau Bi lder zer

    s tör t worden wären . Die ge i s t l i che Häl f t e wi rd durch e inen von der Kanze l

    h e r a b ü b e r d a s Ve r g ä n g l i c h e p r e d i g e n d e n F r a n z i s k a n e r e i n g el e i t et . Am F u s s e

    des Verk ündu ngss tu hles k auer n zwei Fra t zen mi t Kra l l enpfoten , dere n e in er

    sündige Weisen auf e inem Dudel sack b läs t , und welche den Teufe l und se ine

    Ver füh rungskü ns te symb ol i s i e ren so ll en . De r Küs te r mi t se inem Schlüsse lbund

    eröf fnet d i e Ket t e , i hm schl i ess t s i ch der Kapel l an an . Es fo lg t der g e i s t l i che

    Richter , dessen Wü rde durch se in ro tes Gew and hervorgehoben wi rd . Na ch

    e i n a n d e r k o mme n Au g u s t i n e r , P r e d i g e r , K i r c h h e r r , d e r Ka l t h ä u s e r mi t d e r

    Kapuze üb er dem Kopf und de r Dok tor , welch er mi t zu d iesem Stan de ge

    rechn et wi rd und bed enkl i ch se in Gla s prüf t , das Aufschluss über da s Bef inden

    e ines zu unte r su chend en kranken Menschen g eben so l l . A hnung s los wi rd der

    Ar z t s e l b s t z u m R e i g e n d e s T o d e s a b b e r u f e n . M ö n c h , Do mh e r r , Ab t ,

      Bischof

    Kardina l se t zen d ie Reihe for t , welche mi t dem höchs ten Würdent räger , dem

    Paps t , abschl i ess t , den der Tod höhni sch angre i f t , we lcher h i e r a l s e inz ige Aus

    n a h me o h n e Gr a b t u c h e r s c h e i n t . Du r c h d a s C h r i s t u sb i l d vo n j e n e m g e t r e n n t ,

    beginnt der Reihen der Wel t l i chen , welcher durch den Kai ser e inge le i t e t wi rd

    und s i ch in der Kai ser in , dem Kö nig , dem völ l ig geharni sc hten Herz og, dem

    R i t t e r , d e m W u c h e r e r mi t d e r Ge l d t a s c h e a m Gü r t e l , B ü r g e r me i s t e r we i t e r

    sp innt . Es fo lgen Junke r , Kau fma nn, Ha ndw erke r und endl i ch e in mi t p lum pen

    Holzsc huhen an ge tha nener Bauer . De n Beschluss b i lde t der Nar r , dessen Füs se

    d e r R e s t a u r a t o r u n g l ü c k l i c h e r we i s e i n d i e P a u k e , s t a t t h i n t e r d i e s e l b e g e s e t z t

    h a t t e . De m Ar c h i t e k t e n T h e o d o r P r ü f e r i s t es z u d a n k e n , d as s i n e i n e r

    spä te ren Ausb esserun g d ieser I r r tum se ine Ber i cht ig ung fand. Zwisc hen den

    Versen des Bauern und Nar ren ha ben d ie der Schan kwi r t in Pla t z gefun den

    welch e Prüfer f ä l schl i ch dem Bet rüger zusch r i eb . An v ie l en Ste l l en i s t der

    Tex t vol l s t ändig unentz i f fe rbar gew orden . Er i s t so angeordne t , dass unt e r

    dem Franz i skan er a l s Ein le i tung v ie rzehn Zei len , unte r j eder anderen P erson

    zwöl f Ze i l en s t ehen, von denen immer j e sechs der Mensch und j e sechs der

    To d spreche n. Um auch h ie r e ine Prob e zu geben, se t ze i ch den Ver s des

    Doktors im Ur text mi t ger ingen Ergänzungen, d i ese lben s ind durch   [ | kennt l i ch

    g e ma c h t , u n d in d e r L e s a r t v o n W . S e e l n i a n n ( J a h r b u c h d e s Ve r e i n s f ü r

    n i e d e r d e u t s c h e S p r a c h f o r s c h u n g , 1 8 9 5, XXI ) h i e r h e r .

    Der Eigene.

    - 93 — Augastheft 1899.

    O r i g i n a l f a s s u n g .

    Hob }Um «flrjt.

    Ijer boctor, meyfler in ber arfljebye,

    3f   tiebbe  jn> rebe gbeefdjrt tuol bryge,

    Hod; meyue 9Y l*Y&*

    r

      lenger  to  leueii

    Dube willen ja) iiidjt tbti gäbe guten.

    £egge(

      wea bat

      glaß mibe fdjeybet barixiii

    Dnbe feet, um wol if ia> uorbantjen Fanl

    ©d ; almedjtige gob, gef bit my HU ralb,,

    lUente  bat watet  is utermateu quatl

    2> t

     folbe a>ol iip bij abbeteFen gba it,

    [lUente ifj fie ben bot barbe cor Hin (tan;

    [Dar jegen] tpnffet Feyn frut in   ben   ga tben .

    [Ejer 3

    t

      *]f"> niolbeftu ninner war beit l

    W o r t g e t r e u e Ü b e r s e t z u n g .

    Tod zum Arz t .

    Her r Doktor , Mei s t e r in der Arzene i ,

    I ch habe euch bere i t s geforder t wohl dre i (Mal ) .

    Noch meine t ihr l e ider l änger zu l eben

    Und wol l t euch n icht zu Got t begeben.

    Leget weg das Glas und sche ide t davon

    Und seht , wie wohl i ch euch vor t anzen kannl

    Arzt

    Acht a l lmächt iger Got t , g i eb du mi r nun Rat ,

    Denn das Wass er is t ausser Maas sen sch lech t

    Ich so l l t e wohl auf d i e Apotheke geh 'n ,

    Denn i ch seh ' den Tod har t vor mi r s t eh 'n ;

    Dagegen wächs t ke in Kraut in dem Gar ten .

    Her r Jesul w ol l t es t du meiner war t en

    Als Szener i e is t für unsern Totentanz e in Wiese nplan a ngeno mm en, der

    s i ch rm Hinte rgrunde in bewalde ten Höhenzügen ver l i e r t . —

    Häuf ig f inde t man im Anschluss an Tote ntanz bi lder oder a l s e inze lne

    D a r s te l lu n g : „ D i e F a b e l v o n d e n d r e i T o t e n u n d d e n d r e i L e b e n d e n . "

    Imm er dre i Mensch en, mei s t aus wohlhab endem Stand e (Ri t t e r , vorn ehme junge

    Männer ) , werden von dre i Gespens te rn Abgeschiedener angeha l t en und e in

    dr ingl i ch auf ihr ausge lassenes f r ivoles Leben aufme rksam ge mach t . Es so l l

    i n d i e s en L e g e n d e n n ic h t d i e e i n g r e i f e n d e M a c h t d e s T o d e s , a ls v i e l me h r

    e i n G e m a h n e n a n d a s J e n s e i t s v e r s in n b i ld l i ch t we r d e n . —

    War en zu Holbe ins Lebze i t en (149/ —1543) Tot entä nze n ic ht s Unb ekanntes

    und Frem des meh r , so war e r doch der Ers t e , welcher s i ch ans Werk m achte ,

    e inen Tan z in e i nz e l ne n Zeichnungen Tür den Holzsc hni t t zu l i e fe rn . Zw ar

    wissen wi r , dass bere i t s 1485 be i Guy Marchan t in Par i s e ine Bucha usgabe

    Der Eigeno. — 93 — Aoguotheft 1899.

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1899-03

    16/24

    mi t f ün f z eh n Ho l z s c h n i t t e n e r s c h i e n , d i e j e d o c h e i n e n T o t e n t a n z i n R e i g e n

    f o r m z u m I n h a l t h a t t e . De r P a r i s e r Ve r l e g e r An t h o i n e Ve r a r d g a b s p ä t e r

    e i n e ä h n l i c h e h e r a u s . M e i s t e n s h a n d e l t e s s i c h u m Ko p i e e n n a c h v o r h a n d e n e n

    Ge mä l d e n , d o c h s o ll n a c h W . L . S c h r e i b e r a u c h d a s u mg e k e h r t e Ve r f a h r e n

    s t a t t g e f u n d e n h a b e n . — M a t t h i a s B i e n e n v a t e r ( Ap i a r i u s ), d u r c h we l c h e n a l s

    Ers t en s i ch d ie Segn unge n der Buc hdru cke rkun s t in Bern ent fa l t e t en , so l l bere i t s

    i m J a h r e 1 5 2 5 d e s N i k o l a u s M a n u e l T o t e n t a n z a n d e r Ga r t e n ma u e r d e s B e r n e r

    Do mi n i k a n e r k l o s t e r s — g e d r u c k t h a b e n . —

    V i e ll e ic h t h a t d e r H o l z s c h n e id e r H a n s L ü t z e l b u r g e r — F r e u n d H o l

    be ins — e inen Einf iuss auf d i e Fer t igu ng der Bi ldchen aus geüb t , denn wi r

    • w i s s e n , d a s s d e r T o t e n t a n z w ä h r e n d d e s g e me i n s a m e n Au f e n t h a l t e s d e r F r e u n d e

    i n B a s e l ( 1 5 2 2 — 1 5 26 ) e n t s t a n d e n i s t . Au s v i e r z i g w i n z i g e n B l ä t t c h e n v o n

    d e r Ha n d Ho l b e i n s , i n Ho l z g e s c h n i t t e n i n c o n g e n i a l e r W e i s e v o n L ü t z e l b u r g e r ,

    s e t z t e s i c h u r s p r ü n g l i c h d e r T a n z z u s a mme n . — I n s p ä t e r e n Au s g a b e n f i n d e n

    wi r b i s achtund fünfz ig Bi ldc hen; da s e rk lä r t s i ch daher , dass Lütz e lburg er

    V o r Z e i c h n u n g e n H o l b e i n s a l s u n f e r t i g e Ho l z s c h n i t t e h i n t e r l a s s e n h a t , d i e v o n

    f r e md e n Hä n d e n v o l l e n d e t wo r d e n s i n d . S o l c h e Na c h b i l d u n g e n s t e h e n we i t

    h i n t e r d e n Or ig i n a l e n z u r ü c k . — I n wa h r h a f t mo n u m e n t a l e r Ar t w i r d h i e r

    d a s u n e r w a r t e t e u n a b w e n d b a r e E i n g r e i f e n d e s T o d e s i n a ll e Ve r h ä l t n i s s e d e s

    Leb ens geschi ld er t . Ab er mehr . In ga l l iger Bi t t e rn i s tr e f fen d ie Bi lder g l e i ch

    p r a s s e l n d e n Gc i s s c l h i e b e n d i e Ku l t u r d e r M i t z e i t e i n e s  l o lbc in . Was in d i esen

    k l e i n e n Z e i c h n u n g e n a n I ro n i e , S a t i r e , Ho h n , Ve r a b s c h e u u n g a u f g e s p e i c h e rt i s t ,

    d a s k o n n t e n u r d e r g e n i a l e Ge i s t e i n e s S c h ö p f e r s z u s a mm e n t r a g e n . N i c h t s

    wi r d v e r s c h o n t . Vo n a l l e m wi r d d e r Vo r h a n g f o r t g e r i s s e n : k i r c h l i c h , s o zi a l

    u n d p o l i t i s c h . D i e b e s t e n Dr u c k e , d i e w i r v o m Ho l b e i n s c h e n T o t e n t a n z

    b e s i t ze n , s in d d ie s o g e n a n n te n „ P r o b e d r u c k e , d e r e n ei n en d a s K u p f e r st i ch

    k a b i n e t t z u B e r l i n a u f b e w a h r t . S i e s i n d wa h r s c h e i n l i c h v o n L ü t z e l b u r g e r

    s e l b s t a b g e z o g e n w o r d e n u n d t r a g e n i n Ku r s i v s c h r i ft ü b e r j e d e m B i ld e d e s s e n

    ' E r k l ä r u n g .

    I c h v e r z i c h t e

      darauf

    e ine Beschre ibung der e inze lnen Bi lder d i eses Tanzes

    z u g e b e n , d a s e l b i g e r d e r A l l g e me i n h e i t h i n r e i c h e n d b e k a n n t i s t — d e m Un

    k u n d i g e n a b e r Ge l e g e n h e i t g e b o t e n i s t , in j e d e r g r ö s s e re n S t a d t i n Ku p f e r s t i c h -

    s a mml u n g e n , ö f f e n t l i c h e n B i b l i o t h e k e n d a s W e r k k o s t e n l o s e i n z u s e h e n .

    D i e B e z e i c h n u n g e n s i n d :

    1.  Die schöfffung aller Ding.  13 .  Der Münch.

    2.   Adam Eua im ParadyJS.  14 .  Der Artzet.

    3 .  VJJiribung Ade Eue.  15 .  Der KeyJ~er.

    4.   Adam baivgt die erden.

      16 .

      Der Künig.

    5.   Gcbeyn aller menschen.

      17 .

      Der Herzog.

    6.

      Der Bapst.

      18 .

      Der Groß.

    7 Der Cardinal.

      19 .

      Der Ritter.

    8.

      De r  Bischoff

    20 .

      Der Edelmann.

    9.   Der Thümhcrr.  2 1 .  Der Ratszlicrr.

    10.   Der Aft. 22. Der Richter.

    11 .

      Der P harrherr.  2 3 .  Der Eürs/räch.

    12 .  Der Predicant.

      24 .

      Der Rych mann.

    Der Eigen e. — 94 — Augustheft 1899.

    2s. Der Kaufmann.

      33 .

      Die Greßnn.

    26 .  Der Krämer.  34 .  Die Edelfra ui.

    11 .  Der Schiffmann.

      35 .

      Die Azttszinn.

    2S .

      Der Ackermann.  36 .  Die IVitnne.

    29 .  Der Alt mann.

      3 / .

      Dasz Alt iveyb.

    30 .

      Die Keyferinn.

      38 .

      Dasz Jung hint.

    31 .

      Die Küniginn.

      39 .

      Dasz Jüngß gericht.

    32 .  Die Uerlzoginn.

      40 .

      Die tuafen desz Thotsz.

    1526 s t a r b Lütz e lbur ger , und d ie Holzsc hni t t e , welch e ma n in se inem

    N a c h l a ss e v o rf a n d, e r h i e lt d e r B u c h d r u c ke r M e l c h i o r T r e c h s e l i n L y o n , d e r

    i m J a h r e 1 5 3 8 i n Ge me i n s c h a f t mi t se i n e m B r u d e r C a s p a r d i e e r s t e He r a u s

    g a b e d e s Ho l b e i n s c h e n T o t e n t a n z e s i n B u c h fo r m v e r a n s t a l t e t e . S i e g a b e n d e m

    Bande e inen f ranzös i schen Text be i , der aus Bibe l s t e l l en und Versen , d i e s i ch

    a u f d e n T o d b e z i e h e n , u n d fr o mme n B e t r a c h t u n g e n b e s t a n d . D i e s e r Au s g a b e

    s ind v ie l e , v i e l e — über hun der t — gefolg t . Erw ähn en w i l l i ch d ie Na ch

    b i l d u n g d e s Dr u c k e s i m B e r l i n e r Ku p f e r s t i c h k a b i n e t t ; h e r a u s g e g e b e n v o n

    F r i e d r i c h L i p p m a n n ; b e i E r n s t W a s mu t h , B e r li n 1 8 / 8 / 7 9 , u n d d i e F a k s i mi l e -

    R e p r o d u k t i o n d e r o b e n g e n a n n t e n e r s t e n Au s g a b e ; b e i Ge o r g H i r t h ; M ü n c h e n ,

    1884.

      Au s s e r d e m g r o s s e n T o t e n t a n z h a t Ho l b e i n e i n T o t e n t a n z a l p h a b e t , u n d

    e inen Entw ur f für e ine Dolch sche ide geze ichn e t , denen dasse lbe Mot iv von

    der Al lgewal t des Todes zu (»runde l i eg t .

    Wenn Holbe in in se inen Werken v ie l e Ar ten und Si tua t ionen, in denen

    der Tod se in e inz iges grau sam es „Au s l brü l l t , vere wigt h a t , so is t e r doch an

    d e r S c h i l d e r u n g e i n e s B i l d es v o r ü b e r g e g a n g e n : — d i e P e s t . I m J a h r e 1 5 4 3

    schl i ch d iese Buhler in m i t dem Tode sodem an se in ä rml iches e l endes La ger

    und vergi f t e t e m i t i hren f i eberhe i ssen Küssen den verg ängl i c hen Körper des

    u n s t e r b l i c h e n M e i s t e r s u n d M a l e r s — Ho l b e i n .

    S e in Z e i tg e n o s s e A l b r e c h t D ü r e r , w e l c h e r d e r K u l t u r e p o c h e u m 1 50 0

    den unaus löschl i ch en Stemp el se ines genia l i schen Gei s t es an d ie St i rn ge prä gt

    ha t , gre i ft n i cht sehr gern in se inen Blä t t e rn das düs te re Th em a auf . Bem erken s

    wer t i s t j edoch, d ass e iner se iner f rühes ten Kup fer s t i che — wen n n icht der

    f rühes te , j edenfa l l s sch on vor 1497 ent s t and en — in se inem Ged ank eninh a l t

    j e n e m S t o ff g eb i et e n tn o m m e n w u r d e : D e r T o d m i t d e m W e i b e . A u f d e r

    Hö h e s e i n e s Kö n n e n s , i m B e s i tz e e i n e r bi s z u m ä u s s e r s t e n Gr a d e v e r f e i n e r t e n

    TechniR,- se t z t e r se inen Gr i ffe l 1513 auf d i e Pla t t e , um no ch e inm al mi t d en

    M ä c h t e n j e n e r Üb e r w e l t i n s e el i s c h e Ve r b i n d u n g z u t r e t e n . S o e n t s t e h t s e in

    s p ä t e r w e i t u n d b r e i t b e r ü h m t g e w o r d e n e r S t i c h : R i t t e r m i t T o d u n d

    T e u f e l . E i n h e r r l i c h g e s c h i r r t e r E d l e r re i t e t , d i e L a n z e a u f d e r S c h u l t e r , i n

    die Schla cht . Se in Begle i t e r , ebenfa l l s zu Ross , i s t der T o d ; e r hä l t j enem

    die San duh r vor und mahn t , dass des Ri t t e r s Ze i t ba ld abge laufe n se i . De r

    bocks be in ige Teufe l mi t dem St i e r schä de l und der Pike fo lg t , um e ine so

    k o s t b a r e S e e l e s o f o r t n a c h d e r Ka t a s t r o p h e f ü r s i c h z u e r b e u t e n . — De r T o d

    i s t auf d i esem Bla t t a l s a l t e r Mann mi t e iner Schla ngen kron e im Ha ar dar

    g e s te l lt , w ä h r e n d d i e se b e i d e m T o d e in de n a p o k a l y p t i s c h e n R e i t e r n

    Dü r e r s f e h l t . S c h o n b e i s e i n e m S c h ü l e r B a r t h e i B e h a m f in d en w i r d e n T o d ,

    s t a t t a l s G r e i s , a l s S k e l e t t d a r g es t e ll t , w i e u n s d a s s e in B l a t t A d a m u n d

    Der Eigene. _ 95 — Augustheft 1899.

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1899-03

    17/24

    E v a ze ig t . Hier is t das Ger ippe a l s Baum der Versuchun g angenomm en, um

    den si ch d ie Schlan ge , welche Eva den Apfe l dar re i cht , winde t . Es i s t i n

    dem St i ch e in ausgeze ich ne te r t i e fe r Sinn entha l t en , den d ieser Mei s t e r der

    Kle inkuns t i n grossm ei s t e r l i cher Weise zum Ausdru ck gebra cht ha t . —

    . . . Da n n k a me n L e u t e , d i e a u c h T o t e n t ä n z e b e z w. B i l d e r d e s T o d e s

    ze ichne ten , a u c h , wie jener Gröss t e auf d i esem Gebie te , für den I lo l zs tock ,

    a u c h a l s P e r s if l a g e v o n ' Z e i t g e n ö s s i s c h e m . Ab e r a ll e n f e h l te — U r s p r ü n g

    l i chke i t . . . . D as w aren m ei s t ens g la t t e und l eere Nach ahm unge n des Einen —

    des Grossen . Ging doch d ie Naiv i t ä t d i eser Küns t l e r so wei t , dass e in Her r

    J . R . S c h e l l e n b u r g i m J a h r e 1 /8 5 z u W i n t e r t h u r e i n en T o t e n t a n z u n t e r d e m

    T i t e l h e r a u s b r a c h t e : „ F r e u n d He i n s E r s c h e i n u n g e n ; i n H o l b e i n s e h e r M a n i e r ? *

    A b e r a u c h d e r b e d e u te n d e D a n i e l C h o d o w i c k i e n t w a r f fü r d e n L ü n e b u r g e r

    Kalender vom Jahr e 1792 zwöl f Bla t t Tot enta nz , d i e doch n icht im s t ände

    waren , a l lgemein zu in t e ress i e ren . Das b l i eb e r s t wieder e inem vie l spä te ren

    Cyklus vorbeha l t en , der von e inem ge i s t r e i chen Schöpfer au s e iner s türm ischen

    Epoche h erausg eboren %vurde . — Es sche in t a l so , dass Ze i t en , deren S tagna t ion

    d u r c h e i n en g e wa l t s a me n Ums c h w u n g g e l ö s t we r d e n m u s s , d a s e r f o lg r e i c h e

    Hervorbr inge n so lcher Werk e bevorzugen . Und wenn in unsern Tag en s i ch in

    dieser Bez ieh ung wieder Ersche inungen vom H intergrun de deut l i ch abheben,

    so haben wi r d i e Erklä ru ng, dass das Schaf fen j ed es Einze lnen von uns e in

    P a r t i ke l c h e n d e r g e i s t i g e n Umwä l z u n g b e d e u t e t , d ie d a s E n d e d e s n e u n

    zehnten Jahrhunder t s in den Anfang des zwanzigs t en h inüber l e i t e t .

    Der ze i tl i chen Hergehör igk e i t we gen w i l l i ch das Gem älde P. v . Co r

    n e l i u s ' „ D i e a p o k a l y p t i s c h e n R e i t e r " e r w ä h n en , d as j e do c h i n d e r

    Kompo s i t ion .Düre r s g l e i chnam iger Arbe i t nahe ve rwan dt e r sche in t , und

    G; v . R o s e n s „ M a l e r s T o d " , i n we l c h e m d e r Kü n s t le r , d e r s o e b e n ei n B il d

    vom Leben schaf fen w ol l t e , an se iner Sta f fe le i vom S ensenm ann abberufen wi rd .*)

    - • ;• F e r d i n a n d M a x K u r t h .

    *) Im näch s ten Hef t fo lg t e ine wei t e re Veröf fent l i chung.

    D H

    Der Eigen» . — 98 — Aug ustheft 181)9.

    J O S E P H S A T T L E R

    D E R W U R M S T I C H

    Z U K B R D . M A X K U R T H : R E I G E N D E R T O T E N T Ä N Z E .

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1899-03

    18/24

    Vo n d e r Z u k u n f t u n s e r e s E r k e n n t n i s s t r e b e n s

    M ot to : Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet,

    Der immerdar am schalen Zeuge klebt,

    Mit gier'ger Hand nach Schätzen gräbt

    Und froh ist, nenn er Regenwürmer findet

    Faust

    H

    aben wir eine Wissen schaft? — Ich bringe es nicht fertig die

    Frage mit einem unbedingten Ja zu beantworten, so sehr ich

    auch dadurch Gefahr laufe, tausend Köpfen vor die Stirn zu

    stossen und mit dem  onsensus omnium  in einen heiklen Konflikt

    zu geraten. Also: Ja und Nein

    Wir sehen heute die volle Blüte dessen, was mir als die

    Vorstufe derjenigen geistigen Bestrebung erscheint, die für nach

    kommende Ge schlechter Wissensch aft heissen w ird, aber diese Vor

    stufe ist für mich noch nicht die H öhe selbs t Das, was heute

    allgemein Wissenschaft genannt wird, hat für mich und andere, denn

    ich glaube damit nicht durchaus allein zu stehen, keineswegs die

    hohe Bedeutung dessen, was man in zwei- bis dreihundert Jahren

    vielleicht so nennen wird. —

    Wir leben in einer Art Vorbereitungszeit, wo man anfängt,

    die verfügbaren Kräfte zu überschau en, von allen Seiten Rohm aterial

    herbei zu schleppen und die Werkzeuge zu prüfen. Leider ist man

    abe r noch in dem Wahn befangen, all dies Vo rbereitende sei schon

    die Arbe it selbst. Man nimmt für Wissenschaft und Kultur das

    Chaos", aus dem Wissenschaft und Kult ur erst w erden sollen

    Was ich da ausspreche, sind kühne Behauptungen, geboren

    aus einem Impulse, einem instinktiven Sich-Auflehnen gegen den

    Kollektivgeist, der, mit einem Bilde aus der Chemie, vor lauter

    Freud e über die nützlichen Nebenprodukte die Beobachtung und

    Leitung der Vorgänge ausser acht lässt, die das vielleicht praktisch

    unnütze, wissenschaftlich aber hochinteressante und wertvolle H aupt

    produkt liefern sollen.

    Stellen wir nun die Frag e, was soll uns die Wissenschaft,

    warum betreiben wir sie, was ist der Sinn dieses Strebens, so liegt

    Der Eigene. — 99 — Aagustheft 1899.

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1899-03

    19/24

    die Antw ort auf der Hand : „Sicherlich nicht das Streben selbs t "

    Denn das Hantieren mit Büchern und Instrumenten, der äusserliche

    Apparat, befriedigt wohl den Knaben und den Jüngling, von dem

    sich der M a n n dadurch unterscheidet, dass er sich Ziele setzt, die

    er aus klaren Augen anschaut und auf die er mit starken Schritten

    losgeht. Ihm ist der Appa rat nur Mittel zum Zweck. —

    Und nun frage ich, sind sie Männer oder kleine Jungen, jene

    Philologen, die mit textkritiscken Balgereien um Interpunktions

    zeichen ihr Leben hinbringen? Sind sie in Wah rheit Männer der

    Wissenschaft, jene traurigen Scharen von Spezialisten, die, auf eine

    bestimmte Materie eingeschossen, in ihrem eugen Göpelwerke zwar

    die zierlichsten Sprünge, die geistreichsten Kapriolen zu machen

    verstehen, aber nie, nie in ihrem ganzen langen Leben auch nur

    ahnen, wozu sie eigentlich im Kreise herumlaufen, was die Mühle

    mahlt, die sie betreiben helfen.

    „Aber ich bitte Sie," antwortet mir der wissenschaftliche Klein

    krämer, „verkennen Sie doch nicht unser ehrliches Bestreben Bau

    meister können doch nicht alle sein, und damit ein Haus zustande-

    komme, bedarf es der Maurer und der Mörteljungen. Es ist die

    Aufgabe des P hi lo so ph en , die Einzel-Resultate, die unsere Arbeit

    zu Tage wühlt, herzunehmen und daraus ein Gesamt-Eesultat zu

    schweissen, ein System "

    „Ganz richtig — Des Philosophen Aber bitte schön,

    ^ zeigt mir ihn, dass ich ihn sehe von Ang esicht zu Angesicht, vor

    ihm niederfalle und ihn anbete Die ser?? ? — B itte, das ist ein

    P s y c h o l o g , einer euresgleichen, ein Spezialist, ein Detailmensch,

    ein Pontius Pilatus, der sich die Hände in der Milch seiner lauteren

    Denk art wäscht und spricht: „Es giebt kein ,Ding an sich' und

    die Seele hat man sich nicht etwa als Atom einer immateriellen

    Subs tanz zu denken, sond ern sie ist aufzufassen als die Gesamtheit

    der psychischen Vorgänge, welche wir erstens " Herr —

    , Was habe ich d av o n Was hilft es mir, wenn ich Ihr Buch aus

    der Hand lege, Iliren Hörsaal verlasse und mir nicht sagen kann:

    „So, nun w ei ss t du, nun bist du befriedigt, e rl ö s t, weil du

    e r k a n n t h a s t " "

    Mein Mitunterredner, der Spezialist, lächelt herablassend: „Ah,

    junger Mann, nun weiss ich, was Ihnen fehlt Sie sind noch auf

    jener Entwickelungsstufe , wo man me tap hy sis ch e Be dü rfn isse

    Der Eigene — 100 — Auguatheft 1899

    ha t Je nun, das werden Sie sich schon noch abgewöhnen We rden

    Sie nur mal älter Aber einstweilen, hier —"

    Und er langt eine neue Puppe.

    „Der da? — Nu, stellen Sie man Ihren aschgrauen Katheder-

    Metaphysikus ruhig wieder in den Schran k Wissen Sie, was

    Heinrich Heine zu dem Fall meinte?

    „Zu fragmentarisch ist Wel t und Leben,

    Ich. will mich zum deuts chen Profes sor b egeben.

    Der weiss das Leben zusammenzusetzen,

    Und er macht e in verständl ich System daraus,

    Mit seinen Nachtmützen und Schlafrockfetzen

    Stopft er die Lücken des Wel ten baus "

    Seien Sie überzeugt, die H i n t e r w ei t ist noch lange nicht die

    Ü b e r w e l t " —

    Nun wird der Spezialist wild und fängt an zu schimpfen:

    „Ei Sie unwissenschaftlicher  Kopf Sie So gehen Sie doch zum

    Teufel — Pardon, ich wollte sagen zum Pfaffen oder zum Kü nstler,

    lassen Sie sich ein