Der Eigene : 1903-06

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    DER EIGENE

    EIN BLATT FÜR MÄNNLICHE KULTUR

    KUNST UND LITTERATUR

    JUNI 1903

    CHARLOTTENBURG

    BUCH UND KUNST HANDLUNG

    DER EIGENE

    ADOLF BRAND  CO

    M O T T O :

    Der Freunü sei Euch ins Fest der Enlcl

    l-RIEDRICH NIETZSCHE.

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    J - ^ l — A \ L - l V J L - i AA _*

    EIN BLATT FÜR MÄNNLICHE

      KULTURJKUNST

    asusuiOiusGü UND LITTERATUR  U IS IS IS IS IS

    HERAUSGEBER: ADOL F BRAN

      o

     CHARLOTTENBURO

    JUNI 1903

    INHALT:

    Atoll« von Friedrieh Nirl7*chc o Seite .102 o .Antinous , Kopl, nach einer Reproduktion

    \  der .Neuen l'hnlographischcn Gcscllschalt in Steglitz o Seite 365 o „Antinous , Stand-

    | liild vom Kapitol, Gedicht von t-'rido Lindcinann o Seite 3tifi o .Antin ous Skizze von

    l'e ler Mille o Seite .107 o .Sophokles — .Michel Angeln — .William Shakespeare

    von l'e ler l l l l le o Seile 308 o .Aul e inen schonen Knaben , Gedicht von Frido Lindcinann

    o Seile 370 o .Fischcrknahc , Kunstblatt , nach e iner Statue des dänischen Bildhauers

    Wilhelm Bissen o Seite 371 o .Freuiidschallsweihc , Erzählung von H. C. Andersen,

    deutsch von Otto W eiter o Seite 373 o .Hirtenknabe , Kunstblatt , nach e iner Statue

    von Wilhelm Bissen o Seite 381 o .Unterwegs , Gedicht von Wull Schwerdtlcger o

    Seite 383 o .Schlußakknrd , G edicht von W ull Schwerdtlcger o Seile 384 o .Herder

    über die Scham haltigk cit der Griechen und Virgils o Seite 385, o .Speerwerfer , Schluß-

    i Vignette von Fidus, mit Erlaubnis der modernen Sportzeitschrill .Krall und Schönheil*

    o Seile 300 o .Achilleus , Kunstblatt , nach e iner Statue von Wilhelm Bissen o Seite

    301 o .Frauenbewegung und männliche Kultur , Aulsatz von Edwin Bab o Seite 393 o

    .Lanier , Schlulivignetle von Fidus, mit Erlaubnis der modernen Spo rtzeitschrilt

    .Krall und Schönheit o Seile 407 o .Schwarze Nachte , Gedicht von Max Mayer o

    Seile '108 o .Der Liebling des Spartacus , Kunstblatt, Gruppe des französischen Bild

    hauers Itarrias o Seite 400 o .Ist es notig ? , Novelle vo n Diogen o Seite 4

     t

    o .Tanzer ,

    Kunstblatt von Fidus o Seile 417 o .Fidus , Essay von Dr. Hans Bethge o Seite 419

    o .Im Strud el der Hauptstad t verloren , Gedicht v on Amand Ernesti o Seite 424 o

    .In Sanssouci , Gedicht von Orestes o Seile 425 o .Friedrich der Große , Schlu ßvignette ,

    nach einer alten Zeichnung o Seite 4 27 o .Bergn acht , Gedicht von Adolf Brand o

    Seile 428 o .Bücher und Menschen o Seite 420 o .Die Gemeinschaft der Eigenen ,

    Vereiusnachricliten o Seite 431 o Inserate o Seite 432 o

    jahres-Abonnemcnts nehmen alle Buchhandlungen entgegen zum Preise von 12 Mark

    Ihr die zwöll M onals-Heltc , deren Gesamtinhalt 50 Druckbogen unilassen wird, pê y

    Einzelnummern sind Ihr 1.50 Mark zu beziehen.

      c^Se*^3r^c^3r*z3c*s3t*z3e

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    ANTINOUS

    m großen Reich die ferne, dumpfe Provinz. Am Welthof der Cäsaren,

    die Seele bei der Sklavenmutter, der Sklavenschwester.

    Wie drückend die es haben mögen?

    Und Hadrian wehrt so verdrießlich ab die mehr mit den Augen

    und um den Mund, als mit den Lippen flehenden Wüns che: die Heimat

    hierher zu bekommen

    Er will keine eigene Welt um den Knaben, der ihm eine Welt

    sein soll

    Und das große Römcrrcich, wie w eit es hält; und der Gram mit f

    dem Griinilichcn ; die frischfremd e Ehrfurcht vor dem Eigen en, Feinen, f

    Tiefen; unbefriedigt ein alle Künste und Wunder durchblätterndes Härmen; i

    alle Die,die zu dem zärtlichlaunischcn Machthaber wollen und seelisch nicht f

    zugelassen werden; dieses Welken von dem feierlichen, feindselig ver-

    schlossenen Welken, dieses Entsetzen vor der mildschrillen Stimme —

    und wie er nach Mädchen verlangt und wie diese .kichernd wie vor was

    Unreinem vor ihm fliehen verächtlich weitereilend, nicht lockend ver-

    sagend — wie er selbst sich so sonderbar ist, so einzig . . . . und '

    bald dann nimmt auch er ab und w ird nicht mehr sein oder was [

    ganz Häßliches, wie verbrauchter Hausrat Fortgeworfenes . So, das Alles |

    ohne es zu wisse n, in sich, schreitet er wie eine Elegie, wie ein erlesenes ;

    Gedicht, wie ein verhaltener Tanz sich wiegend auf Hüften, die von i

    zögernder Trauer einer Vollendung gewölbt sind und die sinnend des [

    Vergänglichen innc ist, so e legisch schreitet A ntinous in den wärmlich |

    schwellenden, befruchtend bebenden Nil, den Fluß geheimnisvollen

    Quells, der sich als Meer sieht und keimend als Erde fühlt; so|

    schreitet der Jüngling, der verwirrt sich als Weib findet, in dem ztu

    gr oß e Sc hö nh ei t Kampf hat, in den Nill J

    Nah dem Sphinx bringt er dem Flusse ein Rätsel, das er nicht«

    lösen kann: seinen Leib

    Und röter und röter wand sich die schauern de Fläche wie von Blut,

    Antinous sank, die Sonne steig t — —

    PETER HILLE

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    c o DEK EIGENE

    Kg

    SOPHOKLES

    Der Areopag lauscht.

    Kristallklar klingen die edelwuchtigen Tetrameter. Wie Vögel des

    Zeus und des weissagenden Apollo flattern die Chöre auf, die groß

    wie ein Schicksal sich lösen und binden.

    Und so wiegt sich der lesende Greis stark und gelind auf der

    tragenden Anmut seines großen Werkes.

    Sogar der Atem des Lebens wartet in der fühlenden Brust, um

    nicht zu stören den friederauschenden Löses ang des ödi pus von

    Koionos.

    Weihe der Andacht im Richtsaale des Areopags.

    Sophokles hat geendet.

    „Hier, ihr Richter, meine Verteidigung —

    Ist das Werk besonnen oder ist es d as Toreuwerk eines Mann es,

    der von Sinnen is t, der der Verwaltung sei nes , Vermögens enthoben

    und entmündigt werden mußte?"

    Nun wandte der Sprecher sein ätherhelles, weltüberhobenes Auge

    zu der Stelle, wo vier schwarze Augen scheu den Boden suchten.

    Deutend frei hob sich sein Arm aus s chneew eißer Chlamys; denn

    seine Brust hatte nichts zu verbergen. Auch das Alter nicht. Seine

    Glieder w aren hell und frisch und wie fernes Feuer blühte sein

    mächtiges Haupt durch das feiugekräuselte Haar, das wie Asche auf

    klarer Glut war.

    .Und gab ich dem Knaben, der mir den Becher einschenkte, ein

    Talent, so waren seine Lippen mir junge Rosen, so habe ich von

    seinen Lippen nur Schönes und Liebes gehabt.

    Was aber erhielt ich Freundliches von euch, die ihr Alles haben

    wolltet, was mein ist?

    Was gabt ihr mir, meine Söhne?

    Vielleicht, daß ich hier bin?"

    Der Älteste der Richter erhob sich:

    Wie konnten wir uns wohl erkühnen, über dich zu Gericht zu sitzen?

    Wir sagen nun: wir sind nicht würdig, dich frei zu sprechen,

    Vortrefflicher

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    o o älil'lluKI.US. o o

    3üU

    Aber verzeihe uns, u Freund der G ötter, wir handelten nach dem

    heimischen Numus, nach der Vater Satzung, die auch dir heilig ist."

    In früher Würde und Klarem Jüiiglingsfeuer allcrgosscncu Geistes

    gab der Greis zurück:

    „Gern ihr Männer, willfahr ich euch.

    Selig die Stadt, die sich Richter weiß, denen die erhabene Dichtung

    Beweis wird."

    Der Richter aber erhob die Rechte: „Seht; der Achtzigjährige, der

    ein Höchstes schrieb und sprach wie erl Solange du wei lst, V or-

    trefflicher, kann es der Stadt nicht fehlen, deren Sohn du bist. Denn

    so lange ist sie der Liehe der hehren Athene sicher. So mö ge denn

    Zeus", betend hob er und mit ihm alle betend die Arme, „so möge

    denn Zeus dein Leben schonen, uns eres Ruhmes E delsten "

    MICHEL NGELO

    So laß mich mit dir ruhen, du kulturherber Stein, du Leib der

    Starke, der du türmst und walzest alle Wucht des Leibes und der

    Seele, auf dem starken Nacken Tempel trägst zu Ehren des All-

    mächtigen

    WILLI M SH KESPE RE

    „Was er mit dem Jungen nur hat?

    Es ist nicht mehr richtig mit ihm "

    Ja, der frische, dumme Tom, der Aufwarler im „goldnen Apfelbaum",

    er war dem, forschend ins Entfliehende starrenden Auge das wankende

    Wcltgebaudc, mit stark und groll und unvermeidlich sich austuenden

    Menschen, und der Schauder vor der vornehmen Seele des Freundes,

    da er sein Volk da drinnen dichtete

    PETER HILLE

    UF EINEN SCHÖNEN KN BEN

    W i e gerne ruhn meine Blicke auf dir,

    du Knabe mit deinem verwirrten Haar

    und mit deinem träumenden Augenpaar —

    wo bist du gewesen die lange Nacht?

    was hast du geträumt? ich träumte von dir,

    und du hast gew iß nicht an mich gedacht —

    Du schöner Knabe, o gingst du mit mir,

    zu spinnen mit mir verzauberte Träume:

    wir gingen langsam durch blumige Räume,

    und Märchenprinzesschen kämen gegangen

    und pflückten Blumen und schenkten sie dir,

    mit leisem Lächeln auf lieblichen Wangen

     

    Und flögen fort durch die leuchtende Luft —

    da blinkt es am Himmel wie Feiertag

    und glänzte wie Gold in dem klaren Bach,

    und wir — wir träumten, wir liebten uns,

    und träumten von Farben, von Glanz und Duft

    und träumten im Traume, w ir liebten uns

    Du kennst mich nicht und beachtest mich nicht,

    dp Knabe m it deinem verwirrten Haar

    und mit deinem träumenden Augenpaar —

    du kennst nicht mein kostbares Glück, dich zu sehen;

    du ahnst auch die heimlichen Gluteu nicht,

    und antwortest kalt meiner Blicke Flehen

     

    FRIDO LINDEMANN

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    FREUNDSCH FTSWEIHE

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    UII

      einer kleinen Reise eben zurückgekehrt, wuchst schon unser

    Verlangen nach einer größeren. Aber wohin? Nach Sparta?

    Aiyeene — Delphi Hundert und hundert Orte gibt es ja,

    deren Namen das Herz vor Reiselust pochen machen. Da geht e,s hoch

    /u RuIJ die Bergsleige hinan, über Strauch und Busch, und wie eine

    Karavnne reist da ein Einzelner. Er selbst an der Spitze mit seinem

    Argüjat; ein Lastpferd nagt Koffer, Zelt und Proviant und einige

    Soldaten folgen zu seinem Schulz. Kein Wirtshaus mit molligem Bett

    empfangt ihn nach der mühevollen Tagereise. Da ist ein Stück Lein

    wand sein einzig Dach inmitten der groben, wilden Natur; der Argojat

    kocht den Pilaf zum Abendmahl; unzählige Mücken umsumsen das

    kleine Zelt, das der Reisende nach unruhiger Nacht wieder verläßt, um

    morgens früh seinen Weg durch hochgeschwollene Flüsse fortzusetzen

    Heil Nun sitze fest auf deinem l'ferd, da

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      dich die Flut nicht fortspühle.

    Und welcher Lohn für diese Besenwerden? Ja, der grüßte — herr

    lichste Hier offenbart sich die Natur in ihrer ganzen Macht; jeder

    Fleck Erde ist historisch; — mii dem Auge genießt der sinnende Ver

    stand. Wohl kann der Dichter davon singen , der Maler in reichen

    Bildern es wiederspiegeln, aber der Dult der Wirklichkeit, der für

    immer eindringt in die Gedankenwelt des Beschauers, den vermögen

    beide nicht wiederzugeben.

    Der einsame llirte drüben im Felscngcbirgc konnte vielleicht besser

    als alle Reisebesehreibungcn durch eine einfache Frzahlung aus seinem

    Leben dir die Augen öffnen und dich das Land der Hellenen mit

    einzelnen, schlichten Strichen  M hauen  lassen.

    So möge er reden Von einem Brauche, einem schönen eigen-

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    o DER EIGENE o o

    tümlichen Brauch soll der Hirt vom Berge uns berichten: Von der

    Freunschaftsweihe.

    Aus Lehm war unsre Hütte zusammengekleistert; doch gerippte

    Säulen, dort gefunden, wo man das Haus baute, rahmten die Türe ein.

    Das Dach, fast bis zur Erde geneigt, war nun baulich und altersgebräunt;

    doch blühender Oleander und frische Lorbeerzweige von jensei ts der

    Berge deckten es, da man es errichtete. Eng war es um unsre Hütte;

    steil, nackt und schwarz strebten die Felswände empor, und oft hingen

    Wolken wie weiße lebende Gestalten auf ihren Gipfeln. Nie hörte ich

    da Vögel s ingen; nie tanzten hier Männer zu den Tönen der Sackpfeife;

    aber heilig war die Stätte von Alters her; noch kündet der Name da

    von: Delphi heißt sie jal Schneebedeckt lagen die fiusteru, ernsten

    Bergriesen, und der höchste, der am längsten in der roten Abendsonne

    erglühte, war der Parnaß. Den Bach, geheiligt einst auch er, der nahe

    bei unsrer Hütte vorbeischoß, trüben nun der Esel Hufe; doch er eilt

    weiter und bald ist er wieder klar. 0 , wie entsinne ich mich jedes

    Flecks und seiner heiligen, tiefen Einsamkeit

     I

      Mitten in der Hütte wurde

    das Feuer angezündet, und wenn die heiße Asche hoch und glühend

    zurück blieb, darin das Brot gebacken. Lag aber der Schnee rund um

    unsre Hütte, daß sie beinahe darin vergraben war, dann erschien mir

    meine Mutter am frühesten. Dann nahm sie mein Haupt zwischen beide

    Hände, küßte mir die Stirne und sang Lieder, die s ie sonst nie sang,

    denn die Türken, unsre Herren, mochten sie nicht leiden. Und sie sang:

    .Auf dem Gipfel des Olymps, im niedern Fichtenwald, saß ein

    alter Hirsch. Seine Augen waren schwer von Tränen, von roten, ja

    grünen und blaßblauen Tränen, die er weinte. Kam vorbei ein Reh

    bock: . .W as ist dir doch, daß du so weinest, weinest rote, grüne,

    ja blattblaue Tränen?"* . .D er Türke ist kommen in unser  Dorf;

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    über die Inseln"", sprach der junge Rehbock; .. ic h jage s ie über die

    Inseln in die tiefe See"". Aber ehe der Abend niedersank, war der

    Rehbock getötet, und ehe die Nacht kam, lag der Hirsch gejagt und tot".

    Und wenn meine Mutter so sang, feuchteten sich ihre Augen und

    eine Träne hing in den langen Augenwimpern. Doch sie verbarg sie

    und wandte unser schwarzes Brod in der Asche. Dann ballte ich wohl

    die Hände und sagte: .Tot schlagen wollen wir den Türken " Sie aber

    sang wieder den Schluß der Weise: .Ich jage s ie über die Inseln in

    die tiefe See . Aber ehe der Abend niedersank, war der Kehbock ge

    tötet, und ehe die Nacht kam, lag der Hirsch gejagt und tot".

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    o o Ik ia iND S CIlAh T S W L II I i o o

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    Viele Nächte und Tage waren wir allein geblieben in der Hütte;

    da kam der Vater. Sonst brachte er mir Muscheln vom Golf vo n

    Lepantu oder gar ein Messer scltarf und gleißend mit; diesmal brachte

    er uns ein Kind, ein klein nackend Mädchen, das er unter seinem

      Schaf-

    pelz trug. In Kelle war es gewick eil und Alles, was es besa tt, da es

    von diesen entblüüt in meiner Mutter Schott lag, waren drei in sein

    schwarze s Haar eingebundene Silbcrmünzcu. Und Vater erzählte von

    den Türken, die des Kindes Kitern ersch lagen; so viel erzählte er uns,

    datt ich die ganze Nacht davon träumte. Der Vater selbst war ver

    wundet; die Mutler verband seinen Arm; die Wunde war   tief.  Der

    Pelz des dichten Schaffelles war steif von gefrorenem Blut. Das kleine

    Mädchen sollte ineine Schwester sein. Sie war so lieblich, so strahlend

    rein; meiner Mutter Augen leuchteten nicht sanfter als die ihren.

    Auastasia, so hiett sie, .sollte meine Schwester sein, weil ihr Vater

    meinem Vater angetraut war, ziigeweiht nach einem alten Brauch, den

    wir auch jetzt noch halten. In ihren Jüugliugsjuhrcii halten s ie Brüder

    schaft geschlossen, und die schönste, tugeiuheichsie Jungfrau der ganzen

    Gegend halle ihren Krcmidschnlishimd geweiht. Oft hörte ich da von

    diesem schonen und eigenen Brauch.

    §o war die Kleine nun meine Schwester. Sie satt auf meinem

    Scholl; ich brachte ihr Siräuüe von den Keltern der Bergvögel; wir

    tranken zusammen von den Wassern des Parnaß; wir schliefen Kopf

    au Kopf unter der Hülle Lorlicerdach, und viele Winter noch saug

    meine Muller von den rolen, grünen und den blattblauen Tränen; aber

    noch begriff ich nicht, dall mein eigenes Volk es war, dessen tausendfache

    Leiden sich in diesen Tränen widerspiegelten

    Eines Tages kamen drei fränkische Männer in fremder Kleidung.

    Ihre Bellen und Zelte hallen sie auf Plerdiu, und iiulir als zwanzig

    waren freunde des Pascha, ausgerüstet mit dessen Geleitsbriefen. Sie

    kamen einzig und allein um uiisre Berge zu sehn, in Schnee und Nebel

    den Parnatt zu besteigen und die seltsamen, schwarzen, schroffen Kelsen

    rings um unsre Hülle zu betrachten. Sie konnten in dieser nicht Platz

    finden, auch ertrugen sie den Iv'aucli nicht, der inner dein Dache hin-

    und durch die niedere Türe herauszog. Aul dein schmalen Platz vor

    unsrer Hülle spannten sie ihre Zelte aus, brieten Lämmer und Vögel,

    und schenkten süße, starke Weine, von denen die Türken aber nicht

    trinken durften.

    Als sie fortzogen, folgte ich ihnen ein Stück Weges, mit meiner

    76

    o o DER EIGENE o o

    Schwester Anastasia, die ich, eingenäht in ein Ziegenfell, auf meinem

    Rücken trug. Einer der fränkischen Herren stellte mich gegen eine

    Felswand, zeichnete mich und sie, so lebendig, gerade so wir dort

    standen, daß wir aussahen wie ein einzig Wesen. Und wahrhaftig —

    bisher hatte ich nie darüber nachgedacht — Anastasia und ich waren

    ja auch nur eins. Immer lag sie auf meinem Scho ß, oder hing auf

    meinem Rucken, und träumte ich, war sie in meinen Träumen.

    Zwei Nächte darauf kam ander Volk in unsre Hütte, bewaffnet

    mit Messern und Gewehren. Es waren Alba ncser, tollkühne Männer,

    wie meine Mutter sagte . Nur kurze Zeit verweilten s ie, aber als sie

    weiterzogen, hatte Anastasia, die auf des einen Schoß gesessen, zwei

    und nicht drei Silbermünzen im Haar. Sic legten Tabak in Papier

    streifen und rauchten davon. Der Älteste sprach vom We ge, den sie

    einschlagen müttten und war in Ungewißheit darum. „Spucke ich  auf-

    wärts", sagte er, „so fällt es mir in's Gesicht, spucke ich abwärts, so

    fällt es in meinen Bart". Ein Weg wurde am Ende doch gewählt und

    mein Vater folgte ihnen. Bald darauf fielen Schusse und wieder und

    wieder knatterte es. Dann kamen Soldaten in die Hütte, ergriffen meine

    Mutter, mich und Anastas ia; die Räuber hätten Zuflucht bei uns ge

    funden, sagten sie, mein Vater sei ihnen gefolgt, deshalb müttten wir

    fort. Ich sah der Räuber Leichen, und sah Vaters Leiche und weinte,

    bis ich darüber einschlief. Als ich erwachte, waren wir im Gefängnis,

    in einem Raum, nicht schlechter als der in unsrer eigenen Hütte, und

    ich bekam Zwiebeln und harzigen Wein, der aus geteerten Schläuchen

    gego ssen wurde. Besser hatten wir's ja daheim auch nicht.

    Wie lange wir so gefangen saßen, weiß ich nicht; wohl viele

    Nächte und Tage m ögen hingegangen se in. Gerade am heiligen Oster

    feste kamen wir heraus. Ich trug Anastasia auf dem Rücken, denn

    meine Mutter war krank, und langsam nur kamen wir vorwärts, bis wir

    Lepanto's

      Golf

    das Meer erreichten. Wir betraten eine Kirche. Wie

    erglänzte die im Schmuck der Bilder auf goldnem Grunde Engel waren

    es ,

      oh so herrlich schö n Und doch — Mir schien klein Anastasia

    nicht minder schön, wie sie. Mitten auf dem Kirchenboden stand ein

    Sarg mit Rosen gefüllt. Das war unser Herr Jesus Christus, der da

    lag, sagte m eine Mutter, die allerheiligste B lume. Und als der Priester

    verkündete: „Christ ist erstanden", küßte sich alles Volk, einer den

    andern und alle hielten brennende Kerzen in den Händen. Auch ich

    erhielt eine und die kleine Schwester eine. Die Sackpfeifeu erklangen

    und Hand in Hand tanzten die Männer von der Kirche weg, vor welcher

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    o o Ikl UNIWCIIAnSWKIlll: o o 3 7 7

    diu Frauen das Üstcrlamin brieten. Audi wir wurden dazu eingeladen

    und als ich beim Feuer sali, faßte ein Knabe, etwas alter als ich,

    mich tun den Hals, küßte mich und sp rach : „Christ ist erstand en " —

    So begegneten wir uns das erste Mal, Aphianides und ich.

    Meine Mutter konnte Fischcrneizc stricken, was ihr hier an der

    Bucht guten Verdienst einbrachte,  um wir blieben lange Zeit am Meer.

    — An dem h errlichen Meer, das wie Trauen schmeck te und mit seinen

    Farben an den weinenden Husch aus Mutter's Lied gemahnte; bald

    war es ja rot, bald grün, und dann auch wieder blau.

    Aphtanides ko nnte Scliilte lenke n, und ich saü mit meiner kleinen

    Anastasia im Boot, das aul dein Wasser dahinglitt, wie eine Wolke in

    den Lüften schw ebt. Da sank die Sonne und blauer und blauer wurden

    die Berge; ein Felskamm guckte iiber den andern hinweg, am weitesten

    weg aber stand sclinecgckront de r Parnaß . Sein Gipfel leuchtete in

    der Ab endson ne wie glühendes Eisen; aus seinem Innern heraus schien

    das Licht zu strahlen, denn lange, lange nach Sonnenuntergang glänzte

    er noch in der blausclüllcrndcu Luft. Allein die weißen Seevög el

    schlugen mit ihren Schwingen den Wasserspiegel, sonst war es so stille

    hier .wie in Delphi zwischen den schwarzen Felsen. Ich lag rücklings

    im Boo t, Anastasia an meiner Brust. Über uns schienen die Sterne

    heller als die Leuchter in unsrer Kirche, — die gleichen Ster ne, ganz

    an derselben Stelle, wie ich sie wohl in Delphi sah, wenn ich abends

    vor der Hütte gesessen, und mir war auch zuletzt, als säße ich noch

    dort. — Da — es platschte etwas in's Wasser — das Boot schwankte

    heftig — ich schrie laut aul: Anastasia war iiber Bord gefallen Aber

    hurtig und flink sprang ihr Aphtanides nach und reichte sie hinauf zu

    mir. Wir zogen ihr die Kleider aus und kleideten sie, nachdem diese

    ausgerungen w aren , wieder an. Desgleichen tat Aphtan ides und wir

    blieben d raußen, b is das Zeug w ieder trocken ward. So wußte niemand

    um unsre Angst um die kleine Pflegeschwester, an deren Leben nun

    ja auch Aphtanides sein Teil hatte.

    Der Somm er kam. Heiß brannte die Sonn e und die Laubbaume

    welkten. Ich dachte an unsie kühlen Berge und ihre frischen Wasser.

    Auch meine Mutter sehnte sich nach ihnen und eines Abends wanderten

    wir zurück. Wie stille, wie ruhig war es doch Über hohen Thymian,

    der noch duftete, obschou die Sonne seine Blatter ausgedörrt hatte,

    wandelten wir. Kein einziger Hirte begeg nete un s, keine Hütte lag an

    imserm Weg; nur die Sternsch nupp e allein sagte uns, daß etwas lebte,

    dort oben im Himmel. Ich weiß nicht, w ar es die reine blaue Luft,

    26

    3 7 g o o DER EIGENE o o

    die so leuchtete, war es der Sterne Strahlen, daß wir so deutlich die

    Umrisse der Berge gewa hren konnten . Meine Mutter machte Feuer,

    briet die mitgebrachten Zwiebeln und ich schlief mit lieb Schwesterchen

    im Thymian ohne Furcht vor dem gräulichen, feuerspeienden Smidraki,

    vor Wölfen oder Schakalen; unsre Mutter wachte ja bei uns War

    dies nicht genug?

    Unsre Heimstatt lag in Trümm ern. Eine neue Hütte mußte gebaut

    werden . Meiner Mutter halfen einige Weibe r und in wenig Tagen

    standen die Mauern, auf welche ein neues Dach von Oleander gelegt

    wurde . Aus Rinden und Häuten flocht meine Mutter Flaschen hälsen ;

    ich hütete die kleine Herde der Pr iester. Anastasia und die kleinen

    Schildkröten waren meine Spielgenossen.

    Eines Tages erhielten wir Besuch von dem teuern Aphtanides; er

    hätte sich so sehr nach uns gesehnt, sagte er, und blieb ganze zwei

    Tage bei uns.

    Einen Monat darauf kam er wiederum, um uns ein Lebewohl zu

    sagen, denn er sollte mit einem Schiff nach Corfu und Patras segeln.

    Meiner Mutter brachte er auch einen großen Fisch. Gar viel wußte

    er zu berichten , nicht allein von den Fischern unten am üolf von

    Lepanto, sondern auch von Königen und Helden, die einstmals Griechen-

    land beherrscht hatten, wie jetzt die Türken.

    Oft sah ich den Rosenbaum Knopsen ansetzen und diese in Tagen

    und Woch en zu entfalteten Blumen wer den ; bev or es mir aber

    klar wurde, wie groß, schön und leuchtend rot sie waren, standen sie

    da in voller Biüte. So war es auch mit Anasta sia; ein prächtig ge -

    wachsen es Mädchen war sie, ich aber ein kräftiger Bengel. Die Wolfs-

    felle auf den Betten der Mutter und Anastasia's hatte ich selbst den

    Wildtieren , die meiner Büchse fielen, ab gezog en. — — So gingen

    Jahre dahin.

    Da kam eines Abends Aphtanides, schlank wie ein Rohr, kraftvoll

    und gebräu nt. Er küßte uns alle und wußte viel zu erzählen vom

    ewigen Meer, von Maltas Festungswerken und Ägyptens seltsamen

    Grabstätten. Wun derbar klang das ; wie Legenden der Priester. Und

    mit einer gewissen Ehrfurcht sah ich zu ihm auf.

    .Wiev iel du doch weiß t", sagte ich, .und wie schön du erzählst "

    .Doch das allerbeste hast ja du mir einst erzahlt", antwortete er,

    .nie ist es aus meinen Gedan ken geschwu nden. Weißt du noch von

    dem schönen, alten Brauch der Freundschafts weih e? Oh dieser Braucht

    Wie drängt es auch mich ihm zu folgen. Bruder — Komm , laß uns

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1903-06

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    o o rRUUNUSCHAI TSWLII IK o o 37 g

    zwei, w ie eins dein und Anastasia's Vater taten, zur Kirche gelin und

    Anastasia, das schöns te, unschuldigste M ädchen, — die Schwester, —

    sull uns einander weihen. Kein Volk hat doch herrlichere Gebrauche,

    als wir Griechen "

    Hut wie ein frisches Rosenblatt ward da Anastasia und meine

    Mutter küßte Aphtan ides

    Kine Wegstunde von uii.sier Hülle entfernt, dort wo die Felsen

    l-'riichtcrde tragen und Itiiuiiie Schatten spenden, lag die kleine Kirche.

    Eine Silberampel hing vor dem Altar.

    Ich trug meinen Sonntagsstaat. Die weißen Postanellen fielen in

    reichen hallen über die Hüften herab; das rote, enge Wams umschloß

    knapp die Urust; Silber vv.u in die Mtitzeiupuiste eingefloch ten und

    Messer und Pistolen ruhten im Gürtel. Aphianides war in der blauen

    Tracht der griechischen Seeleute. Auf seiner Urust hing eine Silber

    platte mit dem Mullergoltesbild; sein Leibgurt aber war kostbar, wie

    reiche Herren nur ihn tragen können. So konnte man wohl seh en,

    daß wir zur Hochzeit gingen. In der kleinen Kirche, durch deren Türe

    die Abendsonne auf die ewige Lampe und die bunten, goldgrundigen

    Heiligenbilder fiel, knieten wir an den Stufen zum Altare nieder.

    Anastasia stellte sich vor uns hin. Kin langes, we ißes Gewand umkoste

    los und leicht ihre schonen Glieder; den w eißen Hals und die Brust

    bedeckte ein aus alten und neuen Münzen zusammengefügtes Gewirk,

    und auf dem Haupte, zu einem einzigen Knoten verschlungen, ruhte ihr

    langes schwarzes Haar, gehalten von einer kleinen Haube alten Gold- und

    Silbermünzeu. Reizenderen Schmuck trug wohl kein griechisches Mad

    chen. Ihr Antlitz glänz te; zwei Sterne waren ihre Augen.

    Zuerst sprachen wir alle drei ein stilles Gebet; dann frug s ie uns:

    „Wollt ihr Fremde sein auf Leben und auf TodV"

    Wir antworteten: Ja

    „Wollt ihr in jeder Lebenslage immer dessen gedenk en: Mein

    Haider ist meinerselbst ein Teil; mein Geheimnis ist sein Geheimnis

    und mein Glück das seine Wie für das Heil der eigenen Seele will

    ich alles opfern, alles ertragen für das Heil der Seele meines Bruders."

    Und wieder antworteten wir: „Jal"

    Da legte sie uusre Ilaude ineinander, küble uns beide auf die

    Stime und wieder verweilten wir in stillem Geb et. Da trat der Priester

    aus des Altars Pforte und segne te uns alle drei, dann erklang der Ge

    sang der allerheiligsten Herren hinter den Altarwänden hervor. — Der

    ewige Freundschaf tsbuiul war gesc hlos sen — Als wir uns erhoben, sali

    ich meine Mutter aniKirchenpoilal s tehen; s ie weint e mit tiefer Innerlichkeil

    2b»

    380

    o o DER EIGENE o o

    Wie frohmütig waren nun die nächsten Tage in unsrer kleinen

    Hütte und an D'elphi's Quellen. Am Abend vor seiner Abreise saßen

    Aphtanides und ich am Rande des Felsen's. Um meine Lenden

    schlang er seinen Arm und ich den meinen um seinen Hals. Von

    Griechen lands N ot sprachen wir und von Männern, deren es bedurfte.

    Jeder Gedanke in unsern Seelen lag klar vor uns Beiden, Da ergriff

    ich seine Hand:

    „Etwas muß ich dir noch sagen; etwas, das bis zu dieser Stunde

    außer mir nur Gott weiß. Meine ganze See le ist Liebe; Liebe mächtiger

    als die zur Mutter, stärker als zu dir".

    .Und wen liebst du?" frug A phtanides, bis auf den Hals hinab errötend.

    .Ich liebe Anastasia " sagte ich. — Wie eine Leiche wurde er so

    weiß und seine Hand zitterte in der meinigen.

    Ich sah dies — und   begriff Ich glaube, daß auch meine Hand

    bebte. Ich beugte mich über ihn, küßte sein e Stime und flüsterte: „G e

    sagt habe ich es ihr noch nie. — Vielleicht liebt sie nicht mich BruderI

    Bruder So denke doch , wie sie aufgewachsen ist an meiner Seite,

    hineingewachsen in meine Seele "

    .Und dein soll sie sein " rief er, „dein. Nicht will ich dich b e

    lügen; auch ich liebe sie. Aber morgen reise ich weg ; —u nd in einem

    Jahr seh en wir uns wieder. Ich habe einiges Geld; dein sei es ; nimm

    esl — Du mußt es nehmen " Schweigsa m wanderten wir dann durch

    die Berge und erst am Abend standen wir vor meiner Mutter Hütte.

    Anastasia hielt uns die Lampe entgegen, als wir eintraten; meine

    Mutter war fort. Wunderbar wehmütig blickte Anastasia auf Aphtanides.

    .Morgen ziehst du von uns fori; wie sehr betrübt mich dasl"

    .Betrübt dich das " wiederholte Aphtanides, und mir schien darin

    ein Schmerz, groß wie meiner zu liegen. Ich konnte nicht sprechen.

    Da nahm er ihre Hand und sag te: .U nse r Bruder liebt dich Hast auch

    du ihn lieb? Gerade aus seinem Schweigen spricht seine Liebe "

    Anastasia zitterte und brach in Tränen aus. Und ich sah nur sie,

    schlug den Arm um ihren Leib und sa gte: „Ja, ich liebe dich " Da

    drückte sie ihre Lippen auf meinen Mund, schlang die Arme um meinen

    Hals; — die Lampe aber war zu Boden gefallen und finster war es

    um uns, finster wie im Herzen des armen Aphtanides.

    Vor Tages Anbruch erhob er sich, küßte uns alle zum Abschied

    und zog fort, nachdem er meiner Mutter all sein Geld für uns gegeben

    hatte. — Anastasia ward meine Braut und einige Tage darauf meine Gattin.

    H. C ANDERSEN |Evciityr O Hitturu-r I.]

    Aus dem Dänischen übertrugen vun Ott» Weiter.

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1903-06

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  • 8/9/2019 Der Eigene : 1903-06

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    UNTERWEGS

    p i n st i l les Hätsc l warst Du, das ich

      fand,

    Noch ungelöst — Dir selber unbekannt;

    Im Hoheit l ich geworden und gerei f t —

    Ein Reis, das nuch kein Schicksalsturm gestreift .

    Das reizte mich , drum nahm ich Dich ge fangen.

    Bl ind bis t Du in mein Netz h ineingegangen

    Dann kam der Tag, da ich Dich n ackend sah,

    Da ich die Losung Deiner katsel fand —

    Der Tag, da mein Du warst, und es geschah,

    Dali ich als Dein Gebieter vor Dir stand.

    Die Seele tr ieb ich Dir aus Deinen Hohn

    In meine Tief en - • Dor t g ing sie ver loren,

    Um rot und stark aufs Neue zu erstellte

    Aus Erdcnscl igkc i t und Blut geboren

    WUI.I SUIWKKDTFEUKR

    r

    SCHLUSS KKORD

    (Jeber einem Beet von welken Astern

    Schaukelt wie ein Tropfen heißen Bluts

    Eine dunkelrote Georgine

    Durch die Dämmerung der Gräberreihen

    Leuchtet matt ein weißes Marmorkreuz

    Im Abendrot

    Wie ein kleiner, müdgewordner Falter

    Schweben durch die Luft verwehte Klänge

    Eines letzten Liedes • . .

    K lingen . . . u nd . . verglüh n . . . .

    WULF SCHWHKDTI-EGER

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1903-06

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    HERDER

    ÜBER DIE SCHAMHAFTIGKEfT DER GRIECHEN UND

    VIRGILS

    N

    icht alle Klimata und Nationen setzen selbst den Vor-

    stellungen und Ausdrücken der Liebe einerlei Schranken.

    Die hitzigen Morgenländer, die in ihren Gesetzen fast

    eine Belohnung auf den setzten, der in den ersten Zeiten der

    Wildheit ein einsames Frauenzimmer ehrbar gelassen, waren

    auch in Bildern diese r Art beinahe unbän dig. — Je mehr

    sie ihre Schön heiten versch lossen und iiberschleie rten, desto

    weniger erröteten sie, Werke und Glieder der Liebe,

    insonderheit in der Sprache der Leidenschaft,   üc r  Eifersucht,

    des strafenden Zornes zu nennen. Man nenne ihre Frei-

    heiten aber nicht Freiheiten der Natur, sondern einer

    entarteten Natur, eines despotisch orientalischen Weiber-

    umganges . . .

    Bei den Römern findet sich, nur auf eine andere Weise,

    eine Unterdrückung dieser Sittlichkeit, die ich aus ihrem

    von jeher rohen Charakter erklare: aus dem Kriegerischen,

    das ihnen zur Natur ward, und aus der männlichen Harte,

    die eine so zarte Empfindung leicht etwas ersticken konnte.

    In den meisten ihrer Dichter, und fast auch ihrer Schriftsteller

    überhaupt, herrscht eine solche männliche Schamlosigkeit.

    Auch hier hielten die Griechen eine gewisse schöne

    Mitte zwischen Morgenländern und Römern. Die asiatische

    Hitze, in Etwas abgeküh lt durch die europ äische Mäßigkeit,

    bestimmte aber den Ton einer warmen Liebe, einer sanften

    Wollust, w elcher Materien dieser Art bei ihnen durchg ängig

    zu charakterisie ren scheint. Vielleicht hat keine Sprac he der

    Welt ein so süßes Wörterbuch der Liebe, keine Nation eine

    8 6 o ° DER EIGENE o o

    Menge so einfaltig unschuldiger Liebesgemälde, kein Zeit-

    punkt der Politur vielleicht die Urbanität  auf  den Simpeln

    und   feinen Weltgenuß zurückgeführt, als der  aoitia w;

    der Griechen. Die Liebeschilderungen ihrer Poeten, die

    Menschheitsgesetze ihrer besten Philosophen, die historischen

    Gemälde ihrer Lebensart in den besten Zeiten, sind so sehr

    in den Schranken der schönen, unschuldig einfältigen Natur,

    als sie von unserer heutigen Galanterie und Politesse und

    Hofartigkeit entfernt sein mö gen Ich wüns che dem Schrift-

    steller griechisches Gefühl, der über die Schamhaftigkeit

    Homers schreiben will

    Und in der Tat, wenn die feine jonische Wollust nicht

    dem poetischen Geiste der Griechen Charakter gegeben

    hätte — wie viel schöne Kinder der Poesie von Homer und

    Anakreon und Sa ppho an, bis auf Theokr it und Moschus zu,

    würden Embryonen der idealistischen Wollust geblieben sein

    Und wer, nach dem Klosterzwange unserer Zeit, eine be-

    urteilen, uns e i n e ra uben will, der raube uns lieber die

    Mutter mit allen Kind ern alle üpp igen Bilder griechisch er

    Wollust

    Der zweite Punkt griechischer Freiheit betrifft das

    Nac kende ihrer Bilder, und so auch ihrer Ausd rücke des

    Nackenden in der Sprache — Wer kennt hier nicht die

    griech ische Freih eit? Allein, wer sie kennet, wird er sie

    verdammen?

    •Einem Lehrer der Kunst müssen Worte erlaubt sein,

    die keinem Anderen, und einem Griechen, die keinem

    Barbaren erlaubt sind Nicht nur, daß die herrlichsten

    Denkmale der Kunst vor ihren Augen nackend, bloß standen,

    und ihre Kunst überhaupt weder das schöne Nackte, als

    das züchtig Verhüllte liebte ; auch in der Natur selbst bildete

    sich hier eine Art von eigener nationalgriechischer Scham-

    haftigkeit des Auges, die Niemanden fremd dünken kann,

    als wer unter ihnen noch kein Grieche geworden

    Nackte Ringer, nackte Kämpfer, nackte olympische

    Sieger, nackte badende Schönen, nackte Tänze, nackte Spiele,

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1903-06

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    o  IIEUUEK 

    87

    nackte Feste, halbnackte Trachten — und ihre Dichtkunst

    sollte einpressende Klusterlumpeii dulden  Ihre besten

    Schriftsteller sollten eine Noniienehrbarkeit sich einander

    eingestehen, die das Auge des ganzen üriechenlandes, und

    die Zunge der Ältesten, Ehrwürdigsten und Feinsten des

    Publikums sich nicht eingestand? — die sich selbst die

    Philosophen in ihren Sittenstunden nicht eingestanden?

    In einem Punkte, wo es so sehr auf Gewohnheit der

    Augen ankommt, sollte man, denke ich, eben diese An

    gewo hnheit doch wohl bei einem Volke zu Rate ziehen, da s

    sich in ihr so sehr auszeichne t — Noch jetzt ist d as Ge

    fühl der Italiener über diesen Punkt von dem Gefühle nörd

    licher Euro päer sehr verschieden. Und sie sind doch, dem

    einem Teile nach, selbst ja nördliche E urop aer Und sie

    sind doch, dem anderen Teile nach, noch keine Griechen an

    Natur Und sie wohnen do ch nur unter zertrümmerten

    Resten griechischer Ku nst Und sie haben doch eine Re

    ligion, die so sehr die Verhüllung liebet Und sie sind schon

    in einer Lebensart, die vom bürgerlichen Wohlstande und

    der Politesse gebildet wird

    Wie? und die Griechen, zum Gefühle, der Wollust ge

    boren, von Jugend auf unter den Schönheiten der offenen

    Natur erwachsen, zur Lust und Freude bei ihren Spielen

    eingeweihet, und noch nicht zum sklavischen Puppenwohl-

    stande verdammt, sie sollten nicht eine eigene Sittlichkeit

    des Nackend en haben dürfen? — Sie sollten wir verdammen ,

    wenn sie nicht nach Nonnentraehten ihre Zeit schildern?

    Sie sollten sich nicht der Jugend der Welt, der Unschuld

    ihres Zeitalters erfreuen dürfen, von unseren züchtigen Ver

    hüllungen frei zu sein? Sie sollen verschleierte persianisch e

    Figuren, Chineserscliönheiten mit verhüllten Fingerspilzen

    wer den ? Und ihre Dichter eine Briseis mit schönen Knieen,

    eine Spartanerin mit schönen Hüften, eine Venus Anadyomene,

    einen Bacchus mit schönem Bauche, einen Bathyllus, wie ihn

    Anakreon sehen will, nicht unschuldig züchtig nennen dürfen,

    da ganz Griechenland sie so sieht?

    88

    o o ER EIGENE o o

    So wenig ich diese Freiheiten zum Privilegium unserer

    Zeit, statt einer uralten deutschen Bescheidenheit, haben kann,

    so wenig will ichs den Griechen in der Morgenröte ihrer

    Sittlichkeit angestritten haben

    Ich will vielmehr mit der Unschuld, mit der Plato seinen

    Greisen erlaubt, die Spiele der munteren Jugend anzusehen,

    aus meinem greisen Zeitalter hinaustreten, und die Freuden

    griechischerjugend, und die Natursprache griechischer Dichter,

    und das nackend Schöne der griechischen Kunst, und die

    Philoso phie der Liebe bei einem Sok rates so betrach ten,

    als wenn ich mich selbst in die muntere Unschuld dieser

    Weltjugend zurückversetze, und zu einem griechischen Ge

    fühle zurück verjüngt wü rde. Dann erst kann ich Griechen

    lesen

    Von der eigentlichen Anständigkeit unserer Zeit, von

    der Hofpolitesse unseres Wohlstandes, haben die Griechen

    Nichts gewußt; ganz und gar Nichts gewußt

    „Schade genug für sie "

    Immerhin Sch ade nur noch mehr Schade um den ehr

    baren Tadel unserer Kunstrichter, die etwas in Griechenland

    suchen, worauf kein Grieche Anspruch machen will — und

    Das nicht zu schützen wissen, was sich an freiem edlem

    Gefühle unter den Griechen findet

    0, daß eine Muse, eine der Charitinnen selbst aus

    Griechenland auflebte, um uns ihre Lieblingsfreundin, die

    g ri ec h is ch e Schamhaftigkeit zu zeigen, nur daß diese keine

    Kloster- und Hofpuppe sei

    Virgils Schamhaftigkeit kann zweierlei bedeuten: die

    Züchtigkeit seines persönlichen Charakters, oder seine Ehrbar

    keit als Schriftsteller. Beide sind ganz verschied ene Sachen.

    Wer weiß es nicht, daß die feinsten Zweideu tigkeiten

    bloß auf dem schlüpfrigen Witze einiger Zeitgenossen, auf

    dem wandelbaren Eigensinne eines üppigen Sprachgebrauchs

    oder Sprachmißbrauchs beruhen? . . .

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1903-06

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    o o

      nnuw u

      o o ^gg

    Wer weiß nicht, daß eben ein archaisierender Schrift

    steller, wofür Virgil bekan nt ist, am ersten Gefahr lauft, den

    Neulingen der Sprache obscön zu werden?

    Wer weiß nicht, daß ein Dichter immer lieber einen

    hohen, alten, starken Ausdruck sancte et religiöse setzen, als

    daß er ihn für die Ohren einiger Zuchtkrämer auslassen

    w i rd ? . . .

    Und welch ein unwü rdiger Begriff ist es doc h, einem

    Dichter zuerst und vornehmlich zu solchem Ehrbarkeits

    pedanten zu machen? . . .

    Virgil kann immer ein schamhaftes Gesicht — anständig

    gesprochen: immer eine fromme, edle Seele und eine an

    ständige Lebensart bew iesen und doch schöne, Knaben

    geliebt, und doch die Motia llieria gekannt haben

    Ich sehe Nichts, daß sich aufhebe, und daß sich insonder

    heit zu den Zeiten Mä cenas hätte aufheben dürfen

    Ists denn so widersprechend, daß ein Mensch, zur

    sanften Wollust g ebore n, auch dies es Sanfte in seiner Miene

    zeigt? — daß Das, was in der weiblichen Miene schmachtend,

    ein Liebreiz der Venus wäre, in einem männlichen Gesichte

    eine Art von Un schuld, von jungfräulicher Besch eidenh eit,

    von schamhafter Frömmigkeit werde?

    Muß ferner Der, der schöne Knaben liebt, damit aller

    bürgerlichen Ehrbarkeii, und, der sie unschuldig liebt, aller

    Tugend der Seele entsag en? . . .

    War es den n S chamlosigkeit, einen Alexis von Mäcenas

    zum Geschenk zu nehmen, ihn lieben, sich an ihm, als Mund

    schenk en, bei d er Tafel zu erfreuen ? schö ne Leute und, nach

    römischer Wirtschaft, schöne Knaben um sich zu sehen?

    Ich weiß nicht, welcher E hrbare nicht an der Stelle

    Virgils, in seiner Gunst Mäcenas, in seiner feinen Art, diese

    Gunst zu genießen, sein kö nnte ? . . .

    Ich mag keine neue Verteidigung

      ticr

     Somatischen Liebe

    überne hmen , da schon mehr als einer sie verteidigt hat. Aber

    ich betrachte Virgil nicht als Som atische n Liebhab er seines

    Alexis, sondern als den Liebessänger desselben. Und welch

    39

    o o fcK EIGENE o o

    ein brennender L iebesgesan g? Wer könnte die, Flamme noch

    entschuldigen? — Ich bins, der sie entschuldigt.»

    Ich stelle mir den hübschen Jungen des Pollio und das

    schamhafte Jungfraueng esicht, d en züchtigen Virgil, vor, wie

    er nach ihm schielet; wie er sein Auge an ihm weidet, ihn

    lobet, ihn liebkoset Pollio macht die Sache zum Sp aße :

    sein Freund soll erst ein Corydon werden, soll erst um

    Alexis werben — Virgil w ird Coryd on Er verwandelt sich

    in einen poetischen Schäfer, ahmt Theokriten nach und ver

    setzt sich n ach Sizilien mit seinem Alexis. Da klaget er den

    Waldern ungefühlte Leiden; da flehzt er über seine un-

    empfundene Verzweiflung; da seufzt er über seine Ver

    achtung, über die Sprödigkeit seines Lieblings — da wird

    seine zweite Ekloge — — Ein feines L obgedicht auf

    Alexis, eine schöne poetische Liebeswerbung — wert eines

    schönen Knaben, wert eines Alexis

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1903-06

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    BISSEN

    CIIILLEUS

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1903-06

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    FRAUENBEWEGUNG UND MÄNNLICHE KULTUR

    an hört vielfach sagen die Kultur der Menschheit

    steige auf einer Schrauben linie emp or. Die Me nsch

    heit kehrt scheinbar immer wieder an die alte Stelle

    zurück in der Tat ist sie aber eine Schrau benw indun g höher

    gestiege n. Die Richtigkeit dieses Satzes laßt sich auf zahl

    reichen Gebieten nachw eisen. Wir wullen uns heute mit

    der Stellung der Frau zu verschiedenen Zeiten befassen so

    wie mit der durch die Stellung der Frau bedingten zu ver

    schiedenen Zeiten gegebenen Lösung des geschlechtlichen

    Problems.

    Die Stellung der Frau in der heutigen Zeit ist durch die

    schroffsten Widersp rüche gekennzeichnet. Erscheint die Frau

    einmal als die Beherrscherin des Mannes der er sklavisch

    jeden Wu nsch erfüllt erscheint sie gelegentlich als sein

    Dämon der ihn zu allen möglichen Torheiten oder gar

    zu Verbrechen treibt ohne daß er sich ihrem teuflischen E in

    flüsse zu entziehen v ermöchte su ist sie anderseits> wieder

    des Man nes entrechtete Dienerin die sich von ihm ihre Ge

    setze vorschreiben lassen muß ohne daß ihr Einfluß irg end

    wie in das Gewicht zu fallen vermöchte. Ist einerseits die

    Frau als Mutter als Schwester als Gattin als Tochter dem

    Manne der Gegenstand höchster Verehrung der mit allen

    Mitteln vor jedem Angriffe g eschützt w erden muß so ist

    ihm anderseits die ferneistehende Frau nur der Gegenstand

    seiner sinnlichen Leidenschaft den er mit allen Mitteln s ei

    ner Lust dienstbar zu machen sucht. Und mit ebensoviel

    27

    M

    394

    o o ER EIGENE o o

    Hochachtung begegnet unsere Gesellschaft dem Manne der

    möglichst viele ehrbare Frauen hohnlachend ihrer Unschuld

    beraubt und vielleicht dem Dirnentume in die Arme geführt

    hat wie sie Mißach tung hat für die ung lücklichen Opfer

    seiner Genußsucht.

    im engsten Zusam menha nge mit dieser zwiefach ver

    kehrten einerseits bevorrech teten and rerseits rechtlosen Stel

    lung der Frau in unserer heutigen Gesellschaftsordnung steht

    das brennende Erfordernis einer befriedigenden Lösung des

    geschlechtlichen Problems. Unter dem geschlechtlichen Pro

    blem versteht man gemeinhin die Frage in welcher Weise

    der junge Mann seinem Geschlechtstriebe Befriedigung ver

    schaffen kann und soll. Der einfachste und natürlichste We g

    wäre es natürlich wenn er möglichst jung eine Ehe ein

    gehen könn te. Das ist ihm aber in unserer heutigen Gese ll

    schaftsordnung geradezu unmöglich gemacht. Denn durch

    die Heirat übernimmt er die Verpflichtung nicht nu r für sich

    sond ern auch no ch für se ine Gattin und seine Kinder zu

    sorgen. Das kann aber ein junger Mann von einundzwanzig

    Jahren heutzuiage nur in den allerseltensten Füllen ganz abge

    sehen davon daß der Geschlechtstrieb normalerweise bereits

    in weit früheren Jahren sein Recht verlangt ohne daß die

    Gesetze vorher gestatteten eine Ehe einzugehen :

    So ist der junge Mann heu te genötigt durchschn ittlich

    fünfzehn Jahre lang nämlich vom fünfzehnten bis zum drei

    ßigsten Lebensjahre nach einem anderen Auswege zu suchen.

    Solcher Auswege gibt es hauptsachlich drei:

    Der eine ist der Verkehr mit der Prostitution. — Die

    Gefahren dieses Auswegs sind leider trotz aller Aufklürungs-

    versuche noch nicht genügend bekannt so daß man immer

    wieder genötigt ist auf sie hinzuweisen. Die Prostitution

    ist ein Herd zahlreicher ansteck ender Krankheiten von denen

    zwei die Gonorrhoe und die Syphilis bereits den Charakter

    schwerste r Volkskrankh eiten angenom men haben. Alle Ver

    suche eine Gesundu ng d er Prostitution herbeizuführen vor

    allem die berüchtigte polizeiliche Reglementierung der Prosti-

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1903-06

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    o o KRAUÜNHEWUUlNt i UNO AUNNI ICUi: KULTUR o o

    tutiu n, die sich auf den § 3GI, ü*) des Reichsstrafgcsetz-

    buclics stützt, und die geradezu alle Frauen Deutschlands

    einein zu Mißgriffen herausfordernden Ausnahmegesetz über

    liefert, — ich sage, alle diese Versuche sind bisher v öllig er

    folglos geblieben. Der junge Ma nn, der demnach unter

    den obwaltenden Umstanden mit einer Dirne geschlechtlichen

    Umgang hat, setzt sieh mit großer Wahrscheinlichkeit der

    Gefahr einer Anstec kung aus. Und dadurch schädigt er nicht

    nur sich selbst, sondern er wird nunmehr zu einer Giftqu elle

    für seine gesamte Umgebun g. Man geht deshalb nich t zu

    weit, wenn man den Verkehr eines jungen Mannes mit einer

    Dirne für leichtsinnig oder verbrecherisch erklart. Leichtsinnig,

    wenn er die Tragw eile und die Gefahren seines Handelns

    nicht ken nt, verbrecherisch, wenn er über die möglich en

    Folgen seines Schrittes hinreichend aufgeklart gewesen ist.

    Und dieses harte Urteil kann auch nicht deshalb gemildert

    werden, weil die Zahl der jungen Leute eine so große ist,

    die sich in verbrecherischer Weise an der Volksgesundheit

    vergehen. Vielmehr zeigt diese traurige Tatsache nur, wie

    bei diesen schreienden Mißständen dringend Abhilfe geschaffen

    werden muß.

    Eine große Anzahl anderer junge r Man ner suchen nach

    einem anderen, dem zweiten Auswege — und sie veranstalten

    eine förmliche Jagd auf ehrbare junge Mädchen . Welch e Ver

    antwortung der junge Mann gemeinhin auf sich nimmt, wenn

    er solch ein unverdorbenes keusches Geschöpf auf dein

    Altare seiner Wollust opfert, dessen ist er sich nur in den

    seltensten Fällen bewußt. Und wenn er dieses B ewußtsein

    besitzt, so wird es ihn doch kaum abhalten, eine Handlung

    zu begehen, die nach unseren heutigen Anschauungen nicht

    * ) Mit Haf t wird bestraf : e ine Weibsperson , welche wegen gewerbs

    mäßiger Unzucht einer polizeilichen Aufsicht unterstellt ist, wenn sie den in

    dieser Hinsicht zur Sicherung der Gesundheit, der öffentlichen Ordnung

    und des öf fent l ichen Auslandes er lasseneu pol izei l ichen Vorschr i f ten zu

    widerhande lt , oder w elche, ohne einer solchen Aufs icht unterste l l t zu

    se in,

      gewerbsmäßig Unzucht t re ibt .

    396

    o ° ER EIGENE o c

    nur für selbstverständlich, sondern sogar für lobenswert

    gehalten

      wi rd .

      Wen n s ich später die Folgen der gedankenlos

    verträumten seligen Stunden zeigen, dann wäre vielleicht auch

    so manches junge Herrchen g lücklich, wenn es seine Tat unge

    schehen machen könnte. Droh t ihm doch heute die gefürchtete

    Zahlung der Alimente, — nebenbei bemerkt läßt der Staat den

    Mann einen recht geringen Anteil an der Buße tragen, während

    er dem sicherlich nicht schuldigeren Weibe neben den Qualen

    und der Schande auch noch den größeren Teil der Kosten

    aufgebürdet hat. Nich t selten wir d der Versuch gemacht,

    durch Fruchtabtreibung die Tat samt den Folgen aus der Welt

    zu schaffen, doch abgesehen davon, daß eine n icht vom Arzte

    geleitete Fruchtabtreibung kaum ohne schwere Gefahren für

    die Mutter verlaufen

      w i r d ,

      droht hier eine Strafbestimmung,

    deren Berec htigung oft genug angezweifelt wurd e und die

    schon unsägliches Unheil geschaffen hat. In anderen Fällen

    ist der junge Mann von vornherein schlauer gewesen: erg ab

    dem unglückseligen Mädchen eine falsche Adresse und einen

    falschen Namen an; ist sie schwanger geworden, so bleibt

    ;

      er aus, und alle Bemühun gen seines O pfers , ihn zu find en,

    bleiben vergeb lich. Ich leugne nicht, daß es Ausnahm efälle

    gibt, wo die Verhältnisse zw ischen Mann und Weib nicht in

    so scharfer Weise verurteilt werden dürfen, wie es hier ge-

    J schehen ist. Ich erinnere an die „freien E hen ", die , wenn

    Sie von beiden Teile n ernst genomm en wer den , durchaus

    als Ehen betrachtet we rden müssen. Im allgemeinen aber

    treibt der Mann, der ein anständiges Mädchen verführt, ein

    gar nicht entschieden genug zu brandmarkendes, frevles Spiel

    gerade mit demjenigen Wesen, das ihm das heiligste auf der

    We lt sein sollte, mit dem Gegenstande seiner Liebe. Wie

    I oft wi rd s olch unglückliches Geschöpf schließ lich, voji Eltern,

    Verwandten und Freunden verstoßen, hilflos mit der lebenden

    Frucht des Fehltritts herumirrend, von Stufe zu Stufe sinkend,

    der Prostitut ion in die Arme getr ieben Man wende nicht

    ' zu Gunsten des Verführers ein, das Mädche n sei eben so

    schuldig, oder, wer sich verführen lasse, sei nicht besser, als

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1903-06

    19/38

    c o l'KA UI:Nlii:\Vi:(iUN(i UNI) MÄNNLICHE KULTUR o 0  9 7

    wer verführe, und was dergleichen mehr ist. Bei einem so

    ungleichen Spiele, bei dem der Alaun beinahe nichts, das

    Mädchen nahezu alles verlieren kann, ist und bleibt der Mann

    der Schuldige. Und wenn sich das Mädchen ihm anb ietet,

    und wenn sie ihn verführt, sollte er (im allgemeinen ) die

    moralische Kraft haben, im Hinblick auf das kommende Un

    heil, das angebotene oder aufgedrängte Opfer abzulehnen

    Wenn man sich die hier geschilderten Verhaltnisse ein

    mal klar gemacht hat und dann sieht, wie sich Staat und

    Gesellschaft ihnen gegenüber verhalten, so kann man

    sich eines Scha uders nicht erwehren. Der Staat, der den

    Geschlechtsverkehr des Mannes mit dein Manne ohne jeden

    erweislichen Grund mit entehrender Strafe bedroht, verbietet

    die Verführung eines Mäd chens über sechzehn Jahren durch

    keinerlei Strafbestimmuug, und die Gesellschaft prämiiert sie

    sogar nicht nur durch die Hochachtung, die sie dem Ver

    führer zollt, sondern obendrein dadurch, daß sie den Homo

    sexuellen, der nicht die geringste Zuneigung zu einem Weibe

    verspürt, geradezu zwingt, die Verführerrolle zu übernehmen.

    Kann doch der der Homosexualität „Verdächtigte" im allge

    meinen nur dadurch die öffentliche Achtung wiede rerwe rben,

    daß er ein unschuldiges Weib durch Verführerkniffe in die

    Schand e zu treiben versucht Und so etwas nennt sich

    Sittlichkeit

    Der dritte Ausweg ist die Befriedigung des Geschlechts

    triebes durch Masturb ation. Nahezu alle jungen Männer

    masturbieren gelegentlich, viele kennen gar keine andere Art

    geschlechtlich er B etätigung. Und damit bilden sie wen igstens

    keine Gefahr für die Gesellschaft. Einer desto größeren Ge

    fahr setzen sie sich aber selbst aus. Denn für die Mastur

    bation gibt es keine Schranke außer der, leider so oft ver

    sagend en, Willensenergie. Und so finden wir gerade bei

    Onanisten am häufigsten die schweren Schädigungen sexueller

    Ausschweifungen. Wir wissen zwar heute, daß die Mastur

    bation an sich keine Gefahren mit sich bringt, es sei denn,

    daß sie auf gewalts ame W eise betrieben wird. Ihre Schädi-

      9 8 o o DER EIGENE o o

    gungen ruft sie einzig und allein dadurch hervor, daß sie zu

    einem, hier wie überall, unheilvollen Übermaße verführt.

    Wir sehen also, daß jede nur mögliche  Art  der Be

    friedigung des Geschlechtstriebs für den jungen Mann oder

    sogar für Staat und Gesellschaft schwere Gefahren mit sich

    bringt. Das sahen auch denkende Frauen bereits seit

    längerer Zeit und sie versprachen sich Abhilfe von der Gleich

    berechtigun g der Frau im öffentlichen und privaten Leben.

    Es entstand die Frauenbewegung, die, nicht zuletzt , auch

    eine Lösung der geschlechtlichen Frage zu geben versucht.

    Wenn die Frau, ebenso wie der Mann, von Jugend auf Be

    rufsarbeit leistet und nicht mehr vom Manne als ihrem Er

    nährer abhängig ist, so wird auch sie an der Ernährung der

    Familie zu ihrem Teile mitwirken können und so wird der

    Mann bereits in jüngeren Jahren in die Lage kommen, durch

    seine Verheiratung die einfachste Lösung der geschlechtlichen

    Frage herbeizuführen.

    Eine Anzahl aufgeklärter Frauen ging noch weiter. Sie

    verlangen Achtung auch für das, hauptsächlich durch die

    Schuld der Männer gefallene Weib. Sie sehen auch in der

    Prostituierten, in der feilen Dirne noch die Mitschwester, die

    man wieder emporheben muß, statt sie durch die allgemeine

    Verachtung imm er tiefer in den Sumpf hinabzustoß en. Sie

    empfanden besonders in der polizeilichen Reglementierung

    der Prostitution eine ungeheure Entwürdigung der gesamten

    Frauenwe lt. Und so entstand die gerade von Frauen vielfach

    vertretene abolit ionistische Bewegung, die mit der poli

    zeilichen Reglementierung auch die Prostitution selbst aus der

    Welt schaffen möchte. Die Mittel hierzu können natürlich

    durch eine Änderu ng in der Stellung der Frau gewon nen

    werden. Ob aber die Frauenbewegung allein ausreichen wird,

    um eine durchgreifende Änderung und Besserung herbeizu

    führen, das erscheint allerdings im höchsten Grade fraglich.

    Verlassen wir jetzt einmal die Gegenwart und betrachten

    die Stellung der Frau und den Stand der geschlechtlichen

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1903-06

    20/38

    o o KRAUEN HI WClillNO UNI» MÄNNLICHE KULTUR o o

    Frage im alten Griechenland, so finden wir zunächst, und

    das muß uns am meisten auffallen, daß es dort eine g e

    schlechtliche Frage in unserm Sinne garnicht gab. Dort war

    sie ganz einfach gelöst du rch die gleichge schlechtliche Liebe

    der Männer. Es galt dort für ganz selbstverstän dlich, daß

    der junge Mann sich in inniger Freuudschft an einen älteren

    anschloß, mit dem er auch geschlechtlichen Umgang hatte.

    Niemand fand in solchen Verhältnissen damals — und es war

    gewiß keine Zeit der Degeneration, sondern eine Zeit höchster

    Blüte der Kultur — etwas Unsittliches oder gar „Wider

    natürliches". Der ältere der beiden Freunde — die Verhält

    nisse bestanden meist zwischen Mann und Jüngling; eine

    „Knabenliebe" im deutschen Sinne des Wortes kannte man

    natürlich überhaupt nicht — pflegte einen überaus wert

    vollen erzieherischen Einfluß auf seinen Liebling auszuüben,

    wie uns die Werke zahlreicher Dichter und Schriftsteller

    beweisen. Daß unter diesen Umständen einej geschlechtliche

    Frage für den Jüngling, also eine geschlechtliche Frage in

    unserem Sinne, garnicht aufgeworfen werden konnte, ist klar.

    Wie aber war m an zu dieser Lösung des uns so sc hwierig

    erscheinenden Rätsels damals gekommenV Auch diese Frage

    kann unschwer beantwortet werden, wenn wir die Stellung

    der Frau in damaliger Zeil etwas näher betrachten . Da

    finden wir denn die Frau in einer noch weit rechtloseren

    Stellung als bei uns. Ganz abgesehen vom öffentlichen

    Leben, nicht einmal im privaten Leben spielte sie eine irgend

    wie beträchtliche Rolle. Selbst die Erziehung der Kinder

    ist ihr nur in deren zartestem Alter anvertraut.

    Was Wunder, wenn der Mann eine so verachtete Dienerin,

    die ihm sein Haus zu besorgen halle, seiner Liebe nicht

    würdigte, wenn er diese dem, gleich ihm, gebildeten Ge

    schlechtsgenossen schenkte?

    Es war also Verachtung des W eibes, die die Liebling-

    minne in Griechenland zu dieser heute den meisten Forschern

    unverständlichen Blüte brachte.

    4

    o o DER EIGENE o o

    Oder sollen wir wirklich glauben, daß damals die ganze

    kraftvolle, wie uns die Statuen zeigen, echt männliche Männer

    welt Griechenlands aus jenen H al bw ei be rn bestanden habe,

    zu denen die lieblingminnenden Männer heute von g ewissen

    wissenschaftlichen Autoritäten gestemp elt we rden ? Es gehört

    schon eine gewaltige Menge von Einseitigkeit und Verbohrtheit

    dazu, um diese Frage zu bejahen. Man denke sich einen

    Alcibiades, einen Epaminond as als Urninge im Sinne eines

    Ulrichs und seiner Nachfolger und schaudere über die Absur

    dität solches Gedankens

    War demgemäß die altgriechische Kultur unserer heutigen

    im Hinblick auf die Lösung der sexuellen Lage weit voraus, so

    steht sie hinter der unseren weit zurück, was die Stellung der

    Frau anlangt. Da mußte es denn auch in Alt-Griechenland

    schon Strömungen geben, die mit unserer heutigen Frauen

    bew egung vergleichbar sind. Hierher gehört in erster Linie

    das Hetärentum. Die Hetäre wollte nicht warten, bis ihr ein

    Mann die Gnade erwies, sie durch die Heirat zu seiner Sklavin

    zu erniedrigen. Sie m achte sich selbstän dig und trat dem

    Manne frei gegenüber; auch war sie ihm an Bildung gewach

    sen oder überlegen. So konnte denn eine Aspasia als freie

    Ehegenossin des Perikles in der Geschichte Athens eine

    größere Rolle spielen als alle ehrbaren Hausfrauen und

    Gattinnen zusammen genommen. Aber wenn auch das

    Hetärentum keine Prostitution im heutigen Sinne w ar, so

    dürfte doch die Hetäre niemals da s Ideal der Frau darstellen,

    da nur wenige dieser Frauen sich einem Manne an

    schlössen, wie es die Frau ja schließlich immer wird tun

    müssen, solange die, Familie die Grundlage des Staates

    bleibt.

    Neben dem Hetärentum finden wir in Griechenland

    auch die sapph ische Liebe, die Liebe d er Frauen zu ein

    ander. Ursprünglich hand elte es sich dabei offenbar um

    eine Gegen strömun g gegen die Lieblingminne der M änner,

    eine Gegenströmung, die aber ebensowenig die Frau dauernd

    dem Manne entzog, wie die Lieblingminne den Mann von

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1903-06

    21/38

    o o 1-RAUENIJKWIilJU.Nii UM .UA NNU UII: KUI.TUK o o

    der Heirat und der Gründung einer Familie hatte abhalten

    könne n. Da der Mann es viellach vorzog, in den Annen

    des Freundes statt in denen der Gattin zu ruhen, mußte

    das Weib, das sich ja auch nicht frei von der Sinnlichkeit

    zu machen vermag, in den Armen der Freundin Ersatz zu

    finden suchen.

    Das alte Judentum zeigt uns das Ideal des Familien

    lebens. Der Mann wurde zur Zeit der Pubertät, d. h. nach

    vollendetem dreizehnten Lebensjahre, für volljährig erklärt

    und heiratete dann möglichst bald. Das Mädch en wurd e

    in noch jüngeren Jahren vermählt, was geschehen konnte,

    weil bei den orientalischen Völkern die Pubertät früher

    eintritt als bei uns. Eine geschlechtliche Frage konnte unter

    diesen Umständen garnicht aufgeworfen werden. Und so

    linden wir denn auch, im Gegensätze zu Griechenland, in

    Palaestina von der gleichgeschlechtlichen Liebe nur wenige

    Andeutun gen. Im Talmud ist, wie mir ein Freund , ein gründ

    licher Kenner des Talmud, sagte, von gleichgeschlechtlicher

    Liebe überhau pt nichts zu finden, obgleich sonst dort d as

    Geschlech tsleben des Menschen mit wahrhaft herzerquicken

    der Offenherzigkeit besprochen wird, und gelegentlich, z. B.

    über die Masturbation , ganz modern klingende A nsichten

    entwickelt werden.

    Dieses Vorbild jüdischer Zustände neben der Sinnen

    feindlichkeit des Christentums waren es, die die christliche

    Gesetzgeb ung in sexuellen Fragen beeinflußten. Heute können

    uns aber altjüdische Zustände, so vollkommen sie auch

    erscheinen mögen, nicht mehr maßgebend sein, da es bei

    uns unmöglich erscheint, den Jüngling zu der Zeit der

    Pubertät schon heiraten zu lassen.

    Ebensowenig können wir die Wiedereinführung griechi

    schen Geschlechtslebens wünschen mit seiner Sklaven

    stellung der ehrbaren Frau und seinem Hetärentum. Wir

    müssen vielmehr Alles prüfen, von jedem das Beste für uns

    402

    o o DER EIGENE o o

    in Anspruch nehmen, und so die sex uelle Frage zugleich

    mit der Frauenfrage zu lösen versuchen.

    »

    Eine Bewegung, die uns diesem Ziele näher bringen kann,

    nannte ich scho n: es ist die Frauenb ewegun g. Indem sie

    durch Selbständigmachung der Frau eine Eheschließung für

    den Mann in jüngeren Jahren ermöglicht, bringt sie uns alt

    jüdischen Zuständen näher. Da aber der altjüdische Zustand

    ein für die moderne Zeit unerreichbares Ideal darstellt, bedarf

    die Frauenbewegung einer Ergänzung, um eine vollkommene

    Lösung der sexuellen Frage zu ermöglichen:

    Und diese Ergänzung ist die noch ganz junge Bewegung

    für mä nn l ic he Kul tur , d ie durch „Die Ge me ins ch a f t

    de r E ig en en und von deren Organ, die Kunstzeitschrift

    „Der Eigene , vertreten wird.

    Das Wesen beider Bewegungen ist bis heute allerdings

    nur einem kleinen Kreise verständlich gewo rden, w ährend

    die große Masse ihnen mit höhnischem Lächeln oder gar

    mit Haß und Abscheu gegenü ber steht. Dies g ilt für die

    männliche Kultur-Bewegung in noch höherem Grade als für

    die Frauen beweg ung. Doch auch diese hat noch genügend

    mit der allgemeinen Verständn islosigkeit zu kämpfen. Ich

    sehe ganz ab von der lächerlichen Phrase, die Frau gehöre

    ins Haus. Denn das heißt ja doch, eine jede Frau hat die

    Pflicht, einfach weil sie als Weib geboren ist, den Beruf

    einer Köchin, Dienerin und Kinderfrau für den Ehemann zu

    wählen. Demgem äß müßte zunächst jede Frau, die in einem

    bestimmten Alter, sagen wir 25 Jahre alt, noch keinen Mann

    gefunden hat, totgeschlagen werden, und femer müßte, da

    mit dieses Schicksal nicht allzuvielen Frauen zu Teil wird, die

    Vielweiberei eingeführt werden. Außerdem würije unsere

    Kultur der Frau als eines wesentlichen Faktors entbehren

    müssen, veranlaßt einfach durch eine brutale Gewalttat der

    Männer. Die Frauen könnten ja, wenn sie die Macht dazu

    hätten, mit gleichem Rechte vom Manne verlangen, daß er im

    Hause bleibe, während sie die Ö ffentlichkeit für sich in An-

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1903-06

    22/38

    o o l-RAUENUi;\VI:

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1903-06

    23/38

    o c FRAUENBEWEGUNG U.MI MÄNNLICHE KULTUR o o 4Q 5

    s e i n e F a m i l i e u n d d e n S t a a t g e f ä h r d e ; d a ß e r n i c h t

    J a g d a u f e h r b a r e W e i b e r m a c h e ; d a ß e r a u c h n i c h t

    d u r c h m a ß l o s e M a s t u r b a t i o n s i c h in f rü h e r J u g e n d

    s e i n e r w e r t v o l l s t e n K r ä f t e b e r a u b e u n d a n d e r D e g e

    n e r a t i o n d e s V o l k e s a r b e i t e .

    Gewiß wird durch die Bewegung für männliche Kultur

    einer Verbreitung der noch vielfach für ein Lasier gehaltenen

    Lieblingminne das Wort gere det, aber g erade damit man

    bald au thö r t , in ih r e in L a s te r ode r e ine Kr ank he i t zu

    se he n Keineswegs aber dürfte diese Bewegung eine* Ver

    mehrung der männlichen Prostitution zur Folge haben, wie von

    kurzsichtigen Leuten törichterweise befürchtet wird. N ic ht s

    i s t m e h r g e e i g n e t , d e r P r o s t i t u t i o n ü b e r h a u p t , d e r

    m ä n n l i c h e n w i e d e r w e i b l i c h e n , e i n E n d e z u m a c h e n ,

    a l s e i n U m s i c h g r e i f e n d e r L i e b l i n g m i n n e D en n w en n

    die m ännliche Jugend ihre Befriedigung im Anschluß an den

    geliebten Freund finden wird, br au ch t sie das ekelhafte und

    verächtliche Dirnentum n ic ht m eh r. Und darin bildet die

    Bewegung für männliche Kultur eine wesentliche Ergänzung

    der Frauenb ewegu ng und auch der abulitionistischen Be

    wegung . Eine männliche Prostitution mit ihrem Erpresser

    unwesen, mit  ü n  Kneipen, die man als Kneipen mit Be

    dienung von zarter männlicher Hand bezeichnen mochte,

    und dergleichen mehr, konnte ja ü berhaupt nur entstehen ,

    weil sich der Homosexuelle heute dem Freunde nicht zu

    offenbaren w agt. Mit dem Siege der Bestrebung en für männ

    liche Kultur ist die männliche Prostitution so gut wie die

    weibliche überflüssig geworden

    Die bedauerliche Verwechselung der Bewegung für

    männliche Kultur mit der homosexuellen Bewegung war es

    wohl auch, die die Staatsanwaltschaft veranlagte, einige

    Hefte des „Eigenen" zu konfiszieren und gegen die Bestre

    bungen des „Eigenen" Stellung zu nehmen. Sonst hätte sie

    ja doch in den Veröffentlichungen des „Eigenen" niemals

    eine Verherrlichung der „widernatürlichen Unzucht" erblicken

    können. Kann doch ein Blatt, das einen idealen Freund-

      Q g o o DER EIGENE o o

    Schaftskultus im Sinne der alten Griechen wieder zu schaffen

    gedenkt, obendrein eine Kunstzeitschrift, niem als geschm ack

    los genug sein, unzüchtige Handlungen, ganz gleich welcher

    Art, verherrlichen zu w ollen. So wenig, wie ein Liebes

    gedicht eine Verherrlichung des Geschlechtsverkehrs sein

    kann, so wenig „Der Eigene" eine solche „widernatürlicher

    Unzucht."

    Wünscht aber nicht auch die Bewegung für männliche

    Kultur die Aufhebung des § 175?

    Gewiß wünscht sie auch diese; sie legt aber keinen

    H au pt w er t auf diesen Wunsch. So lange die  traf-

    bestimm ung besteht, wird sie von den A nhängern männlicher

    Kultur auch berücksichtigt werden müssen. Die Lieblingminne

    b ra u ch t n ic ht zu solchen Handlungen zu führen, wie sie

    nach der jetzigen Auslegung des § 175 durch das Reichsgericht

    unter Strafe gestellt sind Immerhin kann es gelegentlich

    der Fall sein, und da man nicht aufhören wird, in der Liebling

    minne ein Laster zu sehen, ehe der § 175 aufgehört hat zu

    existieren, darum muß auch vom Standpunkte der Bewegung

    für männliche Kultur gegen sein Bestehen entschiedener

    Einspruch erhoben werden.

    Wenn die Wied ereinsetzu ng de r Lieblingminne in ihre

    altgriechischen Rechte, ebenso wie zu damaliger Zeit, auch

    ein Aufblühen der Liebe des Weibes zum Weibe zur Folge

    hat, so ist das kein Schad e. Vermieden muß aber werd en, daß

    die Lieblingminne eine der altgriechischen Stellung der Frau

    entsp reche nde Verachtung des We ibes nach sich zieht. Schon

    Kupffer betonte, ein wie bedeute nder Faktor d es Lebens die

    Mutter ist; er betonte, daß auch als Gattin, Freundin und

    Mädchen d as Weib eine Blüte sei, die wir nicht aus dem

    Garten des Leb ens verbannt wissen möchten. Dafür zu sorgen,

    in diesem Sinne zu wirken, ist d ie Fr au en be w eg un g da.

    Frauenbewegung und männliche Kultur, sie sind keine Gegen

    sätze, sie ergänzen sich naturnotwendig zu einer brauchbaren

    Lösung des geschlechtlichen Problems.

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1903-06

    24/38

    o o l

    :

    KAUUN HliW|-:tiUNu UNK A1ANNI.ICIIL. KUI.TUK o o

    Auf einer Schraubenlinie schreitet die Menschheit empor.

    D i e F r a u e n b e w e g u n g f ü hr t u n s

     

    alt j üdi sehe n, die

    B e w e g u n g f ür m ä n n l i c h e K u l t u r z u al t g r i e c h i s c h e n

    Id ea len zur ück . Aber e ine Schraubenwindung höher

    werden wir gestiegen sein: beide Kulturen verschmelzen

    sich zu einer höheren, vollkomm eneren. Nicht mehr allein

    das Weib wird den Geschmack des Mannes beherrschen

    und von ihm Liebe heischen; sie wird aber auch nicht mehr

    seine Sklavin sein, sondern die gleichberechtigte, ebenbürtige

    üef. ihrt in. So blüht uns durch Fr au en em an zi pa ti on und

    männliche Kultur einst, und hoffentlich in nicht allzuferner

    Zeit eine wahrhaft m en sc hl ic he Ku ltur. Nietzsclieaner

    mögen sagen, eine übermenschliche.

    EDWIN BAß.

    ix^^rzjrzA-zjs-zjrzjsn

    . SCHWARZE NÄCHTE

    l

    tu r e sagengrauen Schreckgestalten

    Und geheimnisbange Traumgewalten

    Furcht ich gleich den allerschiimmsten Hollennächten,

    Denn ich weiß, sie kommen nur zu rechten

    Mit den reueheißen Seelen.

    Tauchen heimlich aus den schwarzen Fluten,

    Qualen uns mit ihren Flamnienruten

    All, die fühlen mußten ihre grimmen Hiebe,

    Wissen, daß man nie den Gutt der Liebe

    Darf in schwarzen Nachten suchen I

    II

    Ruhelos ist meine Seele

    Und sie spannt die Flügel weit

    Und ihr dehnt sich jede Stunde

    Endlos wie die Ewigkeit.

    Ihre Heimat geht sie finden

    Und wo mag die Heimat sein?

    Da, wo alle Wünsche schlafen

    Und die Götter gern verzeihn

    III

    Selten laß ich einen Tag versinken

    In des Abends grabesstille Bucht

    Ohne, daß ich glaubig es versucht,

    Aus dem Born des goldnen Lichts zu trinken.

    Selten laß ich eine Nacht verrauschen ^

    Die wie eine stumme Frage drängt,

    Die Gedanken zu Gedanken zwängt,

    Ohne ihre Seele zu belauschen

    MAX MAI

     Ll

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1903-06

    25/38

      A K R J A S

    Olili U UNÜ ÜliS

     SfMRTACUS

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1903-06

    26/38

    IST ES NÖTIG

    n einer steilen Bachriuiie, die von dem mächtigen Firn bis herunter

    in das urbare Tal gehl, mäht schon seit Sonnenaufgang ein junger

    Mensch da s spärliche Ulerheu. Es ist eine Arbeit, bei der man sich

    tummeln muH, wenn sie Inline« soll. Oer schlanke und geschmeidige

    Bursche ist flink und geschickt genug, Lr fangt mit der Sense das

    bischen Uriin /wischen den l'clstiüiniiiein zusammen, bald mit einem

    Fuß auf einer Steinspitze balancierend, bald wieder in dem tosenden

    Eiswa sser stehend. Mancher stärkere Mann würde in der pfeilschnell

    abschiebenden Flut nur schwer stehen können, aber der junge

    Malier spreizt nur ganz leicht die nackten schönen Keine und wiegt

    sich noch mit feiner Animii in den

     

    lullen, wenn er einmal von

    seinem Staude aus einen ordentlichen Sensenzu g machen kann, jetzt,

    zur Mittagszeit, darf er schon auf seine Leistung sto lz sein. Die junge

    geizige Bergbauerin, bei welcher er im Dienste steht, will nicht s o bald

    etwas ein gehörig es Tagcwcik nennen. Wie er nun gerade wieder

    ins Wasser hüpft, tönt ein lachender Schrei vom Ufer her; „Brrrl

    Zimperlich bist Du nicht I"

    Die grollen, frommen Augen de s Burschen sehen etwas scheu,

    dann allmählich mit immer größerer Bewunderung auf den Mann

    vor ihm. Dann schiebt plötzlich eine starke Röte in das reizende,

    frische Jiingling saiitlilz. In der nächsten S ekunde sitzt der Bursche

    bis an die Schultern im Wasser.

    „Gehen Sie doch weiter, Herr Es steigt sonst selten jemand da

    her uf Ich wollte mir die Kleider nicht uaU m achen. Gehen Sie "

    Das klang wie höfliche Bitte und Entschuldigung.

    Der Fremde stand eine Weile unschlüssig still. Der prachtvoll

    entwickelten Gestalt nach war er nicht viel liber dreißig Jahr alt, den

    markanten, edlen Zügen nach alter. Seinen vollen, sinnlichen Mund

    umspielte ein etwas verlegenes Lachein, aber die groben, leuchtenden

    2ö*

    4 2

    o o DER EIGENE o o

    Blauaugen wichen nicht von dem Burscheu. „Du bist ja doch ein

    Junge. Komm nur heraus.*

    „Ja, aber —" wendet e der nackte Bursche schamhaft lachend ein.

    „Schnell aus dem E iswass er I" befahl der Manu nun sehr strenge.

    „Das könnte ja Dein Tod sein. War schade um Dich."

    Lediglich aus Folgsamkeit faßte der Bursche einen herzhaften Ent-

    schluß. Er sprang empor und setzte sich am Ufer auf einen Stein.

    Der Fremde setzte sich ohne seiner lichten Hosen zu achten gleich

    neben ihn hin. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihn

    dann mit sonderbar fragenden Blicken an. „Weißt Du, daß Du sehr,

    sehr schön bist?"

    „Schön? " Der junge Mensch erglühte wieder unter dem Leuchten

    der großen, blauen Augen. „Sie sind schön, ich nicht."

    „Ich?" machte der Fremde eigentümlich überrascht. „Gefall ich Dir?"

    Der Bursche nickte zur Antwort. Den Manu abermals anzusehen,

    fürchtete er sich. Seltsam erweise bäumte sich die Natur des un-

    befangenen Jungen nicht gegen sein Gefühl der Scham und hilflosen

    Ergebenheit auf. Es hatte ihm noch nie etwa s so ge schme ichelt, als

    daß ihn der Fremde schön fand, dessen ganzes Wesen ihn in wunder-

    sam won nige Fesseln schlug. Er verstand sich weder in diesen Augen-

    blicken, noch wo llte er sich verstehen. Er fürchtete nur, daß der

    Mann fortgehen könnte.

    „Wie heißt Du ?" fragte jener nach einer Weile mit weichem

    Stimmklang.

    „Berti."

    „Und was bist Du?"

    „Knecht bei einer Bergbäuerin."

    „Knecht? Das ist nichts für Dich. Oder wenn schon, dann

    mein Knecht. Möchtest Du das sein?"

    Dem Burschen w ar wie im Traume. Er brauchte nicht viel zu

    überlegen, um innig „Ja" sagen zu können.

    „Ja? Dann mußt Du gleich mitkommen.»

    „Wohin?"

    „Weit hinaus in die Welt. Aber das ist egal. Du bist in gutem

    Schutz. Glaubst Du das? "

    „Ja," lautete wieder die Autwort.

    „So, was sagt Dir, daß ich Dich gut schüizeu werde?"

    „Du — Sie sagen es und —"

    „Vielleicht gar Dein Herz?"

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1903-06

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    o o IST ES NOTIU o o

    413

    „Ja, Sie erraten es."

    „Sag nur Du und Beruhard. Wie herrlich weich Üu bist. Junge)

    Ist denn die Hingabe so ganz cchtV Sprich, sprich —.* Bernhard

    drängte mit Ungestüm.

    „Ich weiU es nicht, Herr, ich weil es nicht, was es ist, dall ich

    mir heute gar nicht helfen kann "

    „Hist wohl sonst ein recht liebstoller Kater, gelt?" forschte

    Bernhard.

    „Gar nicht," behauptete Berti ehrlich. „Nicht einmal meine Bauerin

    mag ich, die möchte mich heiraten, so arm ich bin."

    „Das glaube ich, die setzt Dir wohl tüchtig zu?«

    „O ja," entgegn ete Berti beklommen. „So — daß mich alle

    Weiber anekeln. Weil ich nicht willig bin, quält sie mich. Immer

    redete ich mich aus; Ich will noch warten und —"

    „Und?"

    „Und — nein, da wollt ich was Sinnloses sagen."

    „Sags "

    „Nun, jetzt ists mir, als wüßt ichs, daß ich da auf Dich —

    auf Sie — aber das kann ja nicht sein. Ich bin närrisch gewo rden.

    Mir träumt. Mir nuill träumen "

    „So träum nur," sagte B ernhard, seine Hände erfassend. „Träum

    nur. Und komm mit."

    „Aber," sagte Berti zögernd. „Ich habe mich ja verdungen bis

    zu Weihnacht."

    „Hast Du vielleicht Vorschuß vom Lohn genommen?"

    „Nein — so liederlich bin ich nicht. Jetzt bin ichs freilich, wo

    ich so ohne w eiteres Dir nachlaufen niöchl, aber hol mich der

    Teufel? wenn —"

    „Was?

    „Wenn e s eine Sünde ist, daß ich Dir nachlaufe, so fürchte ich drum die

    Hölle nicht. Kommst dann gewiß auch hinein. Oder bist Du selber

    der Teufel." Es war ihm wirklich ein wenig ernst mit der letzten

    Frage

    „Wenn ichs war?" (ragte Bernhard amüsiert.

    „Dann bitt ich Dich : Verwandle Dich nur nicht. Das war'

    mein Tod. Nicht nur wegen des Schreckens mein Tod, sondern aus

    Leid. Nicht wahr, Du bist wie Du bist, gilisl Dich nicht anders?»

    „Nein. Glaube mir." Bernhards Augen waren feucht gewo rden.

    4 4

    o o DER EIGENE.

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    Verzeihe mir

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      -

    J T S * ^

    Berti war still und traumverloren mit in die Stadt gefahren, jed es

    liebe Wort, jeden warmen Blick Bernhards erwiderte er zwar mit

    hinreichender Herzlichkeit, aber von selber trat er niemals aus sich

    hervor. Und so blieb es dann auch in Bernhards vornehmem Jung

    gesellenheim. Berti schien seine meiste Seligkeit im Schweig en zu

    finden. Erst ließ ihn Bernhard gewähren mit immer reger werdenden

    Interesse das Benehmen des neuen Lieblings beobachtend.

    Dieser war stark von der Erinnerung beeinflußt, daß er dem

    Manne als Knecht folgte. Die fürsorglichste, zartbedachteste Hausfrau

    hätte bald mit ihrer heißesten Mühe hinter dem zurück' bleiben müssen,

    was Berti in der Bedienung Bernhards aufbot. Der junge M ensch

    wußte dabei wunderzart jeden Anschein, als ob er den Herrn hätscheln

    wolle, zu verbergen. Wo selbst das feinfühlendste W eib schon Dank

    erheischt, fühlte er sich noch als Schuldner. Und das war richtig.

    Er schuldete doch Bernhard einen viel höheren Himmel als einen sol

    chen jemals ein Mann einem Weibe zaubern kann. Der Verkehr

    zwischen den beiden Männern blieb lange harndos, kindisch, wie der

    Verlauf ihrer ersten Bege gnun g. Wenn einer m it der Aufrichtigkeit

    zurückblieb, so war es Bernhard. Er fühlte unendlich leidenschaftlicher

    für seinen Schatz als er dies scheinen ließ. Nur mit dem Aufwand

    aller Selbstbeherrschung blieb er in den Schranken, die ihm das un

    schuldsvolle We sen Bertis setzte. Bald mußte er einsehen, daß er

    anfangs zwischen der Weichheit und Reinheit des Burschen zu schlecht

    unterschied. Der gute Junge glühte für den alteren Freund und

    fürchtete dabei jed e Berührung desselbe n wie tötlichen Feuerbrand.

    Schon bei einem Händedruck Bernhards zitterte er und hob, wie um

    das Leben flehend, die Augen. Bernhard beschlo ß zu warten, bis der

    andere zutunlicher würde. Er hätte ein freiwilliges, zärtliches Entgegen

    kommen Bertis als einen unbeschreiblichen Triumph empfunden. Aber

    das Warten dauerte ihm dann do ch zu lange. Berti schien sich mit

    den bestehenden Verhältnissen dauernd bescheiden zu wollen.

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1903-06

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    o o IST ES NÖTIG o o 4 J5

    „Höre," sprach eines Abends nach einer ziemlich alltaglichen

    Unterhaltung Bernhard /u dein Burschen. „Ich will jetzt heiraten."

    Kr log selbstverständlich. Aber er tat es mit der ern stesten

    Miene, und beobachtete dann voll Vergnügen das Entsetzen des

    Lieblings. Der arme Junge bemühte sich gar nicht, Schrecken und

    Enttäuschung zu verbergen, es wäre ja vergebens gewesen bei der

    Wucht dieser Empfindungen.

    „Warum?" stammelte er, wobei auch schon seine Augen naß

    wurden.

    „Ach, das begreifst Du nicht? Ich brauche Liebe." Vollkommener

    hätte er den Burschen nicht kränken können. Dieser saß w ie von

    einein Keulenschlag taumelnd da. Erst nach einer Weile sagte er

    scheinbar ruhig und e rgeb en: „Dann brauchst Du mich ja nicht mehr.*

    Dabei erhob er sich auch schon.

    „Dich?" Bernhard heuchelte Überraschung. „Unser Verhältnis

    bleibt doch »las alte, wenn ich heirate."

      :

    '

    „Deine Frau würde sich bedanken, wenn ich im Hause bliebe."

    „Warum? Was besteht Unrechtes zwischen uns?"   •..

    „Nichts? Du meinst nich ts? Die Frau würde e s bald merken.«,

    „Nein Berti. Von mir aus besteht nichts Unrechtes zwischen uns."

    „Das glaub e ich Dir aufs Wort, Bernhard. Mich aber bringt diese

    unrechte Liebe fast um."

    Bernhard lächelte. „Die rechte Liebe zu mir brächte Dich nicht

    um, Berti." i

    Der Junge verstand ihn nicht. „Was wäre das für eine, die rechte?

    1

    Nein, die kann es zwisch en uns nicht gehen "

    „ü ja, Berti. Das ist diu ehrliche, unverborgen e. Sobald Du

    Dich ganz heraus traust mit ihr, ist sie recht und bringt Gluck wie

    jede andere, die echt ist."

    „Glaubst Du?" fragte Berti zaghaft. Aller dann fuhr er wieder

    auf. „Du hast aber vom Heiraten geredet."

    „Nun? Wenn Du mich dazu zwingst. Verstehst Du denn

    noch nicht —"

    Der Bursche lielJ liefe«rötend den Kopf sinken. „O ja," sagte er

    leise. „Ich verstehe Dich jetzt, aber — heirate doch lieber Ich

    gehe wieder."

    Jetzt war das E ntsetzen an Bernhard. „Warum?" rief er und

    dann brach er schier verzwe ifelnd lo s: „Berti MuH ich Dich denn

    4 J6 0 0 DER EIGENE o o

    wirklich freigeben. Bringst Du es nimmer dahin, Dich mir ganz zu

    schenken. Ich liebe Dich ja über alles in der Welt "

    Er schlang seine Arme um ihn. Aber weit mehr als Bertis leise

    Abwehr ließ ihn dessen Zittern von der Umarmung ablassen. Die ses

    Zittern scheuch te ihn zurück. Es war ihm wie nach einem Frevel

    an etwas Heiligen. Die Hände sanken ihm herab, er schämte sich seiner

    Tat. Unter einem seltsamen Erblassen der Wangen sank er auf einen

    Stuhl. Seine Augen glühten nicht mehr in heißer Leidenschaft, sondern

    sahen ehrfürchtig bittend zu dem Burschen empor; .Verzeihe mir,

    Berti. Ich sehe, Du b ist zu gut, zu rein für mich "

    Und dann geschah dem Mann so unendlich weh und leid. Er

    legte den Kopf auf die übereinander gelegten Arme hin und weinte.

    Aus Reue, daß er sich an Berti versündigen wollte, weinte er eigent

    lich nicht, eher doch aus Schmerz, daß sein Liebling zu heilig, zu un

    erreichbar für ihn war.

    Berti staunte erst über den Freund, dann kam ein so übermächtiges

    Mitleid, wie man es nur für geliebte Menschen empfindet, eine Rührung,

    die alles Andere zerschmolz. Er streichelte erst d es Mannes Haar,

    dann nahm er desse n Kopf in die Hände. Und dann läch elte er ihn

    mit seinem liebreichsten Lächeln an und konnte sich nicht mehr halten,

    mußte ihm die Tränen trocknen mit heißen Küssen. Er zitterte nicht

    mehr, viel eher beb te der Mann in den m achtvoll überwältigende n

    Armen des an deren; „Aber Berti, jetzt bist Du es ja, der — •

    - .Ja " klang es mit von allen Bedenken erlösen den freiheitsseligen

    Jubel. .Jetzt bin ich es Ich kann nicht mehr anders. Und ich fühl*:

    Es ist rechtI Es ist nötigt"   DIOQKN.

    PSgl

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1903-06

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  • 8/9/2019 Der Eigene : 1903-06

    30/38

    FIDUS*

    E

      steht ganz abseits. Der We g, der zu ihm f ühr t, ist

    ein seltsamer, und nac lischaffeiul ist ihm bisher Keiner

    darau