Der Eigene : 1903-07
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8/9/2019 Der Eigene : 1903-07
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DER EIGENE
EIN BLATT
DER
FREIHEIT
FÜR MÄNNLICHE KULTUR
SITTENVERBESSERUNG UND
LEBENSKUNST
JULI
1903
CHARLOTTENBURG
BUCH UND KUNST HANDLUNG
DER EIGENE
ADOLF BRAND CO.
MOTTO
Unsere Kultur
ist
versittelt
verweibert und verpfafft
un
darum verpfuscht.
BENEDICT F RIEDL ENDER
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DER EIGENE
EIN BLATT DER FREIHEIT, FÜR MÄNNLICHE
KULTUR, SITTENVERBESSERUNG UND
GUGuasasasos LEBENSKUNST IS IS IS IS IS IS
HERAUSGEBER: ADOLF BRAND o CHARLOTTENBURG.
JULI 1903
INHALT:
Motto von Benedict Friedlaender o Seite 434 o .Dionysos*, nach einer Photographie
aus dem Atelier Boehme-Berlin o Seite 437 o , Ver sacrum , Gedicht von Publius Plau tus
o Seite 438 o Schlußvignette aus dem Buche: .Ein Jahr in Arkadien , zuerst wieder-
vcröffentlicht von Herrn
Prof
Dr. Karsch im V. Jahrbuch o Seite 440 o .Der Unter
gang des Eros im Mittelalter und seine Ursachen , von Benedict Friedlaender o Seite
441 o .Ringer , Schlußvigncttc von Fidus o Seite 455 o .G.inymcd , Gedicht von
Fausliiio o Seite 450 o .Unter den Sternen , Dialog von Maus lielhgc o Seite 458 o
Sclilußvigncttc von Fidus o Seite 4G3 o .Letzte Fahrt , Gedicht von C. B.-S. o Seite
404 o .Der junge Pan , Gedicht von Lysis o Seite 400 o .Hylas , Kunstblatt nach einer
Statue von W ilhelm B issen oSeite 407 o „Hylas , episches Gedicht von Hugo Christof
Heinrich Meyer o Seite 474 o .Herakles , Kunstblatt, nach einem alten Stich o Seite 475
o .Wenn der Ginster blüh t , Gedicht in Pro sa, von einem Erosjünger o Seite 479 o
.Hirtenknabe , Kunstblatt, mit Erlaubnis der Firma Schneider u. Hanau-Frankfurt a. M.
o Seite 479 o .Bücher und Menschen , o Seite 481 o Unlerm Strich o Seite 480 o Druck
fehler o Seite 487 o Anzeigen o Seite 488 o
Jahres-Abonnements nehmen alle Buchhandlungen entgegen zum Preise von 12
Mark
für die zwölf Monats-Hefte, deren Ccsamtinhalt 50 Druckbogen umfassen wird. «viT
Einzelnummern sind für 1.50 Mark zu beziehen. e^r^e^ t^rK^r^e^Sr Ŝr^
ADOLF BRAND
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D I O N Y S O S
Atelier Boclim:, Berlin
VER S CRUM
Gesang der speertragenden JUnglinge in Samnium
Oei l iger Frühl ing — aus düstern Geländen
Schreckhaften Berglands mit siegenden Händen
Brec hen wir Söhne der Zukunft hervor I
Losen die Schatten von Flammen und Bränden,
Reißen mit Spott und Gewalt von den Wänden
Einsamer Tempel den täuschenden Flor:
Nimmermehr sol len des Götterhags Tannen
Uns wie ein Märchen das Leben umspannen,
Nicht mehr Gebete — die Tat sei uns Pflicht
Heiliger Frühling — wir kämpfen ums Licht I
Singende Knaben noch waren wir gestern ,
Sprangen auf Wiesen mit lockigen Schwestern ,
Scheuchten durchs Bergtal das flüchtige Reh;
Hörten die grimmigen Alten wir lästern,
Schwiegen wir schamrot und zuckten beim festern
Handdruck des Vaters und knirschten vor Weh.
Feurig ist heut uns die Sonne erschienen ,
Schuf uns zu Männern und füllte mit kühnen,
Jauchzenden Plänen die klopfende Brust
Heiliger Frühling — wir grüßen die Lust
Langten aus Truhen die rostigen Schäfte
Wuchtiger Schwerter, geweiht durch die Säfte
Mancher gewalt igen , donnernden Schlacht;
Prüften im Schwung, ob der Mut uns nicht äffte,
Schrieen voll Jubel, da unsere Kräfte
Gleich schon das tüchtigste Wagstück vol lbracht:
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o o VER S CRUM o o
439
Da wir den Grenzpfahl zu feindlichem Volke
Schmetterten hin, wie mit Blitz aus der Wolke,
Schon mit dem ersten dum pfpoltcrndcn Streich —
Heiliger Frühling — wir stürmen das Reich
Schon hat die heilige Schar sich ergossen,
Sprengend auf weißen, strammsehnichten Rossen,
Frei in das morgendurchschimmerte Tal
Einmal umarm ich noch rasch den Genossen
Kindlichen Bettes, der lichthold umflossen
Neben mir reitet im rosigen Strahl
Sieh dort die Wa lle o, sieh dort die Mauern
Sollte, Du Goldner, am Abend ich trauern,
Flammen Dir Opfer, von Rache durchhcllt
Heiliger Frühling — wir stürzen die Welt
Haben dem König die Krone entrissen,
Haben den Göttern den Mantel zerschlissen,
Den sie zum Schutz hinters Stadttor gehängt;
Nicht eine Feindsbrust entwand sich den Bissen
Unserer Speere; aus gräßlichen Rissen
Hat sich der Wildstrom des Mordbluts gezwängt.
Endlich die purpurnen Lenzabendröten
Hüllten das schauerverschwiegene Töten
Düster mit flammender Ncbelflut ein.
Heiliger Frühling — wir tranken den Schein
Rasten nun fern an des Meeres Gestaden,
Brandige Wunden in Salzflut zu baden,
Toten zu opfern, den Sieg zu begehn;
Rasen und toben wie trunkne Mänaden,
Springen im Weinberg auf heimlichen Pfaden,
Traumwerk, das sonst wir verachten, zu sehn
Und über nächtlich erschauerndem Grunde
Spüren wir wandeln die Allmacht der Stunde:
Herren des Weltalls zu sein — das Geschick,
Heiliger Frühling — wir kehren zurück
440
o o ER EIQENE o o
.„ Mondschein auf nebligen Jöchern
Sic., de. Pc«dc« d « V . » erfreu».
a
» Fried» „.» gib. es
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DER UNTERGANG DES EROS IM MITTELALTER
UND SEINE URSACHEN.*
Von
BENEDICT FRIEDLAENDER
D
ie Ursachen des Unterganges des Eros Uranios können,
wie gesagt, hier nur andeutungsweise und hypothetisch
erörtert werden. Bekannt und sicher nachgewiesen
ist die Tats ache , daß sein Untergan g mit dem Verfall der
antiken Kultur und dem Aufspro ssen de r mittelalterlichen
Geistesknechtschaft z ei tl ic h zusammenfiel, eine Tatsache,
die allein schon ge nug zu denken gibt. Im Folgen den
hoffe ich aber auch betreffs des kausalen Zu sam men hang s
das Richtige zu treffen und es wenigstens in den aller
äußersten Umrissen sichtbar zu machen, welche Mächte die
erstaunliche Erscheinung zu W ege gebracht haben, daß einer
der legitimen Grundtriebe des Menschen auf ein paar Jahr
tausende gleichsam in einer Versenkung verschwinden konnte.
Die in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung
nach Europa importierte, palästinensische, der Hauptsache
nach judäische, wahrscheinlich aber mit einigen buddhistischen,
also arisch-indischen Elementen versetzte Religion enthielt
schon in ihren ersten überlieferten Be urkundu ngen einen ge
wissen asketische n Zug. Andere würde n vielleicht in erster
Linie auf das ausdrückliche alttestamentliche, und allenfalls
auch auf das nicht ganz so schroffe und ausserdem nicht
Jesus selbst zugeschriebene, aber doch auch vorhandene
* Aus „Die Renaissance des Eros Uranios von Dr. Benedict Fried-
laender. Das Buch kommt voraussichtlich Ende des Jahres heraus.
44
o o DER EIGENE e o
neutestamentliche Verbot der gröberen Formen der gleich
geschlechtlichen Liebe hinweisen; aliein ich glaube, daß
diese paar Stellen für den Eros weit weniger verhängnisvoll
gewesen sind, als der asketische Geist
Is t
doch im alten
Testament auch der Verzehr von Schweinefleisch und manches
Andere verboten, um das sich die Christenheit nie sonderlich
gekümmert hat Der Einwand, d ie se V erbote hätten nur
für die Juden Gültigkeit gehabt, ist hinfällig; denn nach
orthodoxer Anschauung, d. h. nach der in Betracht kommenden
mittelalterlichen Auffassung, ist das alte Testament eine eben
so vollgültige und allgemein maßgebliche Autorität, wie das
neue; würde man doch auch mit jenem Einwände sogar die
Autorität der vorzugsweise sogenannten zehn Gebote ver
nichten und natürlich genau ebenso das hier in Frage
stehende Verbot '
Immerhin mag auch das direkte und ausdrückliche
Verbot hier und da einigen Einfluss ausgeübt haben; an
scheinend hat man jedoch jenes mehr als Vorwand und als
unmittelbar zwingenden Beweis ad oculos — denn die
Bibel „bewies" — benutzt, während in letzter Instanz der
eigentliche Widersacher des Eros der a s k e ti s c h e G ei st
war und die speziellen Formen, die dieser in seiner priester
lich-christlichen Ausprägung annehmen sollte. Die Frage,
ob die christliche Askese, die Ertötung des Fleisches und
die Verpönung der Sinnenlust etwan wirklich, wie Manche
annehmen, aus Indien nach Palästina und nach Europa ge
raten, oder hier selbständig entstanden ist, — diese Frage
ist an sich interessant, für unser Thema aber gleichgültig:
genug, daß schon die ersten Beurkundungen des Christen
tums eine unverkennbare Beimischung von Askese enthielten.
Denn es wurde dem Menschen aufgegeben, sich und seine
natürlichen Triebe als unrecht und sündhaft zu betrachten;
es wurde ihm eingeredet, daß die ganze Sinnenwelt vom
Uebel sei und daß die Seeligkeit in de r Abkehr von der
Welt und den irdischen Lüsten bestehe; und daß dieses
Erdenleben — das einzige, von dem wir wis sen
—
nur die
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o o DER UNTERGANG DES EROS URANIOS IM MITTELALTER o o 4 4 3
Bedeutung einer Vorbereitung für das „ewige Leben" habe,
dessen überschw angliche S eligkeit oder furchtbare Qual zu
den im Erdenleben genossenen Annehmlichkeiten — im
Allgemeinen — im umgekehrten V erhältnis stehe. Somit
finden sich die Keime zur spezifisch christlichen Askese
bereits in den ältesten und am meisten autoritären Be
urkundungen, und es hätte keinen Sinn, dies beschönigen zu
wollen; denn der asketische Geist an sich, so la ng e er
s ich der Verge wal t igun g der Mi tme nschen enthäl t ,
ist doch noch ein ziemlich unschuldiges Ding. Nun ist aber
gerade der asketische Geist derjenige Bestandteil des Christen
tums,
gewesen, der in den ersten Jahrhunderten, sozusagen
im Frühling der neuen Religion, üppig sproß und wucherte.
Ein Beispiel genügt hier: Augustinus, einer der sogenannten
Kirchenväter, der im vierten und bis ins fünfte Jahrhundert
gelebt hat, bedauert nach seiner Bekehrung ausdrücklich in
seinen bekannten „Confessiones", daß die zur Erhaltung des
Lebens nun einmal notwendige Nahrungsaufnahme mit sinn
lichem Genuß verbunden sei Wer darüber betrübt ist, daß
ihm das Essen schmeckt, der muß sich offenbar noch weit
heftigere Skrupel, ja förmliche Gewissensbisse über den
Geschlechtsgenuss machen; wie das in einem alten Hochzeits-
Liede, dessen Ursprung ich nicht kenne und das ich nach dem
Gedächtnis und daher vielleicht nicht g nz treu zitiere, sehr d ras
tisch ausgedrückt ist: „Anjetzo, mein geliebtes Weib, (Diese
Zeile ist allzu derb) Nicht um der schnöden Wollust willen,
Sondern um Gottes Gebot zu erfüllen" etc. Ich vermute
das Gebo t: Seid fruchtbar und mehret Euch Jedenfalls
ist es völlig konsequent, wenn sich die Askese vornehm
lich gegen den höchsten der Sinnesgenüsse wendet,
und daher der Liebesgenuß an sich in Verruf kommt.
Nun ist es nicht wohl möglich, den Verkehr von Mann und
Weib gänzlich zu verpönen; denn dann würde ja die Mensch
heit aussterben. Das m ag das Idol de r mit der Askese
zusammenhängenden pessimistischen Philosophie, kann
aber niemals das Ideal der Kirche oder des Staates sein.
c o DER EIGENE o o
Denn wenn auch am einzelnen Menschen und an der Mensch
heit herzlich wenig liegt, so würde doch mit der Menschheit
auch Kirche und Staat selbst zum Teufel gehen, was offenbar
gar erschrecklich wäre. Daher konnte der mannweibliche
Verkehr, trotz des auch m it ihm — leider — nun einmal
verbundenen Sinnengenusses, nicht unter allen Umständen
als etwas völlig Verwerfliches hingestellt werden. Man
mußte sich damit begnügen, seine Zulässigkeit von der vorher
erteilten Genehmigung der Priester abhängig zu machen.
Was somit beim mannweiblichen Verkehr nicht möglich war,
das ging aber mit Leichtigkeit von Statten beim mann
männlichen Verkehr, beim hellenischen Eros; denn dieser
erschien als reine Sinnenlust, also, nach der asketischen
Schrulle, als etwas Arges, ohne zu seiner Entschuldigung auf
das Baby und das biblische Gebot der Arterhaltung hin
weisen zu können.
Der asketische* Zug allein erklärt aber noch nicht Alles.
Denn an sich würde er — so ist es beim Buddhismus zu
dessen ewiger Ehre gewesen — doch nur dazu führen,
Selbstaskese zu üben und Anderen höchstens vom Sinnen-
genuss abzuraten, nicht aber dazu, ihn unter Strafe zu stellen.
Nun hat zwar der fanatische Aberglaube viel und oftmals
die unglaublichsten Dinge
zu
Wege geb racht; bei allen Rassen,
zu allen Zeiten und in den verschiedensten Formen. So
lange die aus jenen Wahnvorstellungen entspringenden Hand
lungen nur d ie h andelnde Person betreffen — wie beim
Münchswesen, bei den Selbsttötungen unter dem indischen
Götterwagen und bei den Selbstkasteiungen aller Art — so
* Bezeichnend Ist auch die Sinnverschiebung, welche das Wort
Askese erlitten hat. Es bedeutete im Griechischen so viel wie Uebu ng,
besonders Körp erübung. Wir verstehen jedoch darunter die Tu ge nd -
übung, wobei Tugend eben jenen widerwärtigen, teils wahnwitzigen,
teils heuchlerischen Sinn einer Entw urzelung der natürlichen Triebe hat.
Die se Sinn Verschiebung ins ungefähre Gegenteil finden wir öfters; man
denke an das .Gymnasium* einst und jetzt oder an die «Platonische
Liebe* selbst
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o o DER UNTERGANG DES EROS URANIOS IM MITTELALTER o o
5
lange m ag in der T at der Abergla ube al lein Alles zureichend
erklären. Soba ld aber d ie Tr . 'iger desselb en von der N arr
hei t der Selbs tkas teiung zum Frevel übergehen, ans tat t ihrer
selbs t And ere zu kas teien oder d iese zur Selbs tka s teiun g zu
zw ingen , mi t ander en Wor ten , soba ld d ie A s kes e zu r Z w a n g s
a s k es e w i r d , w i r d man , w ie be i j edem V er b r echen , und
beso nde rs bei jedem in Gesetzen und Si tten ve rkörper ten
N atu r r ech t s ve r b rechen , nach a llgemein p s ycho log i schen G r un d
sätzen f ragen müss en: Cui pr o? — Wie is t man dazu ge
komm en, den Schr i t t von der b loß närr ischen Selbs t askese
zu r ve r b r echer i s chen Zw ang s as kes e zu tun? Es is t doch
ein gewalt ige r Unterschie d, ob man selbs t auf dem Kopfe
s teht , weil m an s ich einbi ldet , d iese S tel lung sei d ie norma le,
die moral ische , d ie hei l ige und die al lein sel igm achen de,
oder ob man s e ine M i tmens chen mi t G ew al t zum opf-
s tehen zwingen wil l . Ers tere s is t nur Narrhei t , le tzteres
Verbrechen. Bei al len Freihe i tsbeschrä nkung en und beso nde rs
bei solchen, welche dem Naturrecht zuwider laufen, hat man
also zu f ragen: W er hat den Vortei l dav on? W er hat ein
selbs tsü chtige s Interesse dar an ? Natür l ich muß man s ich
bei d ieser U nters uchu ng vor de m banalen Ir r tum hüten, Vor
wän de für Grü nde zu nehm en. Noch imme r hat d ie un
gerech te Einzel- , Gru ppe n- oder Klassens elbs tsuc ht s ich ein
täus chendes M än te lchen umzuhängen und s i ch a l s V er
treter des Gesamtinteresses , des ewigen Seelenhei les und
was weiß ich , zu ger ieren gew ußt; solche Heuchelei g ehör t
zum unger ech t agg r es s iven Ego i s mus , w ie K lapper n zum
Han dwe rk; s ie is t notw endi g für den Erfolg . Also sehen
wir zu , We r eigentl ich von der k irchl ich-m it telal ter l ichen
Zw angs aske se, We r von diesem m ons trö sen Eingrif f in d ie
persönlic he Freihei t , und W er bes ond ers auch von de r Ver-
pönung des Eros Uranios einen mater iel len Vortei l oder einen
Zuw achs an M a ch t gehab t ha t .
D as A s kes ep r ed igen oder ga r d ie Zw an gs as kes e w i r d
immer verdächtig sein . Es is t gar zu bequem , Andere n die
Freuden des Leben s als wer t los ode r als sündhaf t h in zus tel len
6 e o DER EIGENE o o
In unserem Falle s toßen w ir nun auf zwei Klassen von
M ens chen , d i e imm er und über a ll zu s amm engehö r en , ih ren
Einf luß wech selsei t ig s tärken, und von den en die eine im
Mittelal ter d ie Macht völ l ig an s ich ger issen, aber auch die
andere , im Vergleich zum Alter tum, sozial gar sehr empor
gekom men w ar und is t Ich meine die Pr ies t er und die
We iber . Durch die anges tre bte und äußer l ich auch erreichte
Ges tal tung der Dinge wurde nämlich Etwas geschaffen, das
man ge r ade zu a l s das L iebes mon opo l de r We ibe r und de r
Pr ies te r bezeichnen k ann. W ähr end im Alter tum die Liebe. si
im G r oßen und G anzen f r e i , und in s bes o nder e auch de r
J üng l ing a l s w ür d ige r und gee igne te r G egens tand de r L iebe
a l lgemein ane r kann t gew es en w ar , s o w ur d e d ies nun ander s :
die W eibe r erhiel ten das ausdrü ckliche Mo nopo l der Liebe, i
und die Prie ster da s ihrer Ein seg nun g. Da nun ab,er die jjj/j
Hau ptseh nsuch t des natür l ichen Ma nnes die Liebe zu sein I;
pf legt : so is t es ohn e weiteres k lar , daß Diejenigen eine
f
große Macht erhal ten 'mußte n, welche es vers ta nde n, den
Schlüss el zu diesem irdischen Par adi es in ihre Händ e zu 11
br ingen. Pr ies ter un d We iber ve rs tehen einand er ja auch
son s t se hr wo hl: is t doch d as W eib die ers te un d die letzte
Zuf luch t de s P r i e s t e r g laubens und dami t de r P r i e s te r mach t
Denn wen n die ab erglä ubisc he Furcht n icht wä re, so hätte
die Mensc hheit keinen Bedarf nach Pr ies tern; Aberglauben
und mys t ischer Schrecken is t aber bei den Weibern, wegen
ih r e r ge r inge r en V er s t andes en tw ick lung , um mehr e r e G r ade
har tnäck ige r , a l s be im männ l i chen G es ch lech te .
So is t es dahin geko mm en, daß man mit dem Unter
gan ge der ant iken Kultur gera de denjenigen be iden Klassen
von Me nsch en einen g rößere n Einf luß vers tat tet hat , welchen
man nach S chop enhauer s ew ig beher z igens w e r tem Ra te , s ich
hüten sol l , Konzess ionen zu machen: den Weibern und den
Priestern Die ero tis ch e Lieb e wu rde auf Gr und der
a n g e g e b e n e n M o n o p o l v o r s t e l l u n g z u r s t r ä f l i c h e n
K on t re ba nde , nä ml i c h z u r V e r l e t z ung de r We ibe r -
( |
u n d P r i e s t e r p r i v i l e g i e n . D a b e i f üh lt e o d e r w i t te r t e m a n [ l
ili
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o o DER UNTERGANG DE S EROS URANIOS IM MITTELALTER o o 7
sehr wohl, daß man hiermit bis zu einem gewissen Grade
einen G ru n d tr ie b d es Menschen in Acht und Bann getan
hatte . D e sw eg en bestrafte man gerade diese Monopol
verletzung so außerordentlich grausam — grausamer
a ls v ie le wi rk l ich e Verbrechen D es ha lb umgab
man die Sache mit einem so erstaunlichen Wüste des
wüstesten Spezialaberglaubens: sollten doch Erdbeben,
Pestilenz und, wie Ulrichs berichtet, „besonders dicke, ge-
frässige Feldmäuse" die Folge der fraglichen „Sünde
wider die Natur" sei n Ein solcher Aufwand an ganz be
sonderen und ungewöhnlichen Abschreckungsmitteln legt
immer den Gedanken nahe, daß kein wirkliches Verbrechen
vorliege : wofür der Hexenwahn, und näch stdem wohl der
mittelalterliche Kampf gegen die gleichgeschlechtliche Liebe
das augenfälligste Beispiel liefert*.
Und, als Ruine dieses Feuer, Tod und Verderben
speienden mittelalterlichen Forts, steht der § 175 im Deutschen
Strafkode x: in schwächliche r Epigonenhaftigkeit, ein ha lb
fossiles Erbstück der verblaßten Pracht des Aberglaubens:
aber doch noch schädlich, ja mörderisch genug
Selbstverständlich hat man bei der Aufhellung einer
historischen Kollektivpsychologie nicht etwa bei der Menge
der Beteiligten eine klare Einsicht, also in unserem Falle
eine Art von Komplott der Priest er und der Weiber vora us
zusetzen. Vielmehr findet das Streben nach Machtverm ehrung
fast unbewußt statt und werden die jeweils zum Ziele
führenden Wege und Bündnisse gleichsam instinktiv gefunden.
* Wie wir sehen werden, Ist in der Neuzeit an die.' Stelle der
dicken Feldmäuse das Phantom einer verminderten Volksvermehrung
und an die Stelle des „Verbrechens" der „Krankheits'wahn getreten.
Der Aberglaube stirbt ni ch t, sondern er modernisiert sich; das heißt,
er tritt in der Verkleidung der „Wissenschaft" auf. Dem Menschen
genügt sein Verstand nicht, er muß Jemanden haben, zu dem er in
scheuer Ehrfurcht hinauf blickt; an die Kirche glaubt er nicht mehr.
Aber „die W issensc haft" . . . die ist unfehlbar. Das besagt ja schon
ihr Name
8
c
o DER
EIOENE
o o
Ferner gebe ich zu, daß meine Erklärung des Unterganges
oder vielmehr Scheintod es des E ros Uranio s eine Hypothese
ist. Je mehr ich sie aber bedenke , je tiefer ich eindringe,
und je länger ich sie nach allen Seiten drehe und wende,
um so wahrschein licher kom mt sie mir vor. Ich glaube, daß
sie sich bei vorurteilsfreier Prüfung als richtig herausstellen
wird, soweit in solchen Dingen ein unbedingtes Richtig oder
Falsch überha upt existiert und so weit man in Dingen der
Art von der Bewähru ng einer Hypoth ese reden kann. Eine
Bestätigung meiner Annahme wird übrigens Jeder in dem
Umstände finden, daß die beiden Klassen, welche ich für
den mittelalterlichen Untergang des Eros verantwortlich
mache, auch gegenwärtig noch Diejenigen sind, welche sich
im G ru nd e am meisten gegen dessen Renaissance sträuben:
so sehr sie sich, in instinktiver Verschlagenheit, auch be
mühen, andere Persone n, Interessen und Schlagw orte in den
Vordergrund zu schieben und ihr eigenes Interesse an der
Sache — da es ein selbstsüchtiges ist und da sie fürchten,
daß man das merkt, — zu maskieren. Allermindestens aber
hoffe ich, daß meine Vermutung als Wegweiser dienen
kann, wenn etwa Jemand die angeregte Aufgabe einer
Geschichte der Prüderie oder Sexualheuchelei in Europa in
Angriff nimmt*. Vieles, das| sonst unverständ lich bleibt,
wird im Lichte meiner Vermutung etwas durchsichtiger.
Welchen Einfluß im Ganzen und in den Einzelheiten
jener Grundabergtaube des Mittelalters — die Fabel von der
grundsätzlichen und ursprünglichen Sündhaftigkeit der natür
lichen Trieb e — au sgeübt hat, kann auch Derjenige nicht
in der ganzen Ausdehnung übersehen, der jenen Wahn selbst
* Später hat die christliche Zwangsaskese noch In der Syphilis
einen mächtigen Bundesgenossen erhalten. Freilich liegt deren Tätig
keitsfeld mehr im Gebiete der uneingesegneten Weiberliebe. Jedenfalls ist
aber die Wirkung augenscheinlich, indem der Aberglaube von der Sünd
haftigkeit des uneingesegneten Geschlechtsgenusses durch die nur allzu
diesseitige Krankheit gleichsam eine Beglaubigung erhielt.
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überwunden hat. Sicher aber ist, daß der an der Lebens
kraft und Lebensfreude angerichtete Schaden geradezu un
ermeßlich ist Denn
j n
von Priestern erfundene, von Priestern
verbreitete und ihnen dienstbare Irrlehre, samt ihren höllischen
Jenseitsperspektiven, mußte, so lange und so weit sie ernst
genommen wurde, das Lebensgcfiihl wirklich an den Wurzeln
angreifen. Alles das ist wahr, weit über das zwar hoch
wichtige, aber doch nicht einzige Gebiet des Eros Uranios
hinaus. Mindestens mußte auch das nächst benachbarte
oder gleichsam übergeordnete Gebiet der sinnlichen Liebe
überhaupt, also auch der Gynaekerastie, von jenen unheim
lichen Schatten verdüstert werden. Man könnte die ganze
Phantasie von der grundsätzlichen Sündhaftigkeit der sinn
lichen Triebe des Menschen getrost als eine e ig en tl ic he
W ah n id ee , wenn auch nicht gerade im irrenärztlichen
Sinne, auffassen, als eine Art von Manie zu grundlosen Selbst
vorwürfen — eine geistige Seuche, von der das Priester-
tum lebte und die es daher durch Suggestion, durch Ein
wirkung auf das kindliche Gehirn, übrigens aber auch mit
Scheiterhaufen und Folterkammer, förderte und etwa andert
halb Jahrtausende in vollem Flor erhielt. Wie unter den
Folgen jenes Wahns und der damit eng verbundenen ander
weitigen Bestandteile des Priesterchristentums, alles eigent
lich und im höheren Sinne Menschliche verfiel, verknöcherte,
entartete, verzerrt und erstickt wurde und fast der Vergessen
heit anheimfiel, ist bekannt genug. Doch beschränken wir
uns auf das enge Gebiet, das wir uns hier abgesteckt haben
und versuchen wir es, die psychologischen Folgen zu ver
anschlagen, welche durchschnittlich bei einem Menschen
platzgreifcn müssen , bei welchem der Wahn der Sündhaftig
keit der sinnlichen Triebe ernstlich Wurzel gefaßt hat. Der
Mensch kann sich nicht lange verhehlen, daß er nicht so ist,
wie er — nach der Lehre der P riester — sein „sollte .
Die Folge davon ist natürlich Reue, Unruhe und in höheren
Graden Zerknirschung (die den Priestern so sehr erwünschte
„contritio ) und Furcht vor der mystischen „Strafe : und in
31
45
o o DER EIGENE o o
dieser Furcht wendet sich der Mensch an den Priester, wie
der wirkliche oder der eingebildete Kranke an den Arzt; da
rauf ist es ja von Anfang an abgesehen gewe sen; das war
der Zweck der Suggestion.
Die antiken Kulturvölker hatten des Götter- und ander
weitigen Aberglaubens zwar wahrlich genug: aber von einem
für die ganze Lebensauffassung und L ebensgestaltung so
überaus schädlichen Wahne, wie demjenigen der grundsätz
lichen Sündhaftigkeit der mensch lichen Triebe und ihrer
Niemanden verletzenden Befriedigung waren sie frei. Und
das durfte eine der tiefliegenden letzten Ursachen der
klassischen Größe, wie das Gegenteil diejenige der mittel
alterlichen Verschrobenheit sein.
Das antike Tugendideal bestand in der Entwickelung
und Steigerung der besten Eigenschaften des Menschen, der
Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit; und in
Bezug auf das sinnliche Trieblcben darin, daß eine Herr
schaft über die Triebe erstrebt wurde, aber nicht in dem
Sinne de s Unterdrückungsversuchs, sond ern in dem einer
gerechten, schönen und maßvollen B efriedigung. An die
Stelle dieses verständigen und heilsamen Ideals trat nun die
Zumutung der Unterdrückung der sinnlichen Triebe und der
Ertötung des „Fleisches , Je nach dem Ch arakter der
Menschen, welche an die Berechtigung dieser Forderung
glauben, wird der Versuch jener „Ertötung entweder mit
vollem Ernste und voller Energie aufgenommen, oder aber
der Kampf wird nur mit halbem Herzen oder gar nur zum
Scheine geführt Im ersteren Falle entstehen bei einiger
Stärke des Charakters die „Heiligen , w elche Fleisch und
Sinnenlust überwunden haben: sie sind die Sieger im Kampfe;
sie sind Sieger über sich selbst und ihre natürlichen
Triebe. Sie haben überwunden — ihre eigenste Natur. So
sehr man nun auch die bewiesene Willensstärke an sich be
wundern mag, so entschieden wird doch der vom Wahne
des Mittelalters Befreite bedauern, daß jene kostbare Kraft
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o o DE R UNT E RG ANG DE S E RO S URANI O S I M MI T TE L AL TE R o o 4 5 J
auf ein so verrücktes und unnützes Ziel verschwendet worden
ist. Denn Wer oder Was hat von der bei Einzelnen ge
lungenen „Ertötung des Fleisches", menschlich und ver
nünftig geredet, irgend welchen Nutzen? Der grundsätzliche
Krieg gegen die natürlichen Triebe ist nicht nur der schw erste,
sondern es sind auch seine Früchte in dem seltenen Falle
des Sieges die am meisten nichtigen. Sic sind wirklich
nicht von dieser Welt — der einzigen die wir kennen —
und wahrlich nicht für dieses Leben, das einzige, das wirk
lich ist. Nur beim intellektuellen Pöbel kann daher die Be
wunderung einer solchen Leistung der Willenskraft der
vorherrschende und bleibende Eindruck sein: bei dem weiter
Blickenden und nicht selbst abergläubisch verdorbenen
Intellekt wird der Mißmut die Oberhand gewinnen über die
Verstandesschwäche, welche erforderlich war, um alle Kräfte
auf ein so törichtes Ziel zu richten. Ja, der Unterschied
zwischen dem christlichen Ertöter des Fleisches und dem
indischen Fakir, oder dem Selbstm örder unter den Rädern
des G ötterwagens, wird bedenklich klein erscheinen: und
wenn wir überhaupt dem christlichen Siege über die böse
Sinnenlust noch einen relativen Vorzug geben, so hat das
wohl nur darin seinen Grund, daß selbst der aufgeklärte
Europäer den zeitlich, örtlich und traditionell näherliegenden
Erscheinungen der religiösen Gcistesverrückung nicht so ob
jektiv gegenübersteht, wie den exotischen Formen des
fanatischen Aberglaubens. — Die ganze Stellungnahme des
mittelalterlichen Geistes gegenüber den Tatsachen und
Trieben, die mit der Geschlechtlichkeit zusammenhängen,
könnte man auch als ein geistiges Skopzentum be
zeichnen ~ nach dem Namen der russischen Sekte, die den
Haß gegen die Sexualität bis zur körperlichen Selbst
verstümmelung betätigt, während sich die Majorität mit einer
geistigen Vervehmung begnügt hat.
Der ernsthaft und energisch geführte Kampf gegen den
„alten Adam" des Sinnenmenschen ist nun aber im Großen
und Ganzen die Ausnahme gewesen und mit der zunehmen-
31
4 5 2 ° °
D E K
EIGENE o
den Altersschwäche des Glaubens immer mehr geworden.
An die Stelle des ernsthaft Gedachten und Gefühlten traten
mehr und mehr Konvention, Sitte, Herkommen und die ver
schiedenen Formen der Heuchelei. Man tat und tut so, al s
ob man die Sinnenlust nach Vorschrift verachte und verab
scheue und fröhnte ihr im Stillen. Je mehr der Kern
verrottete, der, insofern er in einer eh rlichen, wenn auch ver
kehrten Überzeugung bestand, noch einen gewissen Grad
von Achtung verdiente — desto mehr mußte man auf die
Schale, auf das Äußere, auf den Schein, Gewicht legen.
Auf diese Weise erkläre ich es mir, daß mit der Ab-
schwächung des eigentlichen Glaubens, also seit dem Mittel
alter im engeren Sinne, die Heuchelei in jener Richtung
nicht ab- sondern eher zugenommen hat. Die Prüderie
scheint im Mittelalter nicht größer, sondern kleiner gewesen
zu sein, als in der schönen „Jetztzeit". Die Sinnenlust war
etwas vom sogenannten „Sittengesetz" im allgemeinen Ver
botenes: sie offen und maßvoll zu geniessen, ging und geht
nicht an; sie muß sich verstecken und ist schon hierdurch
im weitem Umfange zu einer Art von Dunkelleben verurteilt,
in der sie natürlich erst recht ausartet An die Stelle des
maßvollen Genießens trat die heimliche Lüsternheit und das
Versteckspielen mit Allem, was auf die Geschlechtlichkeit
irgend wie Bezug hat, insbesondere aber das Ver
bergen des nackten Körpers. Ist es doch so weit gekommen,
daß wir von einem Menschen in der Regel außer dem
Gesicht nur die Kleider kennen lernen Und selbst beiGelegenheiten, die ein ausnahmsweises Ablegen der künst
lichen Hüllen notwendig machen, wie beim Baden, erfordert
die öffentliche „Schamhaftigkeit" oder wie sjch die Prüderie
sonst selber nennen mag, wenigstens ein Verbergen der
jenigen Teile, in welchen und auf welche sich die sündhafte
Neigung zu konzentrieren pflegt.
Dieses ganze europäische, mittelalterlich-moderne, so
überaus lächerliche Sittenbildchen hat demnach, wie ich klar
zu sehen glaube, seinen letzten Ursprung in den übelsten
-
8/9/2019 Der Eigene : 1903-07
11/33
o o DER UNTEROANO DES EROS URANIOS JM MITTELALTER o o 4 5 3
Bestandteilen des m ittelalterlichen Kirchenchristentums. Das
Sexuelle ist im Rahmen des asketischen Wahns etwas
Mißliebiges, auf Grund der Zwangs-Askese aber sogar etwas
Verbotenes. Da es aber Jedermann trotzdem übt oder
mindestens danach verlangt: so wird, durch den Gegensatz
zwischen geheimer Natur und anmaßlich-pfäffischer Unnatur,
ein komisch-peinliches Nolimetangere daraus. In der Tat
scheint dieses ganze Sitten- oder vielmehr Unsitten-Ensemble,
also die unsägliche Verpönung der gleichgeschlechtlichen
Liebe, die Scheu vor dem Nackten und das Versteckspielen
mit Allem was auf die Geschlechtlichkeit überhaupt Bezug
hat, ganz und gar auf diejenigen Völker beschränkt zu sein,
welche der am meisten verknechtenden aller Autoritäten an
heimgefallen sind. Die Nackthe it und Naivetät, die wir die
„klassische" nennen, herrschte nicht nur in Hellas und in Rom,
sondern überall, wo nicht jener Geist des mittelalterlichen
Kirchenchristentums mit seinem Sündhaftigkeitswahn seinen
schädlichen Samen ausgestreut hat.
Der sachlogische Zusammenhang ist also nach meiner
Ansicht dieser: der erste Irrtum, das Proton Pseu dos, —
dem geg enüb er a l so in Zukunf t das „pr ine ipi i s
obsta" anzuwenden ist — ist die Verurteilung der natür
lichen Triebe als „schlecht" und ihrer mit Lust verbundenen
Befriedigung als „sündhaft". Dieser zunächst vorwiegend
theoretische Irrtum erzeugte dann den Frevel einer gewalt
samen und inquisitorischen Einmischung in die privatesten
Privatangelegenheiten, um so mehr, als hierdurch die Macht
des aufsprossenden und herrschsüchtigen neuen Priestertums
in der gekennzeichneten Weise, gefördert wurde. Für diesen
und ähnliche Übergriffe einer jeweils kurshabenden Autorität
sollte man, da sie typische Vorkommnisse sind, auch einen
besonderen Ausdruck haben: man könnte sie als den
Pfaffenfrevel wid er das Na tur rec ht bezeichnen,
wobei, unter Umständen und besonders in der neueren Zeit,
anstatt Pfaffenfrevel vielmehr Staatsfrevel zu lesen ist; oder,
5
o o DER EIGENE o o
wem das besser gefällt, St aa ts ve rb re ch en * wi de r die
menschliche So uv er än itä t. So hatte man bald neben der
theoretischen Verdammungder natürlichen Trieb e auch ie prak
tische Strafbarkeit ihrer Befriedigung. Nun lassen sich aber jene
Triebe nicht ausmerzen: sie bleiben trotz ihrer „Sündhaftig
keit" und trotz ihrer „Strafbarkeit" bestehen : Was ist natür
licher, als daß sie sich allgemein v e rs te c k e n ? Als daß
man so tut, als ob diese ganze Seite des menschlichen
Lebens nicht vorhanden wä re? Als daß man Alles ver
meidet und verbirgt, was darauf auch nur entfernt und
indirekt Bezug hat? Kurz, als daß an Stelle der klassischen
Nacktheit des Körpers und Unbefangenheit der Seele Zustände
treten, in denen der Mensch aus Gesicht und Rock besteht
und in denen ein allgemeines Versteckspielen und eine zur
zweiten Natur gewordene Heuchelei herrs cht? Ich bezweifle,
daß ir g en d wo und irg en d wann eine ausgedehntere und
intensivere Heuchelei existiert hat, als in Bezug auf den Eros,
seit dem Verfall der antiken Kultur, bis auf unsere Zeit.
Wer hier ernstlich reformieren will, der hat nicht etwan nur
die Symptome oder gar nur die äußersten Auswüchse der
altjüngferlichen Prüderie zu bekämpfen, sondern muß das
Übel mit den Wurzeln ausrotten; er muß daher folgende
Grundsätze aufstellen: 1. Der Körper des Menschen besteht
zu Recht und braucht sich nicht zu verbergen, wenn anders
er wohlgebildet ist; die Freude am Anblick schöner Körper
ist harmlos, individuell und sozial nützlich, und die Ver
kümmerung dieser Freude eben so töricht wie unrecht.
2.
Die natürlichen Triebe des Menschen, insbesondere sein
physischer und psychischer Liebestrieb bestehen zu Recht
und sind keine Sünde. Nur raffiniert verknechtende Mächte
haben teils aus Irrtum, teils aus Bevormundungs-Manie, teils
aus herrschsüchtiger Selbstsucht diese täuschende Parole
ausgegeb en. Die Befriedigung der Triebe ist kein Unrecht,
• D. h. natürlich hier Verbrechen des Staats, nicht Verbrechen
gegen den Staat
-
8/9/2019 Der Eigene : 1903-07
12/33
o o DER UNTEROANG DES EROS URANIOS IM MITTELALTER o o 4 5 5
wenn Niemand dabei ungerecht verletzt wird. 3. Die Frage
nach Recht und Unrecht ist vo ll ko m m en unabhängig von
den jeweils irgend wo und wie bestehenden Sitten und
Moden und natürlich ebenso unabhängig von der Genehmigung
oder Nichtgenehinigung durch Priester oder Staat. Wa s
wirklich ein Unrecht ist, wird durch den Segen des Priesters
oder die Eintragung in die Register des Staats nicht zum
Recht. Wa s aber von Naturrechtswegen kein Unrecht ist,
das wird auc h durch soziale Verpönung und deren etwa be -
stehende Kodifikation nicht zum Unrecht umgezaub ert. Viel-
mehr sind jene Verpönung und jene Gesetze selbst Unrecht,
oder, in der Redeweise der Religion, „Sünde.
GANYMED
Im Dome der Madonna della Lettera zu Messina.
D e r D o m h e r r s p r i c h t :
Du kleiner, schmucker Sakristanl
Ei, komm einmal zu mir heran 1
Setz Dich zu mir auf diese Bank
Du bist so nett Du bist so schlankl
Du hast so ein lachendes, liebes Gesicht 1
Schau mich an — lach mich an, Du mein herziger Wicht
Sieh, diesen ganzen, weiten Dom
Füllt meiner Andacht Feuerstrom,
Jedmeines Wort auf Engelshand
Schwebt nach des Paradieses Rand.
Und Sünden aus des Räubers Brust
Tilg ich und heile Dirnenlust;
Was auf dem Eiland giftig schlecht,
Das benedei ich wieder recht
Doch gib mir Deine runde Hand
Laß Deiner dunklen Äugen Brand
Ganz tief in all mein Wohlsein sinken;
Mir ist, als dürft ich Lethe trinken
So hat einmal ein großer Gott
Zu aller seiner Priester Spott
Als aller seiner Segnung Sold
Einen kleinen Schelm sich wo geholt,
Einen lustigen Schafer, ein goldenes Kind
Komm, Ciccio, gib mir ein Küßchen geschwind
Ei nun, Ich wüßt ei — nicht wehrst Du mini
Gott und die Helligen lohnen Dlrst
D e r k l e i n e C i c c i o s p r i c h t :
Mein guter Herr 0 mein hoher Prälat
Küßt Euch an meinem Mäulchen satt
Streichelt mein Haar, klopft meine Wang —
-
8/9/2019 Der Eigene : 1903-07
13/33
o o OANYMED o o
Bei Euch wird mirs so gar nicht bang
Denn droben glänzt so frisch und mild
Der freundlichen Madonna Bild;
Sie hat die Stadt vor Brand bewehrt,
Sie hat dem Land viel Heil beschert,
Caruben und Mandeln schüttet sie her,
Feigen und Blumen und was sonst noch mehrl
Fett werden die Schweine, stark die Rinder,
Sie beschirmt die Großen, behütet uns Kinder
Und ihr, mein Herr, führt uns zu ihr
Und doch tut Ihr so freundlich mir,
Und doch tut Ihr so gut und lind
Mir armem, elternlosem Kind
Mir ists, als würd ich durch Wolken gehoben
Ich mein, ich wäre im Himmel droben
Und aus Euerer bleichen, weichen Hand
Fühl ich einen schönen Brand,
Der mir den ganzen Leib durchzündet,
Als war der Sonne ich angepfründet
O, streichelt mich Seht — wie durch die Nacht
Dämmrigen Chors die Jungfrau lacht
Küßt mich, umarmt mich, so viel Ihr wollt
Seht, es lachen die Heilgen so hold
Ich bin gesegnet, so lang ich bleib
Euerer Gnaden Zeitvertreib
FAUSTINO
UNTER DEN STERNEN
EIN DIALOG VON HANS BETHGE
Am Strande von Sylt. Anfang Herbst. Die Sonne ist im Meere
versunken. Es dunkelt schnell. Nur vereinzelt, in Plaids gemummt,
sind noch Badegäste zu bemerken. Auf zwei Strandstühlen sitzen
nebeneinander: Vi to ri na , eine junge Witwe in Schwarz, und
Fe rn an do , junger Witwer, elegant und einfach wie sie. Eine Weile
sehen die Beiden schweigend über das W asser fort in den rötlich
verblassenden Himmel und geben ihre Gedanken dem eintönigen
Gemurmel der Brandung hin. Dann beginnt
Fe rn an do : Wenn dieser Abend nun ewig wäre?
Vi tor ina : Wie meinen Sie das?
Fe rn an do : Ich weiß die Zeit nicht mehr,
daß
es bei mir einmal
so ruhig war.
Vi to ri na : Der Abend fliegt vorüber wie die Möve dort. Viel-
leicht noch schneller.
Fe rn an do : Ja, man sollte sich daran gewöhnen zu denken, dnli
das Glück auf Mövenflügeln wohnt
Vi to rin a: Aber glauben sie mir: Was uns das Leben auch
bringen mag: Die törichten Wünsche hören nicht
auf.
Fe rn an do : Ich weiß nicht, ob die Wünsche töricht sind. Nur
daß wir an sie glauben, ja, das ist töricht.
Vi to ri na : Wir wollen uns deshalb mit den Wünschen begnügen
lassen und nicht daran denken, ihnen eine Erfüllung zu bescheren.
Wollen wir uns m it den Wünschen begnüg en la ssen ? Sie reicht Fernando
die Hand.
F e r n a n d leKt die seinige als Zeichen des Einverständ nisses hinein. Zaghaft: Ja
Pause.
F e r n a n d o : zum Himmel cinporUcutcnd: Sehen Sie dor t oben. Der
Abendstern.
Vi to ri na : Er ist sehr weit von hier.
Fe rn an do : Wir werden ihn nie zu deuten wissen.
-
8/9/2019 Der Eigene : 1903-07
14/33
o o UNTER DEN STERNEN o o
59
Vit orir ia: Die Leute sagen immer, daß die Märchen Torheit
seien. Giebt es wundervollere Märchen als die silbernen Sterne?
Fe rn an do : Sehen Sie den großen, glänzenden? Möchten Sie
einmal dort hinauf?
Vi to rin a: Nein. Möchten Sie, daß die Märchen zur Wahrheit
würde n? Dann wären es ja keine Märchen mehr, und aller Zauber
wäre verschwunden.
Fernando: Immer neue tauchen auf. Sehen Sie doch, ein
gan zes Rudel in einem Kreis. Und da über dem Leuchtturm der
funkelnde, der ist wie eine Verheißung. Der lockt mich.
Vi to ri na : Wie wunderbar dies Alles ist. Und wie kurz wir
zumeist darüber denken.
Fe rn an do : Es ist nicht nütze, darüber zu denken.
Vi to rin a: Meinen Sie? Ich glaube doch, daß es zu etwas
nütze sei. Sehen Sie d iese unendliche Fülle: Milliarden und aber
Milliarden. Sie sind auch bei Tage da, aber wir sehen sie nicht, denn
unsere Augen sind von der Sonne geb lendet. Und es giebt noch
unendliche, undenkbar unendliche Füllen anderer solcher Gestirne,
aber unseren Blicken auf immer verborgen, denn das, wa s wir hier
über uns sehen , ist nur das M indeste d es Wunderbaren. Wa s will
unsere kleine Erde in dieser Unendlichkeit heiße n? Wa s haben Sie
tu bedeuten und ich? Was haben unsere Gefühle zu bedeuten und
unsere Gefühlchen, die uns s o riesengroß erscheinen, im Angesicht
diese s Unendlichen, unser kindliches W isse n, unsere engen Vor-
stellungen von Freiheit, Schicksal, Gerechtigkeit, Willen, Got t? Es
ist mir gewi ß, daß nicht ein einziger dieser Begriffe dem Ewigen
standhält.
Fe rn an do : Sie filosofieren, Vitorina?
Vi to ria : Ich empfinde das nur.
Fe rn an do : Vitorina, ich wünschte, ich hätte ihren toten Gatten
gekannt.
Vi to rin a: Hören Sie, wie dort hinter den Dünen die Wildgans ruft?
Fe rn an do : War Ihr Gatte eigentlich älter als Sie?
Vit ori na: Hören Sie die Wildgans?
Fe rna nd o: Vitorina I
Vi to ri na : Ist es nicht wundersam, wenn solch ein Vogel durch
den Abend ruft? Ist es nicht, als sei die Natur zu einem tiefen Gedicht
geworden? ie ist dieser Abend schön.
45 Q e e DER EIGENE o o
Fe rn an do : Vitorina, sprechen Sie nicht weiter so. Sprechen
Sie nicht so heimelig, sagen sie lieber etwas Gewöhnliches, Plattes.
Ändern Sie vor allem den Ton Ihrer Stimme, ich muß sonst fliehen.
V it or in a ruhig: Ist Ihnen so ban g? Beim bloß en Klang einer
Frauenstimme, die Sie erst wenige Stunden kennen?
Fe rn an do : Es ist nicht die Stimme allein.
Vi to ri no : Aber ja, Sie haben recht. Ich werde mich bemühen,
so kalt und glatt zu sprechen, wie es möglich ist. Es ist meine
Pflicht soga r. Nachdenklich: Oder . . . sol lte e s d och meine Pflicht
niefit sein?
Fe rn an do : Ja, es ist ihre Pflicht, bei Gott, Vitorina, glauben
Sie mir
Vi to rin a: Verzeihen Sie. Wie lange ist Ihre Gemahlin eigentlich
schon tot?
Fe rn an do : Kaum ein Jahr. Wie kommen Sie darauf?
Vi to rin a; Es flog mir so in den Sinn. Weil Ihnen so bange ist,
wissen Sie?
Sie zwingen sich beide zu lächeln. Pause.
Fe rn an do : Wissen Sie, Vitorina, daß es Menschen gibt, die nie-
mals aufhören, glücklich zu sei n? Es sind Menschen von kurzem Gesicht
und behaglichem Verstand, und es ist ihr Wunsch nicht, Flügel zu haben,
um sich über die Andern fortzuschwingen und Alles zu erkennen und zu
erfahren. Sie zweifeln nicht, sondern sie glauben. Ihre Sinne sind
nicht fein, darum ertragen sie s o viel. Ihr Geist ist bescheiden, darum
ist er zufrieden. Ich möchte nicht sein, wie jene Menschen sind —
und dennoch; wie beneide ich siel 0, wie beneide ich sie
Vi to ri na ruhig: Denn sie haben den Frieden.
Fe rn an do : Haben Sie auch schon einmal etwas wie Neid gegen
jene Menschen gefühlt?
Vi to rin a: Wer sagt Ihnen denn, mein Freund, daß ich nicht
selbst zu jenen Menschen gehöre?
Fe rn an do : jetzt scherzen Sie .
V i tor in a: Wieso?
Fe rn an do ; Haben Sie den Frieden?
V it or in a sieht auf das Meer hinaus.
Fe rn an do in verändertem Ton: Es ist eine seltsam e Natur, in die
wir verschlagen sind. Warum kann sie uns niemals da s Gewöhnliche
erspare n? Sie hat fast eine Freude daran, die edelst en, glühendsten
Gefühle allmählich in die niedrigsten zu verwandeln, die freilich nicht
-
8/9/2019 Der Eigene : 1903-07
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o o UNTER DEN STERNEN o o
46
w e n i g e r g l ü h e n d s i n d .
S i e t u t e s
i m m e r
— n u r
n i c h t
be i
j e n e r e w i g
z u f r i e d e n e n K l a s s e ,
v o n d e r w i r
e b e n g e s p r o c h e n h a b e n .
V i t o r i n a n i c k t .
F e r n a n d o :
E i n
Ma nn l i eb t e i n e F rau
m i t d e n
h ö c h s t e n , h e i l i g s te n
G e f ü h l e n ,
v o r
d e r e n H e i l i g k e it
e r
f a s t e r s ch r i ck t ,
d a e r
s i ch
b i s
d ah i n
n o c h n i c h t b e w u ß t g e w o r d e n
w a r , d a ß e r s o
h e i l i g e T i e f en
in
s i ch
hä t t e .
Er
w e i ß ,
d a ß
s e i n L eben o h ne j en e F rau n i ch t m ehr g e d e i h en
k a n n ,
d a ß e s
v e r k ü m m e r n m ü ß t e o h n e
s i e , e r
w i l l
s i e
d e s h a l b
z u
s e i n e m W e i b e m a c h e n .
Er
g e h t
z u i h r u n d
f i n d e t ,
d a ß s i e ih m
g a n z
d i e g l e i c h e n Em p f i n d u n g e n e n t g e g e n b r i n g t ,
d i e i h n f ü r s i e
e r g r i f f en
h a b e n . B e i d e n w i r d
e s z u r
G e w i ß h e i t ,
d a ß s i e v o m
H i m m e l
f ü r
e i n -
a n d e r g e s c h a f f e n s e i e n .
S i e
l e b e n
u n d
jubeln
u n d
k ü s s e n s i c h .
U n d
v e r b i n d e n s i c h d a n n ,
um
l a c h e n d
d e m
e r s e h n t e n G l ü c k e n t g e g e n z u l a u f e n .
D i e A r m e n
S i e
w i s s e n n i c h t,
d a ß d e r
G i p f e l s ch o n h i n te r i hn en
l i e g t . J en e r A ugen b l i ck ,
i n d e m s i e
i h r e L i ebe e rkann t en .
D a s w a r
d a s H ö c h s t e , d e n n
e s w a r — d a s
R e i n s t e .
N u n
g e h t
e s d e n
B e r g
h i nab .
L a n g s a m ,
s o
l a n g s a m ,
d a ß s ie e s
s e l b s t n o c h
g a r
n i ch t sp ür en .
A b e r p l ö t z l i c h k o m m t d a n n
d e r T a g — e r
k o m m t i m m e r .
D i e
G lut
i s t v e rg l üh t ,
u n d d i e
W ä r m e h e f r i e d i g t n i c h t m e h r ,
d a i h r d i e
G lut
v o r a n g e g a n g e n
w a r .
V i t o r i n a :
N u n
k o m m t
d a s
G l e i c h g ü l t ig e .
D a s
en t s e t z l i ch
Ö d e .
D a s e w i g G r a u e .
F e r n a n d o :
D i e
K ü s s e h ö r e n
a u f , u n d d i e
H ä n d e l e g e n s i c h m ü d e
i n e i nander .
V i t o r i n a :
E s i s t , a l s o b d i e
So nne v e r s ch l e i e r t e S t rah l en hä t t e .
D a s L e b e n
h a t
s e i n e n G l a n z v e r l or e n .
F e r n a n d o :
D i e
N äch t e s i nd ka l t ,
un d
e i n e f r e m d e S e h n s u c h t
ste l l t s i ch
e i n . D i e
L i ebe
i s t n u n
l äng s t s c ho n
to t , un d
e i n e s T a g e s ,
g a n z p l ö t z l i c h , o h n e
d a ß m a n e s
ahn t e v o rher , o hne
d a ß m a n ih n
w i l l
und no ch r e ch t k enn t ,
d a
k o m m t
. . .
V i t o r i n a :
D e r H a ß .
F e r n a n d o n i c k t :
E r i s t
d a n n
d a s
L e t z t e . W o h e r
e r
k o m m t ?
0 ,
a us
d e r
L i e b e ,
a u s d e r
g r o ß e n L i e b e .
D a
s c h l i e f
e r im
S i nn s cho n
v o n A n fang
a n , s o w i e d i e
l e t z t e S tunde ,
i n d e r
e r s t en s ch l ä f t ,
s o w i e
d e r T o d i m b r a u s e n d e m L e b e n b e g r ü n d e t i s t .
V i t o r i n a :
U n d w i e e s
b e g i n n t . W i s s e n
S i e , w i e e s
b e g i n n t ?
Mi t e i n em B l i ck ,
m it
e i n e m e i s i g e n , u n h e i m l i c h e n , f r e m d e n B l i c k ,
v o r
d e m m a n e r s ch r i ck t b i s i n s M a r k , d a m a n ih n n i e b i s d ah i n e r f ah r en
46
o o DER E1QENE o o
hat .
O , w i e
e n t s e t z l ic h f r e m d k a n n
d e r
B l i c k e i n e s m e n s c h l i c h e n A u g e s
s e i n ?
Er
k ann Ma uern a u f r i ch t en .
F e r n a n d o :
D e r
Ei n e f äng t
a n , d a s
W e s e n
d e s
A nd ern h e i m l i ch
zu bedauern , w o ran
e r b i s
d a h in n i e m a l s d a c h t e ,
u n d
f ind e t p l ö t z l i ch ,
d a ß
d i e
B e w e g u n g e n
d e s
A n d e r n h ä ß l i c h s i n d , s e e l e n l o s ;
u n d
s e i n e
Wo rt e r auh , unre i n ,
u n d i h r
Inha l t p l um p .
Er
s ch i l t s i ch e i n en N arr en ,
d a ß
e r
d i e s A l l e s f rühe r
n i e
b e m e r k t e .
Er
m ö c h t e
d e n
A n d e r n s c h l a g e n
f ü r j e d e s e i n e r h ä ß l i c h e n B e w e g u n g e n ,
fü r
j e d e s s e i n e r k i n d i s c h e n
W o r t e .
Er
m ö c h t e
ih n
s c h i m p f e n
m it
g a n z g e w ö h n l i c h e n W o r t e n , a b e r
e r s c h w e i g t
u n d
b e i ß t
d i e
Z ä h n e z u s a m m e n .
E r i s t
g e r e i z t
bi s
aufs
Blut ,
e r
m ö c h t e w e i n e n
w i e e i n
K i n d
u n d
w e i ß n i c h t ,
w a s e r
w i l l
u n d
w a s
e r
e m p f i n d e t .
N u r
d i e s E i n e w e i ß
e r : d a ß e r
ung l ü ck l i ch
i s t —
durch
d e n
A n d e r n .
V i t o r i n a : V i e l l e i c h t
h a t
s i c h s e i n A u g e a u c h
a n
e i n e r a n d e r n
F rau e r f r eu t . Oder
d a s
i h r i g e
a n
e i n e m a n d e r n M a n n .
F e r n a n d o : W a r u m n i c h t?
W i r
s i n d
m it
S i n n e n b e g a b t ,
d i e i j
w o l l e n i h r e N a h r u n g h a b e n . A b e r
w i e d e m
auch
s e i : d a s
G l ü c k
i s t
i n e i n e t i e f e N ach t beg raben .
V i t o r i n a :
U n d
d a n n ?
F e r n a n d o :
Ic h
s a g t e s c h o n ,
d a ß e s d a s
L e t z t e
s e i . D a s
L eben
d e h n t s i c h n o c h w e i t , a b e r g l a n z l o s
un d
o h n e S ü ß e .
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B i t t e r e s s c h m e c k e n .
V i t o r i n a :
D i e
M e n s c h e n s o l l t e n
e s
n i c h t
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w e i t k o m m e n l a s s e n .
S i e m ü s s e n s i c h t r e n n e n ,
e h e e s s o
w e i t k o m m t
F e r n a n d o : W e nn
s i e
eh r l i ch s i nd ,
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M e i s t h a b e n
s i e
n i cht
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M ut
d a zu .
V i t o r i n a :
S i e
h a b e n R e c h t .
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d a zu , eh r l i ch
zu s e i n .
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l e i ch t v e r l i e r en
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e i n e n E n t s c h l u ß
z u
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F e r n a n d o :
E s i s t e i n
s e l te n e r S e g e n , w e n n
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Na tur s e l b s t
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V i t o r i n a s i eh t i hn fr age nd an .
F e r n a n d o :
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E i n en s t e rbe n läß t
v o n d e n
B e i d e n .
D a s i s t
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B e s t e . O d e r n i c h t ?
V i t o r i n a un s ic h er :
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B e s t e s e i n
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v i e l l e i ch t ,
Ja .
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n e i n , n e i n , n e i n ,
g u t i s t
d i e s A l l e s n i c h t
. . .
-
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16/33
o o UNTER DEN STERNEN o o
46
Fe rn an do : Wissen Sie, Vitorina, daß es Nächte gibt, in denen
sich ein Mensch die Augen rot weint nach dem Toten, den er einst
haßte?
Vi to rin a: Der Tod verändert alles Gewes ene.
Fe rn an do : Er vergoldet es.
V it or in a: Die Erinnerung sieht nie das Graue, durch das wir
schritten, sondern nur die glanzenden Stunden, die wir mit Lachen
geno ssen . Das Glück de s ersten Anfangs, das süße, r eine, läßt uns
nicht los, und wir verzehren uns in Sehnen danach.
Fe rn an do : Wir leben es nur einmal. Die Sehnsucht ist Ver
geudung. Aber hier kann die Vernunft nichts tun.
V it o ri n a plötzlich in die Ferne hinausdeutend: Ah — sehe n Sie dort
. . . Nun ist es vo rbei. Haben Sie den Meteor gesehe n, der da
drüben vom Himmel fiel und im Wasser versank?
Fe rn an do : Ich habe ihn gesehen. Haben Sie sich etwas ge
wünscht bei seinem Fall?
Vi to ri na : Ja, mein Freund.
Fe rn an do : Aber die Wünsche sind Torheit, Vitorina . . .
Vi to ri na in die Ferne blickend: Dieser Wun sch nicht. Ich habe mir
gewünscht, daß Sie mich bald recht tief . . . verachten möchten.
Fe rn an do bittend: Vitorina . . .
Sie schüttelt abwehrend das Haupt und sieht schweigend auf das schwarze Meer
hinaus, auf dem hier und da weiße Schaumstreifen emportauchen. Bald beginnt sie zu
frösteln.
V it or in a aufstehend: Kommen Sie. Mich friert, mich friert. Diese r
Abend ist kalt.
F er na nd o sich gleichfalls erhebend: Kalt wie das Leben, Vitorina
Es ist fast dunkel gewo rden, der Himmel ist übersät von unzähligen
Sternen. Vitorina legt sich ein Plaid um die Schultern. Fernando will
ihr dabei behilflich sein , aber sie wehrt ihn ab. Sie schreiten stumm
den Strand hinan und steigen die Dünen empor. Hierbei reicht Fer
nando seiner Begleiterin den Arm. Sie legt den ihrigen hinein, doch
nach wenigen Schritten schon zieht sie ihn hastig wieder heraus. So
wandern sie nebeneinander dem Dorfe zu.
464
LETZTE F HRT
1901
Et puis, comme il m'aidait dan* mes douces etudei,
Comme il connaissait bien toutes IM habitudes
Des plantes, des insectes, des olseaux de Dicu.
Lamartine, Jocelyn.
or Kurzem erst, der Herbst war schon gek omm en,
Als Du mich fuhrest auf dem Schwanenpfadc
Den alten Weg hin zum gewohnten Bade,
Dem müden Leib zu gutem Nutz und Frommen.
Du sprachst davon, wie oft den See durchschwömmen
Ich drei Jahrzehnt lang, der noch jetzt mich lade,
Und wie, wenn wir vertraun auf Gottes Gnade,
Manch Jährlein noch ein Gleiches war willkommen.
Nicht ahnten wir, daß heut von Dir erwiesen
Zum letztenmal ward solche Pfleg und Hülfe. —
Der Tod war nah, Dein blaues Aug zu schließen.
Wohl schmerzlich wirst Du mir mein Lebtag fehlen,
So lange, gleitend durch viel hohe Schilfe,
Die Wasser hier von Lieb und Treu erzählen.
C. B.-s.
fc n
-
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DER JUNGE P N
„Nino, süßer komm in unsre Laube
Spür den Rosenhauch — wir wollen kü ssen "
»Nein, Gigetta, meine schwarze Taube
Wirst Dir einen andern suchen müssen
Schleichen will ich nach dem Palazzino,
Und ich kenn dort einen Marmorknaben
„Herzblutrote Lippen hab ich, Nino
Sag, was willst von einem Stein Du haben?
»Wisse, Wildling, daß ich gern Dich küsse,
Gern die Rose in das Haar Dir flechte,
Gern Dir brech die braunen Festtagsnüsse —
Doch ein Andrer steigt durch meine Nächte
Weiß es nicht, von welcherlei Gesippen
Doch so schön ist er und macht mich heilig,
Legt auf meine Stirn die blanken Lippen
Und nach ihm die Arme kehr ich eilig
Drück mich ganz an seinen klaren Busen,
Spür in Holdheit wandeln mich allmählig,
Und in so gelinden und konfusen
Träumereien fühl ich mich so selig
Kanns bei Tage denken kaum, nicht nennen,
Und Ich möcht es nie dem Priester sagen
Nur weil Deine Lippen köstlich brennen,
Darfst Du mich nach solchem Wunder fragen
o o DER EIGENE o o
Weiß ich doch, was mir Dein Mund vergönnte)
Doch ich fühl, ich kann noch Schönr es haben,
Wenns mir ist, als wenn ich wirklich könnte
Einst lebendig küssen meinen Knaben
Und in Blut verwandeln seine Blässe,
Seine Brust mit Wärme ganz durchzünden,
Und mit ihm zur rauschenden Zypresse
Wandeln und nach myrtereichen Gründen
Und mit ihm im Flor der Quellen liegen,
Seine kleine, goldne Hand ergreifen,
Und mit ihm im glücklichsten Umschmicgen
Nach dem sommerwarmen Meere schweifen
Nein, GigettaI faß nicht meine Hände
Sieh,
ein Gott — ich spürs — macht mich erhaben
Ober Dich und Deiner Augen Brände —
Und nun such ich meinen Marmorknaben *
IS)
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H Y L S
WILHELM BISSEN
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HYL S
Auf Leranos ruht die traumdurchglühte Sommernacht.
Gestirne blitzen auf. Im fernen Osten steigt
Dianens Sichel aus dem dunstumflorten Meer.
Ein leichter Wogenschwall begrüßt ihr Silberlicht,
Der wachsend nun an Argos' Kiel sich schäumend bricht
Und klatschend niederfällt auf bleichen Uferkics.
Duftschwüle Grüße sendet Lemnos' üppger Strand,
Und aus den fackclhcllcn Hainen jauchzt empor
In Flötentönen, Harfenspiel und Chorgesang
Der Lemncrinnen Festlust mit der Gäste Schaar,
Den Argonauten, kühnen Seglern, die das Fließ,
Das goldne suchen, den geraubten Königsschatz
Nach Jolkos heimzuführen von der Kolchier Land.
Die Frauen, die der eigenen Männer sich beraubt
Im blutigen Kampfe, haßerfüllt, — nun lieben sie
Auf seidnen Lagern pflegen sie der süßen Rast
Mit jenen Kühnen, deren Kiel das Meer durchfurcht,
Und die an Lemnos Anker warfen sonder Scheu.
Doch alle nicht betraten blutgetränkten Strand.
Ein Held blieb ferne, finster grollend: Herakles.
Wachhaltend steht er an der Argos Steuerbord,
Die Blicke nach des Meeres nächtger Flut gewandt.
Nicht lockt der Jubel ihn, der duftge Biumenpfühl,
Drauf schön umlockte Lemnerinnen ausgestreckt
In üppger Wollust schlürfen seltner Liebe Glück.
Er haßt die Mörderinnen, zürnt der Freunde Schar,
Die hier untätig weilen, während günstger Wind,
Die Segel schwellend, ihnen rasche Fahrt verheißt.
Wozu das Säumen? Qualenvolle Stunden, die
Tatlos verrinnen abwärts in die stygsche Flut
o o DER EIGENE o o
Er krampft die Faust um seiner mächtgen Keule Griff
Und schütternd klirrt der volle Köcher neben ihm,
Drin seine Pfeile rosten, die nun wohl umsonst
Getrunken des lernäischen Drachen tötlich Gift.
Umsonst auch schliff er wohl das sieggewohnte Schwert,
Das müßig ihm von sonngebräunter Schulter hängt.
Da legt sich eines Jünglings weißer, schlanker Arm
Um seinen Nacken und ein rosig Lippenpaar
Preßt sich ans Ohr ihm, liebeflüsternd, seideweich.
Aufwacht aus schwerem Sinnen jählings Herakles.
»Hylas Geliebte r — Längst entschlummert wähnt ich Dich
Doch nein — Du, des Alkiden einzig wahrer Freund,
Gleich mir ja hältst Du Wache, grollst und leidest Du —
Ich weiß es. —" — »Laß Dein fruchtlos Zürnen, Herakles
Komm, raste mit mir hier auf hartem L ager, komm "
Der Jüngling hängt sich an des Helden breite Brust.
Da schreit er auf. De s Löwenfclles Kralle hat
Geritzt die zarte Wange, der nun Blut entträuft.
Schnell drückt die Lippen auf die Wunde Herakles
Und schlingt die sehnigen Anne um des Knaben Leib:
»Mein Hylas « flüstert der Alkide liebev oll
Und trägt nun selbst den Knaben zärtlich zu dem Pfühl
Von wolligen Fließen, auf des Schiffes dunklem Grund.
»Laß uns der Liebe pflegen Dein es Leibes Zier,
o Seligkeit, o Duft gleich Weinesblüle — Sprich —
Nein nimm die Zither, spiele, singe, Musenfreund,
Poseidons Liebe zu dem Sohn des Tantalos,
Dem dunkeläugig schönumlockten, göttlichen;
Zu Pelops, der an Göttermahlen einst geschwelgt,
Vom Liebling Chrysippos und seinem bittern Tod
Durch neiderfüllter Brüder rohe Mörderhand,
Und dann das schönste Lied, das Eros selber hat,
Der Männliche, gedichtet am kastalschen Born, ,
Von Ganymed, dem Troersohn, und seinem Glück,
Da der Kronlde, liebeglühend sein begehrt
Das singe mir mit Deiner Stimme weichstem Klang " —
Und Hylas prüft die Saiten. Leis erklingt das Lied,
Das himmlische, zum Rauschen nächtgen Wogendrangs.
Der Beiden Seelen trägt em por nun Traumeslust
Zu sonnigen Gefilden, in der Götter Heim,
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o o HYLAS o o
In eine Welt des reinem Lichts, drin Hcldcnkraft
Dem zartesten der Triebe willig sich ergibt. —
Da dringt ein Flüstern aus der Nymphen nahen Schlucht,
Wo stäubend rauscht die Quelle nieder vom Gestein,
Wo Prymno strählt ihr Goldgelock im Morgenlicht,
Wo Hyppo badet mit der Schwestern holden Schar
Am schilfgen Ufer des umbuschten Waldessecs,
Und nachts Eurydike, den Rosenkranz im Haar,
Zum Tanze führt der hochgeschürzten Nymphen Chor.
Die vollen, marmorweißen Schultern leuchten auf
Im Licht Selenens, das durch Eichenwipfel bricht.
Die Nymphen nahn der Argos, wo der Bergbach sich
Dem Hain entwindet und sich eint der salzgen Flut.
Die weißen Arme winken, unterm Binsenkranz
Das Haargeiock, das duftende, wallt lang herab
Auf Brust und Nacken und umfließt die Hüften noch,
Die sich im Reigentanze wiegen her und hin.
Die Schar umkreist das Schiff, und die Limnade spricht:
„O Herakles, Du Göttersohn, voll Kraft und Mut.
O schönster aller Helden, die ich je geschaut.
Du Schünheitstrunkener, auf, erwach und komm herab
Aus Deiner Argo Folge mir zum lauschgen Hain,
Zum kühlen Sprudelqueil, in stiller Grotten Nacht
Dort pflegen wir der Liebe, seligen Göttern gleich,
Denn ewige Jugend blüht uns, während jene dort,
Die Lemnerinnen, welken in der Männer Arm,
Die Gattenmörderinnen, die Dein Haß verfolgt,
Die Du verachtest, des Kroniden stolzer Sohn.
Doch uns, die nimmer Welkenden, verschmähst Du nicht
So s ei denn unsrer Grotten Gast, Unsterblicher "
Hylas erwacht und sieht, wie der Alkide hebt
Vom Lager sich und langsam tritt zur Ruderbank.
Ihm folgt der Freund, gelockt von der Limnade Wort.
Doch Herakles verbirgt im weiten Löwenfell
Den Knaben vor dem Späherblick der Nymphcnschaar
Und flüstert: „Unbedachter, schnell zurück, hinab
Ins Schiff O lausche nimmer tötlichem Gesang "
.Si e lieben Dichl Wa s fürchtest Du die Göttlichen? "
„Ob seiner Liebe hassen den Alkiden sie.
In Schmeichelreden bergen sie den argen Sinn.
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o o DER EIGENE o o
Nur Dich zu rauben nahten sie dem nächtgen Strand".
Und zu der Nymphen Schaar gewandt ruft Herakles:
„Wo war ein Held, der Nymphenliebe nicht begehrt?
Sic schafft Unsterblichkeit und nimmer schwindend Glück.
Wen aber Eide binden an der Argos Kiel,
Deß Fesseln lösen selbst die ewgen Mütter nicht.
So muß ich stehn, ein Wächter an dem nächtgen Strand,
Und Hymen flieht den harten Pfühl des Herakles«.
„So gib uns Hylas I" ruft zurück Eurydike. —
„Der Nymphen Brunst und grausam unstillbaren Gier
Des Hylas zarte Schönheit opfern? — NimmermehrI
Das a nvertraute Kleinod raube mir kein W eib «
„Du Heuchler 1 Keines Eides Fesse l bindet Dich.
Du liebst den Knaben — leug ne nicht, o Herakles 1"
„Mich binden Eide, und mich fesselt Eros Macht
An Hylas, das ist Wahrheit, die dem Helden ziemt.«
„Dein Hylas wird der Nymphen Rache nicht entgehn.«
„Und Euer Drohen schreckte noch kein Heldenherz "
„Des Hylas Tod verleidet Dir das goldne Fließ«.
„Mein Hylas lebt, und diese Keule schützt den Freund."
„Doch Nymphenlist entwaffnet Jasons Ruderknecht."
„Ihr Binsenw eiber, zu den Fr öschen taucht zurück "
„Zur Spindel greife wieder, die Dich einst geziert "
„Lemuren seid ihr, Lemnos Hündinnen verwandt
Aßgierige, zum sumpfgen Würmerpfuhl zurück 1*
„An Deinen Händen klebt noch Limnos Sängerblut."
„Von Euren Lippen trieft des Drachenzahnes Gift."
„Bei den Plejaden uns zu Häupten, höre denn
Wahnsinnumnachtet mordest Du mit frevler Hand
Noch Deine Kinder, schändest Phöbos Heiligtum
Und wirst als Sklave dienen einem Weibe nochl*
„Lichtscheue Graien, weg von m eines Schiffes Bord "
Zornflammend schwingt die Wucht der Keule Herakles
Und greift zu Pfeil und Bogen an der Ruderbank:
Der Nymphen Schaaren aber weichen scheu zurück
Und bergen sich in ihres hcilgen Haines Schutz.
Ihr Fluch verhallt im grenzenlosen Aethermeer.
Nun zieht die Nacht, des Chaos Tochter, des Gewölks
Tiefschwarze Schleier hoch empor, der Sterne Licht
Verhüllend und die weite sturmbewegte See.
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o o HYLAS o o
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Meerflutumschlungen atmet Lemnos tief und schwer,
Gleich wie das Weib, entschlummert in des Mannes Arm,
Und Herakles sinkt nieder auf des Schiffes Grund
Zu kurzer Rast an Hylas Seite, schwermutvoll.
Ein rosig Frührot weckt der Argonauten Schaar,
Und Jason eilt zu Herakles, dem Grollenden:
„Ha, schläft mein Kampfgenosse noch in Hylas Arm?"
„Die Treue wacht » entgegnet der Alkide stolz,
„Doch Ihr erschlafft in geiler Lust auf L emnos' G rund.
Und Schimpf statt Ruhm noch erntet Ihr auf dieser Fahrt.
So werf ich denn den Fackelbrand in Argos Kiel,
Wenn meine Kampfgenossen auch nur eine Nacht
Noch ruhn bei Lemnos blutbefleckten Hündinnen,
Anstatt zu suchen Meeresflut und Waffenlärm "
Beschämt ruft Jason die Genossen all herbei.
Die Helden steigen eilends an der Argos Bord.
Hypsipyle, die Königin, geleitet sie
Zum Strand, in ihrer Frauen Flor die lieblichste,
Und Gastgeschenke sendet sie an Argos' Bord.
Die Ruderschläge fallen klatschend in die Flut.
Doch nun ein Stoß, ein Krachen — und zersplittert sinkt
Das Ruder des Alkiden in den Wogenschwall.
„Der Nymphen Tücke " Knirschend murmelts in den Bart
Der Heros und ergreift das Beil, entsteigt dem Schiff
Und eilt zur Talschlucht, wo der Esche schlanker Schaft
Zur Höhe strebt, wetteifernd mit der Tannen Wuchs.
Dort fällt er sich das Ruderholz mit kundgem Blick
Und glättet für den Griff der Hand es kunstgerecht.
Da schallen Stimmen, lachende, vom Nymphenhain
Und Plätschern wie von Badenden im nahen See.
Doch nun ein Notschrei: „Herakles, hilf Herakles "
Auf springt der Held dem Rufe seines Hylas nach.
Und schaut in sumpfigen Fluten ringen seinen Freund
Mit Nymphenarmen, die zur Tiefe niederziehn
Den schon im ersten Kampf zum Tod Ermatteten.
Vergeblich dringt der Held durcii Schilf und Sumpf und Schlamm.
Schon schlingt die Flut hinunter den geraubten Freund,
Und Herakles sinkt schmerzbetäubt am Ufer hin.
Dann kehrt er bleich, verstörten Blickes zum Schiff zurück.
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o o DER EIGENE o o
„Dir nach lief Hylas — Fandest Du den Knaben nicht?"
Ruft Jason dem Gefährten unhcilahnend zu.
„Die Nymphen raubten ihn, und nimmer folg ich Euch,
Bis ich entrissen ihn aus der Verhaßten Haft.
Durch Eure Schuld verlor ich den geliebten Freund.
So holt ihn wieder, lohnend meine treue Wacht "
Orpheus erhebt sich. Nach der Nymphen Hain enteilend
Er lenkt den Fuß, mit süß einschmeichelnd sanftem Wort
Der Nymphen Herz zu rühren, hoffend, daß vielleicht
Die List vermag, was nicht dem Heldenmut gelang.
Doch kehrt er traurig endlich wieder zu dem Strand.
Wutschäumend greift nun Herakles zum Wehrgehäng,
„Mir nach zur Schlucht " — Da winkt abwehrend Orpheus ihm.
„Zu spät " — Und horch — ein W affcnklirren, Roßgestampf
Der Amazonen reisge Schaar sie sprengt heran
Auf falben Rossen. Speer und Doppelbeil erglänzt,
Und Haare flattern gleich der Rosse Mähnen wild.
So rasen donnernd nieder sie zum Meeresstrand.
Die Führerin der Reiterinnen aber wirft
Des Hylas Haupt, das schmerzcntstclltc, nach dem Schiff.
Ein Hohngelächter gellt: „So rächen, Hylas Freund,
Die Nymphen sich " Dann wieder jagt die Schaar davon
In Waldesnacht, den felsumtürmten Schluchten zu.
Ein Wutgeschrei — Verzweiflungsvoll reckt Herakles
Die Fäuste. Schwer, gleich einem Toten stürzt er dann
Zu Boden, stöhnend, in der Argos dunkeln Raum.
Die Helden aber greifen zu den Rudern nun,
Und leicht im Winde fliegt dahin ihr schlankes Schiff
Die Wogen furchend, kühnen Abenteuern zu,
HUQO CHRISTOF HEtNRICH MEYER
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HER KLES
Nach einem alten Stich
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WENN DER GINSTER BLÜHT.
GEDICHT IN PROSA.
W
enn der Ginster blüht, wenn seine leuchtenden Flammen die
Höhen meiner Schwarzwaldheimat mit gelbem Glänze um
züngeln, wandre ich voll heiliger Sehnsucht und stillem Glück
an dem, was einst war, durch die weiten blühenden Gefilde, unter
hellblauem Maienhimmel, und jede der unendlich vielen gelben Blüten
ist mir ein seliger G ruß von „ ihm" — Von „ihm"? Ich hatte ihn zum
ersten Mal gesehen, als er, kaum 12 Lenze zählend, im dunkelblauen
Samtgewand bei einer Schulfeier ein einfach Gedicht mit aller un
schuldigen Glut seiner jungen Seele vortrug, also daß die alten Damen
schluchzten, die Kameraden lauschten und ich langsam hinausging und
i still in mich hineinw einte.
„Also so lang schon hast du mich kennen lernen wollen und hast
} es beinahe ein Jahr nicht gewag t mich anzure den?" klang es ein Jahr
' später zu mir von weichen, roten, frischen Knabenlippen und große
dunkelblaue Augen strahlten zu mir, dem 6 Jahre Älteren in mildem
Glanz
herauf
Und ich legte schüchtern meinen Arm um die lieben
Schultern, und voll Vertrauen schmiegte sich ein blonder Knabenkopf
an meine Brust. „Du bist mein lieber kleiner Freund " Wie zitterten
meine Lippen, wie bebte mein Leib, als dies erste Liebesbekenntnis
gesprochen war. Und wir pflegten bis zu meinem Schulaustritt nach
dem Abitur eine liebliche Freundschaft voll süßer Knabenunschuld und
glühendem Jünglingsidealismus 1 Da kam die erste schwere Trenn ung,
als ich zur Universität mußte. Aber die kleinen harmlosen und die
großen schwärmerischen Briefe flogen hin und her. Und es kam wieder
einmal Pfingsten ins Land. Und der goldige Ginster flammte im Sonne n
licht von de r fernsten H öhe. Und der junge Student durfte seinen Heiß
geliebten zum ersten mal allein mitnehmen in die schöne, reiche
Welt der H eimat-Berge Sein lieb Mütterchen rief dem kleinen Blonden
am Bahnhof noch nach : „Sei auch recht ar tig und folge dem lieben
„Herrn Doktor" immer hübsch " Und fort ra uschte der Schnellzug.
Im Osten begannen eben die ersten blassen Morgenstrahlen zu glühen
und die Natur legte langsam den graublauen Schleier der Frühe ab; mein
Herzensfritz hatte sein noch etwas müdes Haupt an mich gelegt, und
ich wagte es, mit dem rechten Arm die schlanke liebe Gestalt ganz
sachte an mein heißes Herz zu drücken. Wortlos fuhren wir so in den
erwachenden Tag hinein. Nur ab und zu ein dankbares Lächeln aus
78
o o ER EIGENE o o
den schönen blauen Augen bekundete mir des Liebsten Glück. Und
aus dem schönen Morgen ward ein schöner Tag. Und aus dem Tag
eine göttlich schöne W oche voll Glanz der lenzgrtinen Wälder, des
lenzblauen Himmels und unserer lenzfrischen Liebe. Wir hatten schon
des Rheinfalles gewaltige Größe schauend erlebt, wir hatten, eng an-
einandergeschmiegt, vom Belchen die trunkenen Blicke in die glänzende
Pracht der Alpen getaucht, uns war vom Feldberg die Sonne wie in
einem Meere von unbeschreiblichen Farben versunken, und einsame,
finstere Täler voll starrer Felsen und uralter, bemooster Tannen,
zwischen denen rauschende Bäche weißschäumend sich hindurch drängten,
hatten uns stundenlang seeligste Zweieinsamkeit geschenkt, — und das
lösende Wort von der heiligen Liebe war doch noch immer unge
sprochen geblieben — da flammten des goldenen Ginsters heiße
Flammen und schmolzen alles Starre mir im Herzen und auf der Zunge.
Und in weltentrückler Einsamkeit, weit um uns her nur goldene Ginster
flammen und einzelne weiße Birkenstämme mit wallendem, lichtgrünem
Blättergeriesel, und über uns nur lichtweiße Maiwölkchen, die weißen
Segeln gleich des Acthers blauen Ozean durchzogen, da geschah das
Unglück: Auf den Knieen lag ein Jüngling vor einem Knaben und
stammelte süße törichte Liebesworte und bettelte um eine Gabe von
den kirschroten Lippen des sprachlosen Knaben, und schämig mit
glühendem Gesicht neigte sich der Blonde, und sehnige Arme zogen
den kaum sich Sträubenden vollends hernieder, und zwei Lippenpaare
fanden sich, die sich schon lange gesucht, und zwei Herzen schlugen zu
sammen, die nur der Tod einst trennen sollte) Und auch die letzte
Bitte ward der werbenden Liebe gewährt: hüllenlos, wie der Genius
des Lenzes selbst, stand ein Knabe zitternd und hold verschämt an
einer Birke weißem Stamm, und die gelben Ginsterflammen umkosten
den weißen, keuschen Leib und die weißen, schlanken Glieder, vor
deren heiliger Unschuld des Jünglings Erdcnwünsche wie Nebel im
Sonnenschein zergingen; nicht wagte er das reine Gefäß der lieben
Seele zu entweihen, nur ein Kuß, ein Kuß, ein Kuß. . , . Und bald
war die Heide, die geheiligte, wieder einsam, und nur die kosenden
Winde flüsterten im Zwiegespräch mit den Birken von der großen
törichten Liebe. Und viele Jahre später kommt m anchmal im Lenz,
wenn der Ginster blüht, wie einst, ein ernster, stiller Mann langsam
über die weiten Höhen, läßt sich nieder unter der geheiligten Birke
in den Flammen des goldenen Ginsters und träumt von der gestorbenen
Jugendzeit, EIN EROSJÜNGER.
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HIRTENKNABE
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8/9/2019 Der Eigene : 1903-07
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BÜCHER UND MENSCHEN
Jahrbuch für sexuelle Z wisch en
stufen mit besonderer Berück
sichtigung der Homosexualität.
Herausgegeben im Namen des
wissenschaftlich-humanitären Ko
mitees von Dr. med. Magnus
Hi r s ch f e ld . V . J ah r g an g .
I. Band. Leipzig 1903. Verlag
von Max Spohr.
Während mehrerer Jahrzehnte hatten
bedeutende Forscher das homosexuelle
Problem als ihr Spczialstudium behandelt
iiiul durch ihre aufklärende Arbeit die
jetzt schon weit fortgeschrittene Umwäl
zung der öffentlichen Meinung über eine
bis dahin verkannte und verachtete, aber
umfangreiche Gruppe der Bevölkerung vor
bereitet. Einer der unermüdlichsten und
tapfersten war der unlängst verstorbene
Kr aff t-E bi ng , dessen Porträt daher mit
Recht den vorliegenden Band eröffne .
Nachdem der harte Boden durch solche
Männer gebrochen war, hat endlich
Ma g nus H i r s c hf c l dm i t z i e l be w ußt e r
Energie in dem Charlottenburger Komitee
eine Zentrale geschaffen, in welcher Mit
arbeiter aus allen Faku ltäten ihre Kr.'ifte
vereinen, um den Ausbau der neuen Wissen
schaft zu fördern, und diese Wissenschaft
ist bereits zu einer Macht geworden, an
nahem Siege über die Vorurteile, die -Fäl
schungen und die Ungerechtigkeit vieler
Jahrhunderte niemand mehr zweifeln kann,
der von der Allgewalt der Wahrheit Über
zeugt ist.
Das Forschungsmaterial, das dem
wissenschaftlich-humanitären Komitee von
allen Seiten zuströmt, hat sich mit jedem
Jahre vergröBert. So mußte jetzt der Rat
befolgt werden, den Dr. Kiefer bei Be
sprechung des IV. Teils des »Jahrbuchs"
im Januarheft des .Eigenen" gegeben hat:
»die Arbeit eines ganzen Jahres zu teilen
und zwei Bände statt einen herauszugeben."
Es liegt uns daher heute nur die erste
Hälfte des V. Jahrgangs vor; der zweite
Band wird vier Wochen später erscheinen.
Von gegnerischer Seite ist fälschlich
behauptet worden, daß die einzige Tendenz
des Jahrb uchs" in der Abschaffung des
§ 75 bestehe. Das wissenschaftlich-huma
nitäre Komitee macht allerdings kein Hehl
daraus, daß es mit allen Kräften auf die
Beseitigung eines Paragraphen hinarbeitet,
der widernatürlich ist, weil er die Nalur
untcrSlrafe stellt, und deswegen mit dem
Wesen des modernen Rechtsstaais in Wider
spruch steht. Aber der Herausgeber be
tont, daß diese Bestrebungen erst dann
ihren letzten Zweck erreichen werden, wenn
die öffentliche Meinung das Wesen der
Homosexualität erfaßt, und daß deswegen
die Aufklärung über den Uranismus selbst
und der Beweis, welche Rolle der Ura
nier in der Entwicklungsgeschichte der
Menschheit gespielt hat, Ziele sind, die dem
Komitee höher stehen als die Abschaffung
jenes anachronistischen Paragraphen lies
Strafgesetzbuchs.
Der erste Beitrag zu diesem Bande ist
des Herausgebers Abhandlung: .Ursachen
und Wesen des Uranisinus", die unter dem
Titel .Der urnische Mensch" kürzlich schon
separat erschienen war und im Maiheft
des .Eigenen" besprochen wurde. Irrtüm
lich war in dieser Besprechung die Angabe,
daß das Buch aus einzelnen,
vo
Ver
fasser bereits in den .Jahrbüchern" ver
öffentlichten Arbeiten zusammengestellt
sei; die Abhandlung ist völlig neu, und
sie ist nach Ihrem Plan und ihrer inne
ren Einheitlichkeit ein zusammenhängen-
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o o DER EIGENE o o
des Ganzes. Doch kann man dem Refe
renten nur zustimmen, wenn er das Ver
dienstvolle der Leistung hervorhebt und
sie als eine Naturgeschichte des Homo
sexuellen b ezeichnet. Um aber ihre Be
deutung ganz zu ermessen, muß man sich
über Hirschfelds Verhältnis zu seinen Vor
gängern Rechenschaft ablegen. Bisher
hatte die Wissenschaft in der Homo
sexualität nur eine pathologische Er
scheinung gesehen; denn die Forscher
waren in ihrer ärztlichen Praxis fast aus
schließlich dem kr a nk en Urning be
gegnet. Hirschfeld dagegen wußte seinem
Studium ein Bcobachtungsmaterial zugäng
lich zu machen wie noch keiner vor ihm ;
aus allen Kreisen zog er die Homosexu
ellen zu sich heran, alle ihre mannigfaltigen
Typen lockte er aus Ihrer Verborgenheit
hervor, ja er wußu sich ganz besonders
auch das Vertrauen jener zahlreichen Ura
nier zu gewinnen, die außer ihrer eigen
tümlichen Triebrichtung keinerlei anormale
Züge aufweisen und hinsichtlich ihrer
geistigen Veranlagung mit der Elite der
Normalen auf gleicher Höhe stehen. Und
da sich in ihm mit der Geduld und dem
kritischen Scharfblick des Spczialfurschcrs
ein auf das Ganze gerichteter philosophi
scher Geist höchst glücklich vereinigt, so
konnte es nicht ausbleiben, daß er nach
Kenntnis und Erkenntnis allmählich zur
ersten Autorität auf dem Gebiete der homo
sexuellen Frage heranreifte. Darum hat
er in seinem neuesten Buche die Wissen
schaft nicht nur über die Ergebnisse seiner
Vorgänger weit hinausgeführt, sondern er
hat ein Werk geliefert, das zweifellos
Epoche machen und eine völlig neue
Betrachtung des homosexuellen Problems
einleiten wird. Wir besitzen hier endlich
das erste wissenschaftliche System des
Uranismus,
Am wichtigsten ist In dem Buche der
umfassende Nachweis des angeborenen
Charakters der urnischen Natur, ohne den
die homosexuelle Individualität gar nicht
verständ