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Der Feldherr des InkaHANNES BLASCHEK

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

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© 2010 novum publishing gmbh

ISBN 978-3-99003-002-8Lektorat: Mag. Dr. Margot Liwa

Gedruckt in der Europäischen Union auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier.

www.novumpro.com

A U S T R I A · G E R M A N Y · S W I T Z E R L A N D · H U N G A R Y

Für meine Frau Eveline, ohne die dieses Buch nie entstanden wäre.

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Vorbemerkungen – Worterklärungen

Ayllu = Familie, Sippe, Clan Cachasca = Abgesandter des InkaChasqui = Bote, LäuferCoya = KöniginCuraca = Häuptling, GemeindevorsteherHuachacuya = Wohltäter (mit diesem Titel wurde ein Inka üblicherweise angeredet)Makana = StreitkolbenMallqui = Mumie eines verstorbenen InkaMascapaicha = ausschließlich dem Herrscher vorbehaltener KopfschmuckNusta = PrinzessinPachacamac = Gott Con Ticci ViracochaSuyuyoc Apucuna oder Apo = Gouverneur eines ReichsviertelsTahuantinsuyu = Land der vier Weltgegenden (= das Inkareich)

Militärische Befehlshaber:Apo Quisquay = Oberbefehlshaber eines HeeresAposquin Rantin = Anführer eines ArmeekorpsHatun Apo = Führer eines Regiments

Maßeinheiten:Tupu = Flächenmaß, ca. ein halber HektarTupu = Längenmaß, ca. 7,5 kmRucana = FingerYucu = HandspanneRicra = ca. eine KörperlängeCullupocha = Hohlmaß, ca. 30 Liter

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Personen (historische Personen sind kursiv geschrieben)

Inka Viracocha – Herrscher im InkareichInka Urcon – sein LieblingssohnCori Chulpa – Urcons Mutter

„Inka“ bezeichnet sowohl das Volk als auch den Herrscher.

Prinz Cusi Yupanqui – später Inka Pachacuti („Veränderer der Welt“)Prinz Roca – Bruder PachacutisPrinz Tupac Huarochiri – Bruder Pachacutis, Hohepriester (Huillac Umu) des SonnentempelsPrinz Capac Yupanqui – Heerführer, Bruder Pachacutis

Söhne Pachacutis: Tupac Yupanqui (Thronfolger) – TituAmaru (abgelöster Thronfolger) – AcoyaTitu Cusi Hualpa Hatun Tupac (später General gegen Ollantay)

Cusi Qoylyor – Tochter Pachacutis, Geliebte Ollantays Cori Chulpa – Mutter Cusi Qoylyors

Feldherr Apo Mayta – gegen ChancaFeldherr Vicaquirao – gegen Chanca

Cusi Chimbo – Edeldame, „unwürdige Liebesaffäre“ mit Amaru

Curaca Huaranca – Häuptling von QuilliscanchaChanan Koka – Huarancas mutige FrauQoylyor – Tochter Curaca HuarancasPoma – Ehemann QoylyorsOllantay – Sohn Pomas und Qoylyors, als Kind „Cusi“ genannt

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Hatun Apos (Regimentskommandanten) Ollantays:Titu HuamanAcoya-napa Hacaroca, Vetter Acoya-napas, Wache im Königspalast

Sinchi Yupanqui – oberster Priester in Ollantaytambo (Pachamarca)

Tanta Carhua – eine Wahrsagerin

ContorKoka – Frau ContorsTitu Acoya – Vater KokasMicay – Mutter KokasTimu – Nebenbuhler ContorsCuraca Hacaroca – Vater Timus, Häuptling von Pachamarca

Qispi – Goldschmied in Cuzco

Occlo – Vorsteherin des AcclahuasiHilpay – eine Sonnenjungfrau, Heilerin

Chanca: Hasta HuarancaTomayu HuarancaAmaru – Anführer der Gesandtschaft Anco Ayllu – Heerführer im Dienste Pachacutis (Feldzug im Norden)Cori Accla – Schwester Anco Ayllus, Geliebte Capac Yupanquis

Collo: Chuchi Capac – Herrscher der ColloHatuncolla – Hauptstadt des Collo-Staates

Tukana: UrwaldindianerMato – Blutsbruder Contors

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Namen und ihre Bedeutung

Capac – der Reiche, der VornehmeSinchi – der MächtigeTitu – der FreieYupanqui – der AngeseheneHuaman – Habicht, RaubvogelContor – KondorAmaru – Schlange, DrachenCusi – GlücklicherTumi – MesserPoma – Puma

Coya – KaiserinNusta – PrinzessinKoka – KokablattQoylyor – SternRunto – EiCori – GoldOcclo – die Reine, KeuscheAccla – die Auserwählte

Die geografischen Bezeichnungen, Worte und Namen, denen der Leser in diesem Roman begegnet, stammen durchwegs aus der Sprache der Inka, dem Quechua.

Da die deutsche Transkription der Quechua-Worte nicht einheitlich ist, wird zumeist die spanische Schreibweise und Aussprache verwendet (z. B. wird „qu“ wie „k“, „ch“ wie „tsch“ oder „ca“ wie „ka“ ausgesprochen).

Nur in einigen sehr häufig vorkommenden und weit-gehend eingedeutschten Wörtern wird die gebräuchliche deutsche Schreibweise verwendet (z. B. „Inka“ statt „Inca“).

Zum besseren Verständnis wurden von mir geografische Namen gebraucht, die den Inka natürlich unbekannt waren (z. B. Anden, Dschungel, Waldindianer, …)

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Teil I.

Pachacuti, der Veränderer der Welt

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Die dumpfen Schritte der Männer waren jetzt im Thron-saal deutlich zu vernehmen. Stark und selbstbewusst klangen sie. Wie eine Lawine, die auf ihrem Weg ins

Tal alles mit sich riss und von keiner Macht aufzuhalten war. Immer näher kamen sie. Das Echo des drohenden Geräu-sches hallte durch die Gänge und verunsicherte die versam-melten Männer. Dem Inka trat man barfuß gegenüber, die Fremden würden es doch nicht wagen, ihre Sandalen anzu-behalten? Die schwüle Luft verstärkte noch die Spannung, die wie ein drohendes Gewitter in der Luft hing. Die große goldene Sonne, die an der Wand angebracht war, spendete mit ihren warmen Strahlen diesmal keinen Trost. Es schien, als ob dunkle Wolken des Zweifels, der Verunsicherung, ja der Angst die Kraft der Sonne zum Erliegen brachten. Alle Augen blickten erwartungsvoll zum großen Herrscher Vi-racocha, doch dessen Mienenspiel verriet nichts von den Gedanken, denen er gerade nachhing. Starr und ohne mit der Wimper zu zucken, blickte er auf die Tür. Da der Inka völlig regungslos saß, bewegte sich auch sein wunderbarer Kopfschmuck nicht, die Krone Mascapaicha, leuchtend rote Quasten, die an kleinen Goldröhrchen befestigt waren und an einem bunten Band hingen, welches fünfmal um den Kopf des Herrschers gewunden war. Nur wer genauer hinsah, bemerkte, dass sich die Hände des alten Mannes krampfhaft um die Lehne seines Stuhles schlossen.

Sein Lieblingssohn und Mitregent, Prinz Urcon, konnte seine wachsende Nervosität nicht so gut verbergen. Unru-hig wippte er mit den Beinen auf und ab und spielte ner-

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vös mit dem goldenen Ohrstecker seines rechten Ohres. Der Schweiß brach in der schwülen Atmosphäre aus seinen Poren und die Feuchtigkeit auf seinem fetten Leib verstärkte noch sein Unwohlsein. Urcon mochte den Palast in Cuzco nicht. Er weilte viel lieber in Pisac, wo Viracocha auf einer Anhöhe eine uneinnehmbare Festung, Caquia Jaquiahuana, hatte erbauen lassen. Dort genoss der Prinz mit seinem al-ternden Vater die Freuden des Lebens. Urcon interessierte sich nicht besonders für die Geschäfte des Reiches, er hatte einzig und allein Liebesabenteuer im Sinn.

Doch jetzt erforderte es eine gefährliche Entwicklung der politischen Lage, dass Inka Viracocha und sein Sohn Urcon in Cuzco anwesend sein mussten. Die Chanca, die Todfeinde der Inka, hatten die Gunst der Stunde genützt. Während sich Viracocha und Urcon in ihrem Palast in Pi-sac mit ihren Konkubinen vergnügten, hielten die Chanca die Zeit für gekommen, den Entscheidungskampf gegen die Inka zu wagen. Ihre beiden Regenten, Hastu Huaranca und Tomayu Huaranca, gingen davon aus, dass die Macht ihres Volkes nun groß genug sei, um das Reich der verhassten Sonnensöhne zu vernichten. Deshalb hatten sie beschlos-sen, den Inka den Krieg zu erklären, und ein riesiges Heer aufgestellt.

Urcon biss sich krampfhaft angespannt auf die Lippe und zupfte wiederum an seinem Ohrläppchen. Boten aus den Grenzregionen sprachen von hunderttausend Kriegern. „Das kann einfach nicht stimmen! So viele Männer unter Waffen können die Chanca doch nicht aufbieten“, ließ Urcon seinen Gedanken freien Lauf. Energisch straffte er sich und musste plötzlich lächeln. „Die Bauern sind sicher beim Anblick der Feinde panisch davongelaufen und haben die Zahlen maß-los übertrieben.“ Aber dass die Chanca einen Angriff auf das mächtige Tahuantinsuyu, das Land der vier Weltgegenden, wie die Inka ihr Land nannten, wagten, stimmte Urcon doch nachdenklich. Und noch etwas beunruhigte ihn aufs Äußerste. Die Chanca hatten den strategisch wichtigen Vil-canoga-Pass überschritten und der Weg nach Cuzco stand

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für sie offen. Außerdem hatten sie so überraschend schnell angegriffen, dass noch nicht genügend Krieger in Cuzco ver-sammelt waren, dass man erfolgreich an Widerstand den-ken konnte. Und jetzt erwarteten Urcon und sein Vater, der große Inka Viracocha, eine Gesandtschaft der Chanca. Was würden die Abgesandten von Hastu Huaranca und Tomayu Huaranca fordern? Urcon würde es bald erfahren, denn in diesem Augenblick betraten die Männer aus Chanca den Thronsaal.

Stolz und scheinbar ohne Furcht näherten sich zehn vor Selbstbewusstsein strotzende Männer dem Inkaherrscher. Ihre Augen versprühten die Blitze des nahenden Sieges und ihre Gesichtszüge waren starr und unnachgiebig. Sie trugen prächtige Gewänder aus Vikunjawolle, die mit Gold- und Silberschmuck sowie bunten Federn exotischer Vögel verziert waren. Diese Kleidung deutete auf die hohe gesell-schaftliche Position der Abgesandten hin. Die sorgfältig ge-kämmten schwarzen Haare waren zu einem Zopf geflochten, der unter einem Kopfschmuck, welcher an eine Federkrone erinnerte, auf den Rücken der Männer fiel. Die Chanca-krieger fühlten sich anscheinend nicht als Unterhändler, sondern schon als die zukünftigen Herren von Cuzco. Wie auf ein Kommando blieben jetzt alle gleichzeitig stehen, nur der Anführer, ein kraftvoller Recke, ging, ohne seine Schritte zu verlangsamen, weiter. Erst kurz vor dem Inkaherrscher deutete er eine leichte Verbeugung mit dem Kopf an. Welch eine Beleidigung für Viracocha, der es gewohnt war, dass sich seine Untertanen, ja selbst die hohen Würdenträger nur mit gebeugtem Rücken näherten. Wegen der tödlichen Gefahr für sein Reich saß er ausnahmsweise mitten unter seinen höchsten Ratgebern. Gewöhnlich verbarg ein Vor-hang das Antlitz des Inkaherrschers, denn sein göttliches Angesicht durfte ein gewöhnlicher Sterblicher nur in Aus-nahmefällen erblicken. Ein Leibwächter trat energisch vor, um den Frevler in die Schranken zu weisen, doch Viraco-cha winkte ärgerlich ab. Der Chanca straffte seinen Körper und begann mit lauter Stimme: „Ehrwürdiger Viracocha!

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Die mächtigen Herrscher des Chanca-Reiches, Hastu Hua-ranca und Tomayu Huaranca, senden Euch aufrichtige Grü-ße. Wir Chanca haben die Waffen gegen Euch erhoben und sind bisher auf keinen ernsthaften Widerstand gestoßen. Alle unsere Feinde sind beim Anblick unseres unbesiegba-ren Heeres, dessen Krieger so zahlreich sind wie die Steine der Berge, Hals über Kopf davongelaufen, so wie das Lama, wenn es den Puma wittert. Wir haben uns unaufhaltsam wie eine Lawine den Weg über Gebirge und durch Täler gebannt und lagern nun am Vilcanoga-Pass. Der Weg nach Cuzco steht uns offen. Um ein sinnloses Blutvergießen zu vermei-den, fordern wir von Euch die bedingungslose Kapitulation. Ihr habt Eure Waffen niederzulegen, uns das Inkareich und Eure Hauptstadt Cuzco auszuliefern und die unumschränk-te Oberherrschaft der Chanca anzuerkennen. Erfüllt Ihr die-se Bedingungen, sind wir Euch wohlgesonnen und erlauben Euch, in einem Eurer Paläste außerhalb Cuzcos zu leben. Lehnt Ihr aber unser Angebot ab, werden wir mit unserem siegreichen Heer nach Cuzco marschieren, die Stadt dem Erdboden gleichmachen und alle Inka als Gefangene mit uns führen. Dies, ehrwürdiger Inka, ist die Botschaft, die unsere mächtigen Herrscher Euch mitzuteilen haben. Has-tu Huaranca und Tomayu Huaranca bitten Euch, ihre Vor-schläge anzunehmen, damit die Waffen ruhen mögen und alle Menschen friedlich im mächtigen Chanca-Reich leben können. Wir erwarten morgen, wenn die Sonne ihren höchs-ten Stand erreicht hat, Eure Antwort.“

Die atemlose Stille, die dieser Rede folgte, war mit den Händen greifbar. Viracocha verriet mit keiner Miene, was er zu tun gedachte. „Wir werden das Angebot, welches Ihr uns überbracht habt, prüfen. Jetzt begebt Euch auf Eure Zimmer, stärkt Euch und ruht Euch aus. Morgen werdet Ihr erfahren, wie wir entschieden haben“, antwortete der Inka schließlich mit leiser Stimme. Schon der Klang seiner Worte ließ erkennen, dass Viracocha nicht kämpfen wollte. In diesem Augenblick hatte er das Reich seiner Ahnen be-reits aufgegeben. Er wollte nur noch sein Leben und das

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seines Lieblingssohnes Urcon retten. Der Chanca verneigte sich kurz, drehte sich siegessicher um und verließ mit sei-nen Leuten den Thronsaal. Ihre Schritte klangen in der sich wieder ausbreitenden resignierenden Stille des Saales viel beschwingter als noch wenige Minuten zuvor. Minuten, die das Schicksal des Inkareiches besiegelt hatten. So dachten zumindest die meisten Anwesenden. Jeder hing bedrückt seinen Gedanken nach, alle blickten beschämt zu Boden. So war also das Ende.

„Nein, niemals!“, zerriss plötzlich ein Aufschrei die brü-tende Stille. „Wir dürfen das Erbe unserer Ahnen nicht ohne Gegenwehr aufgeben! Wir müssen kämpfen! Was ist mit unserer Ehre? Lieber sterben, als ein Sklave der Chanca zu sein!“ Alle Köpfe blickten in die Richtung des mutigen Sprechers. „Hat Cusi Yupanqui während der drei Jahre, die er als Lamahirte auf dem Lande zubringen musste, verlernt, dass auf dem Hofe in Cuzco Sitte und Anstand herrschen?“, zischte Urcon giftig seinen jüngeren Bruder an. „Unser wei-ser und gütiger Vater, Inka Viracocha, wird schon wissen, was zu geschehen hat. Schließlich hat er viel mehr Erfahrung in heiklen diplomatischen Angelegenheiten als du Lamahirte.“ Urcon hatte noch das selbstbewusste Auftreten der Chan-ca in unliebsamer Erinnerung. Er wollte sein Leben retten. Lieber auf das Reich Tahuantinsuyu verzichten als auf seine Vergnügungen. Regierungsgeschäfte und die Pflichten eines Herrschers waren Urcon seit jeher verhasst. Wenn er weiter-hin mit seinen Frauen und Konkubinen in Frieden in Pisac das süße Leben genießen konnte, war er sogar bereit, die Herrschaft über sein Vaterland den Chanca zu überlassen. Die kühne und mutige Wortmeldung seines verhassten Bru-ders konnte ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Urcon wollte nicht kämpfen und sterben. Er musste seinen Vater überzeugen, dass die Flucht nach Pisac die beste Ent-scheidung war. Dort ließ es sich in Sicherheit leben, selbst wenn die Chanca Pisac angreifen würden. Der Caquia-Ju-quihuana-Palast bot allen erdenklichen Luxus und galt als uneinnehmbares Adlernest. Nein, Urcon durfte nicht zulas-

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sen, dass Cusi Yupanqui die zaudernden Inka überzeugte, dass sie kämpfen müssten.

„Hört auf, euch zu streiten!“, ergriff Viracocha das Wort, „die Lage ist ernst genug. Wir müssen einen kühlen Kopf behalten und in Ruhe überlegen, wie wir weiter vorgehen. Harte und unüberlegte Worte helfen uns nicht. Hier im Thronsaal ist die Luft zu stickig. Jeder soll auf sein Zimmer gehen und darüber nachdenken, was wir den Gesandten aus Chanca antworten sollen.“ „Ganz einfach, wir schlagen ih-nen die Köpfe ab und schicken diese ihren Herrschern. Das wird die Chanca lehren, in Zukunft keine unverschämten Forderungen mehr zu stellen“, rief Cusi Yupanqui den An-wesenden zu. Ablehnendes Zischen, aber auch beifälliges Gemurmel war zu hören. „Schweig, Cusi!“, donnerte Viraco-cha „Verlass auf der Stelle den Raum! Wer hat dir übrigens die Erlaubnis erteilt, Chita zu verlassen und nach Cuzco zurückzukehren? Du bist immer noch ein Verbannter. Ver-schwinde aus meinen Augen! Urcon, du kommst mit mir. In meinen Privatgemächern können wir uns ungestört be-raten.“ „Und unsere Heimat den Chanca ausliefern!“, schrie Cusi Yupanqui enttäuscht und verbittert seinem Vater nach, bevor er zornig seine Fäuste ballte und auf sein Zimmer stürmte. Panik brach im Thronsaal aus. Nachdem Inka Vi-racocha offensichtlich beschlossen hatte, sich den Feinden zu ergeben, dachten auch die meisten hohen Würdenträger nur noch daran, ihr Heil in der Flucht zu suchen.

Cusi Yupanqui fühlte sich elend. Cuzco sollte an die Feinde verloren werden. Nie würde er solch eine schmäh-liche Tat zulassen. Ja, er war unerlaubt aus Chita zurück-gekehrt. Aber nur, weil er von Boten erfahren hatte, dass sich ein riesiges Heer der Chanca auf Cuzco zubewegte. In diesem Augenblick der höchsten Gefahr musste er einfach zurück in seine Heimatstadt. Und nun diese erniedrigende Beleidigung durch die Chanca. Aber was konnte er tun? Er war nur einer der vielen Söhne des Herrschers und hatte auf die Entscheidungen, die sein Vater treffen würde, keinen Einfluss. So zerwühlte er mit seinen kräftigen Fingern die

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wollene Bettdecke und warf sich unruhig auf seiner Lager-statt hin und her. „Diese Feiglinge, die nur ihr Leben retten wollen! Ihre Weiber, mit denen sie sich vergnügen, haben wahrscheinlich viel mehr Ehre im Leib als mein Bruder und mein Vater. Ha, Bruder und Vater, wie ich die beiden verach-te. Ich schäme mich dafür, ein Inka zu sein. Ehe ich mich als Gefangener von den Chanca abführen lasse, fliehe ich in die Berge. Hätte doch mein Vater so viel Mut wie früher. Aber Urcons Mutter, diese falsche Schlange Cori Chulpa, hat Viracocha verhext. Er ist völlig ihren Reizen verfallen. Nur so konnte es kommen, dass Vater diesen Bastard Urcon zu seinem Mitregenten ernannt und bereits jetzt zu seinem Nachfolger erklärt hat. Urcon aber genießt nur die schönen Dinge des Lebens, aufgeblasen und fett, wie er ist. Dass Va-ter nun auf diesen Feigling hört, hätte ich mir nicht träumen lassen. Tod und Schande über euch!“, keuchte Cusi Yupan-qui und warf seine Decke mit einem zornigen Aufschrei gegen die Wand. Ein plötzlicher Schatten ließ ihn zusam-menzucken. Da trat sein älterer Bruder, Tupac Huarochiri, der Huillac Umu, der Hohepriester des Sonnentempels, durch die Tür in Cusi Yupanquis Zimmer. „Entschuldige, wenn ich dich erschreckt habe, das war nicht meine Ab-sicht. Darf ich eintreten? Ich muss unbedingt mit dir spre-chen. Nach dem, was sich heute im Thronsaal ereignet hat, ist schnelles Handeln erforderlich. Vater will nicht kämpfen und wird Cuzco den Chanca ausliefern. Zurzeit hat er schon den Befehl erteilt, alle nötigen Dinge zusammenzupacken und nach Pisac bringen zu lassen. Er und Urcon werden wahrscheinlich heute im Schutz der Dunkelheit aus Cuz-co fliehen. Cusi, ich denke so wie du! Wir dürfen unsere Heimat den Chanca nicht kampflos ausliefern. Aber ehe wir etwas unternehmen, müssen wir überlegen, ob es Sinn hat, den aussichtslosen Kampf zu wagen.“ „Danke, Bruder, dass du zu mir kommst. So gibt es wenigstens noch jemanden, der Ehre in seinem Herzen trägt. Aber was können wir zwei schon gegen diese Übermacht ausrichten? Wenn es doch mehrere Männer gäbe, die denken wie wir!“ Tupac Huaro-

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chiri ließ sich langsam auf dem niedrigen Hocker nieder, der im Zimmer stand, und musterte seinen Bruder. „Cusi, glaubst du wirklich, dass wir den Kampf gegen die Chan-ca wagen sollen? Oder hat dein unfreiwilliges Exil in Chi-ta deine Sinne getrübt? Sprichst du vielleicht solch mutige Worte nur aus, um Vater und Urcon zu erniedrigen? Willst du ihren Tod, damit du in Cuzco herrschen kannst?“ „Etwa als Handlanger der Chanca! Tupac, was hältst du von mir? Was Viracocha und Urcon machen, ist mir gleichgültig. Sie sollen sich in ihrem Mauseloch in Pisac verkriechen. Wenn ich nur tausend tapfere Krieger hätte, würde ich Cuzco schon zu verteidigen wissen. Die Mauern unserer Stadt sind unüberwindlich, das weißt du so gut wie ich. Selbst wenn die Chanca tatsächlich hunderttausend Mann unter Waf-fen haben, mit tausend beherzten Männern ließe sich Cuz-co so lange halten, bis aus den Provinzen genügend Krieger mobilisiert wären, um die Angreifer vertreiben zu können. Hätte ich doch nur tausend Gleichgesinnte!“ Cusi Yupanqui war aufgesprungen und wanderte ruhelos im Zimmer auf und ab. Immer wieder stieß er die Faust gegen seine offene Handfläche. Tupac Huarochiri erkannte den entschlosse-nen Ausdruck im Gesicht seines Bruders. Jetzt öffnete der Hohepriester seine Arme und sprach: „Du sollst die tausend Mann bekommen, Cusi!“ Ungläubig drehte dieser sich um: „Was sagst du da? Lüg mich nicht an!“ „Ich sagte, du sollst die tausend Mann bekommen. Mehr haben wir im Augen-blick nicht. Aber Chasquis sind schon im ganzen Reich und zu unseren Verbündeten unterwegs, um alle verfügbaren Krieger nach Cuzco zu holen. Du hast in Chita zu Recht befürchtet, Vater könnte nichts gegen die Chanca unterneh-men. Er hat bis zuletzt gezaudert und keine entsprechenden Befehle erteilt. Nur wegen seiner Untätigkeit hat es so weit kommen können, dass unsere Feinde jetzt den Vilcanoga-Pass überschritten haben und Cuzco bedrohen. Aber nicht alle hier haben diese Politik ruhig hingenommen. Zwar durften ohne Vaters Zustimmung keine Männer alarmiert werden, aber die Vorkehrungen dafür wurden schon seit einiger Zeit

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heimlich getroffen. Unser besonnener Bruder Roca und die erfahrenen Feldherren Apo Mayta und Vicaquirao haben ebenfalls beschlossen, Widerstand bis zum Äußersten zu leisten. Du, als Angehöriger des Königsgeschlechtes, sollst die Verteidigung leiten. Ich habe den Auftrag erhalten, dich von unseren Plänen in Kenntnis zu setzen, falls ich dich für würdig erachte, unser Befehlshaber zu sein. Cusi Yupanqui, der Angesehene, mache deinem Namen alle Ehre und führe uns an. Wir wollen lieber sterben, als Sklaven der verhassten Chanca zu werden!“ Cusi Yupanqui riss erstaunt die Augen auf und stürzte seinem Bruder in die Arme. „Tupac, ich dan-ke dir. Ich danke dir für dein Vertrauen. Zwar bin ich noch jung, Apo Mayta und Vicaquirao haben viel mehr Erfahrung im Kriegsdienst als ich. Aber wenn ihr meint, ich solle euch anführen, dann erfüllt mich dieser Auftrag mit großem Stolz und ich sehe es als eine große Ehre an. Das werde ich euch nie vergessen. Deine Worte erfüllen mich mit neuer Zuver-sicht. Nun, da ich weiß, dass es gleichgesinnte und zu allem entschlossene Männer gibt, bin ich überzeugt, dass es uns gelingen wird, Cuzco erfolgreich zu verteidigen und unsere Feinde zu besiegen.“ Cusi Yupanqui löste sich wieder von seinem Bruder. „Los, führe mich zu Apo Mayta und Vica-quirao, damit ich mit ihnen die ersten nötigen Schritte be-sprechen kann!“

Die beiden Inkabrüder verließen Cusi Yupanquis Zim-mer und machten sich auf den Weg, die beiden in Ehren ergrauten und durch viele Schlachten gestählten Feldherren aufzusuchen. Überall im Palast war die Panik, die die meis-ten Inka erfasst hatte, mit den Händen greifbar. Hastende Männer und Frauen strebten mit ihren Dienern dem Aus-gang zu und trafen Anstalten, Cuzco vor dem Eintreffen der Chanca zu verlassen. Die Gesandtschaft der Chanca war nirgendwo zu erblicken, doch Cusi Yupanqui konnte sich ausmalen, dass sie über die Entwicklung der Lage im Bil-de waren. Wahrscheinlich würden sie mit reichlich Chicha, einer Art Maisbier, schon jetzt ihren Sieg feiern. „Sollen sie nur“, dachte Cusi, „dann merken sie nicht, dass es noch ent-

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schlossene Männer gibt, die ihnen einen Strich durch ihre Rechnung machen werden.“

Cusi Yupanqui und Tupac Huarochiri trafen ihren Bruder Roca und die beiden Feldherren auf einem Beobachtungs-turm der mächtigen Stadtmauer. Zyklopische Felsblöcke waren in jahrelanger mühevoller Arbeit herangeschafft und aufgetürmt worden. Es schien, als ob die Götter den Inka Beistand geleistet hätten, um dieses gigantische Bauwerk zu vollenden. Hier heroben waren die Männer ungestört. Bevor er zu sprechen begann, blickte sich Cusi Yupanqui um. Die Häuser der Stadt sahen von diesem Aussichtspunkt aus, als ob sie nur Spielzeug wären. In den Straßen eilten verstörte Menschen umher. Die Bewohner Cuzcos spürten die Un-ruhe, die vom Palast ausging. Immer mehr hohe Beamte, ja selbst Anführer des Militärs bereiteten sich auf die Flucht vor. Die wichtigsten Ausfallstraßen der Stadt waren bereits verstopft. Aber so war es ja immer: Schlechte Nachrichten fanden ihren Weg selbst durch verschlossene Türen und waren schneller als ein Buschfeuer. Da erblickte Cusi Yu-panqui die goldene königliche Sänfte. Inka Viracocha woll-te tatsächlich die Flucht ergreifen. Eine große Anzahl von Leibwächtern bahnte dem Herrscher und seinem Gefolge einen Weg durch das Gedränge. „Der Inka flieht! Die Chan-ca kommen! Alles ist verloren! Rette sich, wer kann!“ Die verstörten Schreie, die die Einwohner von Cuzco ausstie-ßen, als sie das Gefolge des Inka erblickten, konnten die Männer auf dem Befestigungsturm vernehmen. „Lauft nur davon, ihr Feiglinge“, murmelte Cusi Yupanqui leise vor sich hin, „wir werden den Chanca schon zeigen, dass es Inka gibt, die so tapfer kämpfen wie der Puma.“ Dann wandte er sich den Männern zu, die etwas abseits von ihm standen und ihn genau be obachteten. „Seid gegrüßt, ehrenwerte Feldherren, Apo Mayta und Vicaquirao! Ebenso erfreut bin ich, dich zu sehen, mein geliebter Bruder Roca! Inti, unser mächtiger Sonnengott, möge euch beschützen.“ Die angesprochenen Männer erwiderten den Gruß und folgten seiner Handbe-wegung, näher zu treten. „Ich bedanke mich für die Ehre,

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die ihr mir erwiesen habt, indem ihr mich zu eurem Anfüh-rer auserkoren habt. Teilt mir bitte eure Vorschläge mit, wie wir unser geliebtes Tahuantinsuyu am besten retten können. Welche Maßnahmen sollen zuerst ergriffen werden?“ Cusi Yupanqui ermutigte die Feldherren zu sprechen. „Deine Wor-te im Thronsaal waren Balsam auf die Wunden der Schmach, die die Chanca mit ihren Beleidigungen meinem Herzen zugefügt haben“, begann Apo Mayta und Vicaquirao nickte zustimmend. „Ich bin schon alt und habe viele Jahre unse-rem Inka Viracocha und dessen Vater, Inka Yahuar Huacac, treu gedient. Doch heute vergoss meine Soldatenseele blu-tige Tränen. Unser Inka hat leider seinen ganzen Mut ver-loren. Ihr, Prinz Cusi Yupanqui, habt uns alle mit neuer Zu-versicht erfüllt. Mein Arm ist vielleicht nicht mehr so stark, um die Streitaxt zu schwingen, und mein Auge nicht mehr so scharf, um mit einer Huaraca, der Wurfschleuder, einen gezielten Wurf zu tun, aber die Erfahrungen meiner jahre-langen Kriegszüge und die Ratschläge meines Freundes Vi-caquirao werden dazu beitragen, die schamlosen Feinde zu besiegen. Viele Bewohner Cuzcos können sich noch an den tapferen und unbekümmerten Prinzen Cusi Yupanqui erin-nern. Wenn die Leute erfahren, dass Ihr wieder in der Stadt seid, werden sie ihre verlorene Zuversicht wieder bekom-men.“ „Ich danke Euch für die herzlichen Worte“, erwiderte der Prinz, doch was sollen wir Eurer Meinung nach zuerst tun?“

Ein bitterer Schrei der Verzweiflung ließ die Männer zu-sammenfahren und zur Stadt blicken. Inka Viracocha und sein Gefolge hatten soeben das Stadttor passiert und Cuzco verlassen. Doch nicht nur der Herrscher, sein Sohn Urcon und ihre vielen Frauen hatten die Flucht ergriffen, sondern auch viele hohe Würdenträger, zahlreiche Befehlshaber und Krieger schlossen sich dem fliehenden Inka an und schwächten dadurch die ohnehin geringe Verteidigungskraft Cuzcos. Wie eine kopflose Masse irrten zahlreiche Männer und Frauen durch die Straßen und Gassen. Es war selbst von hier heroben zu spüren, dass die Leute eines energi-

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schen Anführers bedurften, der ihnen sagte, was sie tun soll-ten. Langsam, wie ein gespenstischer Nebel, machte sich in der Stadt Panik breit. Eine zahllose Menge strömte zum Palast, während andere zum Sonnentempel zogen.

Vicaquirao räusperte sich: „Als Erstes müssen wir die aufkommende Panik im Keim ersticken. Wir müssen den Befehl geben, die Stadttore zu schließen und diese von zu-verlässigen Kriegern bewachen lassen. Niemand darf ohne ausdrücklichen Befehl die Stadt verlassen oder betreten. Ich werde sogleich meiner Garde die entsprechenden Anwei-sungen erteilen. Diesen Männern kann ich bedingungslos vertrauen. Der Hohepriester des Sonnentempels soll zum Heiligtum eilen und durch ein Opfer die Gnade Intis erfle-hen. Seine Anwesenheit im Tempel wird auf die Menge be-ruhigend wirken. Prinz Roca, geht bitte zum Palast. Euer Er-scheinen wird die Leute beruhigen. Sie werden dann wissen, dass nicht alle Ayllu, Angehörige der Inkafamilie, geflüchtet sind. Doch Prinz Cusi Yupanqui hat die gefährlichste Auf-gabe vor sich. Er muss mit einem kleinen Gefolge durch die Straßen und Plätze der Stadt gehen und versuchen, die Frauen und Männer zu beruhigen. Viele Menschen haben Vertrauen zu ihm. Wenn ihn die Leute erkennen, wird sich die Lage wieder normalisieren. Prinz, sprecht zu ihnen, er-teilt Befehle, vor allem aber verlangt, dass die Einwohner in ihre Häuser zurückkehren. Die Männer sollen ihre Waffen überprüfen und sich morgen eine Stunde nach Sonnenauf-gang vor dem Sonnentempel einfinden. Euer Weg durch die Stadt ist nicht ungefährlich, denn in der sich ausbreitenden Panik ist es leicht möglich, dass ihr von der Masse nicht erkannt, niedergestoßen, verletzt oder sogar getötet werdet. Darum wird Euch Apo Mayta mit seinen besten Kriegern begleiten. Geht alles gut, treffen wir uns eine Stunde vor Sonnenuntergang im Königspalast wieder. Ich wünsche uns allen viel Glück!“ Die angesprochenen Männer eilten davon, in der Hoffnung, ihre Vorhaben würden gelingen.

Wenig später schritten Cusi Yupanqui und seine Begleiter durch die Straßen von Cuzco. In dem hektischen Gewühle

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war ein Fortkommen beinahe unmöglich. Der Inkaprinz rief allen Vorbeihastenden freundliche Worte zu. Bald zeigten sich die ersten positiven Anzeichen, denn einige Leute wur-den aufmerksam. „Cusi Yupanqui ist zurück! Er wird uns helfen! Inti sei Dank, das ist unsere Rettung! Cusi, Cusi, Cusi!“, erscholl es von allen Seiten. Die Menschen dräng-ten sich heran, um ihren Hoffnungsträger zu berühren. Cusi ging zielstrebig auf den großen Marktplatz und stellte sich auf den Rand eines Brunnens. Mit lauter Stimme sprach er von seiner erhöhten Position zu den versammelten Be-wohnern Cuzcos und machte ihnen neuen Mut. „Jetzt, wo Cusi Yupanqui zurückgekehrt ist, wird alles gut gehen. Wir werden die Chanca schon besiegen.“ Mit diesen Worten der Zuversicht zerstreute sich einige Zeit später die Menge. Die waffenfähigen Männer hatten zugesagt, sich am nächsten Tag zeitgerecht zum Treffpunkt am Sonnentempel einzufin-den. Auf dem Weg zum Palast spürten Cusi Yupanqui und Apo Mayta, dass sich die Stimmung in der Stadt langsam besserte. Die ärgste Panik wich langsam einer sich ausbrei-tenden Hoffnung, die Häuser strahlten wie ihre Bewohner wieder den Keim der Zuversicht aus. Man wollte sich nicht in das Schicksal fügen wie ein Opfertier, sondern sich seiner Stärken besinnen und den Angreifern mit der Waffe in der Hand entgegentreten.

Der riesige Königspalast wirkte verlassen. Hatte noch am Morgen geschäftiges Treiben die zahllosen Gänge und Räu-me erfüllt, herrschte nun gähnende Leere. Nur ab und zu sah man einen verlorenen Schatten durch die Anlage hasten. Die Abgesandten der Chanca saßen in ausgelassener Stim-mung in einem Raum zusammen und begossen den Erfolg ihrer Mission mit Chicha. „Inka Viracocha und Urcon sind aus Cuzco geflüchtet. Wir sind praktisch schon die neuen Herren von Tahuantinsuyu. Unsere beiden Herrscher wer-den mit uns sehr zufrieden sein. Dass die Inka solche Feig-linge sind, hätte ich trotzdem nicht für möglich gehalten.“ Die Gespräche der Männer waren von freudiger Erwartung geprägt. Was sollte nun noch schiefgehen. Ja, bald wür-

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den die Chanca das mächtigste Volk unter der Sonne sein. Immer wieder riefen die Männer nach den Dienern, damit diese mehr Chicha brachten. Gerade war ein weiterer Krug geleert und der Anführer der Chanca brüllte: „Ihr Faulpelze dort draußen! Wir haben Durst! Bringt etwas zu trinken! Wir wollen feiern!“ Immer fordernder und bedrohlicher klangen seine Worte. Wer hätte es ihm verdenken können, schließ-lich war es nur noch eine Frage von Stunden oder höchstens Tagen, bis die Chanca die neuen Herren hier im Palast des Inka waren. „Wo bleibt die Chicha! Wenn nicht sofort etwas zu trinken gebracht wird, werdet ihr mich kennen lernen!“, grollte der Chanca.

Da betrat ein junger, hochgewachsener Mann den Raum. Sein ganzes Wesen erweckte nicht den Eindruck, dass es sich um einen Bediensteten handelte. Mit einem Male sa-ßen die Männer ganz still und musterten den Fremden mit zusammengekniffenen Augen. Die feuchtfröhliche Ausge-lassenheit wich einer nervösen Angespanntheit. „Was willst du hier? Bringst du uns etwas zu trinken?“, herrschte ihn der Anführer an, nachdem dieser seinen ersten Schrecken überwunden hatte. Irgendwie strahlte der Unbekannte eine unsichtbare Macht aus, die auf den Chanca bedroh-lich wirkte. „Nein, Amaru, ich bringe keine neue Chicha, aber etwas anderes“, antwortete der Neuankömmling und um seine Mundwinkel huschte ein flüchtiges Lächeln. Er hatte bemerkt, dass die Stimmung im Raum nach seinem Auftauchen merklich abgekühlt war. Die Siegesgewissheit der Gesandten hatte sich jäh verflüchtigt. „Warum kennst du meinen Namen und was willst du hier? Scher dich fort oder du wirst unsere Macht kennen lernen!“ Mit einem be-tont strengen und forschen Auftreten wollte Amaru wieder Herr der Lage werden. Doch das gelang ihm nicht, denn der junge Fremde ließ sich nicht einschüchtern. „Los, Männer, ergreift ihn!“, brüllte Amaru, doch noch ehe einer seiner Be-gleiter auf die Beine kam, betraten einige gut bewaffnete Inkakrieger den Raum. „Wir sind Abgesandte der Herrscher von Chanca und genießen diplomatischen Schutz“, protes-

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tierte Amaru, der die gefährliche Entwicklung der Lage er-kannt hatte. „Aber ihr benehmt euch nicht wie Unterhändler, sondern ihr stellt maßlose Forderungen. Eure Zeit in Cuzco ist abgelaufen. Ich, Prinz Cusi Yupanqui, toleriere euer Be-nehmen nicht mehr. Wenn die Chanca Krieg wollen, sollen sie ihn bekommen. Wir sind zum Kämpfen bereit und wei-sen eure Forderungen, die ihr dem Inka unterbreitet habt, auf das Energischste zurück. Wir Inka wollen lieber sterben als eure Sklaven werden. Sagt das euren Anführern. Verlasst innerhalb einer Stunde die Stadt. Wenn ihr nach Sonnen-untergang noch in Cuzco angetroffen werdet, behandle ich euch nicht mehr als Abgesandte, sondern als Kriegsgefange-ne. Ihr, Amaru, habt mein Volk und mich durch Euer Auftre-ten im Thronsaal tödlich beleidigt. Wenn ich Euch auf dem Schlachtfeld begegne, dürft Ihr von mir keine Gnade erwar-ten. Nun geht! Diese Krieger hier“, damit wies Cusi Yupan-qui mit einer ausladenden Handbewegung auf die bewaffne-ten Inka, „werden euch sicher zum Stadttor geleiten.“ Noch ehe Amaru Protest einlegen konnte, drehte sich der junge Inkaprinz würdevoll um und verließ den Raum. Die Chanca sandten ihm aus ihren Augen giftige Blitze nach, aber sie hatten keine Wahl. Grollend standen sie auf, suchten ihre Habseligkeiten zusammen und machten sich auf den Weg. Nun würden sie mit ihrer riesigen Übermacht an Kriegern Cuzco angreifen und erobern müssen. „Diesem Cusi Yupan-qui werden seine Worte noch leidtun“, dachte sich Amaru, während er und seine Männer durch die Straßen der Stadt schritten. Ihre Siegeszuversicht hatte allerdings einen klei-nen Dämpfer erlitten.

Die Schreie der jungen Frau wurden stärker. Ihre Stirn war schweißgebadet. „Ja, weiter so, fest pressen, dann hast du es bald überstanden.“ Eine neuerliche heftige Wehe ließ Qoy-lyor schmerzhaft zusammenfahren. Aber sie presste tapfer weiter, so wie es ihr ihre Mutter Chanan Koka geraten hatte. „Gut, das machst du gut so, mein Stern“, ermunterte Koka ihre Tochter. Rund um die Liegestatt Qoylyors standen meh-

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rere Frauen, die Tücher und Wasser bereithielten. Eine alte Frau trug die kleine Statue einer Schutzgottheit in den Hän-den und murmelte beschwörende Worte. Inmitten des gan-zen Trubels huschten überall auf dem Boden Meerschwein-chen umher und suchten nach Getreidekörnern. Eine weitere Wehe erschütterte die werdende Mutter. Qoylyor keuchte schwer und presste tapfer im Rhythmus der Wehen. Dann ließ sie sich erschöpft zurückfallen. „Nicht aufgeben, weitermachen!“ Beruhigend und zugleich fordernd tönte Ko-kas Stimme durch den Raum. Immer kürzer hintereinander stellten sich die Wehen ein. Chanan Koka konnte keinerlei Zeichen feststellen, dass Komplikationen zu befürchten wä-ren. Den Göttern sei Dank. Was für ein Tag für eine Geburt! Überall außerhalb des Hauses waren Zeichen der Unruhe zu bemerken gewesen, seit die Unterhändler der Chanca auf-getaucht waren. Die schlimmsten Gerüchte schwirrten he-rum. Von der Flucht des Inka war die Rede gewesen. Doch für all das, was in der Stadt vor sich ging, hatte Chanan Koka keine Zeit, seit am frühen Nachmittag die ersten We-hen bei Qoylyor eingesetzt hatten. Ihre ganze Konzentration galt jetzt der bevorstehenden Niederkunft ihrer Tochter. Die Männer würden nachher schon erzählen, was im Palast des Inka und in Cuzco vorgefallen war. Wieder erschütterte eine heftige Welle den Körper der jungen Frau. „Ich kann den Kopf schon erkennen, nur noch ein klein wenig, dann hast du es geschafft! Bei der nächsten Wehe presst du so fest, wie du kannst!“ Wie hinter einem Nebelschleier vernahm Qoylyor die Stimme. Ihre Hände hielten sich krampfhaft an den Schultern ihrer Mutter fest. Eine Nachbarin stemmte sich gegen den Rücken Qoylyors, um diese bei ihren Be-mühungen zu unterstützen. Da, eine weitere Wehe stellte sich ein. Qoylyor atmete stoßweise und hatte plötzlich das Gefühl, als ob ihre Gedärme zerrissen würden. Mit einem qualvollen Schrei auf den Lippen presste sie ein letztes Mal und dann überkam sie ein unbeschreibliches Glücksgefühl. „Es ist ein Junge. Ein hübscher kleiner Kerl“, hörte sie die Frauen freudig durcheinander rufen. Im selben Moment

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zeigte das Neugeborene, dass es auch gesund und kräftig war, denn sein lautes Protestgeschrei übertönte alle anderen Geräusche. Qoylyor lächelte erschöpft, aber überglücklich. Chanan Koka nahm den neuen Erdenbürger und wusch ihn sorgfältig mit kaltem Wasser. Das, so glaubte man, würde die Kinder an Kälte und Mühsal gewöhnen und ihre Glieder stärken. Aus demselben Grund wickelte man die Arme des Säuglings. Danach wurde der Junge in Schals gehüllt und in eine Wiege gelegt. Erst jetzt bekam die junge Mutter das Neugeborene, um es zu stillen. Doch selbst dabei blieb das Kind in der Wiege, denn eine Inkamutter nahm ihr Baby nie in den Arm oder auf den Schoß. Die erfahrenen Müt-ter meinten, intensive Zärtlichkeiten würden nur bewirken, dass die Kinder unablässig schreien würden. Qoylyor war versucht, ihr Baby ganz nah zu sich zu legen, aber die Ver-nunft siegte. So betrachtete sie ihren kleinen Sohn, während dieser gierig an ihren Brüsten saugte. „Was wird nur aus dir werden, wenn jetzt Krieg und Not herrschen“, dachte die junge Mutter bekümmert, „ich werde dich jedenfalls immer beschützen und nie verlassen.“

Eine der Frauen ging zur offenen Haustür und rief den nervösen Vater herein. Poma stürmte aufgeregt in das Zim-mer, umarmte seine Frau und betrachtete stolz seinen Sohn. „Ist er nicht schön?“ Glückselig reichte Qoylyor die Wiege ihrem Mann. „Er sieht noch ein bisschen runzlig aus, aber das wird sich in ein paar Tagen legen.“ Erleichtert atmete Poma auf, als er die Worte seiner Schwiegermutter vernahm. „Er ist ganz der Vater. Er hat deine Gesichtszüge und wird dir sicher viel Ehre machen.“ Poma jubelte innerlich, dann stürzte er mit seinem Sohn ins Freie, zeigte ihn stolz seinen Freunden und rief: „Jetzt wird gefeiert! Alle sind zu einem großen Festmahl und reichlich Chicha eingeladen.“ Mit bei-fälligen Worten näherten sich die Männer und gratulierten dem jungen Vater. Poma brachte die Wiege ins Haus zurück und holte einen Krug voll mit Chicha. Bevor er den ersten Schluck tat, dankte er mit einer demütigen Bewegung den Göttern und vergoss einige Tropfen des Getränkes als Op-

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fergabe an die Unsterblichen. Dann setzte er den Krug an die Lippen, trank mit tiefen Zügen und reichte schließlich das Gefäß dem Nächststehenden. Alle ließen der Reihe nach die jungen Eltern und das Neugeborene hochleben. Die Männer saßen auf dem sandigen Boden und zogen ihre Umhänge aus Lamawolle fest um sich. Sie hatten ein paar Fackeln angezündet, denn die Sonne war bereits hinter den Bergen verschwunden und in der Nacht konnte es in die-sen großen Höhen empfindlich kalt werden. Noch bevor der Chicha zur Neige ging, erschien Chanan Koka mit einem weiteren Krug. „Trinkt nur und freut euch! Nur noch ein wenig Geduld, dann ist das Essen fertig. Wo ist eigentlich mein Mann?“, fragte sie, nachdem sie sich in der Runde umgeschaut hatte. „Curaca Huaranca hat das Warten nicht mehr ausgehalten und ist in die Stadt gegangen. Er wollte erfahren, welche Neuigkeiten es gibt. Hier in Quilliscan-cha schwirren die Gerüchte über den Angriff der Chanca und die Flucht des Inka nur so herum. Angeblich soll auch Cusi Yupanqui aus seiner Verbannung zurückgekehrt sein. Curaca Huaranca hat sich aufgemacht, damit er sich Klar-heit verschaffen kann. Er hat versprochen, gleich zurück-zukommen, wenn er etwas Neues erfahren hat.“ „Das sieht ihm wieder ähnlich. Was gibt es heute Wichtigeres als die Geburt seines Enkels. Nun gut, er ist der Häuptling und hat auch andere Pflichten. Auch ich bin schon gespannt, was an den Gerüchten dran ist. Wenn Cusi Yupanqui tat-sächlich hier in Cuzco ist, scheint mir die Lage nicht allzu schlimm zu sein.“ Nach diesen Worten verschwand Chanan Koka wieder im Haus. Bald darauf brachten die Frauen den feiernden Männern einige Teller und Schalen mit dampfen-dem Mais, Kartoffeln und Quinoa, einer genügsamen Ge-treidesorte. Daneben wurden unterschiedliche Chilisorten, Guaven, Tomaten, Avocados, verschiedene Kürbissorten, Bohnen, Maniok und Erdnüsse aufgetragen. Zur Feier des besonderen Ereignisses wurde ausnahmsweise Fleisch ge-reicht, das nicht von den allgegenwärtigen Meerschwein-chen stammte. Curaca Huaranca hatte den Befehl gegeben,

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ein Lama zu schlachten. Lamafleisch ist sehr wohlschme-ckend, da aber die Lamas als Lasttiere gehalten und wegen ihrer Wolle kostbar waren, kamen die meisten Menschen nur äußerst selten zu diesem Genuss. Darum griffen alle herzhaft zu und lobten ihren großzügigen Gastgeber, der ge-rade rechtzeitig zum Essen erschien.

Nachdem sich alle die Bäuche vollgeschlagen hatten, begann der Häuptling zu berichten. Ja, Inka Viracocha und die meisten hohen Würdenträger hätten aus Angst vor den Chanca die Stadt verlassen. Mit deren Angriff sei in Kür-ze zu rechnen. Zum Glück sei Cusi Yupanqui tatsächlich nach Cuzco geeilt. Er habe ihn selbst gesehen und spre-chen gehört. Alle waffenfähigen Männer sollten sich mor-gen nach Sonnenaufgang zum Sonnentempel begeben. Cusi Yupanqui, seine Brüder Roca und Tupac Huarochiri und die beiden Feldherren Apo Mayta und Vicaquirao hätten sich entschlossen, Widerstand zu leisten und das Reich Tahuan-tinsuyu zu verteidigen. Diese Nachricht stimmte die Män-ner nachdenklich. Das bedeutete Krieg. Noch schlimmer aber war, dass die Übermacht der Chanca beinahe erdrü-ckend war. Wie sollten so wenige gegen so viele etwas aus-richten können? Trotzdem, es war noch immer besser, einen ehrenvollen Tod auf dem Schlachtfeld zu finden, als ein Le-ben unter der Knute der Chanca zu führen. Oder sollte man dem Beispiel des Herrschers folgen und Cuzco verlassen? Diese Möglichkeit verwarfen die Männer sogleich wieder. Früher oder später wäre man in diesem Fall doch ein Ge-fangener der Chanca geworden. Die Männer versprachen Curaca Huaranca, sich rechtzeitig am nächsten Morgen ein-zustellen. Nach Feiern war niemandem mehr zumute. Auch Poma dachte sorgenvoll an die Zukunft und wie das Leben seines Sohnes werden würde. Als hätte er die Gedanken sei-nes Schwiegersohnes erraten, trat Curaca Huaranca zu ihm, packte in an der Schulter und sprach: „Wir sorgen schon da-für, dass deinem Sohn nichts passiert. Hier in Quilliscancha werden sich die Chanca die Zähne ausbeißen. Wir werden jedes Haus erbittert verteidigen. Die Gassen sind eng, da

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können die Chanca mit ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit nicht so viel ausrichten. Nun lasst uns schlafen gehen, wir werden unsere Kräfte in den nächsten Tagen noch brau-chen.“

Da drängte sich die alte Wahrsagerin Tanta Carhua nach vorne. „Ich kann ergründen, ob die Götter uns gewogen sind. Curaca Huaranca erlaubt mir bitte, dass ich einen Blick in die Zukunft werfe.“ Die Männer schauderten vor diesem Gedanken, aber schließlich überwog die Neugier und man forderte die Wahrsagerin auf, die übernatürlichen Mächte zu befragen. Tanta Carhua setzte sich und füllte mit geheimnisvoll beschwörenden Worten und Gesten zwei klei-ne, mythisch verzierte Gefäße mit Kohle und zündete diese an. Mit leisem Gesang versuchte die Alte, die Geister zu ru-fen. Unentwegt kaute sie dabei Kokablätter und atmete den Rauch ein, der von den brennenden Gefäßen aufstieg. Die Männer und Frauen umstanden sie ehrfurchtsvoll. Durch kein noch so leises Geräusch wagte man die magische Handlung zu stören. Immer schneller wurde der Gesang der Alten. Die Flammen züngelten in der Dunkelheit. Alle Augen waren auf die beiden hellen Feuerscheine gerichtet. Da vernahmen plötzlich alle Anwesenden eine geheimnis-volle, übernatürlich klingende Stimme. Die Geister spra-chen zu Tanta Carhua. Atemlose Stille herrschte. Nur das Knistern des Feuers und die leisen Worte waren zu hören. Einige nervenaufreibende Augenblicke später war der Spuk vorbei. Die Wahrsagerin erhob sich vom Boden und sprach zu der vor Spannung reglos lauschenden Menge: „Die Göt-ter sind uns gnädig gestimmt. Cusi Yupanqui wird Cuzco retten und zum Herrscher aufsteigen.“ Allen fiel dank die-ser guten Nachricht ein Stein vom Herzen. Doch was war, mit dem zweiten Teil der Botschaft? Hatten sich die Götter geirrt oder die Leute verhört? Cusi Yupanqui konnte doch nicht der neue Inka werden. Wenn sein Vater starb, würde sein Bruder Urcon der alleinige Herrscher sein. Schon jetzt war er der Mitregent seines Vaters. Doch das war nicht das Problem der Einwohner von Quilliscancha. Zuerst musste