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Der Konflikt in Afghanistan Der Gesprächskreis Frieden und Sicherheitspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat sich in seiner Beratung am 26. November 2009 mit dem Konflikt in Afghanistan beschäftigt, Hinter- gründe, Konfliktverläufe und das Scheitern der verfehlten Strategie des Westens in diesem Konflikt sowie Möglichkeiten einer politischen Regelung erörtert. Die beiden Einleitungsbei- träge hielten Prof. Dr. Diethelm Weidemann und Botschafter a. D. Dr. Arne C. Seifert aus Berlin. Die Beiträge werden hiermit in überarbeiteter Form veröffentlicht. Prof. Dr. Diethelm Weidemann: Der Konflikt in Afghanistan. Historischer und gesellschaftlicher Hintergrund, Evolution und Lageentwicklung Ich bin gebeten worden, heute in diesem Kreis zur Afghanistan-Problematik zu sprechen und zwar nicht primär zu den tagespolitischen Entwicklungen, sondern zu den übergreifenden Fragen wie: Natur des Konflikts, Phasen seiner Evolution und den Folgen der 2001/02 verge- benen Chancen – man könnte Letzteres auch als Scheitern einer verfehlten Strategie formulie- ren. Auch wenn ich nicht die Absicht habe, die Geschichte des afghanischen Bürgerkrieges nach- zuzeichnen und mich eher auf die entscheidenden Weichenstellungen in diesem Langzeit- Konflikt konzentrieren werde, führen Spezifik und Komplexität des Themas unausweichlich zu einer thesenartig gedrängten Darstellung – für die ich um das Verständnis des Auditoriums bitte. Es handelt sich, wenn Sie so wollen, um ein Positionspapier. I. Die gegenwärtige Afghanistan-Diskussion in Deutschland ist nahezu ausschließlich auf den Konflikt zwischen dem westlichen Militärbündnis und der bewaffneten islamistischen Oppo- sition fokussiert; die tatsächliche Lage im Lande wird entweder aus politischen Gründen schöngeredet oder spielt nur eine periphere Rolle. Die eigentlich entscheidende Frage, wie ein Afghanistan aussehen muss, das in der Lage ist, aus eigener Kraft nicht wieder in die Barbarei des Bürgerkrieges oder in die mittelalterliche Taliban-Diktatur zurückzufallen, wird von der Politik entweder nicht gestellt oder mit Allgemeinplätzen umgangen – die letztgenannte Ver- haltensweise trifft bedauerlicherweise auch auf einige linke Politiker zu. 1

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Der Konflikt in Afghanistan

Der Gesprächskreis Frieden und Sicherheitspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat sich in

seiner Beratung am 26. November 2009 mit dem Konflikt in Afghanistan beschäftigt, Hinter-

gründe, Konfliktverläufe und das Scheitern der verfehlten Strategie des Westens in diesem

Konflikt sowie Möglichkeiten einer politischen Regelung erörtert. Die beiden Einleitungsbei-

träge hielten Prof. Dr. Diethelm Weidemann und Botschafter a. D. Dr. Arne C. Seifert aus

Berlin. Die Beiträge werden hiermit in überarbeiteter Form veröffentlicht.

Prof. Dr. Diethelm Weidemann:

Der Konflikt in Afghanistan. Historischer und gesellschaftlicher Hintergrund, Evolution

und Lageentwicklung

Ich bin gebeten worden, heute in diesem Kreis zur Afghanistan-Problematik zu sprechen und

zwar nicht primär zu den tagespolitischen Entwicklungen, sondern zu den übergreifenden

Fragen wie: Natur des Konflikts, Phasen seiner Evolution und den Folgen der 2001/02 verge-

benen Chancen – man könnte Letzteres auch als Scheitern einer verfehlten Strategie formulie-

ren.

Auch wenn ich nicht die Absicht habe, die Geschichte des afghanischen Bürgerkrieges nach-

zuzeichnen und mich eher auf die entscheidenden Weichenstellungen in diesem Langzeit-

Konflikt konzentrieren werde, führen Spezifik und Komplexität des Themas unausweichlich

zu einer thesenartig gedrängten Darstellung – für die ich um das Verständnis des Auditoriums

bitte. Es handelt sich, wenn Sie so wollen, um ein Positionspapier.

I.

Die gegenwärtige Afghanistan-Diskussion in Deutschland ist nahezu ausschließlich auf den

Konflikt zwischen dem westlichen Militärbündnis und der bewaffneten islamistischen Oppo-

sition fokussiert; die tatsächliche Lage im Lande wird entweder aus politischen Gründen

schöngeredet oder spielt nur eine periphere Rolle. Die eigentlich entscheidende Frage, wie ein

Afghanistan aussehen muss, das in der Lage ist, aus eigener Kraft nicht wieder in die Barbarei

des Bürgerkrieges oder in die mittelalterliche Taliban-Diktatur zurückzufallen, wird von der

Politik entweder nicht gestellt oder mit Allgemeinplätzen umgangen – die letztgenannte Ver-

haltensweise trifft bedauerlicherweise auch auf einige linke Politiker zu.

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Unstrittig ist es die dringendste Aufgabe, den ebenso sinnlosen wie erfolglosen Krieg in Af-

ghanistan zu beenden. Aber ebenso eindeutig muss auch gesagt werden, dass selbst eine for-

melle Beendigung der Kampfhandlungen ohne ein klares Konzept für die Nachkriegszeit und

die Definition der Verantwortung jener Staaten, die in Afghanistan militärisch interveniert

haben, für die weitere Entwicklung des Landes weder eine qualitative noch eine nachhaltige

Veränderung der Grundsituation in Afghanistan bringen wird. Eine tragfähige Lösung des

Afghanistan-Problems erfordert zwingend das Begreifen dieses Konfliktes als historische und

gesellschaftliche Gesamterscheinung. Eine Beschränkung auf die Jahre seit 2001 greift zu

kurz, darauf basierende Lösungsvorstellungen wären lediglich ein Kurieren von Symptomen

ohne die Beseitigung oder zumindest Austrocknung der übergreifenden Konfliktursachen.

II.

Es gibt keine wirkliche Konfliktregulierung ohne eine realistische Konfliktanalyse. Nach

jahrzehntelangen blutigen Kämpfen mit ständig wechselnden Fronten und Zweckbündnissen

ist es unumgänglich, die Frage zu stellen, worum es eigentlich in Afghanistan geht, was dem-

nach zu lösen ist und was heute überhaupt geregelt werden kann.

In mehr als 150 Jahren hat es fünf machtpolitische Kriege um Afghanistan gegeben – die

anglo-afghanischen Kriege von 1840-1842, 1877-1879 und 1919; die sowjetische militärische

Intervention von 1979-1989 und seit dem 7. Oktober 2001 den Krieg der USA und nachfol-

gend der NATO gegen die in Afghanistan imaginierte territoriale Basis des islamistischen

Terrorismus. Seit dem Sturz König Amanullahs 1929 kam es ferner bisher zu drei Langzeit-

Bürgerkriegen – dem Machtkampf zwischen rivalisierenden feudalen und tribalen Pashtunen-

Gruppen 1929-1933, dem Anti-Regime-Krieg eines breiten Spektrums islamistischer und tri-

balistischer Kräfte gegen die Regierung der Demokratischen Volkspartei Afghanistans

(DVPA) 1979-1992, und den Bürgerkrieg zwischen verschiedenen islamistischen und ethno-

politischen Gruppierungen, der 1994-2001 in einen Machtkampf zwischen diesen Formatio-

nen und dem sich etablierenden Taliban-Regime mündete.

Diese unterschiedlichen Konfliktlagen und die sie begleitenden politisch-militärischen Kons-

tellationen dürfen nicht den Blick auf die gesellschaftliche Grundsituation in Afghanistan ver-

stellen. Historisch betrachtet, ist der Konflikt in Afghanistan in seinem Wesen ein Moderni-

sierungskonflikt, eine tiefgreifende und grundsätzliche Auseinandersetzung zwischen islami-

scher Tradition und Moderne, zwischen einer überwiegend tribalen Gesellschaft und einer

embryonalen Form des modernen Nationalstaats, zwischen einer dem Stammesdenken verhaf-

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teten religiös-orthodoxen und sozial patriarchalischen ländlichen Mehrheit und einer, für af-

ghanische Verhältnisse, modernisierten städtischen Bevölkerungsschicht.

Dieser Modernisierungskonflikt ist in seinen drei Höhepunkten bis 1979 – Vertreibung Ama-

nullahs, Reformversuche Zahir Shahs und Saur-Revolution von 1978 – klar erkennbar, wurde

jedoch 1980-1989 völlig überdeckt, weil mit der sowjetischen Militärintervention der Anti-

Regime-Krieg umgehend in einen religiös firmierten antisowjetischen Widerstandskrieg

überging, der zumindest zeitweilig alle Fraktionen der politisch äußerst buntscheckigen Op-

position einigte. Mit dem endgültigen Rückzug der UdSSR im Februar 1989 nahm die militä-

rische, politische und ideologische Auseinandersetzung in Afghanistan erneut die Form des

Anti-Regime-Krieges an, um nach dem Sturz Najibullahs durch Verrat seiner eigenen Genera-

le 1992 in einen Kampf Aller gegen Alle um die Beute zu münden. Es wird somit deutlich,

dass sowohl die sowjetische Miltärintervention 1979-1989 als auch der Antiterror-Krieg

George W. Bushs, also die amerikanische Militärintervention in Afghanistan seit 2001, nicht

die Ursache des Afghanistan-Konflikts sind, sondern machtpolitisch determinierte externe

militärische Eingriffsversuche, die den eigentlichen Konflikt und seine Ursachen nicht sub-

stantiell berührten, allerdings seine Austragungsformen für längere Zeiträume massiv überla-

gerten.

III.

Der afghanische Bürgerkrieg nach 1992 demonstrierte die völlige Unfähigkeit sowohl der

rivalisierenden Mujaheddin-Fraktionen als auch der ultraorthodoxen Taliban, die grundlegen-

den gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme Afghanistans auch

nur im Ansatz zu lösen.

Die um die Kriegsbeute kämpfenden Fraktionen zerstörten das, was im Februar 1989 noch

intakt bzw. unzerstört war. Der afghanische Staat war bereits Mitte der neunziger Jahre so gut

wie am Ende, 2001 existierte er de facto überhaupt nicht mehr, und selbst heute wäre es eine

maßlose Übertreibung, für ganz Afghanistan vom Vorhandensein eines legitimierten, akzep-

tierten und funktionierenden Staates zu sprechen.

Im Gefolge des Bürgerkrieges ist die Bevölkerung deutlich entlang ethnischer Linien gespal-

ten. Der erbitterte Widerstand der Tadshiken und Usbeken gegen die Taliban richtete sich

kaum gegen deren extremistischen Islamismus, sondern gegen den eindeutig pashtunischen

Charakter und absoluten Herrschaftsanspruch der Kandahar-Junta und ihrer Milizen.

Keine Seite der seit 1992 in den Bürgerkrieg verwickelten Kräfte hat jemals eine nationale

Option besessen, ihre Perzeptionen waren entweder islamisch oder ethnopolitisch determi-

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niert. Es muss deutlich gesagt werden, dass die Taliban-Projektion eines strikt islamischen

Staates grundsätzlich nicht mit solchen Kategorien wie „demokratischer Staat“ und „Nation“

kompatibel ist.

Alle sich zwischen 1992 und 2001 ablösenden Regimes haben ihre tiefe Feindseligkeit ge-

genüber Grundwerten des normalen modernen Lebens, sogar gegen Modernität und Moderni-

sierung als Prinzipien, gegen Menschen- und Bürgerrechte unter Beweis gestellt und sie als

unislamisch verteufelt und, soweit möglich, unter Verbot gestellt. Daraus ergibt sich mit Kon-

sequenz, dass keine der rivalisierenden Gruppen den Anspruch erheben konnte, Afghanistan

zu repräsentieren. Es waren Regimes, die auf der Grundlage eines ideologisch definierten

Machtanspruchs jeweils spezifische Gruppen und deren in der Regel partikulare Interessen

vertraten.

Aber es bleibt eine bittere Tatsache, dass jeder Prozess einer Konfliktregulierung mit eben

diesen Kräften beginnen musste, weil es im Lande 2001 keine andere Kraft gab, eine nationa-

le Alternative existierte noch nicht – oder vielleicht auch nicht mehr.

IV.

Das Taliban-Regime war gesellschaftlich extrem rückschrittlich, ideologisch auf eine vormo-

derne dogmatische Auslegung des Islam gegründet und durch eine völlige Negierung der

Menschen- und Bürgerrechte gekennzeichnet. Aber trotz seiner konzeptionellen Nähe zu ter-

roristischen islamistischen Strömungen und Gruppierungen galt es nicht als internationaler

Krisenherd und sowohl die USA als auch einige EU-Staaten waren bereit, mit der Kandahar-

Junta in gewissem Umfang zu kooperieren, wie nicht allein das von Washington betriebene

Pipeline-Projekt zeigte.

Die Militärintervention der USA vom Oktober 2001 unter der Losung des „Krieges gegen den

internationalen Terror“ erfolgte nicht, um die Bevölkerung Afghanistans von der Taliban-

Herrschaft zu befreien, sondern erstens, um die nach den die amerikanische Selbstperzeption

dramatisch erschütternden Anschlägen vom 11. September nach Vergeltung rufende Öffent-

lichkeit zu befriedigen, und zweitens aus machtpolitischen Gründen, weil die seinerzeit in

Washington Politik gestaltenden neokonservativen Kräfte angesichts des internationalen

Schockzustandes auf strategische und militärpolitische Entscheidungen drängten, die unter

„normalen“ Bedingungen nicht durchzusetzen gewesen wären.

Die im Oktober 2001 einzig verfügbaren und für die eigene Nation und die internationale Öf-

fentlichkeit einigermaßen glaubwürdigen Feinde, an denen man den amerikanischen Gegen-

schlag exekutieren konnte, waren Osama bin Laden und seine afghanischen Gastgeber, die

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Taliban. Der Krieg begann, obwohl die Taliban an den Anschlägen vom 11. September über-

haupt nicht beteiligt waren und die Operationen auch keineswegs in Afghanistan vorbereitet

wurden, sondern in Europa und in den USA selbst, und ihre Finanzierung weitgehend aus

saudischen und pakistanischen Quellen stammte, was bis heute aus naheliegenden Gründen

niemals ernsthaft untersucht wurde. Aus der Rückschau wird erkennbar, dass die Vorberei-

tung und Entfesselung des Irak-Krieges dem gleichen Strickmuster folgte.

Man muss daher durchaus grundsätzlich die Frage stellen, die von Politik und Medien pein-

lichst vermieden wird: War dieser Krieg rechtmäßig, das heißt völkerrechtlich legitimiert,

oder ist er sachlich in die gleiche Kategorie wie der Irak-Krieg einzuordnen – eine Militärope-

ration, zu der sich die Hypermacht USA auf der Grundlage vorgeschobener Argumente und

gefälschter „Beweise“ selbst ermächtigte? Mit der Beantwortung dieser Frage steht und fällt

auch die Bewertung der Legitimität der Teilnahme Deutschlands an der Militärintervention.

V.

Die Militäroperation der USA und nachfolgend der NATO folgte den ausgetretenen Pfaden

der Großmachtlogik und ignorierte jede Erfahrung aus den bisherigen Afghanistan-Kriegen.

Die US-Strategie entsprang einer ebenso verfehlten wie arroganten Supermacht-Attitüde, die

sich auf Luftangriffe und Search and Destroy-Operationen verstärkter Stoßtrupps und kleine-

rer mobiler Einheiten konzentrierte, die sich immer wieder in festungsartig gesicherte Stütz-

punkte zurückzogen. Ein wesentlicher Grund war das Streben, die eigenen Verluste möglichst

niedrig zu halten, da die amerikanische Öffentlichkeit seit Vietnam in dieser Frage sehr sensi-

bel war. Diese Strategie konnte gegen einen hoch mobilen, dezentral operierenden und ange-

sichts des Geländeprofils überhaupt nicht aus der Luft zu eliminierenden Gegner nicht aufge-

hen. Das Unvermögen der stärksten Militärmacht der Welt, adäquat und wirksam auf eine

asymmetrische Bedrohung zu reagieren, hält bis heute an. Die militärischen Ergebnisse der

Operationen von 2001/02 sind nicht Gegenstand dieser Betrachtung, zumal sie seit 2004/05

durch die Revitalisierung der Taliban und die Tatsache, dass diese heute in großen Teilen Af-

ghanistans das Gesetz des Handelns bestimmen, ohnehin weitgehend in die Ablage der Ge-

schichte verwiesen wurden.

Das Wiedererstarken der Taliban war ein direktes Ergebnis der verfehlten US-Strategie. Es

wurde versäumt, den Taliban die territoriale Basis im Lande durch eine dauerhafte militäri-

sche Präsenz der Interventionstruppen in allen Provinzen zu entziehen – denn das hätte einen

Landkrieg bedeutet, den das Pentagon unbedingt vermeiden wollte. Folgerichtig kam es auch

niemals zu einer tatsächlichen Entwaffnung der Taliban und schließlich wurde auch kein

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ernsthafter Versuch unternommen, Zehntausenden von gefangenen jungen Taliban-Kämpfern

durch ein landesweites Rehabilitierungs- und Resozialisierungsprogramm eine Perspektive

auf eine zivile Existenz zu eröffnen. Man schickte sie nach Hause und überließ sie erneut dem

Einfluss und der Hierarchie der Stammes-Chiefs, Milizenführer und lokalen Mullahs. Es war

daher lediglich eine Frage der Zeit, dass sich die Taliban reorganisieren und wieder militä-

risch aktiv werden würden.

Aus der Gesamtlage des Jahres 2009 ergibt sich, dass die Zielsetzung des seit 2001 in Afgha-

nistan geführten Krieges trotz massiver Einbeziehung der NATO-Verbündeten weder militä-

risch noch allgemein sicherheitspolitisch erreicht worden ist, wobei die gegenwärtige Ent-

wicklung bereits im Sommer 2002 prognostizierbar war.

VI.

Die politische Strategie der USA in Afghanistan war gekennzeichnet durch die weitgehende

Ignorierung der realen Lage vor Ort und die gefährliche Unterschätzung der ethnonationalen

und politisch-psychologischen Aspekte, die heute innerhalb Afghanistans eine zentrale Rolle

spielen. Das Setzen auf ein westlich interpretiertes Nation-Building als deus ex machina er-

wies sich als Fehlperzeption, da die Bürgerkriege und die pashtunische Taliban-Herrschaft die

Konfrontation zwischen den großen ethnischen Gruppen – Tadshiken, Usbeken und Hazara

auf der einen und Pashtunen auf der anderen Seite – so verschärft hatten, dass gesamtafghani-

sche Gemeinsamkeiten heute geringer sind als vor 1973. Und wie soll Nation-Building in

einem Land funktionieren, in dem die tribal organisierten Pashtunen auch heute sich als die

einzigen Afghanen betrachten und in den letzten Jahrzehnten überzeugend demonstriert ha-

ben, dass sie nach modernen Kriterien staatsunfähig sind?

Das US-Modell des Demokratie-Exports ist in Afghanistan auf drastische Art gescheitert.

Notwendig wäre gewesen, in einem durch Stammes- und Clan-Loyalitäten geprägten und

beherrschten Land mit der Vermittlung demokratischer Werte und Entscheidungswege an der

Basis zu beginnen, das heißt Grundelemente demokratischen Verhaltens und demokratischer

Politikgestaltung auf der lokalen Ebene, in den Dörfern und Städten zu schaffen, um in einer

zweiten Phase gewählte Vertretungskörperschaften in den Provinzen zu konstituieren. Allge-

meine Parlamentswahlen und die Etablierung einer demokratisch gewählten Regierung konn-

ten nur der Abschluss dieser Aufbauphase sein, wenn man ernsthaft auf die Schaffung eines

demokratischen Staatswesens hinarbeiten wollte. Das hätte die Chance eines echten gesell-

schaftlichen, staatlichen und politischen Neuanfangs in Afghanistan gegeben.

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Die USA gingen den umgekehrten Weg mit allen heute sichtbaren Autoritäts- und Legitimi-

tätsdefiziten und der Tatsache, dass das gegenwärtige Regime auf fatale Weise mit Kriegsher-

ren, Drogenbaronen und islamistischen Eiferern durchsetzt ist. Die Situation wird zusätzlich

dadurch verschärft, dass die USA niemals Zweifel daran zuließen, dass sie „ihre“ Leute rück-

sichtslos durchsetzen würden, wie sich bereits während der Loya Jirga vom Mai 2002 auf eine

die demokratisch gesinnten Kräfte in Afghanistan erschütternde Weise zeigte.

Niemand kann bestreiten (und selbst die NATO-Militärs tun das nicht mehr), dass im Osten

und Süden des Landes die Taliban das Gesetz des Handelns bestimmen und sich ihre Positio-

nen im Norden und Westen sichtbar stärken. Große Teile der Bevölkerung verachten die Re-

gierung Karsai als durch und durch korrupt und als Marionetten der USA, die nicht einmal

den Großraum Kabul tatsächlich kontrolliert. Die seinerzeit außerhalb der pashtunischen Pro-

vinzen durchaus als Befreier von der Taliban-Herrschaft begrüßten ausländischen Streitkräfte

werden seit 2005/06 fortschreitend primär als Besatzungstruppen wahrgenommen. Das bedeu-

tet, dass die Sicherheitslage heute schlechter als im Jahre 2002 ist, die Schaffung eines rechts-

staatlichen Prinzipien verpflichteten Staates liegt noch in weiter Ferne und der Ausgang der

pathetisch als „Operation Enduring Freedom“ bezeichneten Militärintervention ist 2009 un-

gewisser als 2002.

Zum Scheitern verurteilte Strategien, falsche Schwerpunkte und Konzeptlosigkeit auf der ge-

sellschaftlichen Ebene, das ist die Bilanz von acht Jahren „Antiterror-Krieg“. Es stellt sich

somit unabweisbar die Frage, wohin die Reise in Afghanistan geht. Außerhalb jeder Diskussi-

on steht, dass das Afghanistan-Problem als Ganzes nicht militärisch gelöst werden kann. An-

ders lautende bisherige Statements von Pentagon, State Department und NATO sind histo-

risch nur noch Makulatur. Aber wo ist die Alternative? Wenn nicht in überschaubarer Zeit ein

wirklicher grundlegender Strategie- und Politikwechsel erfolgt, muss das Unternehmen Af-

ghanistan definitiv als gescheitert betrachtet werden. Das bisherige Konzept Barack Obamas

ist kein solcher grundlegender Wechsel. Es ist angesichts der Lageverschlechterung und vor

allem infolge des gefährlichen Stimmungsumschwungs in der Bevölkerung aber nicht einmal

auszuschließen, dass selbst ein wirklicher Strategiewechsel infolge der faktisch verschwende-

ten Jahre bereits zu spät kommt und der Abzug der ausländischen Truppen die einzige

verbleibende Option ist, will man nicht bis zur Mitte des Jahrhunderts in Afghanistan Krieg

führen. Dieser Abzug wird entweder die irakische Variante sein – die mehr oder weniger ge-

ordnete Räumung eines weitgehend zerstörten und demoralisierten Landes, oder das Saigoner

Modell vom 30. April 1973, das heißt „Rette sich wer kann!“

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Um es noch einmal in Erinnerung zu rufen: Auf dem Höhepunkt ihrer militärischen Interven-

tion in Afghanistan hatte die UdSSR 130 000 Mann im Einsatz und die Streitkräfte der DR

Afghanistan machten etwa das Zwei- bis Dreifache der gegenwärtigen afghanischen Armee

aus und besaßen im Unterschied zu heute eine umfangreiche schwere Bewaffnung und eine

eigene Luftwaffe. Das schließliche Ergebnis ist uns allen bekannt. Ich wage daher die These,

dass Obamas Truppenaufstockung letztendlich kein anderes Resultat haben wird; das lehren

alle historischen Erfahrungen mit Afghanistan. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist die sich

2001/02 eröffnende historische Chance in den vergangenen acht Jahren bereits vertan worden

und zwar nicht nur militärisch, denn die ausländischen Truppen haben seit 2002 das Vertrau-

en der Afghanen weitgehend verspielt. Washingtons heutige „neue“ Strategie hätte 2002

kommen müssen und nicht Anfang 2010. Und weiß der Westen überhaupt, wen er mit großem

materiellen und personellen Aufwand ausbildet – eine künftige afghanische Nationalarmee

oder aber die künftigen regulären Streitkräfte der islamistischen Aufständischen?

Zusammenfassend kann festgestellt werden: Der seit Oktober 2001 von den USA und der

NATO in Afghanistan geführte „Antiterror-Krieg“ hat weder für die existentiell notwendige

Bewältigung der Gesellschaftskrise noch für die ebenso unabdingbare grundlegende wirt-

schaftliche, soziale, politische und kulturelle Modernisierung des Landes einen produktiven

und nachhaltigen Beitrag geleistet, sondern im Gegenteil die innergesellschaftlichen Konflikt-

situationen noch verschärft.

VII.

Jede Betrachtung der Perspektiven Afghanistans muss strikt von den Realitäten vor Ort aus-

gehen, um nicht Illusionen zu erliegen. Es sind daher einige Grundtatsachen zu resümieren:

Das Land war 2001 nach zwanzig Jahren Krieg und Bürgerkrieg weitgehend zerstört, de facto

existierte kein Staat mehr, keine Wirtschaft, kein soziales System, kein Bildungswesen und

Kulturleben. Das bedeutet mit Konsequenz, dass jeder wirkliche Schritt nach vorn von deut-

scher Seite und zwar unabhängig, ob von linken oder konservativen politischen Positionen

aus, aufrichtig begrüßt und unterstützt werden muss. Damit stellt sich die Frage, was in Af-

ghanistan unterstützenswert ist.

Es gibt ein neues Regime, seit 2004 auch durch Wahlen legitimiert, das nach wie vor auf einer

sehr dünnen politischen und sozialen Decke agiert. Der afghanische Staat ist jedoch 2009

immer noch weit davon entfernt, in ganz Afghanistan legitimiert und akzeptiert zu sein, ganz

zu schweigen davon, dass er tatsächlich außerhalb Kabuls auch funktioniert.

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Trotz lokaler Fortschritte im Norden und Westen wäre es abenteuerlich, bereits von der Exis-

tenz einer afghanischen Volkwirtschaft zu sprechen. Der einzige funktionierende Wirtschafts-

bereich ist der Drogensektor unter Duldung des Kabuler Regimes, der USA, der NATO und

sogar der ISAF.

Im Bildungswesen und Kulturbereich hat es bis 2005 eine Reihe positiver und begrüßenswer-

ter Entwicklungen gegeben, die jedoch seither unter dem wachsenden Druck der Islamisten

außerhalb und innerhalb der Regierung Karsai stehen. Es ist unstrittig, dass eine Fraktion im

Regime gesellschaftskonzeptionell nicht weit von den Taliban entfernt ist.

Die sozialen Strukturen Afghanistans und die sozialen Beziehungen im Lande waren 2001

völlig zerrüttet. Ein gesamtafghanisches Gemeinschaftsgefühl muss erst wieder geschaffen

werden, da der Bürgerkrieg tiefe mentale Spuren hinterlassen hat – nicht zuletzt deshalb, weil

die blutigste Mujaheddin-Formation unter Gulbuddin Hekmatyar und auch das Taliban-

Regime fast ausschließlich von Pashtunen getragen wurde.

Die Präsidentenwahlen von 2004 haben das 2001 von den USA eingesetzte Übergangsregime

Karsai bestätigt und damit formell demokratisch legitimiert. Es stand zu erwarten, dass die

Präsidentschaftswahlen vom 20. August 2009 zu einem ähnliches Ergebnis führen. – Einmal,

weil keine wirkliche Alternative vorhanden war, und zum anderen, weil die Mehrheit der

Pashtunen eher den von ihnen als Marionette der USA verachteten Hamid Karsai wählen

würde als einen Tadshiken oder Usbeken. Selbst in der an Skandalen wahrlich nicht armen

Geschichte der Zusammenarbeit der USA mit nichtdemokratischen oder direkt antidemokrati-

schen Regimes, die der jeweiligen regionalen Machtprojektion Washingtons bereitwillig folg-

ten, ist ein derartig massiver und unverhohlener Wahlbetrug wie im August 2009 durch das

Regime Karsai nahezu einmalig. Und gleichgültig, wie die Stichwahl in nüchternen Zahlen

ausgegangen wäre, haben diese Wahlen die Idee der Demokratie und das Vertrauen in ihre

Grundprinzipien in der afghanischen Bevölkerung nachhaltig diskreditiert. Ein Minimum von

Ehrlichkeit gegenüber den von Washington und Westeuropa ständig kolportierten eigenen

Werten hätte verlangt, die Ergebnisse dieser politischen Farce zu annullieren. Aber Washing-

ton wollte seinen Stellvertreter durchbringen, selbst auf Kosten der Glaubwürdigkeit. Wie

2004 hat der Ausgang der Präsidentenwahlen von 2009 daher die antidemokratischen Herr-

schaftsstrukturen auf lokaler und Provinzebene nicht berührt und nichts am grundlegenden

inneren Kräfteverhältnis und an den Machtpositionen der antimodernen und antidemokrati-

schen Kräfte geändert. Vor allem aber wird er keinen messbaren positiven Einfluss auf die

Sicherheitslage in Afghanistan haben, sondern diese mit großer Wahrscheinlichkeit weiter

verschärfen, weil die Bevölkerung nach dem Wahlbetrug erst recht kein Vertrauen in das Ka-

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buler Regime hat. Karsai und sein korruptes Netzwerk haben zugleich den Taliban eine Karte

von unschätzbarem ideologischen Wert in die Hände gespielt.

Angesichts der Grundsituation in Afghanistan ist es eine elementare Voraussetzung für eine

realistische Politik des Westens, zu begreifen, dass es nach den Erschütterungen der letzten

dreißig Jahre keine unbelastete, politisch, ethisch und moralisch saubere Politik geben kann.

Alle wesentlichen Akteure sind historisch diskreditiert; die heute führenden politischen Grup-

pierungen haben mehrheitlich eine antinationale Vergangenheit; sind durch Gewalt- und Blut-

taten belastet. Es wäre außerordentlich leichtfertig, sie als Garanten einer künftigen demokra-

tischen Entwicklung in Afghanistan zu betrachten. Aber noch immer gibt es im Lande keine

wirkliche nationale Alternative und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die USA bereits 2001

wieder auf die alten Machteliten und nicht auf eine sich unter großen Schwierigkeiten entwi-

ckelnde Zivilgesellschaft setzten.

VIII.

Der Versuch einer nüchternen Bilanz von acht Jahren verfehlter Strategie und Politik in Af-

ghanistan kommt nicht daran vorbei, einige Fragen zur deutschen Haltung aufzuwerfen. Die

deutsche Debatte reduziert sich weitgehend auf die Frage: Abzug der Bundeswehr oder Fort-

setzung des „Einsatzes“, wobei von offizieller Seite für die Afghanistan-Problematik über-

wiegend allgemeine politische Formeln oder euphemistische Worthülsen als Positionen offe-

riert werden, während auf die komplizierten und vielfach ausgesprochen diffizilen tatsächli-

chen Probleme entweder überhaupt nicht oder nur peripher eingegangen wird.

Erstens wird weiterhin geleugnet, dass in Afghanistan Krieg geführt wird, obwohl Verteidi-

gungsminister zu Guttenberg diese Sprachregelung inzwischen partiell durchbrochen hat. Die

US-Militärintervention von 2001/02 war zweifellos ein Krieg, der gegen das Regime eines

fremden Staates geführt wurde und in keiner Weise ein „Stabilisierungseinsatz“. Die These

des bisherigen Verteidigungsministers Jung, dass militärische Auseinandersetzungen nur dann

als Krieg bezeichnet werden können, wenn sie zwischen Staaten stattfinden, ist historisch

überholtes Völkerrechtsdenken des 19. und 20. Jh. und heute Nonsens, weil eben Bürgerkrie-

ge und Anti-Regime-Kriege auch Kriege sind. Die NATO führt in Afghanistan jenseits aller

Semantik Krieg, und die Taliban führen einen islamistisch definierten Krieg gegen die aus-

ländischen Truppen und einen Bürgerkrieg um die Macht im Lande gegen das Regime Karsai.

Deutschland ist seit 2002 trotz aller offiziellen Rhetorik durch den militärischen Einsatz der

Bundeswehr Kriegspartei in Afghanistan.

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Zweitens wurde von Anfang an niemals die Frage der Rechtmäßigkeit, der völkerrechtlichen

Legitimierung der US-Militärintervention und damit auch der Mitwirkung der Bundeswehr an

den Nachfolge-Operationen gestellt, sondern mit dem Hinweis auf die notwendige Solidarität

im Antiterror-Kampf und die Bündnispflichten ausgeblendet. Es erhebt sich jedoch die Frage,

ob die Anschläge vom 11. September durch nichtstaatliche terroristische Kräfte, die überdies

mit militärischen Mitteln überhaupt nicht zu eliminieren sind, überhaupt die Ausrufung des

Bündnisfalles durch einen multilateralen staatlichen Militärpakt rechtfertigen, und warum die

deutsche Politik dem widerstandslos zustimmte, ohne auch nur die Frage nach den völker-

rechtlichen, politischen und militärischen Konsequenzen zu stellen.

Drittens muss gefragt werden, wer oder was am Hindukush „verteidigt“ wird. Das Struck-

Paradigma, dass Deutschlands Sicherheit am Hindukush verteidigt wird, stößt sich mit den

Realitäten hart im Raum. Das deutsche Kontingent verteidigt dort keineswegs die Bundesre-

publik, sondern eine afghanische Regierung, die noch unter Beweis zu stellen hat, dass sie

wirklich eine Repräsentanz ihres Volkes und nicht nur Platzhalter innerer partikularer Grup-

peninteressen oder auswärtiger Ambitionen ist; und sie verteidigt dort die regionalstrategi-

schen Interessen der USA und der NATO, was nahezu das Gleiche ist, da sich dieser Pakt in

allen Konflikten seit 1991 als ein Instrument der Vereinigten Staaten erwiesen hat. Oder an-

ders gesagt: Erst seit deutsche Truppen am Hindukush stehen, befinden wir uns in einem Qua-

si-Verteidigungszustand gegen den islamistischen Terorismus. Deutschlands Sicherheit wird

am besten durch eine Nichtbeteiligung an militärischen Abenteuern gedient, gleichgültig von

wem sie ausgehen.

Viertens war die deutsche Beteiligung an der ISAF-Mission, völkerrechtlich gedeckt durch

eine UN-Resolution, gerechtfertigt solange es um die ursprüngliche Mission dieser Einheiten

ging, einen friedlichen Übergang zu rechtsstaatlichen Verhältnissen in Afghanistan zu schüt-

zen und zu sichern. Über den Schutz entstehender ziviler demokratischer Strukturen und Insti-

tutionen hinaus haben deutsche Soldaten in Afghanistan nichts zu suchen. In diesem Kontext

muss festgestellt werden, dass die deutsche Politik über den militärischen Aspekt hinaus nie-

mals ein Gesamtkonzept für Afghanistan gehabt hat, wodurch sie im wesentlichen eine Nach-

trabpolitik betrieb und sich zum Gefangenen einer deutschen Interessen fremden Politik des

Paktes machte. Geradezu zwangsläufig führte das zur ständigen Aufweichung des ursprüngli-

chen Mandats und zu seiner fortgesetzten schleichenden Erweiterung. Die formelle Unterstel-

lung des deutschen ISAF-Kontingents unter die Krieg führenden OEF-Streitkräfte, die Ent-

sendung deutscher Tornados und einer Schnellen Eingreifstruppe nach Afghanistan, aber auch

der vorgesehene Einsatz deutscher AWACS-Flugzeuge in das Kriegsgebiet sind klare Verlet-

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zungen des eigentlichen Mandats, und die ursprüngliche Geschäftsgrundlage des deutschen

Einsatzes ist damit entfallen. Sie sind faktisch weitere Schritte auf dem Weg von Streitkräften

zur nationalen Verteidigung hin zu einer international für die Interessen des Westens agieren-

den Interventionsarmee. Im konkreten Fall besteht die Funktion des deutschen Kontingents

letztlich darin, eine Hilfswilligen-Einheit in einem strategischen US-Konzept zu spielen, das

mit legitimen deutschen Interessen und deutscher Außenpolitik nichts zu tun hat.

Fünftens hat die Entwicklung seit 2002 auch dem politisch nicht Vorgebildeten hinreichend

eindeutig demonstriert, dass es wirklichen Frieden in Afghanistan nur geben wird, wenn die

Afghanen selbst Frieden machen. Weder die verbliebene Supermacht oder die NATO noch

die von ihren eigenen nationalistischen Ambitionen und machtpolitischen Interessen geleite-

ten regionalen Akteure sind in der Lage, von außen Frieden in Afghanistan zu schaffen. Da-

mit ist auch gesagt, dass der „Antiterror-Krieg“ keine Lösung des Afghanistan-Problems war,

nicht sein konnte und nicht sein wird. Wenn die deutsche politische Klasse die Verpflichtung

verspürt, mit und in Afghanistan Politik zu machen, dann sollte sie sich bewusst auf die Mit-

wirkung bei der Bewältigung und Beseitigung der Kriegsfolgen sowie der chronischen politi-

schen, ethnischen und ideologischen Konfliktursachen konzentrieren – also auf einen nichtmi-

litärischen Weg der Konfliktregulierung. Deutsche Politik sollte sich jedoch strikt enthalten,

in Afghanistan fremde Interessen zu bedienen, gleichgültig ob dies partikulare Ambitionen

innerhalb Afghanistans sind oder die wirklichen Ziele der transatlantischen Führungsmacht in

dieser Region.

Sechstens ist es unstrittig, dass eine deutliche Mehrheit der deutschen Bevölkerung den weite-

ren Einsatz deutscher Truppen in Afghanistan nicht billigt und statt einer weiteren Aufsto-

ckung des Kontingents dessen Abzug fordert. Meinungsverschiedenheiten bestehen im we-

sentlichen hinsichtlich des Zeitpunktes. Die nassforschen Erklärungen von der „Verteidigung

Deutschlands am Hindukush“ oder von den deutschen Bündnispflichten lassen nur zwei

Schlussfolgerungen zu – entweder ist in den oberen Echelons der Politik nicht die Kompetenz

vorhanden, gravierende Probleme im wohlverstandenen Interesse des eigenen Staates zu ent-

scheiden, oder eine deutsche Afghanistan-Politik entgegen dem erklärten Willen der Mehrheit

der Bevölkerung ist bereits weitgehend von nichtdeutschen Interessen dominiert. Dann aller-

dings stellt sich die Frage, wann die Bundesrepublik endlich eine Außenpolitik betreibt, deren

Grundlage die wirklichen nationalen Interessen Deutschlands sind. Es ist daher völlig ver-

ständlich und auch gerechtfertigt, dass die Linke in dieser Frage im Unterschied zu den ande-

ren Parteien eine entschiedene Position bezieht. Es muss jedoch ebenso deutlich gesagt wer-

den, dass eine lediglich gebetsmühlenhaft wiederholte Forderung nach einem Abzug der

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Truppen ohne eine gleichzeitige begründete und nachvollziehbare eigene Position, was nach

einem Abzug aus Afghanistan werden soll, bestenfalls als Wahlkampf-Losung taugt, aber

nicht wirklich politikfähig ist. Um aus der gegenwärtigen Sackgasse im Afghanistan-Diskurs

herauszukommen, muss dieser von der offiziell verordneten Tabuzone befreit und landesweit

sowie zwischen allen politischen Lagern und gesellschaftlichen Bewegungen offen geführt

werden.

Siebentens kann die Abzugsfrage nicht nur aus dem Blickwinkel eines deutschen Rückzugs

beantwortet werden, da ein solcher Abzug am Krieg und an der Konfliktlage in Afghanistan

nichts ändern würde. Für eine verantwortungsvolle deutsche Politik kann auch nicht entschei-

dend sein, ob das Image der NATO bei einem Abzug beschädigt wird – der Image-Verlust

wird in absehbarer Zeit ohnehin unvermeidlich. Das Bündnis ist den USA 2001 kopf- und

konzeptionslos in diesen Krieg gefolgt, es wird auch mit den Konsequenzen leben müssen.

In der ganzen deutschen Abzugsdiskussion fehlt die ernsthafte Auseinandersetzung mit der

Frage, was nach einem Abzug der Truppen aus den – trotz aller in Afghanistan gemachten

Fehler – dennoch existierenden und noch schwachen zivilgesellschaftlichen demokratischen

Kräften werden soll. Will man sie den Taliban und auf eigene Rechnung operierenden pash-

tunischen Raub- und Mordmilizen zum Abschlachten überlassen, oder fasst man den erneuten

Exodus dieser Menschen ins Ausland ins Auge, womit der reaktionärste Teil der afghanischen

Gesellschaft sein Ziel auch erreicht hätte und der Terrorismus in Afghanistan fröhliche Ur-

ständ feiern könnte? Sind wir bereit, einen solchen Preis für den Abzug unserer Truppen zu

zahlen? Die Frage erhebt sich nicht von ungefähr, da Äußerungen aus dem Umfeld von Ba-

rack Obama vermuten lassen, dass bei einem ausgehandelten Rückzug der USA aus Afghanis-

tan ohne gravierenden Gesichtsverlust die Vereinigten Staaten einen islamistischen Staat tole-

rieren würden.

Es muss der Bevölkerung Deutschlands und auch der Afghanistans somit nachvollziehbar und

akzeptierbar eine Antwort auf die Frage gegeben werden, was nach einem Truppenabzug in

Afghanistan getan werden muss, um einen erneuten Rückfall des Landes in die totale Barbarei

und die damit verbundene Formierung eines islamistischen Blocks vom Persischen Golf bis

an die Westgrenze Indiens zu verhindern. In dieser Frage hat auch die Linke einen erhebli-

chen Klärungs- und Erklärungsbedarf und die Pflicht, nicht nur eine linke, sondern auch eine

realistische Position zu beziehen. Realismus in der Afghanistan-Frage kann aber nicht auf

deutsche politische Interessen reduziert werden, sondern muss notwendigerweise die konkrete

Lage in Afghanistan einschließen. Wenn das aber so ist, dann ist die Forderung nach einem

sofortigen Truppenabzug unrealistisch. Der Abzug kann nur als ein zeitlich gestreckter, ge-

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ordneter Rückzug auf der Grundlage eines in Deutschland konsensfähigen politischen Kon-

zepts erfolgen. Und eben dieses Konzept ist gegenwärtig in keinem politischen Lager vorhan-

den. Auch die Linke hat über die Forderung nach dem Abzug hinaus kein eigenes strategi-

sches Konzept vorgelegt, das die erforderlichen Maßnahmen, die zu erwartenden Konsequen-

zen, einen realisierbaren Zeitrahmen und die von den Linken zu fordernden Paradigmen einer

deutschen Nachkriegspolitik in und gegenüber Afghanistan ausweist. Solange dies nicht ge-

schieht, wird die Linke ein einsamer und erfolgloser Rufer in der Wüste sein oder selbst von

Steinmeier oder Westerwelle überholt werden.

Um Missverständnisse auszuschließen: Wenn ich von einem eigenen Konzept spreche, dann

meine ich nicht ein Modell der Linken für Afghanistan – das ist die ureigenste Angelegenheit

der Afghanen, und die heutigen Konsequenzen der Einsetzung eines Regimes von außen Ende

2001 durch die USA sind für jeden sichtbar – sondern ein eigenes Konzept, wie eine die af-

ghanischen Realitäten berücksichtigende konstruktive und dem Frieden in diesem geschunde-

nen Land dienende deutsche Afghanistan-Politik aussehen müsste; und exakt in diesem Kon-

text gewinnt die Abzugsforderung ihren Sinn. Dabei ist unübersehbar, dass nur ein konkretes

und einforderbares Konzept der Linken und eine damit angestoßene allgemeine Debatte die

deutsche Regierung unter Handlungsdruck setzen kann und wird. Und um es zum Schluss

noch einmal deutlich und unmissverständlich zu sagen: Wer nur nach sofortigem Abzug ruft

und damit implizit meint: „Nach uns die Sintflut in Afghanistan“, verlässt schlicht und ergrei-

fend den Boden des Internationalismus.

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Dr. Arne C. Seifert, Botschafter a. D.:

Für ein Ende des NATO-Krieges und eine politisch-diplomatische Regelung in Afghanis-

tan

Am 1. Dezember verkündete US-Präsident Barack Obama in der Eisenhower Hall vor der

United States Military Academy in West Point, New York, die neue Strategie für den weiteren

Umgang seiner Administration mit dem von Bush begonnenen und der NATO weiter geführ-

ten Krieg in Afghanistan. Abzug der amerikanischen Truppen ab Juli 2011 bei vorheriger

Verstärkung der amerikanischen Truppenpräsenz um bis zu 30.000 Soldaten und „nach 18

Monaten beginnen unsere Truppen ihre Rückkehr”, erklärte Obama.1

Als Kernelemente seiner Strategie bezeichnete er: Al Kaïda das Hinterland in Afghanistan

und Pakistan zu entziehen; den Taliban die Initiative zu entreißen, um sie an einem Sturz der

afghanischen Regierung zu hindern; die Kapazitäten der afghanischen Sicherheitskräfte und

der Regierung zu stärken, damit diese die Führungsverantwortung für die Zukunft Afghanis-

tans übernehmen können. Auch wolle er die afghanische Regierung darin unterstützen, „jenen

Taliban die Tür zu öffnen, die sich von Gewaltanwendung lossagen.“2

Soweit bisher erkenntlich, drehen sich in NATO- und auch deutschen Regierungskreisen die

Erörterungen des weiteren Umgangs mit ihrem Afghanistan-Debakel um eine „Stärkung af-

ghanischer Eigenverantwortung.“ Insofern stimmen sie mit denen Obamas überein. Sie fassen

aber den Begriff „afghanische Eigenverantwortung“ gefährlich eng, indem sie diesen reduzie-

ren auf die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte und die Stärkung deren Einsatzwertes

mit der Begründung, der Gefahr einer Machtübernahme durch die Taliban und Al Kaïda vor-

zubeugen und dafür den Krieg gegen die innere Aufstandsbewegung vor allem von gestärkten

afghanischen Streitkräften führen zu lassen.

Strategie-Dilemma und europäisches Schweigen

Diese Einengung sowie das inhaltliche Schweigen europäischer und deutscher Politik zu

Obamas Strategie wecken jedoch den Verdacht, dass sie nicht weiß, wie sie mit der Kernfrage

ihres Afghanistandebakels umgehen soll, welche der frühere US-Sicherheitsberater (1977-

1981) Zbigniew Brzezinski so formuliert: „However, a NATO pullout, even if not formally

1 The White House, Office of the Press Secretary, December 01, 2009, Remarks by the President in Ad-dress to the Nation on the Way Forward in Afghanistan and Pakistan, Eisenhower Hall Theatre, United States Military Academy at West Point, West Point, New York. 2 Ebenda. Übersetzung des Verfassers.

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declared, would be viewed worldwide as a repetition of the earlier Soviet defeat in Afghanis-

tan. It would almost certainly prompt bitter transatlantic recriminations, would undermine

NATO's credibility…” (Wenn die NATO sich herauszieht, zumal wenn dies nicht offiziell

erklärt wird, würde dies in der ganzen Welt als eine Wiederholung der sowjetischen Niederla-

ge in Afghanistan angesehen werden. Das hätte wohl beinahe sofort gegenseitige transatlanti-

sche Anschuldigungen zur Folge und würde das Ansehen der NATO unterminieren...)3 Um

dieses zentralen Ziels willen gibt Brzezinski sogar „frühere Ideen von der Schaffung einer

modernen Demokratie in einer Gesellschaft“ auf, „in der lediglich der urbane Raum mehr

oder weniger quasi-modern ist, während der ländliche in vieler Hinsicht eher mittelalterlich

bleibt.“4 Auch diese Erkenntnis war unter Experten hinlänglich bekannt, was die Bundesre-

gierung allerdings nicht davon abhielt, der Öffentlichkeit die Demokratisierung Afghanistans

als Begründung für die Richtigkeit und Notwendigkeit ihrer Afghanistan-Strategie sowie

deutscher Militärpräsenz am Hindukusch – und so ein unerreichbares Ziel – darzustellen.

Grundsätzlicher dürfte das Spannungsfeld zwischen europäischen und deutschen Sicherheits-

politikern und Obamas Überlegungen in solchen Fragen sein, in denen diese auf eine Revision

der aggressiven Weltmachtpolitik der Bush-Administration hinauslaufen, an die die EU mit

ihrer „Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (ESVP) ankoppelte. Hierbei dien-

te ihr die so genannte Antiterror-Strategie als „allgemein verständlicher“ Vermittler, um Eu-

ropäern und Deutschen das Schlucken der „Verteidigung am Hindukusch“ schmackhaft zu

machen.

Für die Regierenden der Bundesrepublik, eine solche These muss wohl auch in die Afghanis-

tan-Debatte geworfen werden, erwies sich die Antiterrorstrategie als ein „Geschenk des

Himmels.“ Das trifft insbesondere auf substantielle Teile der vorigen Bundesregierung zu, die

sich mit Überlegungen trugen, die Bundesrepublik in eine neue gesellschaftspolitische Quali-

tät zu lenken, die sie mit der Begrifflichkeit von der „Wehrhaftigkeit Deutschlands nach Au-

ßen und Innen“5 charakterisierten. „Ein völlig neues Verständnis von Sicherheitspolitik“6,

Aufgeben der „Trennung von innerer und äußerer Sicherheit“7 „Einsatz der Bundeswehr im

Inneren“8, keine „außenpolitische Zurückhaltung“9, Freigabe des „Einsatzes militärischer

3 Brzezinski, An Agenda for NATO, Foreign Affairs, New York, October/November 2009, page 8, online edition. 4 Ebenda. 5 Eine Sicherheitsstrategie für Deutschland, Beschluss der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 6. Mai 2008. www.cducsu.de. 6 Ebenda. 7 Ebenda,S. 2. 8 Ebenda, S. 4. 9 Ebenda.

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Mittel“ zur „Herstellung von Energiesicherheit und Rohstoffen, …zur Sicherung von anfälli-

gen Seehandelswegen oder von Infrastruktur wie Häfen, Pipelines, Förderanlagen etc.“10

Solche schon von ihrer Terminologie her höchst suspekten Absichten auszusprechen, ge-

schweige denn als neue „Sicherheitsstrategie für Deutschland“ zu beschließen, hätten regie-

rende Parteien der Bundesrepublik zur Zeit der „2+4“-Verhandlungen über die Bedingungen

der Zustimmung zur deutschen Einheit nie und nimmer gewagt! Denn sie wussten, dass ton-

angebende NATO-Partner ein „Wiedererstarken“ Deutschlands fürchteten. Jedoch, Jahre nach

2+4 und dem 11. September, erwies sich für sie die Antiterrorstrategie als so hilfreich, dass

sie die äußeren und inneren Beschlussspielräume für einen tiefer gehenden Politikwechsel in

der Bundesrepublik für weit genug halten. In der NATO forderte man deutsche Regierungen

ja geradezu auf, Deutschlands „Wehrhaftigkeit“ zu erhöhen und global unter Beweis zu stel-

len.

Bei alle dem spielte und spielt Afghanistan eine zentrale Rolle. Die von niemandem bestreit-

bare Notwendigkeit, Terror zu bekämpfen, erwies sich als derart medienfähig, dass „man“ mit

ihr die „Argumentationshoheit über die Strasse“ erringen konnte. Vorausgesetzt, „man“

klammerte Kernfragen der Ursachen und des Umgangs mit Terror, vor allem jenes aus dem

islamischen Bereich, bewusst aus der öffentlichen Debatte aus. So die nie gestellten Fragen

nach dem politischen Kern jenes neuen Konfliktes und seiner Regelbarkeit auf friedlichem

Wege. Dabei entbehren diese Fragen nicht weniger der Logik als die Notwendigkeit, Terror

zu bekämpfen. Wenn es nämlich richtig ist, wie behauptet wurde und wird, dass es sich beim

Konflikt mit islamistischem Terrorismus um einen „neuen“ Konflikt-, ja Kriegstyp handelt,

weil es die Bundesrepublik und der „christliche Westen“ (unter Verweis auf die asymmetri-

schen Kampfmittel und -methoden des „Feindes“) mit einem neuen Typ von Gegner zu tun

haben, dann wäre es doch richtig zu schlussfolgern, dass auch nach einem neuen Typ von

Frieden gesucht werden müsste. Letzteres setzt allerdings voraus, dass Frieden gewollt ist.

„Schließlich gibt es Opponenten“, so Obama in West Point, „die dagegen sind, dass wir uns

für unseren Übergang zur Eigenverantwortung Afghanistans auf einen Zeitrahmen festlegen.

In der Tat, einige sprechen sich für eine dramatischere Eskalation unserer militärischen An-

strengungen mit offenem Ende aus, für eine Eskalation, die uns in ein jahrzehntelanges Staats-

formungsprojekt verwickeln würde. Das lehne ich ab, weil ein solcher Kurs Ziele absteckt,

die nicht zu einem vernünftigen Preis zu haben sind und die nicht unseren Interessen entspre-

chen… Klarheit muss darüber bestehen, dass die Afghanen für ihre Sicherheit Verantwortung

zu übernehmen haben und Amerika nicht daran interessiert ist, in Afghanistan endlos Krieg

10 Ebenda, S. 6.

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zuführen… Wir können es uns einfach nicht leisten, den Preis zu ignorieren, den solche Krie-

ge kosten… Amerika hat seine Stärke zu demonstrieren durch Wege aus Kriegen heraus und

der Konfliktprävention dienenden – und nicht dadurch, wie wir Kriege führen…Wir müssen

zur Diplomatie greifen, weil kein Volk allein die Herausforderungen einer interdependenten

Welt Schultern kann. Und wir haben einen Neuanfang zwischen Amerika und der muslimi-

schen Welt eingeleitet.“11

Mit oben zitierten Elementen seiner Begründung für die Notwendigkeit eines Wechsels der

Afghanistan-Strategie beginnt Obama Grundprämissen der „Antiterrorstrategie“ zu hinterfra-

gen, die die Transatlantische Allianz unter der Bush-Adminstration auch zu ihrem Allgemein-

gut machte: Inspiration vom „Clash of Civilisations“, Verweis auf eine zivilisatorische Be-

drohung durch islamistischen Terror, Umwandlung des 11. September in einen NATO-

Bündnisfall, VN-Mandat verbrämtes Verwickeln der NATO in einen realen Krieg (Afghanis-

tan). Von hier aus schlug die Aggressivität der internationalen Politik der Bush-Regierung auf

die Außenpolitik des gesamten Westens durch: Die „politische Neuordnung“12 des Greater

Middle East in einem neuen Verständnis, das nicht nur Afghanistan, sondern auch den Kauka-

sus und Zentralasien einschließt. Doch es ist gerade jene Strategie, die in allen islamischen

Regionen die antiwestliche Stimmung vertieft und zu mehr islamistischem Radikalismus

führt.

Die erst noch bevorstehende Debatte um eine neue Afghanistanstrategie erweist sich somit als

eine komplexe Angelegenheit, in der sich mehrere Ebenen überschneiden: Erstens die

engstens mit der Friedensfrage verbundene Problematik des gegenwärtigen und zukünftigen

internationalen Verhaltens der europäischen Regierungen. Bei diesen verflechten sich nicht

unbegründete Befürchtungen, dass die gemeinsam mit Bush verfolgte Antiterrorstrategie sich

als das entpuppt, was sie wirklich war und ist – ein gigantisches politisches Manöver zum

Vollzug eines außen- und sicherheitspolitischen Strategiewechsels. Doch wird er dem Ge-

gendruck aus einem sich verändernden internationalen Kräfteverhältnis heraus nicht standhal-

ten. In dem Maße, in dem eine sich dynamisierende Konkurrenz zwischen alten Großmächten

(USA, EU, Japan) und neuen, ihnen Paroli bietenden aufsteigenden Mächten (BRIC-

Gruppe13) entfaltet, wird internationales Verhalten nach alten hegemonialen Polaritätssche-

mata sich nicht länger bewähren. Vielmehr wird das neue Umfeld von „Nichtpolarität“ von

gewaltsam nicht zu regelenden Konflikten geprägt sein, das die Bedeutung von Politikinstru-

11 A.a.O. 12 Perthes, Volker, Greater Middle East, Geopolitische Grundlinien im Nahen und Mittleren Osten, Blätter für deutsche und internationale Politik, 6/2004, S. 684. 13 BRIC-Staaten: Brasilien, Russland, Indien, China.

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menten der friedlichen Koexistenz erneut steigen lässt. Also hat Politik der Konfliktvermei-

dung ein ganz zentrales Grundprinzip zu beachten: Alle Seiten müssen bedingungslos demo-

kratisch miteinander umgehen. Zu Letzterem steht die gerade erst entwickelte, aber von den

internationalen Realitäten, nicht zuletzt von denen des Widerstands gegen die hegemoniale

Attitüde des Westens, schon überholte Strategie in krassem Gegensatz. Die „transatlantischen

Beziehungen als Kern der internationalen Ordnung“14 durchzusetzen wird so, wie gedacht,

nicht mehr funktionieren.

Zweitens ist die friedliche Regelung der Afghanistanproblematik anzugehen. Drittens geht es

um eine „Entfeindung“ des Verhältnisses zwischen dem Westen und der islamischen Welt,

wozu eine einvernehmliche Stabilisierung der Regionen um Afghanistan gehört.

Übergang zu friedlicher Regelung der Afghanistanproblematik

Friedenspolitik sollte jener inhaltlichen Engfassung des Begriffs „afghanische Eigenverant-

wortung“, wie sie in der NATO im Sinne einer Stärkung afghanischer Streitkräften mit dem

Ziel der Übernahme des Krieges gegen die innere Aufstandsbewegung erörtert wird, nicht

folgen. Dafür sprechen folgende Argumente:

1. Mit einer solchen Orientierung wird die Prioritätensetzung auf einen innerafghani-

schen Krieg nicht außer Kraft gesetzt. Vom Kriegsweg wegzuführen, gerade darauf

kommt es an. Denn dieser Weg hat, wie jeder Krieg, bereits eine unkontrollierbare Ei-

gendynamik entwickelt, die eine Ausweitung des Krieges auf Pakistan bewirkte. Wo-

hin sie noch führen könnte, ist überhaupt nicht absehbar. Deshalb ist jene Dynamik

schnellstens zu unterbrechen.

2. In Afghanistan haben wir es seit Längerem zunehmend erneut mit einem innerafghani-

schen Konflikt zu tun. Der Beweis dafür ist der zunehmende militärische Erfolg der

Taliban und einer wachsenden Anzahl weiterer Widerstandsgruppen, der ohne eine

sich ausweitende innere Unterstützung aus der Gesellschaft nicht möglich wäre.

3. Das Antreten des tadschikischen Politikers Abdullah Abdullah gegen Präsident Karzai

im letzten Wahlkampf und dessen Ausmanövrieren durch den Wahlbetrug Karzais

lässt darauf schließen, dass die tadschikische Karte erneut aktiver ins Spiel kommt,

womit sich damit die ethno-politischen Widersprüche in Afghanistan weiter zuspitzen.

4. Im Zentrum jener ethno-politischen Widersprüche steht, wie Prof. Weidemann aus-

führlich beschrieb, die „ewige“ afghanische Kernfrage: die nach dem Verhältnis zwi-

14 Identifying and Understanding Threats from the EU’s Perspective: Points to Discuss in Solana’s Strat-egy Document, Working document prepared for The Rome international workshop on the EU’s Security Strat-egy, Aspen Institute, Italia, September 19, 2003 – Palazzo Salvati, Rome, S. 3.

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schen der Zentralmacht und den anderen regionalen und nationalen Zentren. Diese

Frage ließ die NATO-Strategie ungeregelt. Die Installation von Karzai durch fremde

Mächte hat sie sogar noch verkompliziert. Jene Frage ist durch eine von fremden

Mächten (NATO) geschaffene zentrale afghanische Armee, die in die Hände einer von

den gleichen externen Mächten geschaffenen afghanischen Zentralmacht gelegt wer-

den soll, nicht zu lösen. Da diese Armee nunmehr mit dem Ziel gestärkt werden soll,

den Krieg gegen die Taliban fortzuführen, läuft die angedachte NATO-Strategie auf

eine Internisierung des Krieges hinaus, den die Staaten der Allianz nicht gewinnen

können. Aber auch nicht die afghanische Armee. Wäre sie vornehmlich aus der pasch-

tunischen, ethnischen Anhängerschaft Karzais rekrutiert, so könnte sie früher oder

später von den Taliban umgedreht werden. Wäre sie eine multi-ethnische Armee, so

würde es nicht gelingen, sie einem zentralstaatlichen Gewaltmonopol unterzuordnen.

Die Grundlagen für Letzteres würden erst durch eine von allen ethno-politischen

Gruppen nach demokratischen Prinzipien aus der Taufe gehobenes und funktionieren-

des föderales Staatssystem entstehen. Dazu bedarf es jedoch eines innerafghanischen

Regelungsprozesses.

5. Friedenspolitik sollte daher auf die sofortige Aufnahme eines innerafghanischen Rege-

lungs- und Friedensprozesses orientieren, in den die Taliban ohne Vorbedingungen

einbezogen werden. Wenn sie zuvor den Abzug der ausländischen Streitkräfte fordern,

so sollte im Interesse der Dringlichkeit und Unaufschiebbarkeit der Friedensfrage in

Afghanistan darauf eingegangen werden. Bei gutem Willen aller Seiten lassen sich da-

für entsprechende Modalitäten erarbeiten und vermittelnde Verhandlungsformate fin-

den. Insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass sich eine solche Forderung auf den

Abzug von ISAF (NATO) sowie Enduring Freedom bezieht, nicht aber auf den Ein-

satz anderer Streitkräfte, so unter VN-Mandat, die einen Regelungsprozess militärisch

absichern.

6. Die Frage einer Veränderung von Status und Mandat von ISAF (NATO) und Endu-

ring Freedom, insbesondere aber ihrer militärischen Rolle in Afghanistan, ist für einen

innerafghanischen Regelungsprozess von essenzieller Bedeutung. Das ergibt sich dar-

aus, dass beide durch ihre militärische Verwicklung im innerafghanischen Konflikt

nicht nur Kriegsseite, und damit Teil dieses Konfliktes sind, sondern auch zu einer

seiner zentralen Ursachen wurden.

Es ist diese Verwobenheit von inneren afghanischen und externen Konfliktursachen,

die zu der Schlussfolgerung führt, dass ein alternativer Ansatz in der Forderung nach

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einer friedlichen Regelung des Afghanistankonflikts in seiner Gesamtheit von inneren

und äußeren Ursachen drängen muss.

Für diese Forderung spricht weiterhin die schlechte militärische Situation, in der sich ISAF

(NATO) und Enduring Freedom befinden sowie die Anerkennung dessen, dass der Krieg ge-

gen den afghanischen Widerstand militärisch nicht zu gewinnen ist.

Win-Win-Lösung

Diese Einschätzung weckt die Erinnerung an eine in Konfliktregelungen approbierte Weis-

heit: In einem mit der Waffe nicht gewinnbaren Konflikt kann es keine militärischen Sieger

geben. Wer trotzdem kein Verlierer sein will, muss sich zu einer Lösung entscheiden, in der

alle Sieger sind. Da aber selbst ein militärisches Patt keine Sieger hat, liefert den Siegeslor-

beer nur der Friedensschluss. Nur er erschließt den Seiten die Chance, doch noch ihr Gesicht

zu wahren – als politische Sieger. Bekanntlich wird eine solche Friedensregelung „Win-Win“-

Lösung genannt.

Ein Beispiel dafür, wie das funktionieren kann, lieferte die Regelung des Bürgerkriegs (1992-

97) im Afghanistan benachbarten Tadschikistan mit einer (noch immer nicht offizialisierten)

Opferzahl von nahezu 200.000 Toten und Verletzten.

Auch hier hatten sich die beiden Kriegsseiten international und im eigenen Volke diskreditiert

und isoliert: eine säkulare Regierung und eine Vereinigte Tadschikische Opposition, deren

islamistischer Kern mit 6.000 Mujaheddin von Afghanistan aus für ein islamisches Tadschiki-

schen stritt. Eine VN-vermittelte „Win-Win“-Lösung ermöglichte ihnen jedoch, nicht als Ver-

lierer dazustehen. Es gab nur einen Gewinner: Das tadschikische Volk, dem beide Seiten an-

gehörten, aus dem sie kamen und dem sie Rede und Antwort zu stehen hatten.

Während die Beendigung des Bürgerkriegs in Tadschikistan das Bespiel erfolgreicher Frie-

densstiftung durch externe Akteure15 darstellt, ist die NАТО-Intervention in Afghanistan das

Beispiel des Gegenteils. Was direkt zu der zentralen Frage nach den Motiven unterschiedli-

chen Vorgehens der externen Akteure führt: im Falle Tadschikistans der VN, OSZE, Russ-

lands, Irans und der anderen zentralasiatischen Staaten, im afghanischen Szenarium der USA

sowie der NATO-Staaten.

Im Fall Afghanistan ging der Militärintervention der USA und danach der NATO ein von Al

Kaïda gesteuerter Terrorangriff auf die USA voraus. Weiter lag ihr die nicht unberechtigte

Befürchtung zugrunde, dass der Verbleib der Taliban an der Macht Afghanistan zur staatlich

gestützten Basis von internationalem islamistischen Terrorismus machen würde. Dieser Kon-

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text führte in der NATO zur Verkündigung des Bündnisfalls und sodann zu ihrer Mandatie-

rung durch die Vereinten Nationen (ISAF-Mandat vom 20. Dezember 2001, Res. SC 1386).

Im Fall Tadschikistan lag kein nach außen gerichteter Angriff vor, der eine oder mehrere

Staaten zu militärischer Intervention in Tadschikistan hätte veranlassen können. Das erleich-

terte es den VN, sich bei ihrer Konfliktregelung auf friedliche Mittel zu konzentrieren. Die

Motivation der externen Akteure war eine dreifache: 1. Eine humanitäre: Beendigung der

Kampfhandlungen, Schutz der Zivilbevölkerung, Eindämmung von Flüchtlingsströmen. 2.

Eine friedensstiftende: schnellstmögliche Rückkehr zu friedlichen Bedingungen im Land

durch das Schaffen eines Gesprächsformats für die Beendigung aller Kampfhandlungen, die

Aufnahme von Friedensverhandlungen und die Regelung der Konfliktursachen. 3. Eine si-

cherheitspolitische: einer regionalen Ausweitung des Konflikts vorzubeugen. Weshalb die

Nachbarn von vornherein in die Konfliktbearbeitung einbezogen wurden.

Die Motivation der externen Seiten in beiden Konflikten führt zu folgendem grundsätzlichen

Unterschied:

Im tadschikischen Beispiel verschaffte das Motiv der VN und der Nachbarstaaten,

nämlich der Verantwortung gegenüber der Zivilbevölkerung sowie regionale Kon-

fliktprävention, den Verhandlungsführern der VN das hohe Prestige neutraler, allge-

mein anerkannter Friedenstifter. Die VN betrieben Friedensstiftung gegenüber einem

souveränen Staat.

Im afghanischen Beispiel führen die Motive der so genannten Antiterrorstrategie, in

welcher der Krieg gegen die Taliban zu einer vorrangigen Aufgabe wurde, zu einem

militärischen Interventionskonzept, das die NATO-Staaten zur inneren und regionalen

Konfliktpartei und als Problemlöser ungeeignet machen, denn sie sind Teil der Prob-

leme in Afghanistan, ja inzwischen sogar mit deren Ursache. Von einem Militärpakt

des Westens kann nichts Anderes erwartet werden, als dass er sich von den Interessen

des Westens leiten lässt. Damit kann er nicht neutral sein.

Diese grundsätzlich unterschiedlichen Konzepte bewirkten in beiden Konflikten auch grund-

sätzlich verschiedene Verhaltensweisen der externen Akteure und unterschiedliche Politiker-

gebnisse.

Im tadschikischen Bürgerkrieg war Hauptziel die friedliche Konfliktregelung.

Das Vorgehensschema soll hier anregend vorgestellt werden: In Tadschikistan gingen die VN,

OSZE und die einflussreichsten regionalen Staaten (Russland, Iran, Afghanistans Regierung

15 Der Verfasser war als Mitglied der OSZE-Mission in Tadschikistan und OSZE-Beobachter ad interim 1996 – 97 bis zum Friedensschluss Zeuge dieses Prozesses.

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unter Rabbani, USA, Deutschland für die EU, die zentralasiatischen Staaten, Pakistan, Indien,

Türkei, China) wie folgt vor: 1. Russland, Usbekistan und Iran erzwangen eine erste Ge-

sprächsrunde der beiden Konfliktseiten im April 1994. An ihr beteiligten sich weiter Kasachs-

tan, Kyrgyzstan, Pakistan und Afghanistan. Das heißt, die Verhandlungen wurden von vorn-

herein in einen breiten internationalen und regionalen Kontext gestellt. In dieser ersten Runde

verständigten sich die Konfliktseiten über die Prioritäten von Friedensgesprächen: Einstel-

lung der Kampfhandlungen; Waffenstillstand; Auflösung informeller bewaffneter Einheiten;

Flüchtlingsfrage; politische Zukunft Tadschikistans. Diese Verhandlungen nahmen die Gestalt

eines kontinuierlichen aber widersprüchlichen und schmerzvollen Prozesses von „Gesprächen

und Schießen“ an, der bis zur Unterzeichnung der abschließenden Vereinbarungen am 27.

Juni 1997 in Moskau dauerte.

2. Etablierung einer VN-Beobachtermission (Beschluss des VN-Sicherheitsrates vom 16. De-

zember 1994). Deren Aufgabe war die Vermittlung und Moderation der Friedensverhandlun-

gen, Beobachtung der Einhaltung bzw. Verletzung des Waffenstillstands durch VN-

Militärbeobachter. Die OSZE widmete sich dem politischen Ausgleich im Inneren Tadschi-

kistans. Die VN verzichteten bewusst auf ein bewaffnetes Eingreifen.

3. Die Verhandlungen wurden im Laufe des Friedensprozesses auf die Führungsebene geho-

ben. Blockierungen am Verhandlungstisch konnten so durch Präsident Rahmonov und den

Führer der islamischen Opposition Nuri immer wieder in bindender Weise aufgelöst werden.

4. Im Zentrum der Verhandlungen über die politische Zukunft Tadschikistans standen: die

Vertretung der oppositionellen Regionen in den Regierungsstrukturen; Machtteilung nach

einem 30-Prozent-Anteilsquotienten für die Opposition; Integration der bewaffneten Opposi-

tionsstreitkräfte in die tadschikische Armee; Amnestie für Kriegsverbrechen, mit Ausnahme

von Mord und Völkermord.

5. Für die Fortsetzung der Verhandlungen über ungeklärt gebliebene Probleme auch noch

nach den Moskauer Vereinbarungen 1997 wurde eine Übergangsperiode bis zu ersten Parla-

mentswahlen (im Jahre 2000), eine „Kommission der nationalen Aussöhnung“ sowie eine

„internationale Kontaktgruppe“ für die Begleitung und Überwachung der Übergangsperiode

geschaffen.

In Afghanistan hätten die Träger des VN-Mandats, also die NATO-Staaten, spätestens in dem

Moment ihre Strategie auf „nationale Aussöhnung“ umorientieren müssen, als die Taliban als

militärische Kraft weitgehend ausgeschaltet waren und die „Bonner Roadmap“ gegen Ende

2005 als erfüllt deklariert wurde. Auf die Einbindung der Taliban in einen Friedensprozess

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wurde jedoch bewusst verzichtet. Hingegen wurde eine einseitige Konstruktion entworfen aus

Nordallianz (weil diese 2001 aus innerafghanischen Machterwägungen heraus die US-

Intervention unterstützte), der Peshawargruppe und dem ehemaligen afghanischen König Za-

hir Shah, die unter den spezifischen, multi-ethnischen Bedingungen Afghanistans von vorn-

herein zum Scheitern verurteilt war und zerfiel, wie auch die eingesetzte Regierung Karzai

niemals in die Rolle eines „Zentralstaats“ hineinwachsen konnte.

Heute reicht es nicht mehr aus, die Verantwortung für die extrem schlechte Situation in Af-

ghanistan allein an Warlords, ethnische Rivalitäten, Opium oder islamistischen Extremismus

zu delegieren. Sie ist vielmehr ganz wesentlich ein direktes Ergebnis der NATO-Intervention

in Afghanistan und des Paradigmenwechsels, dem der Charakter und Inhalt von Friedensstif-

tung und nationaler Aussöhnung, so, wie am tadschikischen Beispiel dargestellt, durch die

Antiterrorstrategie der Transatlantischen Allianz ausgeliefert wurden. Diese politische Ziel-

wandlung ist insofern von größter Relevanz für die Regelung des Afghanistanproblems, als

sie den Charakter des Afghanistaneinsatzes und damit auch der VN-Mandatserfüllung grund-

sätzlich verändert.

Eine Überprüfung des ISAF-Mandats durch die Vereinten Nationen wäre daher angesichts der

Dringlichkeit einer friedlichen Regelung des Afghanistan-Konflikts angebracht. Vor allem

auch als eine nötige Warnung, dass mit der Politik innerer und äußerer Interventionen, des

Aushebelns kollektiver Sicherheit, der Hegemonie und des „Regime Change“ in der internati-

onalen Politik der falsche Weg eingeschlagen wurde. Es gilt den Beweis anzutreten, dass nur

Diplomatie und politischer Kompromiss vernünftige Auswege bieten, auf denen unter sich

verändernden internationalen Kräfteverhältnissen zukünftig Gesichtsverlusten ausgewichen

werden kann.

Worin könnte in der Afghanistanfrage ein solcher Ausweg liegen?

Womit zu der anfänglichen „Weisheit“ vom Ausweg in Gestalt einer „Win-Win“-Lösung zu-

rückgekehrt wird. Womit beginnen?

Die NATO müsste von den VN von ihrem Afghanistanmandat entbunden werden. Die Be-

gründung lautet: Scheitern all ihrer bisherigen Instrumente.

Eine dementsprechende Initiative müsste politisch folgende Ziele verfolgen:

1. Das Aufbrechen des Monopols eines westlichen Militärpaktes über die Regelung der

Afghanistanproblematik.

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2. Die Wiederherstellung der universellen Verantwortlichkeit der Vereinten Nationen für

die internationale Sicherheit und das Zurückführen dieser Verantwortlichkeit aus ihrer

Usurpierung durch eine Allianz westlicher Staaten.

3. Die Rückführung der Regelungshoheit der Probleme Afghanistans in die Kompetenz

des souveränen afghanischen Staates.

4. Den Entwurf eines neuen VN-Mandats, das die Vereinten Nationen in die Verantwor-

tung der Hauptträgerin internationaler und nationaler Bemühungen um eine Afghanis-

tanregelung zurückführt.

5. Ein neues VN-Mandat müsste vor allem die Erweiterung des internationalen und regi-

onalen Kontextes einer Regelung des Afghanistankonflikts vorsehen. Vor allem müss-

ten die benachbarten Staaten eine größere Rolle erhalten, insbesondere die zentralasia-

tischen Nachbarn Iran, Pakistan, Russland, China, Indien. Auch die SCO, die Islamic

Conference Organisation.

6. Die Einleitung eines inneren politischen Verhandlungsprozesses als Rahmen zur Er-

zielung einer „Win-Win“-Konstellation für alle inneren politischen, regionalen und re-

ligiösen Kräfte Afghanistans. Dabei dürfen die radikalen Kräfte nicht ausgeschlossen

werden, denn sie sind das Problem. Es muss sich also um einen Beginn ohne Vorbe-

dingungen handeln. Seitens der jetzigen externen Streitmächte könnte eine Bereit-

schaftserklärung zum Abzug aus Afghanistan eine fördernde Rolle spielen.

Schließlich geht es um erste inhaltliche Überlegungen zum Einstieg in den inneren politi-

schen Verhandlungsprozess. Dessen Inhalt müssen natürlich die afghanischen Seiten ge-

meinsam mit den VN erarbeiten. Aber folgende Stichpunkte könnten sicherlich als vor-

rangig gelten:

1. Die Erarbeitung von Prinzipien und Mechanismen einer inneren Stabilisierungsphase.

2. Die Behandlung militärischer Fragen (Waffenstillstand, Überwachung u.a.).

3. Die Erörterung der Fragen, die mit der politischen Zukunft Afghanistans zusammen-

hängen.

4. Die Wiederherstellung der afghanischen Wirtschaft.

5. Fragen eines rechtlichen Umgangs mit Kriegsverbrechen.

6. Inhalte einer Übergangsperiode und der Weg zur Konsolidierung.

7. Mandat und Zusammensetzung einer internationalen Kontaktgruppe.

Hinzu kämen weitere Fragen, die von afghanischer, regionaler und internationaler Seite für

wichtig gehalten werden.

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Entfeindung des Verhältnisses zwischen dem Westens und den islamischen Gesellschaften der

Region

Der Bereitschaft zu einer sofortigen Aufnahme von Gesprächen über eine friedliche Regelung

des Afghanistankonflikts sollte insbesondere die EU mit einer Erklärung an die islamischen

Völker zu einem Paradigmenwechsel mit Glaubwürdigkeit untermauern. Es wäre zu verdeut-

lichen, dass ein solcher Paradigmenwechsel den Beginn einer Politik bedeutet, die beruht auf

der Respektierung der Integrität der Zivilisation des Anderen; der Anerkennung der Unter-

schiedlichkeit seiner Gesellschaften und ihrer politischen Systeme; dem Recht auf einen

selbstbestimmten Entwicklungsweg, darunter einen sich am Islam orientierenden. Es geht um

ein solches Verhältnis zu den islamischen Nachbarregionen, das langfristig zu einem Modus

vivendi friedlicher Koexistenz und Zusammenarbeit führt.

Erst ein solcher Paradigmenwechsel könnte der Einstieg in die Vertrauensbildung sein, um die

tiefe anti-westliche Stimmung gerade in dieser Region abzubauen.

Die Bundesrepublik Deutschland sollte sich gegenüber dem Generalsekretär der Vereinten Natio-

nen für die Schaffung eines Systems der Sicherheit und Zusammenarbeit im nah- und mittelöstli-

chen Raum bzw. in Subregionen einsetzen. Ein solches System könnte aus regionalen Vereinba-

rungen bestehen, welche zum einen die Region des Persischen Golfes und zum anderen die südli-

chen Mittelmeeranrainer erfassen. Angesichts latenter Spannungen zwischen verschiedenen Staa-

ten der Region, empfundener oder tatsächlicher Sicherheitsdefizite, die aus Erfahrungen früherer

Kriege herrühren, der Existenz von Atomwaffen, militärischen Ungleichgewichten, nahezu perma-

nenter äußerer militärischer Präsenz erscheint es dringend geboten, sich in dieser Region für eine

„Ordnung friedlicher Koexistenz“ einzusetzen. Es gilt zu verhindern, dass Streitfragen und Ausei-

nandersetzungen einen militärischen Verlauf einschlagen könnten.

Gegenüber Iran sollte sich die Bundesregierung zu einer diplomatischen Initiative entschlie-

ßen, die von der Notwendigkeit und Möglichkeit ausgeht, die Regelung der Schlüsselelemente

der gegenwärtigen Krise um die iranische Atompolitik miteinander zu verkoppeln. Diese sind

einerseits das von der iranischen Führung wahrgenommene Sicherheitsdefizit und andererseits

deren wiederholte Versicherung, nicht nach atomaren Waffen zu streben. Die Verkoppelung

jener beiden Schlüsselelemente ließe folgende Regelungskonstruktion zu: Der Westen nimmt

die iranische Führung beim Wort und geht auf deren erklärte Bereitschaft ein, Urananreiche-

rung nicht für die Entwicklung von Atomwaffen zu nutzen. Als Gegenleistung räumt der

Westen die Sicherheitsbefürchtungen der iranischen Führung hinsichtlich einer westlichen

Intervention aus.

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Die Regelung des Konflikts in der Atomfrage sollte durch eine Grundsatzvereinbarung über

die Konsolidierung des Verhältnisses zur Islamischen Republik Iran flankiert und erleichtert

werden. Eine solche Vereinbarung dient der dauerhaften Vertrauensbildung. Sie soll die Be-

ziehungen auf gegenseitig annehmbare Prinzipien und berechenbare Grundlage begründen.

Insgesamt bestehen folglich alternative Handlungsmöglichkeiten, um den Afghanistankonflikt

friedlich zu regeln und im Kontext damit zu einer gemeinsamen Politik zu gelangen, welche

Wege zu einer Stabilisierung der Region zu öffnen hilft.

Die ernsten Belastungen im Verhältnis der islamischen „Welt“ zum „Westen“ und, als ihr

Auswuchs, die Grundlagen des heutigen Terrorismusdilemmas sind in einem langen histori-

schen Prozess gewachsen, der bis in Europas Epoche kolonialer Dominanz zurückreicht. Es

wird eines längeren Prozesses bedürfen, diese Belastungen auszuräumen. Doch dieser Prozess

muss jetzt begonnen werden. Konkrete Handlungsmöglichkeiten bestehen!