DER PROPHET - Karlsruhe

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DER PROPHET

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DERPROPHET

DER PROPHETOper in fünf Akten von Giacomo MeyerbeerLibretto von Eugène Scribe und Émile DeschampsIn französischer Sprache mit deutschen & englischen Übertiteln

Jean van Leyden ERIK FENTON a. G. / MARC HELLER a. G.Fidès, seine Mutter GIOVANNA LANZA a. G. / Ks. EWA WOLAKBerthe, seine Verlobte Ks. INA SCHLINGENSIEPEN / AGNIESZKA TOMASZEWSKAZacharias AVTANDIL KASPELI / LUIZ MOLZJonas JAMES EDGAR KNIGHT / MATTHIAS WOHLBRECHTMathisen LUCIA LUCAS / RENATUS MESZARGraf Oberthal ANDREW FINDEN / ARMIN KOLARCZYKWiedertäufer / 2. Offizier MEHMET ALTIPARMAK*1. Bäuerin MAIKE ETZOLD / DAGMAR LANDMANN2. Bäuerin URSULA HAMM-KELLER / CECILIA TEMPESTA 1. Bauer JIN-SOO KIM / JAN HEINRICH KUSCHEL 2. Bauer MARCELO ANGULO / LUKAS ZIOLKIEWICZ 1. Wiedertäufer DORU CEPREAGA / MARIAN SZKWARKOWSKI 2. Wiedertäufer ALEXANDER HUCK / DMITRIJUS POLESCIUKAS 1. Bürger Ks. JOHANNES EIDLOTH / SAE-JIN OH 2. Bürger PETER HERRMANN / THOMAS KRAUSE 3. Bürger WOLFRAM KOHN / THOMAS REBILAS 4. Bürger ALEXANDER HUCK 1. Kind GABRIEL MENDE / MORITZ PRINZ 2. Kind MARKUS HEINEN / LEA SIEGRIST / MORITZ WARNECKE1. Offizier ARNO DEPARADE / ANDREAS VON RÜDEN 3. Offizier OLIVER REICHENBACHER Policier ALHAGIE CHAMTruCru / Incredible Syndicate LEVENT GÜRSOY, MOHAMAD KHAMIS, FATON KURTISHAJ, MICHAEL MASSA, TRUNG DUN NGUYEN, HAKAN ÖZERLive-Kamera ACHIM GÖBEL, ARNE GRÄSSER *Opernstudio

Doppelbesetzungen in alphabetischer Reihenfolge

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Jean van Leyden ERIK FENTON a. G. / MARC HELLER a. G.Fidès, seine Mutter GIOVANNA LANZA a. G. / Ks. EWA WOLAKBerthe, seine Verlobte Ks. INA SCHLINGENSIEPEN / AGNIESZKA TOMASZEWSKAZacharias AVTANDIL KASPELI / LUIZ MOLZJonas JAMES EDGAR KNIGHT / MATTHIAS WOHLBRECHTMathisen LUCIA LUCAS / RENATUS MESZARGraf Oberthal ANDREW FINDEN / ARMIN KOLARCZYKWiedertäufer / 2. Offizier MEHMET ALTIPARMAK*1. Bäuerin MAIKE ETZOLD / DAGMAR LANDMANN2. Bäuerin URSULA HAMM-KELLER / CECILIA TEMPESTA 1. Bauer JIN-SOO KIM / JAN HEINRICH KUSCHEL 2. Bauer MARCELO ANGULO / LUKAS ZIOLKIEWICZ 1. Wiedertäufer DORU CEPREAGA / MARIAN SZKWARKOWSKI 2. Wiedertäufer ALEXANDER HUCK / DMITRIJUS POLESCIUKAS 1. Bürger Ks. JOHANNES EIDLOTH / SAE-JIN OH 2. Bürger PETER HERRMANN / THOMAS KRAUSE 3. Bürger WOLFRAM KOHN / THOMAS REBILAS 4. Bürger ALEXANDER HUCK 1. Kind GABRIEL MENDE / MORITZ PRINZ 2. Kind MARKUS HEINEN / LEA SIEGRIST / MORITZ WARNECKE1. Offizier ARNO DEPARADE / ANDREAS VON RÜDEN 3. Offizier OLIVER REICHENBACHER Policier ALHAGIE CHAMTruCru / Incredible Syndicate LEVENT GÜRSOY, MOHAMAD KHAMIS, FATON KURTISHAJ, MICHAEL MASSA, TRUNG DUN NGUYEN, HAKAN ÖZERLive-Kamera ACHIM GÖBEL, ARNE GRÄSSER *Opernstudio

Doppelbesetzungen in alphabetischer Reihenfolge PREMIERE 18.10.15 GROSSES HAUSAufführungsdauer ca. 4 Stunden, Pausen nach dem 2. und 3. AktAufführungsrechte Casa Ricordi Editore, Milano

Musikalische Leitung JOHANNES WILLIGNachdirigat DANIELE SQUEORegie TOBIAS KRATZERBühne & Kostüme RAINER SELLMAIERVideo MANUEL BRAUNLicht STEFAN WOINKEChor ULRICH WAGNEREinstudierung Kinderchor ANETTE SCHNEIDERDramaturgie BORIS KEHRMANN

BADISCHE STAATSKAPELLE, BADISCHER STAATSOPERNCHOR, EXTRACHOR, CANTUS JUVENUM KARLSRUHE E. V., STATISTERIE DES STAATSTHEATERS KARLSRUHE

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Regieassistenz & Abendspielleitung ANJA KÜHNHOLD Regieassistenz EVA VON BÜLOW-SCHUCH Musikalische Assistenz & Einstudierung PAUL HARRIS, ALISON LUZ, JULIA SIMONYAN, DANIELE SQUEO Studienleitung STEVEN MOORE Mitarbeit Choreinstudierung LUKAS GRIMM, STEFAN NEUBERT, MARIUS ZACHMANN Sprachcoach & Übertitel PASCAL PAUL-HARANG Assistenz von Rainer Sellmaier KATHARINA SCHEICHER Bühnenbildassistenz MEGAN ROLLER Kostümassistenz KIM LOTZ Kostümhospitanz JESSICA REISSFELDER Soufflage ANGELIKA PFAU Inspizienz GABRIELLA MURARO Leitung der Statisterie OLIVER REICHENBACHER Theaterpädagogik SARAH MODESS

Technische Direktion HARALD FASSLRINNER, RALF HASLINGER Bühneninspektor RUDOLF BILFINGER Bühne STEPHAN ULLRICH, EKHARD SCHEU Leiter der Beleuchtungsabteilung STEFAN WOINKE Leiter der Tonabteilung STEFAN RAEBEL Ton & Videotechnik HUBERT BUBSER, GUNTER ESSIG, JAN PALLMER Leiter der Requisite WOLFGANG FEGER Werkstättenleiter GUIDO SCHNEITZ Produktionsassistenz EDUARD MOSER Malsaalvorstand GIUSEPPE VIVA Leiter der Theaterplastiker LADISLAUS ZABAN Schreinerei ROUVEN BITSCH Schlosserei MARIO WEIMAR Polster- und Dekoabteilung UTE WIENBERG Pyrotechnik & Waffenmeister MICHAEL PAOLONE, HARALD HEUSINGER

Kostümdirektorin CHRISTINE HALLER Gewandmeister/-in Herren PETRA ANNETTE SCHREIBER, ROBERT HARTER Gewandmeisterinnen Damen TATJANA GRAF, KARIN WÖRNER, ANNETTE GROPP Schuhmacherei NICOLE EYSSELE, VALENTIN KAUFMANN, THOMAS MAHLER Modisterei DIANA FERRARA, JEANETTE HARDY Kostümbearbeitung ANDREA MEINKÖHN Chefmaskenbildner RAIMUND OSTERTAG Maske SABINE BOTT, MELISSA DÖBERL, FREIA KAUFMANN, NIKLAS KLEIBER, MARION KLEINBUB, JUTTA KRANTZ, MELANIE LANGENSTEIN, JESSICA MOLNAR, INKEN NAGEL, SOTIRIOS NOUTSOS, SANDRA OESTERLE, ANDREA WEYH, KERSTIN WIESELER

WIR DANKENder Privatbrauerei Hoepfner GmbH für die Unterstützung der Premierenfeier.

Wir machen darauf aufmerksam, dass Ton- und/oder Bildaufnahmen unserer Aufführungen durch jede Art elektronischer Geräte strikt untersagt sind.

JEAN, DU WIRST HERRSCHEN!

3Marc Heller, Staatsopernchor, Extrachor

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ZUM INHALT

Giacomo Meyerbeers Grand opéra Der Pro-phet ist politisches Musiktheater im Gewand eines Historiendramas. In fünf Akten schildert sie die Radikalisierung des einfachen Gast-wirts Jean van Leyden, seinen Aufstieg zum religiösen Führer – und seinen tiefen Fall.

AKT I

Obwohl glücklich verlobt, wohnt der Gast-wirt Jean van Leyden noch mit seiner Mut-ter Fidès zusammen. Es ist ein hartes, aber friedliches Leben (Nr. 1a Prélude et chœur pastoral). Jeans Verlobte Berthe freut sich auf ihre gemeinsame Zukunft (Nr. 1b Cavati-ne). Zusammen mit ihrer künftigen Schwie-germutter Fidès will sie den Grafen Oberthal aufsuchen, um von ihm die offizielle Heirats-genehmigung zu bekommen (Nr. 2 Scène).

Währenddessen versuchen die drei Wieder-täufer Jonas, Mathisen und Zacharias die Bevölkerung im Namen des Glaubens zum Aufstand gegen die Obrigkeit aufzuwiegeln. Ihre Versprechungen eines sozialen Umstur-

zes stoßen auf offene Ohren, aber die be-ginnende Revolte wird durch das Auftreten Oberthals im Keim erstickt (Nr. 3 Le Prêche anabaptiste). Oberthal statuiert ein Exempel. Berthes Bitte nach der Heiratserlaubnis lehnt er ab (Nr. 4 Récitatif et Romance). Stattdessen nimmt er sie und Fidès in einem Willkürakt gefangen (Nr. 5 Récitatif et Final).

AKT II

Die drei Wiedertäufer beobachten Jean bei der Arbeit. Da er in ihren Augen einem berühmten Heiligenbild ähnelt, beschließen sie, ihn als neuen Führer ihrer Bewegung zu gewinnen (Nr. 6 Valse villageoise). Jean weist dieses Ansinnen weit von sich. Zwar schildert er den Wiedertäufern einen merk-würdigen Traum von Ruhm und Herrschaft (Nr. 7 Le Récit du songe), aber seine eigent-lichen Zukunftswünsche gelten dem einfa-chen Leben mit Berthe (Nr. 8 Pastorale). Jeans Lebensglück wird jäh zerstört. Berthe ist Oberthal entkommen und sucht Schutz bei ihrem Verlobten. Aber Fidès ist noch in

RELIGIONKILLS

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den Händen des sadistischen Grafen. Der stellt Jean vor eine brutale Entscheidung: Entweder er liefert ihm seine Verlobte aus oder seine Mutter wird vor seinen Augen getötet. In einem Verzweiflungsakt überlässt er Oberthal Berthe und rettet Fidès das Leben (Nr. 9 Scène et morceau d’ensemble). Jean bleibt traumatisiert zu-rück. Vergeblich versucht seine Mutter ihn zu trösten (Nr. 10 Arioso).

Jonas, Mathisen und Zacharias haben nun leichtes Spiel. Sein Wunsch, Rache an Oberthal zu nehmen und seine Schuld an Berthe wieder gutzumachen, treibt Jean in die Hände der Wiedertäufer. Er lässt sich zum Propheten erklären und schwört sein altes Leben aufzugeben. Schweren Herzens nimmt er sogar die Bedingung an, seine Mutter nie wieder zu sehen (Nr. 11 Scène et Quatuor).

AKT III

Mit dem Propheten als neuem Gesicht der Bewegung nimmt die Revolte der Wieder-täufer Fahrt auf. Auf den Straßen erheben sich gewalttätige Unruhen. Ein sozialer Umbruch scheint greifbar (Nr. 12 Entracte et Chœur des anabaptistes). Zacharias bejubelt den Sturz der alten Machthaber (Nr. 13 Couplets de Zacharias). Die An-kunft frischer Waren hält die kämpfende Bevölkerung bei Laune (Nr. 14 L’Arrivée des patineurs). Unterhaltungsbedürfnis und Fanatisierung gehen Hand in Hand (Nr. 15a–d Ballet). Doch im Rausch des Erfol-ges begehen die drei Wiedertäufer einen folgenschweren Fehler: Hinter dem Rücken Jeans ordnen sie den Sturm auf die Stadt Münster an (Nr. 15e Scène).

Oberthal ist den Unruhen unbeschadet entkommen. Verkleidet versucht er, das

Lager der Wiedertäufer auszuspionieren. Aber Jonas und Zacharias erkennen den ehemaligen Peiniger und treiben ihr böses Spiel mit ihm (Nr. 16a Trio bouffe). Jean hat Sehnsucht nach seinem alten Leben. Als er den gefangenen Oberthal entdeckt, gelingt es diesem erneut, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Er verrät Jean, dass Berthe noch am Leben ist und rettet damit sein eigenes (Nr. 16b Scène).

Der Sturm auf Münster wurde nieder-geschlagen. Die Bevölkerung gibt „dem falschen Propheten“ die Schuld daran (Nr. 17 Chœur des soldats révoltés). Doch Jean gelingt es, das Volk noch einmal hinter sich zu scharen und im Namen des Glaubens zu vereinen (Nr. 18 Scène, Prière, Récitatif). Berauscht vom Erfolg seiner Ansprache nimmt er die Propheten-Rolle nun vollends an und ruft zur Fortsetzung des Kampfes auf (Nr. 19 Hymne triomphal).

AKT IV

Münster ist eingenommen. Aber im Volk er-hebt sich erster Unmut über die Macht der Wiedertäufer. Man munkelt, der Prophet wolle sich selbst zum Herrscher krönen (Nr. 20 Entracte et chœur des bourgeois). Auch Fidès irrt durch die Straßen. Sie glaubt ihren Sohn tot und ahnt nicht, dass er der Prophet ist (Nr. 21 Complainte de la mendiante). Fidès begegnet der verstörten Berthe, die Oberthal nach einem missglück-ten Suizidversuch entkommen ist. Als sie Berthe vom vermeintlichen Tod Jeans berichtet, beschließt diese, den Tod ihres Verlobten zu rächen (Nr. 22 Scène et duo). Die Krönungsfeierlichkeiten beginnen (Nr. 23 Marche du sacre).

Das Volk huldigt dem Propheten (Nr. 24a Prière et imprécation). Man preist ihn als

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Sohn Gottes, den „keine Mutter geboren“ habe. Jean fühlt sich wie in seinem Traum (Nr. 24b Chœur d’enfants et chœur général). Am Rande der Krönungsfeierlichkeiten erkennt Fidès ihren Sohn. Sie stellt ihn öffentlich zur Rede. Das Volk beginnt am Propheten zu zweifeln. Um seinen Nimbus zu retten, verleugnet Jean seine Mutter mehrfach (Nr. 24c Couplets et morceau d’ensemble). Mit einer brutalen List gelingt es Jean, auch Fidès dazu zu bringen, öffent-lich von ihm abzurücken. Das Volk feiert die Bekehrung der Lügnerin als Wunder. Fidès wird festgenommen (Nr. 24d L’Exorcisme).

AKT V

Jonas, Mathisen und Zacharias ahnen das Ende der Herrschaft Jeans. Sie beschlies-sen, ihn an seine Feinde auszuliefern, um ihre eigene Haut zu retten (Nr. 25 Entracte et scène).

Fidès ist in Gefangenschaft. Sie wettert gegen ihre Bewacher, verflucht ihren Sohn – und sehnt sich doch nach dessen Glück und Nähe (Nr. 26 Scène, Cavatine et Air). Jean versucht Fidès zu befreien, aber die will ihm nur verzeihen, wenn er seine Macht als Prophet aufgibt. Jean zögert. Zuviel Blut

klebe an seinen Händen. Aber seine Mutter verspricht ihm auch dafür Vergebung (Nr. 27 Scène et Grand Duo). Berthe hat sich währenddessen Sprengstoff besorgt. In ihrem Wahn macht sie den Propheten ver-antwortlich für den vermeintlichen Tod ihres Verlobten und plant ein Attentat. Als Berthe Jean lebend wiederfindet, keimt neue Hoff-nung für eine gemeinsame Zukunft. Doch das Auftreten eines Offiziers zerstört den prekären Glücksmoment. Jean wird vor Berthes Augen als „Prophet“ entlarvt. Die-se ist entsetzt. Nach allen Gräueltaten der Wiedertäufer-Bewegung sieht sie für sich und Jean keine Rückkehr mehr in ein norma-les Leben. Im Affekt begeht sie Selbstmord. Jeans Verzweiflung ist grenzenlos (Nr. 28 Scène, Trio et rècitatif).

Auf einem Fest, das Zacharias, Jonas und Mathisen anlässlich der Krönung des Pro-pheten arrangiert haben, kommt es zum Showdown. Einer Verhaftung durch den wieder erstarkten Oberthal kommt Jean zu-vor. Er kündigt seine letzte Verzweiflungstat an: Nicht nur sich, sondern auch die Wie-dertäufer und alle anderen mit in den Tod zu reißen. Fidès steht ihm bei (Nr. 29 Finale).

Tobias Kratzer

UNSERE BRÜDER IN DEUTSCHLAND WARTEN AUF DEN MESSIAS, DER SIE BEFREIT.

7TruCru / Incredible Syndicate, Staatsopernchor

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„1530: Die Lutheraner stellten auf dem Augsburger Reichstag ihre Glaubensartikel vor. Die protestantischen Fürsten hatten sich gegen die Bevormundung Karls V. wie auch gegen Rom verbündet, aber es floss kein Blut mehr um der lutherischen Sache willen im Reich. Nur die Wiedertäufer stürz-ten Deutschland im Namen Gottes immer noch in Aufruhr, von blindem Wahn getrie-ben und nicht einmal durch das Ende ihres Führers [Thomas] Müntzer abgeschreckt.

1534: Noch nie hatte der Fanatismus eine derartige Massenhysterie auf Erden ausgelöst: Alle diese Bauern, die sich für Propheten hielten und nichts von der Bibel wussten, als dass man die Feinde Gottes abschlachten solle, konzentrierten sich am stärksten in Westfalen, das damals das Zen-trum der Dummheit war. Sie brachten die Stadt Münster in ihre Gewalt und verjagten den Bischof. Zunächst wollten sie dort ei-nen Gottesstaat nach alttestamentarischem Vorbild errichten und sich durch Gott allein

leiten lassen. Als aber ihr Oberprophet, ein gewisser Mathisen, in der Schlacht fiel, behauptete ein Schneidergeselle namens Jan van Leyden aus Leyden in Holland, Gott sei ihm erschienen und habe ihn zum König berufen. Sagte es und sie glaubten ihm.

Die Krönung wurde mit überwältigender Pracht gefeiert. […] Sein Wappen bestand aus zwei Schwertern, die sich nach Art der Schlüssel Petri auf dem Papstwappen kreuzten. Er gerierte sich als König und Prophet und sandte zwölf Apostel aus, seine Herrschaft in ganz Deutschland zu verkün-den. Nach dem Vorbild der Könige Israels huldigte er der Vielweiberei und heiratete bis zu zehn Frauen gleichzeitig. Als eine von ihnen seine Autorität anzweifelte, hieb er ihr vor allen anderen den Kopf ab und tanzte mit ihnen um die Leiche. Aus Angst oder religiösem Fanatismus machten sie mit.

Dieser Prophetenkönig hatte eine Tugend, die bei Banditen und Gewaltherrschern

ZUM STÜCK

OPERROMANBEARBEITUNG

HISTORISCHE

ALS

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nicht selten ist: Mut. Ein Jahr lang verteidig-te er Münster mit unerschütterlicher Tap-ferkeit gegen seinen ehemaligen Bischof, Waldeck, und lenkte auch während der furchtbaren Hungersnot[, die die belagerte Stadt schwächte,] nicht ein.

1536: Schließlich wurde er durch Verrat der Seinen mit der Waffe in der Hand gestellt. Auch seine Gefangenschaft konnte seinen Stolz nicht brechen. Als der Bischof ihn fragte, wie er es wagen konnte, sich zum König ausrufen zu lassen, erwiderte er, wie der Bischof es wagen könne, sich weltliche Macht anzumaßen? „Ich wurde durch das Domkapitel gewählt“, sagte der Prälat. „Und ich durch Gott“, erwiderte Jan van Leyden. Nachdem ihn der Bischof eine Zeit lang von Dorf zu Dorf fahren ließ, um ihn zur Abschreckung wie ein wildes Tier auszu-stellen, ließ er ihm mit glühenden Zangen die Haut abziehen. Die Hinrichtung ihres Königs und seiner Spießgesellen brachte die Schwärmerei der Wiedertäufer aber nicht zum Erliegen. Ihre niederländischen Brüder schickten sich an, Amsterdam zu erobern. Man rottete die Verschworenen aus, wo man sie fand. Alles, was damals in den Niederlanden nur entfernt nach Wie-dertäufertum roch, wurde ebenso behandelt wie die niederländische Freiheitsbewegung durch die Spanier. Man ersäufte, erdros-selte, verbrannte sie. Ob verschworen oder nicht, aufrührerisch oder friedlich, die Sekte wurde am ganzen Niederrhein verfolgt wie Ungeheuer, von denen man die Erde reini-gen muss.“

Auslöser des Schaffensprozesses

Diesen Zeilen aus Voltaires viel gelesenem Versuch einer Weltgeschichte oder über die Sitten und den Charakter der Nationen, Genf 1756, verdankte Eugène Scribe die An-

regung zum Propheten. Der Librettist schlug Giacomo Meyerbeer den Stoff zwei Wochen nach der gefeierten Uraufführung ihrer Hu-genotten am 29. Februar 1836 an der Pariser Oper vor. Die Epoche selbst hatte bereits 1832/33 den historischen Hintergrund seiner sentimentalen Opéra-comique Die Wieder-täufer geliefert. Nachdem Meyerbeer aber die Schlächterei der Bartholomäusnacht, deren Sujet ebenfalls auf Voltaire zurück-ging, als historisches Volksdrama für die Musikbühne erschlossen hatte, schien es opportun, die Erfolgssträhne nach demsel-ben Muster fortzusetzen. Ein enzyklopä-discher Fundus ähnlicher Stoffe lag in der Weltgeschichte des großen Aufklärers be-reit, der sich als Religionskritiker besonders für Fanatismus und religiöse Verirrungen aller Zeiten interessierte. Der Wiedertäufer-Bewegung widmete er die Kapitel 131–134 im Rahmen seiner Darstellung des Refor-mationszeitalters, der er die Darstellung der kolonialistischen Gräuel im Zeitalter der Entdeckungen folgen ließ. Er leitete sie mit den für Librettisten verheißungsvollen Wor-ten ein: „Mais l’Allemagne fut un théâtre de scènes plus tragiques – Deutschland aber war Schauplatz weit tragischerer Szenen.“

Die Bewegung hatte theologische und soziale Aspekte. Theologisch ging es um Erwachsenentaufe und Rückkehr zum ursprünglichen Leben nach Maßgabe des Alten Testaments, sozial im Zuge der Bau-ernkriege um klassenlose Gesellschaft, Gemeineigentum und Abschaffung der Feudalrechte. Meyerbeer aber wollte sich nicht mit einer weiteren Religionskriegsoper wiederholen, sondern mit seinem dritten Pariser Werk ein drittes Modell entwickeln. Er lehnte Die Wiedertäufer, wie der Arbeits-titel hieß, ab und zog die ihm von Scribe ebenfalls angebotene Afrikanerin vor. Erst als Cornélie Falcon, die Valentine der Huge-

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notten, der er Die Afrikanerin auf den Leib schrieb, mit 23 Jahren ihre Stimme verlor, kam er auf Die Wiedertäufer zurück.

Beide Projekte verdanken ihre Anregung Voltaire, basieren im Detail aber auf His-torischen Unterhaltungsromanen des Breslauer Juristen Carl Friedrich van der Velde (1779–1824). Sie erschienen zunächst als Fortsetzungsromane im Feuilleton ver-schiedener Zeitungen, erlebten bis 1905 zahlreiche Buchauflagen, Dramatisierun-gen und Vertonungen, wurden in mehrere Sprachen übersetzt und schließlich sogar in Reclams Universalbibliothek aufgenommen. Ihr französischer Vermittler war der Pariser Publizist François-Adolphe Loève-Veimars (1799–1854). Loève-Veimars, aus einer Hamburger Kaufmannsfamilie stammend, ging als Übersetzer der Contes fantastiques E.T.A. Hoffmanns in die Geschichte ein. Seine 20-bändige Gesamtausgabe erschien zwischen 1829 und 1833 und löste eine Hoffmann-Manie jenseits des Rheins aus, der wir u. a. Berlioz‘ Symphonie fantastique und Offenbachs Hoffmanns Erzählungen verdanken. Auf den Titelblättern seiner Publikationen wurde er als „traducteur des romans de Van der Velde“ beworben. Das zeigt, welchen Status dieser heute ver-gessene Erzähler in Frankreich genoss, als Scribe auf ihn zurückgriff.

Geschichte aus Romanen

Scribe nutzte mindestens vier seiner Roma-ne als Grundlage eigener Stücke. Dem Pro-pheten, dessen Libretto und Musik in einem extrem gewundenen Schaffensprozess über fünf Fassungen zwischen 1836 und 1849 Gestalt annahmen, liegen zwei Romane zu Grunde: Die Wiedertäufer von 1821, 1826 unter dem Titel Les Anabaptistes mit einem die historische Fakten referierenden Vor-

wort als 4. Band der französischen Werk-ausgabe van der Veldes erschienen, sowie Die Lichtensteiner aus demselben Jahr, die als 8. Band mit historischer Einleitung unter dem Titel Les Hussites herauskamen. Die Lichtensteiner spielen zur Zeit des Dreißig-jährigen Krieges in Schlesien. Ihnen ver-dankt Der Prophet Gestalt und Namen der Mutter Fidès, die Oberthal-Handlung des 1. und 2. Akts, die Sonnenaufgangsszene des 3. Finales und das 1. Bild des 4. Aktes. Das waren Versatzstücke, die sich problemlos um ein Jahrhundert in das Jahr 1533/34 zu-rückversetzen ließen. Seine Kenntnisse über das Wiedertäuferreich des Schneiders Jan Beuckelszoon (1509–1536), genannt Jan van Leyden, im westfälischen Münster, bezog Scribe aus van der Veldes Roman Die Wie-dertäufer und der historischen Einleitung Loève-Veimars. Die Wiedertäufer regten in den 1840er Jahren auch den Danziger Kom-ponisten Friedrich Wilhelm Markull zu einer 1850 uraufgeführten Oper Der König von Zion an, der sich deswegen im August 1848 an Meyerbeer wandte und nach Parallelen zwischen ihren beiden Werken erkundigte. Meyerbeer sah solche in manchen Szenen. „Manches aber“ schiene ihm „auch ganz verschiedenartiger Auffassung zu sein.“

Der erfundene Held

Sir Walter Scott, der Vater des Historischen Romans, hatte seinen Nachahmern empfoh-len, niemals historische Persönlichkeiten zum Gegenstand künstlerischer Fiktion zu machen. Die Fakten würden nämlich die dichterische Fantasie einschränken. Darum sollten historische Persönlichkeiten nur im Hintergrund der Handlung auftreten. Im Zentrum sollte sich ein erfundener Held durch eine historische Epoche kämpfen. Mit dessen Augen könne das Publikum die Ver-gangenheit nacherleben. Van der Velde hielt

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sich an seine Empfehlung, Scribe und Mey-erbeer nicht. Bei van der Velde steht Alf Kip-penbrock im Zentrum. Der Waffenschmied kehrt nach seinen Wanderjahren aus Begei-sterung für die Wiedertäuferbewegung in seine Heimatstadt zurück, beobachtet dort das Treiben Jans van Leyden und sagt sich in einem Prozess der Desillusionierung und Reifung schließlich von dessen Irrlehren los. Dieser Prozess ist der ideelle Gehalt des Romans, der van der Veldes Auseinander-setzung mit der Französischen Revolution, insbesondere mit der Schreckensherrschaft Robespierres darstellt, die erst 25 Jahre zurücklag. Das Kostüm des 16. Jahrhunderts war ein reizvoller Verfremdungseffekt.

Scribe und Meyerbeer stellten Jan van Leyden selbst ins Zentrum ihrer Oper, mit der Folge, dass ihren Protagonisten mit der historischen Figur außer Namen und Königtum nichts verbindet. Jean ist kein Schneider, sondern Gastwirt, um die auf der Bühne immer wirkungsvolle Wirtshaussze-ne in der Vorstadt zu ermöglichen, die auch bei van der Velde Ort der Exposition ist. Dort gehen Fremde aus und ein, denen man die Vorgeschichte der Handlung erzählen kann. Außerdem gibt sie Anlass zu Tänzen und Chören, die uns musikalisch in Jeans Welt einführen.

Autobiografie und Fiktion

Des historischen Jan Mutter hieß Aleke, nicht Fidès. Über ihr Verhältnis zu ihrem Sohn ist nichts bekannt. Gerade dieses Verhältnis aber faszinierte den labilen Mey-erbeer an dem Szenarium, das Scribe ihm vorschlug. Er hatte selbst eine dominante Mutter und eine bis heute rätselhafte Be-ziehung zu seiner 13 Jahre jüngeren Frau, mit der er eine Fernehe führte. Seine Mutter Amalie Beer, im Familienkreis nur „die Non-

ne“ von Italienisch nonna = Großmutter ge-nannt, war eine einflussreiche Salonnière. Bei ihr verkehrte die Berliner Gesellschaft bis hoch zum Königshaus. Sie nötigte ihrem 34-jährigen Sohn, einem eingefleischten Junggesellen, die Hochzeit mit seiner Ku-sine auf, mit der er nie zuvor Kontakt hatte. Das ganze Gefühls- und Liebesleben Jeans, das Parallelen zu Meyerbeers eigener Lage aufweist, hatte Scribe von Anfang an van der Veldes zweitem Roman, Die Lichten-steiner, entnommen. Dessen historischen Hintergrund bildet die brachiale Rekatho-lisierung der Habsburgischen Erblande durch Kaiser Ferdinand II. am Beispiel der protestantischen Kaufmannsstadt Schweid-nitz in Niederschlesien. Der Widerstand der Schweidnitzer wird durch Einquartierung des Lichtensteiner Dragonerregiments, der sogenannten „Seligmacher“, gebrochen. Sie plündern die Kaufleute des ehemals zweitgrößten Wirtschaftszentrums Schle-siens in eben jener Weise aus, wie wir es zu Beginn des 4. Akts des Propheten sehen. Im Zentrum steht das Paar Oswald Dorn und Fides Rosen. Fides wird durch den erst Wallensteinschen, dann Lichtensteinischen Hauptmann Hurka in derselben Weise be-drängt, wie Berthe durch Oberthal, kann aber gemeinsam mit ihrer Mutter in einem Kellerverschlag vor dessen Nachstellun-gen versteckt werden wie Jean Berthe vor Oberthal im 2. Akt versteckt. Hurka dringt wie Oberthal in das Haus ein und bedroht den Säugling ihrer Tante, um ihr das Geheimnis des Verstecks abzupressen. Anders als Jean wird Katharina Fessel aber aus ihrer Gewissensnot erlöst. Sie stirbt auf der Stelle am Schlag. Am Ende können Oswald und Fides aus der Stadt fliehen. Sie verstecken sich bei den Hussiten in den Böhmischen Bergen, wo sie in verschneiter Winterlandschaft den Sonnaufgang über dem Nebelmeer erleben. Die poetische

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Beschreibung dieses Sonnenaufgangs ver-mittelte Scribe die Idee zum 3. Finale, wie wörtliche und motivische Anleihen belegen. Die Flucht in die Berge enthebt Oswald der Notwendigkeit, sich sein Recht mit Gewalt verschaffen zu müssen. Van der Velde, ei-gentlich Richter von Beruf, widmet viele Sei-ten seines Romans dieser Versuchung. Die Autoren des Propheten entschieden anders. Durch Meyerbeers Assistenten Johannes Weber wissen wir, dass sie dabei an Schil-lers Karl Moor in den Räubern dachten.

Ödipus-Komplex

Vergleicht man Die Lichtensteiner mit dem Propheten, fällt ins Auge, dass die beiden Mütterfiguren des Romans zur Fidès der Oper verschmolzen, die den Namen der Verlobten Oswalds erhielt. Außerdem än-derte Scribe Oswalds Vater-Sohn-Konflikt in einen Mutter-Sohn-Konflikt. Wie Jean mit dem Gebot der Mutterliebe, hadert der vom katholischen Glauben abgefallene Oswald mit der Liebe zu seinem Vater, dem Obersten der „Seligmacher“. Scribe hatte die private Konfliktstruktur seines Jean also aus van der Veldes Roman übernommen. Im Laufe der 13-jährigen Diskussionen mit Meyerbeer sowie im Zuge seiner Änderungswünsche emanzipierte sich die Opernfigur vor allem in der psychologischen Feinzeichnung aber immer mehr von der Romanfigur und ent-wickelte ihr ganz spezifisches Eigenleben.

Auch der Beginn der Oper hat seine direkte Entsprechung im Roman. Fidès und Berthe bitten ihren Feudalherrn in derselben Weise um die Heiratserlaubnis wie die Fides des Romans und ihre Mutter Prudentia den als „Holofernes“ bezeichneten Tyrannen Wal-lenstein um Gnade für Oswald bitten. Berthe wird sich in der Oper später als „zweite Ju-dith“ zur Tyrannenmörderin aufschwingen.

Der feiernde Oberthal auf seiner Zwingburg hält sich ganz an den Tyrannen-Typus, wie er durch Rossinis Gesler in Guillaume Tell 1829 für das Genre der Grand opéra maß-geblich wurde. In Scribes frühen Szenarien hieß er ursprünglich „le Comte de Thuringe“ nach Voltaires Weltgeschichte, Kapitel 131. Später wurde daraus Oberstein. Anfang 1848 änderte Meyerbeer den Namen in Oberthal. Weil sich das besser singen ließ oder um Spuren zu verwischen und Tantiè-me-Ansprüchen aus dem Weg zu gehen? Ulrich, Graf von Oberstein ist im Roman Die Wiedertäufer der tapfere Führer der alliierten Hilfstruppen, die dem Bischof von Münster gegen die Rebellen zu Hilfe eilen. Auf einer nächtlichen Patrouille fällt er den Helden des Romans, Alf Kippenbrock und Hans von der langen Strat, in die Hände. Als die Wolke den Mond wieder freigibt und die beiden seine edlen Züge erkennen, lassen sie ihn laufen. Scribe hat daraus das „Trio bouffe“ des 3. Akts gemacht, das Ende aber umgedreht. Die Wiedertäufer wollen Obert-hal hinrichten lassen, als sie sein Gesicht im Schein des Feuersteins erkennen.

Jonas, Mathisen, Zacharias

Von den drei Wiedertäufern der Oper ist nur Mathisen historisch. Scribe entnahm ihn dem Roman. Jan Matthys oder Matthyszoon (um 1500–1534) hatte den Schneider Jan Bockelson, genannt van Leyden, zwar nicht erweckt, aber getauft und nach Münster entsandt, um dort das Täuferreich zu grün-den. Insofern hat der Mathisen der Oper, der Jean zum Propheten aufbaut, leichte Ähnlichkeit mit seinem historischen Vorbild. Insgesamt erinnert der historische Matthys-zoon aber eher an einen aktuellen ISIS-Warlord: Er lehnte Pazifismus ab, ließ Kunst-werke vernichten und Bücher außer der Bibel verbrennen. Er starb zwei Jahre vor

Ks. Ewa Wolak

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Jan bei einem Ausfall aus der Stadt, dessen Beschreibung im Roman Scribe dem 3. Akt seines Librettos zugrunde legte, aber wie das „Trio bouffe“ auf den Kopf stellte. Aus dem dort beschriebenen Ausfall samt Gei-selnahme zwecks Lösegelderpressung wird in der Oper ein misslungener Angriff auf die noch nicht von den Wiedertäufern eroberte Stadt. Das ist völlig aus der Luft gegriffen. Münster nahm die Rebellen freiwillig auf.

Ebenso fiktiv wie dieser Angriff sind die anderen beiden Figuren des Wiedertäufer-Trios. Jonas, der entlaufene Kellermeister Oberthals, trägt den Namen einer Figur aus den Lichtensteinern und ist dem entlau-fenen Schneider Dilbek aus den Wieder-täufern nachgebildet. Daneben hielt sich Meyerbeer beim 3. Akt an Wallensteins Lager sowie bei Jonas‘ dummdreistem Glaubenseifer an den Kapuzinermönch daraus. Zacharias ist im Roman der „kleine Prophet“ Johannes Tuiskoschirer. Dieser erscheint Alf nach der eben erwähnten Schlacht und verkündet ihm, er habe im Traum gesehen, dass Gott ihn zu höherem bestimmt habe. In einer zweiten Begegnung bietet Tuiskoschirer Alf die Krone an, die dieser aber ausschlägt. Als Jan van Leyden, der Prophetenkönig, Alf seine Braut raubt, erinnert Tuiskoschirer Alf daran, dass er sich dagegen hätte wehren können, wenn er die Krone nicht ausgeschlagen hätte. Aus diesen Motiven collagieren Scribe und Mey-erbeer die Traumerzählung und das Quartett des 2. Akts. Sie legen Jean Tuiskoschirers Traumvision in den Mund und verschaffen ihm so eine Arie. Der Inhalt dieser Arie greift außerdem auf Jan van Leydens Traum im Roman zurück, den Alf unter Führung Tuis-koschirers belauscht. Der Brauträuber der Oper ist aber nicht Jan van Leyden wie im Roman, sondern Oberthal, sodass sich die Macht, die die Wiedertäuferkrone verleiht,

nicht gegen Jan, sondern gegen Oberthal richtet. Zugleich haben die Autoren der Oper ihre Romanvorbilder so radikal durch die Persönlichkeiten der Sänger gefiltert, für die sie ihre Figuren schufen, dass das Bild des Bassisten Jean-Prosper Levasseur das Bild Tuiskoschirers verdrängte. Tuis-koschirer wird als „giftiges Männlein“ mit „tückischem Lächeln“ beschrieben. Levas-seur war das Gegenteil. Meyerbeer schätzte ihn so sehr, dass er ihm die Kriegsarie „Aussi nombreux que les étoiles“ schrieb. Den dramatischen Anlass dazu fand Scribe wieder in van der Veldes Roman. Dort hält der riesenhafte „große Prophet“ Matthäus nach der Schlacht eben diese Rede.

Berthe

Auch die Idee des auf Meyerbeers Wunsch nachträglich eingefügten Krönungsbildes ist mit ihrer prunkvollen Prozession im Ro-man in der prachtvollen Beschreibung des Krönungszuges Jans van Leyden durch Münster angelegt. Sie verdankt die Details aber Meyerbeers Erinnerungen an Schin-kels berühmte Berliner Inszenierung der Jungfrau von Orléans von Schiller und ihrer Krönungsszene. Die zügellosen Orgien und Feste des Propheten werden im Roman einschließlich der legendären Vielweiberei ausführlich beschrieben und gaben den Anstoß für das Schlussbild der Oper. Auch die Idee, den Propheten durch seine frühe-ren Steigbügelhalter verraten zu lassen, die dadurch Amnestie und freies Geleit für sich und ihr Gut erkaufen, entnahm Scribe dem Roman. Schließlich steht Alf mit seinem ero-tischen Begehren zwischen zwei Schwe-stern, der rassigen Elisa und der blonden Klara. Elisa wird ihm durch den Propheten ausgespannt, was seinen Rachewunsch weckt. Dieses Motiv liegt der Berthe-Obert-hal-Handlung zugrunde. Tatsächlich hieß

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Berthe in den ersten Entwürfen Louise. Alfs Begehren wendet sich im Laufe des Ro-mans aber der sanfteren Klara zu, die er am Ende auch heiraten wird. Den Umschwung bringt ein Dekret der Wiedertäufer, das alle Jungfrauen zur Heirat zwingt. Klara flieht vor den Nachstellungen des alten Tuisko-schirer in Alfs Arme und droht, in den Fluss zu springen, falls dieser seine Drohungen wahr mache. Das Motiv ist in den 4. Akt der Oper eingegangen, wo Berthe erzählt, sie habe sich durch einen Sprung in die Maas vor Oberthals Nachstellungen gerettet.

Am längsten rang Meyerbeer mit der Schlussszene der Berthe. Er wollte ihr einen wirkungsvollen Abgang verschaffen, wus-ste aber nicht, wie. Die Lösung fand Scribe in Voltaires heute wieder aktuellen Tragödie Der Fanatismus oder Mahomet, der Prophet (1736). Dort liebt Palmire den Propheten wie einen Vater. Er begehrt sie erotisch. Am Ende erdolcht sie sich vor seinen Augen, weil sie erkennt, dass er ein Ungeheuer ist. Ein Versuch, ihn zu beseitigen, war zuvor gescheitert. Berthe verdankt ihren Namen ihrem „deutschen“ Klang. Für französische Ohren war Bertha der Inbegriff des Germa-nischen.

Der Prophet und die Revolution

All dies zeigt, dass Der Prophet weniger eine historische Oper über das Wieder-täufertum ist, als eine Dramatisierung von Romanen. Wie wenig sich die Autoren um Fakten scherten, beweist nicht zuletzt der völlig aus der Luft gegriffene Schlus-seffekt. Jeans Sprengung des Rathauses von Münster hat nicht das Geringste mit dem verbürgten Ende Jans van Leyden zu tun. Für Meyerbeers Zeitgenossen war Der Prophet eine Gegenwartsoper. Sein Freund Théophile Gautier wies darauf hin,

dass sich die Parolen der Bauern und Wie-dertäufer anhörten, als seien sie aktuellen „kommunistischen Blättern“ entnommen. Die „Augsburger Allgemeine Zeitung“ nann-te die Aufrührer die „Socialisten des 16ten Jahrhunderts“. Die Oper gäbe „ein Bild von dem, was wir von einem Sieg des heutigen Socialismus zu erwarten haben“. Das war keine nachträgliche Deutung, sondern den Autoren wohl bewusst. Das Werk entstand zwischen den ganz Europa erschütternden Revolutionen von 1830 und 1848. Der Terror der „Großen Revolution“ von 1789ff. steckte der Generation Meyerbeers und Scribes noch von den Erzählungen ihrer Eltern her in den Knochen. Die Napoleonischen Kriege mit ihren Massenheeren und weit über einer Million Toten hatten sie als Pubertierende selbst miterlebt. Sie wussten, was Volksbe-wegungen, aber auch was Unterdrückung bedeutete. Als Meyerbeer sich 1838 mit Scribes 1. Libretto-Entwurf beschäftigte, gab er ihm zu bedenken: „Zwei Klippen muss man zu umschiffen suchen. Die eine ist jeder Aufruf zu Widerstand gegen jede Art staatlicher & geistlicher Herrschaft, der bis zur letzten Szene des Stücks von unein-geschränktem Erfolg gekrönt ist. Das kann in Paris eventuell zu Schwierigkeiten bei der Aufführung […] führen, in Deutschland und im Norden würde es aber totsicher das Verbot nach sich ziehen.“ Meyerbeer hatte Erfahrung mit der Zensur. Nicht nur als Autor, sondern auch als Privatmann. Als er 1829 nach Paris übersiedelte, um Robert der Teufel zu komponieren, musste er sich erst umständlich informieren, welche seiner Bücher er ins reaktionäre Frankreich Karls X. einführen durfte und lange Listen erstel-len, ein Prozedere, das an die ehemalige DDR erinnert. Seine Hugenotten mussten in Österreich-Ungarn ins staufische Mittelalter zurückdatiert werden, um als Die Welfen und Ghibellinen nicht Öl ins Feuer der

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17Staatsopernchor, Extrachor, Avtandil Kaspeli, Marc Heller

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schwelenden Religions- und Nationalitäten-konflikte des Vielvölkerstaates zu gießen. Österreich hatte aufgrund einer Oper – Die Stumme von Portici – 1830 ja bereits Bel-gien verloren. Um solchen Hindernissen vorzubeugen, schlug Meyerbeer Scribe vor: „Man muss der revolutionären Tendenz des Stücks ein Gegengewicht entgegensetzen, indem man eine Person […] (& ich glaube, dass dies die alte Mutter sein sollte) mit der Liebe zur bestehenden Ordnung der Dinge, ihren Fürsten & vor allem ihrer Religion ausstattet. Sie sollte diese Grundsätze ihrem Sohn Jean predigen, den sie den Ideen der Wiedertäufer zuneigen sieht, und ihm die Gefährlichkeit dieser alle Ordnung & Moral umstürzenden Ideen vor Augen führen. Das käme umso überzeugender & edler aus ihrem Munde, wenn sie das in jener Szene täte, in der ihr Sohn sie aus Liebe aus der Mörderhand des grausamen Kastellans be-freit hat. Der naive Jean [singt] ein Couplet & [sagt,] die Priester hätten diesen [Gott,] von dem sie so schön reden, nach ihrem Bilde geschaffen[,] er sei Helfer nur der Reichen & der Herren. Diese Wiedertäufer-prediger haben wirklich recht.“

Ähnliche Notizen begleiten den gesamten Entstehungsprozess des Propheten. Sie belegen, dass die Partie der Fidès nicht nur eine identifikatorische Rolle im Emotions-haushalt des Komponisten spielte, was ihre musikalisch besonders brillante und sorgfäl-tige Ausgestaltung und den Umstand erklärt, dass er die Uraufführung der fertigen Oper sieben Jahre verhinderte, weil ihm die Intendanz der Pariser Oper seine Wunsch-besetzung verweigerte. Die fromme und ordnungsgläubige Mutter sollte das Stück als Stimme der Gegenrevolution auch zwei-deutiger machen. Mit ihr sollte Der Prophet aus unterschiedlichen politischen Perspek-tiven deut- und aufführbar werden.

Liest man Meyerbeers Tagebücher, fällt nicht nur seine ambivalente liberale Haltung ins Auge. Man kann dort auch verfolgen, wie sich der Komponist ab Februar 1848 gleichzeitig mit der Überarbeitung der 1841 abgeschlossenen Partitur und den Proble-men der revolutionären Tagesereignisse beschäftigte. Der politisch bewegte 1. Akt nahm unter dem unmittelbaren Eindruck der am 22. Februar 1848 ausbrechenden Straßenkämpfe seine endgültige Gestalt an. Morgens arbeitete Meyerbeer an den demagogischen Wiedertäuferreden, nachmittags ging er auf die Straße, um die Gewaltspirale der Massenversammlungen, Demonstrationen, Parolen, Agitationen, Koalitionen, Kämpfe und Widerstandshand-lungen mit eigenen Augen zu verfolgen, die sich an der Verweigerung der Wahlreform entzündeten und aufgrund des Demonstrati-onsverbotes eskalierten. Am Abend des 23.2. feuerten Regierungstruppen in die demonstrierende Menge. „Fast den ganzen Tag auf der Straße zugebracht, um den Verlauf des Aufstandes mit anzusehen, der sich im Laufe des Tages zur förmlichen Revolution entwickelte“, hielt Meyerbeer am 24.2. im Taschenkalender fest. „Um 2 Uhr dankte der König ab, die Tuillerien [!] wurden vom Volk erstürmt. Ich sah aus dem Palais royal die kostbarsten Möbel, Bücher etc. aus dem Fenster werfen und dann auf einem großen Scheiterhaufen im Hofe des Palais verbrennen. Die Königlichen Wagen wurden angezündet, brennend über die Straße gefahren und dann ebenfalls auf den Scheiterhaufen des Hofes geworfen. Ebenso ging es in den Tuillerien zu; ich ging in die Gemächer hinein, worin Tausende vom Volk auf- und abwogten. Man sagt, die Republik sei proklamiert. Gestern und heute Abend mußten alle Häuser illuminiert wer-den. Einen eigentümlichen traurigen Anblick bot es dar, daß alle Läden ohne Ausnahme

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geschlossen waren und kein einziger Wa-gen zu sehen war, welches auch durch die vielen Barrikaden, welche an allen Straßen aufgeschichtet waren, unmöglich gewesen wäre. Abends und morgens ein wenig an der Stretta der prêche [Wiedertäuferpredigt, 1. Akt] gearbeitet. Abends ward die Republik proklamiert und ein Gouvernement provi-soire [Übergangsregierung] eingesetzt.“

Meyerbeer bekommt es mit der Angst zu tun und fleht Scribe an, ihm die Textände-rungen möglichst rasch fertig zu machen, damit er Paris verlassen kann. Zwei der neuen Minister immerhin seien „Bekenner der jüdischen Religion“, stellt er erleichtert fest. Da er zeit seines Lebens von antisemi-tischen Presseangriffen und der Angst vor antijüdischen Pogromen verfolgt wurde, war das ein positives Zeichen. Auch dass die Todesstrafe für „politische Verbrechen“ ab-geschafft wurde, machte ihm Mut. Am 27.2. spendete er 500 Francs für die Opfer der Straßenkämpfe und nahm an der nationalen Trauerfeier für sie teil. Eine Woche später allerdings auch an der eines royalistischen Bekannten, der sich aus Verzweiflung über den Umsturz erschossen hatte. Parallel dazu entstehen die Revolutionsszenen des 1. Akts.

Die Bewegung der Massen fasziniert ihn. „Aufzüge von Bewaffneten und singenden Trupps vom Volke ziehen unaufhörlich durch die Straßen“, registriert er am 25.2. Am 17.3. beobachtet er die „ungeheure Demonstrati-on der Ouvriers [Arbeiter], die von Mittag bis Mitternacht dauert“. Am 26.3. besucht er die Comédie Française, wo „Demoiselle Rachel die Marseillaise vor[trägt], halb singend, halb rezitierend im tiefsten Kontralt ... auf eine so unbeschreiblich geniale und groß-artige Weise, daß es einen wahrhaft elektri-schen Eindruck hervorbrachte...“. Das war

ein Schlüsselerlebnis. Meyerbeers Kampf um eine geeignete Kontraltistin für die Par-tie der Fidès war der Grund für sein Veto gegen die Uraufführung des Propheten seit 1841 gewesen. Am 2. April, als im Hof der Pariser Oper ein „Freiheitsbaum“ gepflanzt wird, erhält Meyerbeer durch Innenminister Ledru-Rollin seine offiziellen Weihen als Republikaner. Aufführungen revolutionärer Kantaten aus der Revolution von 1789ff. und die Fahnenweihe der auf die neue Regie-rung vereidigten Truppen auf dem Marsfeld – „ein paar hunderttausend Mann“ – geben ihm die Musik zum Krönungsmarsch ein, den Verdi 20 Jahre später in Aida kopieren wird.

Am 28.4. notiert Meyerbeer: „Vor dem Früh-stück den Marsch fertig revidiert. Da ich noch keinen der politischen Klubs besucht hatte, so ging ich heute in den allerrevolutio-nairsten, der, welcher von [dem Kommuni-sten] Blanqui präsidiert wird, um doch eine Idee zu haben, wie es da zugeht.“ Nachdem er morgens den 3. Akt mit dem proletari-schen Wiedertäuferheer in der 1. Fassung durchgelesen hatte, um Scribe seine Ände-rungswünsche mitzuteilen, übernimmt er am 8.5. nachmittags die Patenschaft über einen achtjährigen Bettelknaben, für dessen Aus-bildung in einem Pensionat er monatlich 25 Francs anweist, damit er „ernährt, erzogen und ihm ein Handwerk gelehrt wird.“ Dann verlässt er Paris, um den Sommer wie üblich in verschiedenen Kurorten zu verbringen.

Diesmal will er speziell auch Kraft für die bevorstehenden Proben zur Uraufführung des Propheten sammeln. Der Weg führt über Berlin, wo er seine Familie wiedertrifft und die Kontakte mit der extremen Gegenseite wieder aufnimmt. Am 22.5. heißt es im Tage-buch: „In der Frühe etwas am Terzett [5. Akt] gearbeitet. Nach Potsdam zur Prinzess von Preußen, welche mich befohlen hat.“ Am

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Meyerbeer zeigt Interesse an Arbeiter-demonstrationen und Kommunisten, hegt Sympathien für republikanische Ideen und liberale Reformen, hat Angst vor der Gewalt der Massen und braucht, wie übrigens Wagner auch, den Luxus des Ancien régime bei Hochadel und Hofe. Genau diese Wider-sprüchlichkeit zeichnet den Propheten aus und machte ihn überhaupt erst aufführbar.

Endlich am Ziel

Im Herbst 1848 war es endlich soweit. Die komplizierten Termin- und Vertragsverhand-lungen mit Meyerbeers Wunschsängern hatten dazu geführt, dass die musikalische Einstudierung, durch die vorhergehende Ur-aufführung an der Pariser Oper noch einmal verzögert, am 11. November für den Chor und am 12. November für die Solisten begin-nen konnten. Am 1. Februar 1849 liefen die ersten drei Akte erstmals durch. Fünf Tage später meldete Meyerbeer seiner Mutter in Berlin, Chor und Solisten beherrschten ihre Partien. Am 15. Februar begannen die Proben mit dem Orchester, das den Kom-ponisten kalt empfing und ihm erst einen Monat später nach der Arie der Fidès im 5. Akt anerkennend applaudierte.

Ebenfalls seit November 1848 wurden Büh-nenbilder gemalt und Kostüme hergestellt. Am 18. Februar begannen die szenischen Proben. Der Intendant selbst leitete sie. Am 12. April probierte er die elektrische Lampe aus, die er bei dem Physiker Léon Foucault und dem Optiker Jules Duboscq in Auftrag gegeben hatte, um am Ende des 3. Akts die Sonne über Münster aufgehen zu lassen. Mit ihr wurde erstmals elektrisches Licht auf dem Theater verwendet. Sie blieb al-lerdings ein Spezialeffekt. Bis in die 1890er Jahre wurden Theater mit Gas beleuchtet. Das erste Haus, das auf elektrische Schein-

26.5.: „In Charlottenhof bei Potsdam vom Kö-nige zum Mittagbrod eingeladen. Der König und die Königin waren äußerst freundlich und liebenswürdig in ihren Unterhaltungen mit mir.“ Die Anerkennung inspiriert den seit je in seiner Arbeitsfreude von Lob und Tadel extrem abhängigen Komponisten, der sich am folgenden Morgen „zum ersten Male mit gutem Erfolge an die [konterrevolutionäre] Stretta des Terzetts“ setzt. Zwei Tage später wird er „nebst meinem Bruder Wilhelm zum Mittagessen beim Prinzen Karl in Glieneke eingeladen, worüber ein großer Teil des Tages hinging“.

Der König, mit dem sich Meyerbeer da zu Tisch setzte und dem er gleich nach Ab-schluss der Überarbeitung des Propheten eine Kantate zur Silbernen Hochzeit schrieb, trieb, wie wir heute wissen, ein zynisches Doppelspiel mit der Verfassungsbewegung. Vermutlich glaubte der Komponist, eine Verkettung unglücklicher Umstände habe zwei Monate zuvor zum Tod der 254 „März-gefallenen“ in den Straßen Berlins geführt, und sprach Friedrich Wilhelm IV. von jeder persönlichen Schuld frei. Der König gab sich äußerlich ja auch judenfreundlich, ohne allerdings entsprechende Gesetze zu erlassen. Als Wilhelm Beer seinen Bruder am 22.3. „über die großen Weltereignisse am 18. und 19. in Berlin“, also die nieder-geschossene Revolte informierte, hat das Tagebuch kein Wort des Mitgefühls für die Toten und Verletzten übrig. Meyerbeer fühlte sich nur von der „Angst befreit, ob kein Glied meiner Familie dabei zu Schaden gekommen wäre.“ Ein Jahr später sollten preußische Truppen die Aufstände in Dres-den, Baden und der Pfalz niederschlagen helfen. Als royalistische Propagandaoper wurde Meyerbeers Feldlager in Schesien in preußischen Landen gespielt. Das Publikum sang die königstreuen Gesängen mit.

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werfer umstellte, war 1881 das Londoner Savoy-Theater. Wagner, der die Aufführung Anfang 1850 sah, kritisierte Meyerbeer in Oper und Drama 1850/51 scharf dafür, dass er es beim reinen Bühneneffekt belassen und den Sonnenaufgang nicht auch kompo-niert habe. Das holte Wagner am Schluss des 1854 vollendeten Rheingolds nach, indem er Walhall „von der Abendsonne beschienen, im hellsten Glanze“ nicht nur elektrisch, sondern auch musikalisch er-strahlen ließ. Ein weiterer Spezialeffekt war die Quadrille der Schlittschuhläufer im 3. Akt, für die sich Meyerbeer durch seinen Bruder Rollschuhe aus Berlin schicken ließ. Sie waren 1790 in Paris erfunden und 1818 auch schon einmal auf einer Berliner Bühne verwendet, dann aber als ungeeignet ver-worfen und vergessen worden. Meyerbeers Prophet brachte sie wieder in Mode.

Nach drei Monaten musikalischer, zwei Mo-

naten szenischer und 23 Orchesterproben, in denen der Komponist seine ohne Pausen fünfeinhalbstündige Partitur laufend kürzte, fand am 16. April 1849 die lange erwartete Uraufführung im Beisein des Staatsprä-sidenten und von „tout Paris“ statt. Sie brachte dem Komponisten einen triumpha-len Erfolg und als erstem Nichtfranzosen das Kreuz der Ehrenlegion ein. Im Publikum stritten Chopin, Berlioz und Delacroix über die Novität. Die gleichzeitig tagende Natio-nalversammlung war beschlussunfähig, weil die meisten ihrer Mitglieder in der Premiere saßen. „Aber einen großen Theil der Wir-kung“, teilte Meyerbeer seiner Mutter noch in derselben Nacht mit, „bin ich der Viardot schuldig, die sich als Sängerin und Schau-spielerin zu einer tragischen Höhe erhob, wie ich sie noch nie auf einem Theater ge-sehen habe.“ Nach zwei Jahren konnte Der Prophet seine 100. Vorstellung feiern, 1900 seine 530.

DER HIMMEL HAT DICH AUSERWAHLT, GOTTESKRIEGER. HÖR‘ AUF SEINE STIMME!

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23Matthias Wohlbrecht, Avtandil Kaspeli, Marc Heller, Lucia Lucas

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NICHT

MEYERBEER IN KARLSRUHE

Meyerbeers Beziehungen zu Karlsruhe sind sowohl privater als auch künstlerischer Natur. Seine Frau Minna Mosson kurte ab 1829 in Baden-Baden, wo auch er sich regelmäßig erholte. Die Reisen von und zu seinen Hauptwohnsitzen Berlin und Paris führten über Karlsruhe. Während der Kur-aufenthalte fuhr man immer wieder in die Residenz, um Theater, Ärzte, Freunde zu besuchen. Zwischen September 1840 und April 1841 hielt sich Meyerbeer mit seiner lebensgefährlich erkrankten Frau wieder in Baden-Baden auf. In diesem halben Jahr entstanden große Teile der 1. Fas-sung des Propheten. Am Neujahrstag 1841 fiel ihm in Karlsruhe auf der Durchreise nach Frankfurt, wo er eine Interpretin der Berthe treffen wollte, das Thema zu Jeans Trinklied im 5. Akt ein. Das am 18. März abgeschlossene Manuskript wurde ab 23. Februar Nummernweise von drei Karlsruher Kopisten ins Reine geschrieben und am 20. März von Meyerbeer selbst, der unter falschem Namen reiste, um einem Treffen

mit dem Pariser Intendanten aus dem Wege zu gehen, in dreitägiger Kutschfahrt nach Paris gebracht. Dort konnte sich Scribe, der nichts von Meyerbeers Anwesenheit wus-ste, von der Fertigstellung der Oper über-zeugen, bevor die Kopie versiegelt bei Notar Chandru deponiert wurde. Das war vertrag-lich vereinbart worden, weil Scribe Mey-erbeer verdächtigte, nebenbei mit anderen Librettisten für die Pariser Oper zu arbeiten. Noch am selben Tag aber, als Meyerbeer in Baden-Baden den Schlussstrich unter den Propheten zog, schrieb er an den Dresdner Hofopernintendanten Lüttichau, um ihm Wagners Rienzi zur Aufführung zu empfeh-len. In beiden Opern steht der Einzelne der Masse gegenüber. Beide orientieren sich an Spontinis Fernand Cortez (1809). Musika-lisch haben sie nichts miteinander gemein.

Robert der Teufel ist das erste Werk Meyer-beers, das Karlsruher Bühnenlicht sah. Die Erstaufführung fand – zwei Jahre nach der Pariser Uraufführung – am 6.10.1833 statt.

VIARDOTOHNE DIE

Ks. Ewa Wolak, Ks. Ina Schlingensiepen

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Der Wiener Anton Haizinger (1796–1869), nach dessen mit Meyerbeer befreundeter Frau in der Karlsruher Oststadt eine Straße benannt ist, sang die Titelpartie und tat dies bis zu seiner Pensionierung 18 Jahre später in fast jeder Vorstellung. Josef Reichel und Gattin waren Bertram und Isabella, Fräu-lein Fischer Alice, Hofkapellmeister Josef Strauss dirigierte, Simon Gaßner malte neue Bühnenbilder. Die vier Vorstellungen bis Ende des Jahres waren so überlaufen, dass das Kassensystem umgestellt werden musste. Der Komponist kam von Baden-Baden zur 2. Vorstellung und wurde gefeiert, hat sich in seinen Tagebüchern und Briefen aber nicht dazu geäußert. Anfang 1837 wur-de Robert als Festvorstellung zu Ehren des Staatsbesuchs Seiner Kaiserlichen Hoheit, des Großfürsten Michael von Russland, gewählt. Aufgrund seiner verspäteten An-reise wurde sie verschoben. Doch selbst einen Tag später musste das Publikum 45 Minuten im stickigen Saal ausharren, ehe der erlauchte Gast erschien. Die Hauptdar-steller wurden trotzdem „nach dem Schlus-se der Oper stürmisch gerufen“, wie der Inspizient auf dem Theaterzettel vermerkte. In den folgenden Jahren gastierten viele berühmte Sängerinnen und Sänger in dem Werk, das nach dem Theaterbrand 1847 allerdings von 4 ¾ Stunden auf etwas über drei Stunden mit Pausen gekürzt wurde. Um dem Geschmack des eher bürger- bis klein-bürgerlichen Publikums im Ausweichtheater in der Orangerie entgegenzukommen, stellte man dem Original 1850 seine Nestroysche Parodie Robert der Teuxel gegenüber.

Als Publikumsliebling Haizinger, ein tenore di grazia, der alle lyrischen Partien Mozarts, Rossinis, Bellinis, Donizettis und des franzö-sischen Repertoires, aber auch Beethovens Florestan sang, in Rente ging, hatte Karls-ruhe Schwierigkeiten, einen Nachfolger zu

finden. Robert verschwand vom Spielplan und wurde am 15.6.1854 wieder vierstündig in Heinrich Hübschs elegantem Theaterneu-bau neu inszeniert. Von nun an erschien er bis 1882 mit zwei Ausnahmen jährlich min-destens einmal auf der Hofbühne. 1890 und 1891 folgen drei Nachzügler. Dann bricht die Aufführungstradition ab. Es stimmt also nicht, dass die Nationalsozialisten schuld daran waren.

Das nächste Werk Meyerbeers in Karlsruhe waren Die Hugenotten. Sie sollten schon 1840 herauskommen. Meyerbeer riet der Intendanz, sich der Dresdner Übersetzung, Striche und Inszenierung zu bedienen. Tat-sächlich verzögerte sich die Erstaufführung bis 1844. Drei Jahre später fiel die Ausstat-tung mit dem ganzen Fundus dem verhee-renden Theaterbrand zum Opfer. Am 17. Mai 1853 wurde Hübschs neues Hoftheater ein-geweiht und zu den Stücken, die schnellst-möglich neu inszeniert wurden, gehörten Robert der Teufel und Die Hugenotten. Sie waren als solide Kassenstücke unentbehr-lich. Die Hugenotten wurden in Karlsruhe bis 1910 fast jedes Jahr mindestens einmal gespielt. Als am 6. September 1891 der 100. Geburtstag des Komponisten gefeiert wurde, standen sie auf dem Programm. An der Pariser Oper waren sie mit 1120 Vorstel-lungen bis 1936 das meist gespielte Stück überhaupt. Auch in Karlsruhe hielten sie sich am längsten von allen Werken ihres Schöpfers. Zwischen 1910 und 1920 waren sie in acht Spielzeiten zu erleben, zwischen 1921 und 1931 in dreien. Dabei kürzte man allerdings alle Meyerbeer-Opern seit 1868 unterschiedslos auf 3,5 Stunden Standard-länge. Eine Politik, die vorher für Lohengrin und Tannhäuser galt, vermutlich, weil die Vertreter der Hauptpartien nicht länger durchhielten. 1868 kehrte sich das Verhältnis um. In dem Maße, in dem man Wagner voll-

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ständiger spielte, wurde Meyerbeer gekürzt. Und in dem Maße, in dem Meyerbeer vom Spielplan verschwand, machte sich Wag-ner breit. Zwischen 1889 und 1895 sinkt die Aufführungszahl für Meyerbeer von 4 auf 2 pro Jahr, die Zahl der Wagner-Aufführungen steigt von 11 auf 15. In den 1870er Jahren notierten die Inspizienten die Bruttoeinnah-men der Billettkasse auf den Theaterzetteln. Ihnen ist bei den üblichen Schwankungen zu entnehmen, dass Meyerbeer insgesamt mehr einbrachte als Wagner. Dass man sei-ne Werke gern als Benefizvorstellungen für soziale und gemeinnützige Zwecke wählte, stützt diese Beobachtung.

Einen letzten Boom erlebte der Komponist mit seinem zarten Schwanengesang Die Afrikanerin, die schon neun Monate nach ihrer Uraufführung nach Karlsruhe kam und einen solchen Ansturm auslöste, dass die Leitung das Vorbestellsystem erneut umstellen musste. Die aufwändige Ausstat-tung machte längere Umbaupausen nötig. Die Intendanz trug dem überregionalen Interesse Rechnung, indem sie auf dem Theaterzettel die Uhrzeiten der abgehenden Züge in die nähere und fernere Umgebung vermerkte. Dirigent der Erstaufführung war Hermann Levi, der Meyerbeer nicht schätzte und nur schimpfend in diesen sauren Apfel seiner Hofkapellmeisterpflichten biss, wie man seinen Briefen entnehmen kann. Die Afrikanerin wurde im ersten Jahr 14 Mal vor brechend vollem Haus gespielt und hielt sich bis 1874 jährlich auf dem Spielplan. Allerdings entging auch sie, nachdem ihr Sensationswert verblasst war, der Norm der maximal dreieinhalbstündigen Abendunter-haltung nicht und wurde 1870 um eine Stun-de gekappt. Zwischen 1876 und 1883 stand sie alle zwei Jahre auf dem Spielplan, zwi-schen 1887 und 1892 mit fünf Vorstellungen, zwischen 1901 und 1915 mit Aufführungen in

sechs Spielzeiten. 1928/29 grub Hans Waag sie im Rahmen seiner versuchten Renais-sance der Grand opéra zum letztenmal aus. Es blieb eine bemühte Bildungsanstrengung.

Für uns ist die Karlsruher Aufführungsge-schichte des Propheten von besonderem Interesse. Das Werk wurde am 21.2.1856 erstmals hier gegeben, kam also sechsein-halb Jahre nach seiner Uraufführung auf die hiesige Bühne. Die Wiedereingliederung der beiden Standardwerke in das Reper-toire hatte nach dem Brand Vorrang. Die Aufführung unter Hofkapellmeister Josef Strauss dauerte 4,5 Stunden mit längeren Pausen für die aufwändigen Bühnenbilder nach dem 2., 3. und 4. Akt. Das 1. Bild, die Dorflidylle mit Obertals Zwingburg à la Tell im Hintergrund, wurde aus dem Fundus genommen, die anderen sieben Bilder neu gemalt. Die Neuinszenierung brachte es auf neun Vorstellungen im ersten Jahr, am 18. Mai gastierte Josef Tichatschek aus Dres-den in der Titelrolle. Der Tenor war einer der Lieblingssänger Richard Wagners. Er hatte während seiner Dresdner Kapellmeisterzeit Rienzi und Tannhäuser aus der Taufe geho-ben und 1850 Lohengrin uraufgeführt. Jean gehörte zu seinen Paraderollen. Er sang die Partie im Rahmen eines einwöchigen Gast-spiels nach Tannhäuser (12.5.) und Eleazar in der Jüdin (15.5.). Hatte er sich das Beste für den Schluss aufgehoben?

Auch im folgenden Jahr kam ein Star, diesmal aus Wien. Aloys Ander galt als füh-render Jean des deutschen Sprachraums. Meyerbeer soll ihn als besten überhaupt bezeichnet haben. „Seine Stimme blendete nicht durch Energie oder Größe“, berich-tet der Kritiker Eduard Hanslick in seinem Nachruf, „gewann aber umso sicherer durch Schmelz und jugendliche Weichheit. Dies blühend schöne Organ behandelte der

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junge Sänger damals schon mit erstaunli-cher Leichtigkeit und Freiheit.“ In die Musik-geschichte ist er als jener Tenor eingegan-gen, an dem 1862 die Wiener Uraufführung des Tristan scheiterte, weil er die Partie trotz zweijähriger Proben nicht bewältigte.

Am 23.8.1860 konnten die Karlsruher den Jean der Uraufführung in ihrem Propheten kennen lernen. Obwohl Meyerbeer seiner Mutter berichtete, Gustave Roger sei „als Schauspieler wie als Sänger wahrhaft rüh-rend und ergreifend“ gewesen, war er alles andere als zufrieden mit ihm. Roger, eigent-lich ein Tenor der kleineren Opéra-comique, war der Grund dafür, dass er die Partie auf den Proben laufend vereinfachen und kür-zen musste. Schließlich kam am 20.1.1865 sogar Pauline Viardot-Garcia aus Baden-Baden, um am Hoftheater neben Rossinis Rosina und Desdemona ihre Paraderolle, die Fidès zu Gehör zu bringen. Meyerbeer hatte ihr die Partie auf den Leib geschrieben.

„Seine Stimme blendete nicht durch Energie oder Größe“. Der Darsteller des Jean war „als Schauspieler wie als Sänger wahrhaft rührend und ergreifend“. An dieser Stelle drängt sich ein Exkurs auf, weil sich in der Karlsruher Besetzungspraxis Meyerbeer-scher Werke ein genereller Wandel ab-zeichnet, der ihnen schließlich das Genick brach. Bis zum Ende der Ära Haizinger, also bis 1850 wurden Meyerbeer-Partien mit lyrischen Stimmen besetzt, die auch Mo-zart, Bellini und Donizetti sangen. Ausläufer solcher Praxis sehen wir in den Gastspielen Aloys Anders‘, Gustave Rogés und Pauline Viardot-Garcias, die neben der Fidès Rossi-nis virtuose Heroinen sang. Ab 1854 müssen die Fachvertreterinnen und -vertreter der Meyerbeer-Opern aber auch Wagner und den dramatischeren Verdi übernehmen. Die-selben Tenöre, Soprane und Altistinnen, die

Jean, Berthe und Fidès gestalten, singen am nächsten Abend Lohengrin, Elsa und Ortrud, Tannhäuser, Elisabeth und Venus, Erik und Senta, Stolzing, Evchen und Lene, ja in den 80er Jahren sogar Siegmund, Sieglinde und Brünnhilde, Tristan, Isolde und Brangäne. Es wird danach geklungen haben. Hinzu kamen die verstümmelten Fas-sungen, die verstaubten und zerschlissenen Kulissen, die musikalischen Einstudierun-gen nebenbei, die kaum noch Chefsache waren. Kein Wunder, dass Meyerbeer auf den Hund kam und das Publikum wegblieb. Obwohl Wagner-Aufführungen in Karlsruhe wie überall bis tief ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts gekürzt waren, veränderten die Anforderungen des Wagner-Gesanges bei stetig wachsenden Aufführungszahlen gegenüber fallenden Aufführungszahlen für Meyerbeer die Realität des Meyerbeer-Gesangs. Die Stimmen wurden schwerer, robuster, dunkler. Sie verloren ihre Agilität. Die Poesie eines Ander, die Geläufigkeit einer Viardot gingen verloren. Der Karlsru-her Meyerbeer-Tenor von 1853 bis 1857 war Adolf Grimminger, zugleich erster Karls-ruher Tannhäuser, Lohengrin und Erik, die dramatische Sopranistin bis 1860 Malvina Garrigues, neben Fidès, Valentine und Ali-ce auch Gluck-Heroine, Fidelio, Elisabeth, Ortrud, Senta. Die „chanteuse legère“ Clementine Howitz-Steinau musste bis 1864 neben Berthe und ihren Schwestern auch Elsa und Venus singen. Nebenbei hob das Trio am 15.10.1857 auch noch den Karlsru-her Troubadour aus der Taufe.

Einen weiteren Schritt in Richtung laute, schwere Stimmen brachten die 1860er Jah-re. Das hatte damit zu tun, dass Meyerbeer, Wagner, Verdi als prestigeträchtigste Spiel-planpositionen galten, auf deren Hauptrol-len die ersten Fachvertreter des Hauses Anrecht hatten, auch wenn sie stilistisch

Matthias Wohlbrecht, Ks. Ina Schlingensiepen, Ks. Ewa Wolak, Staatsopernchor

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völlig unterschiedlich waren. Bahnbrecher dieser Fehlentwicklung zum Brutalismus hin war Ludwig Schnorr von Carolsfeld. Der 20-Jährige sang 1856 in der Karlsruher Erst-aufführung des Propheten Jonas, übernahm kein halbes Jahr später schon den Robert, 1858 von Gimminger den Jean und 1859 Raoul. Parallel dazu liefen seine Karlsruher Debüts als Steuermann im Fliegenden Hol-länder, Tannhäuser und Lohengrin, immer an der Seite Malvina Garrigues, die 1860 seine Frau wurde. Nach der Hochzeit ging das Paar nach Dresden. 1862 kehrte es für ein Gastspiel zurück. Auf dem Programm standen Lohengrin und Hugenotten. Als sie Wagner unterwegs in Biebrich besuchten, probierte er Tristan mit ihnen aus. Drei Jah-re später hoben sie das Werk in München aus der Taufe.

Überhaupt scheinen Meyerbeer und Wag-ner für Sänger der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kein Gegensatz gewesen zu sein. Das zeigen nicht nur die Karlsruher Hausbesetzungen, sondern auch die pro-minenten Gäste. Am 26.10.1858 gastiert Wagners Nichte Johanna, zugleich Wag-ners erste Elisabeth und Schülerin Pauline Viardots-Garcia, als Fidès in Karlsruhe. Ihre Schülerin Christine Friedlein, Ensemble-mitglied der ersten Bayreuther Festspie-le, gehört 1884 bis 1910 dem Karlsruher Theater an und singt dort neben Fidès alle dramatischen Partien. Ein weiteres Blumen-mädchen von 1882, Luise Belce, kommt als Berthe, Marguérite, Isabella ins Ensemble. Marianne Brandt, Viardot-Schülerin auch sie, gelang 1868 als Fidès an der Berliner Hofoper der Durchbruch. Die Propheten-Mutter wird ihre Paraderolle. Sie singt sie 1874, 1876, 1879 auch in Karlsruhe. 1882 holt Wagner sie als Kundry nach Bayreuth. Ein Jahr später ist sie Karlsruhes erste Brünn-hilde. Karlsruhes Tristan, Siegmund, Stol-

zing, Lohengrin Alfred Oberländer verkör-perte bis 1894 auch sämtliche Meyerbeer-Helden an der Seite Pauline Mailhacs, die für das dramatische Fach von Brünnhilde und Isolde bis Berthe, Sélika, Valentine zu-ständig und am 11.3.1894 sogar Alice Ford in Karlsruhes erstem Falstaff war.

Derart wagnerisiert hielt sich Der Prophet bis 1888 nahezu ununterbrochen, wenn auch mit sinkenden Aufführungszahlen, auf dem Spielplan. 1891 wurde er neu einstu-diert, am 10.5.1896 als Festvorstellung zum Jubiläum des Deutsch-Französischen Frie-densvertrags von 1871 gegeben. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts stand er in fünf Spielzeiten auf dem Spielplan, dann 1921 ein letztes Mal. Dabei wurden die Bal-lette unterschiedlich gestaltet. 1856 gab es zwei kleine Divertissements – Bauerntanz und Bacchanale – im 1. und 5. Akt sowie zwei der vier Nummern des großen Diver-tissements – Schlittschuh-Quadrille und Final-Galopp – im 3. Akt. Ende des Jahrhun-derts tritt die beliebte Redowa im 3. Akt auf Kosten des Bacchanales im 5. dazu.

Unter den Karlsruher Meyerbeer-Werken befindet sich auch Dinorah. Am 9.9.1873 als Festvorstellung zum Geburtstag des Groß-herzogs erstaufgeführt, erlebte die Opéra-comique fünf Vorstellungen bis 1877 erlebte, wozu noch ein Gastspiel in Baden-Baden kam. 1879 verdankte sie der beliebten Karls-ruher Koloratursopranistin Bianca Bianchi eine kurze Renaissance von vier Auffüh-rungen, bevor sie verschwand. Von Meyer-beers Bruder Michael Beer (1800–1833) gab man im November 1871 zweimal das Histori-sche Drama Struensee mit der Schauspiel-musik seines Bruders sowie im Februar 1882 im Rahmen eines Zyklusses vergessener Stücke des frühen 19. Jahrhunderts den Paria, in dem Michael Beer 1829 das Thema

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Antisemitismus im Gewand eines indischen Trauerspiels abhandelte.

Studiert man die Statistik des 20. Jahrhun-derts, gibt es zwischen 1900 und 1910 kein Jahr ohne Meyerbeer. 1903/04 stehen drei Werke auf dem Spielplan, weil auf Wunsch Ernestine Schumann-Heinks, Strauß‘ erster Klytämnestra, die sich als Fidès präsentie-ren möchte, am 2.1.1904 Der Prophet für eine Vorstellung aufpoliert wird, in sechs Spielzeiten zwei. In den 1910er Jahren sind es nur noch sieben Spielzeiten, in denen je ein Werk in Karlsruhe zu hören ist, in den 1920ern nur noch vier. Sie sind mit den Haus-Siegfrieden und -Brünnhilden besetzt und werden von den zweiten und dritten Kapellmeistern geleitet. Keine Reprise bringt es über drei Vorstellungen pro Spielzeit. Zwei Vorstellungen sind ein gutes Ergebnis. Dabei beschränkt sich das Repertoire auf Prophet (letztmals 1921, an der Pariser Oper 1912 zuletzt), Afrikanerin (letztmals 1929, in Paris 1902) und Hugenotten (letztmals 1931, in Paris 1936). Intendant Hans Waag versuchte Ende der 20er Jahre mit einem Zyklus stark gekürzter Grands opéras, zu dem auch Jüdin und Stumme von Portici gehörten, das von den Krisen verunsicherte konservative Bildungsbürgertum ins Theater zu locken. Es war nicht groß genug. Robert der Teufel wurde schon 1891 abgesetzt, ein Jahr, bevor auch an der Pariser Oper der letzte Vorhang für ihn fiel. Meyerbeer war Opfer seines Erfolges geworden. Sei-ne Werke wurden zu oft, zu schlampig, zu inkompetent gespielt. Sie wurden im Reper-toire zersungen und hingen dem Publikum zu den Ohren heraus. Und als man sie ohne Unkosten halbherzig wieder beleben wollte, sahen sie so alt aus wie die Pappe aus dem Fundus, zwischen die man sie stellte.

„Immerhin stehen Die Hugenotten noch auf

den Spielplänen und erfreuen sich, trotz ihren neunzig Jahren, guter musikalischer Rüstigkeit“, spottete Alfred Polgar 1926 über solche Versuche. „Mein Nachbar im Thea-ter, der alte Opernkenner, ist ganz süß und bitter vor Erinnerungen, die so schön sind, und so schmerzlich, weil sie Erinnerungen sind. Er hat Valentinen, Pagen, Marcels und Raouls gesehen, an die man gar nicht den-ken darf und es doch muss, und sein Herz ist geblendet von verstummter Stimmen Pracht und Glanz. Er hat das Werk noch gekannt, wie es fünf Akte groß war, und Raoul noch mit Valentinen und Marcel, dem Braven, im Trio starb. Jetzt fällt Raoul schon im vierten Akt, herausgerissen mitten aus dem hohen B.

Ach, sagte der alte Opernkenner, was waren das früher für triumphale H und B und C! Sogar eines dreigestrichenen Cis des Raoul gedenkt er, das wie ein trunke-ner Stern über der Duellszene flammte. Längst wagt kein Tenor mehr sich in so schwindelnde Höhe. Schon das B ist heute ein Risiko, und wenn der Sänger sich zum Sprung anschickt, zittern die Zuhörer, ob er hinkommen oder stürzen werde. Sie halten vor Bangigkeit den Atem an, und auch über Spiel und Spieler auf der Szene fällt sekun-denlang Starrheit; wie die Musik im Variété aussetzt, wenn der Artist sein Größtes wagt.

Wunder weiß er auch zu erzählen, der alte Kenner und Wisser, von gewesenen Mar-gareten. Sein Gedächtnis ist behängt mit Trillerketten, umwindend feinste Stichfigu-ren der Stakkati, die so zierlich und kostbar waren wie die Ornamente einer Brüsseler Spitze. Ihm ist die Bühne belebt von Toten, und deshalb scheint ihm tot, was jetzt auf ihr lebt.“ Meyerbeer wurde seit 84 Jahren nicht mehr in Karlsruhe gespielt, Der Pro-phet seit 94 Jahren.

Folgeseiten Avtandil Kaspeli, Lucia Lucas, Marc Heller, Matthias Wohlbrecht, Staatsopernchor, Extrachor

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Die Grand opéra verdankt der französi-schen Tragédie lyrique des Barock ihre Fünfaktigkeit, ihre Chöre und Ballette, ihren hohen Ton, ihr soziales Prestige und ihre prunkvolle Ausstattung. Über Gluck, die klassizistischen und romantischen Opernreformen um 1800, die pathetische Revolutionsoper, der Spontini unter Na-poleon imperiale Würde verlieh, Rossinis Neuausrichtung vokaler Virtuosität und das romantische Melodramma bildete sie sich Ende der 1820 Jahre an der Pariser Acadé-mie Royale, wie die Große Oper damals hieß, heraus. Dabei ebneten ihr Werke, die aufgrund ihrer Qualität und ihres Erfolges Maßstäbe setzten, den Weg zur Gattung. Diese Werke waren Aubers Stumme von Portici (1828), Rossinis Wilhelm Tell (1829) und Meyerbeers Robert der Teufel (1831). Sie stammten von einem Franzosen, einem Italiener und einem Deutschen. Robert der Teufel erschloss der französischen Bühne die Bläserfarben des Freischütz (1822). Meyerbeers Eigenart besteht darin, dass er den deutschen Orchestersatz mit dem Vo-kalfeuerwerk Rossinis, der musikalischen

Diktion sowie den Effektmusiken der franzö-sischen Tradition sowie den Marschopern und dem Pathos Spontinis verbindet.

Symmetrien

Auch, wenn Meyerbeer mit jeder seiner vier Großen Opern musikalisch und drama-turgisch ein neues Modell schuf – Robert die romantische Gruseloper, Hugenotten das Geschichtsfresko, Prophet das Hel-den- und Volksdrama, Afrikanerin die Ly-rische Tragödie – lässt sich die Musik des Propheten vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Genealogie verstehen. Die Arien und Duette, die Meyerbeer auch „Ari-en zu 2“ nennt, ja ganze Ensemblekomplexe basieren bei ihm auf dem barocken Prinzip Wiederholung, Verzierung, Variation. Die Wiederholung hat bei Meyerbeer aber nicht nur eine barocke Seite als Basis für virtuose Verzierungen und Variationen, sondern auch eine klassizistische, indem sie Symmetrien bildet. Strophen, also die kleinen Formen, baut Meyerbeer meist nach dem Liedschema AAB – Couplet, Cou-

ZUR MUSIK

ADRENALIN

PUR

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plet, Refrain. Nummern, Szenen, Akte, also alle größeren Komplexe, gliedert er symme-trisch nach dem Schema ABACA usw. Da-bei bricht er die etablierten Symmetrien am Ende aber regelmäßig wieder auf, indem er die erwartete Reprise A entweder durch Einschübe hinauszögert – ABACDA – oder durch die nächste Nummer oder Szene ersetzt – ABACDC usw.

Auf die zuletzt beschriebene Weise, die eigentlich nur dem Überraschungseffekt dient, indem sie das Erwartete verweigert, gehen die Nummern oft fließend in einan-der über, sodass die kadenzharmonisch immer noch erkennbare Nummernoper zum durchkomponierten Musikdrama drängt. Der 2. Akt oder das 1. Bild des 5. Akts sind in dieser Weise fast vollständig verkettet. Sogar wenn man die Akte mit einander vergleicht, kann man klassizistische Sym-metriebildungen beobachten. Der 2. Akt ist eine erweiterte Variation des 1. Im Zentrum beider Akte stehen die Agitationsszenen der Wiedertäufer mit ihrem musikalischen Leitmotiv, dem Wiedertäuferchoral. Daran gekoppelt sind die Tyrannen-Szenen mit ihrer dramatischen Tonsprache. Akt 3 und 4 wenden sich völlig neuen Themen zu, bevor Akt 5 mit dem Wiedertäuferchoral wieder auf den Beginn zurückkommt und die Folgen der ersten beiden Akte vorführt. Auf der Makrostrukturebene ergibt sich also das Schema AABA. Meyerbeers Musik ist auch in den aufgewühltesten Momenten nie formlos herausgeschleuderte Emotion, sondern immer klassizistisch geformt und symmetrisch organisiert. Ihre mitreißende Wirkung verdankt sie seiner ausgeprägten und bei keinem anderen Komponisten in dieser Weise entwickelten Fähigkeit, inner-halb dieser symmetrischen Strukturen die Steigerungsspirale scheinbar unendlich hochzuschrauben.

Überbietungstechniken

Wie diese Steigerungstechnik funktioniert, zeigt exemplarisch die Wiedertäuferpredigt im 1. Akt, zu der die Pariser Straßenagita-toren von 1848 den Komponisten anregten. Die Nummer beginnt mit dem markanten Wiedertäufer-Choral „Ad nos, ad salutarem undam, iterum venite, miseri! – Zu uns, zur heilenden Welle, kehrt wieder zurück, Ihr Elenden“, der sich mit seinen leeren Quinten und Quarten als Leitmotiv durch das ganze Stück zieht. Meyerbeer hatte die Technik wie Wagner in Webers Frei-schütz kennengelernt, wo immer dort das Samiel-Motiv erklingt, wenn das Böse naht. Auf den Choral folgt die Agitationsrede des ersten Wiedertäufers im psalmodie-renden Predigerton, darauf der Choral zur Einpeitschung der Parole, dann die zweite Rede, schon bewegter, darauf wieder der Choral, dann die dritte Rede. Hier wird die Symmetrie aufgebrochen. Statt des erwar-teten Chorals folgt ein Frage-Antwortspiel mit den Bauern, das Mussorgsky später im 1. Bild des Boris Godunow nachahmte. Dieses Frage-Antwortspiel besteht aus vier Fragen. Nach dem ersten Durchlauf in Ein-zelstimmen werden sie im doppelten Tempo vom Tutti wiederholt (Symmetriebildung), dann mischen sich die Frauen ein, das Ge-flüster mündet in großer Steigerung in eine bewegte Beratschlagung der Bauern unter sich, durch die die Wiedertäufer ihren dü-steren Propagandachoral als cantus firmus ziehen. Dieses Zwischenspiel hat die Re-prise des Chorals nur verzögert, in den nun alle Personen auf der Bühne einstimmen, allerdings mit unterschiedlichem Text. Mu-sikalisch hat die Gehirnwäsche schon funk-tioniert, ideologisch sind Täufer und Bauern noch nicht auf Linie. Die Steigerung, die Meyerbeer hier aufbaut, führt also von dem einfachen Choral der drei Ideologen über

PUR

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drei Stufen als retardierendem Moment zum gewaltigen Tutti nach dem Rondo-Schema ABACADEA.

Nun belässt Meyerbeer es aber nicht bei der einfachen Steigerung, sondern setzt innerhalb der gleichen Nummer noch eins drauf. Ein C-Dur-Marsch bereitet der düsteren c-Moll-Szene abrupt ein Ende. Auf die Indoktrination folgt die Aktion. Die Parole wird den Bauern nach dem Schema abab cccc rhythmisch und mit achtmal wiederholtem Refrain „Dieux le veut – Gott will es“ eingehämmert. Die Rechnung mit der rhythmisch skandierten Parole geht auf. Die Bauern wiederholen die gesamte Strophe eine dynamische Stufe stärker im Fortissimo. Dann zieht in der Stretta auch das Tempo an. Solche mitreißenden Mär-sche kannte Meyerbeer aus der Musik der Revolution von 1789. Spontini hatte zwanzig Jahre später gezeigt, wie man Märsche als Pathosformeln in Opernensembles ein-baut. Meyerbeer verbindet die Formen des Rondos im ersten Teil der Nummer und der Marschszene im zweiten Teil nach einem Modell, das man in der Theorie seiner Zeit „forma solita – gewohnte Form“ nannte. Sie lag seit Rossini auch jeder Belcanto-Oper in der Kombination Cavatine – Cabaletta zugrunde lag. Es handelt sich um die Ver-bindung einer langsamen, geschlossenen Nummer mit einer feurigen, schnellen.

Solche komplexen Kombinationen einfa-cher Formen liegen allen Ensembleszenen des Propheten bis hin zu den überwälti-genden Finali 3 und 4 zu Grunde. Bereits hier zeigt sich, dass Der Prophet sein Au-genmerk auf das Verhältnis des Einzelnen zur Masse richtet. Richard Wagner tat in seinem gleichzeitig entstandenen Rienzi das Gleiche. Beide nahmen sich Spontinis Fernand Cortez zum Vorbild. Bei Wagner

kommt es aber zu keiner dynamischen In-teraktion zwischen Individuum und Masse. Der Einzelne ist bei Wagner immer Redner, die Masse immer Zuhörer. Die Masse rea-giert nicht, sondern tut, was der Redner sagt. In Tannhäuser, Lohengrin, Meister-singer wird das Problem des wirkungslosen Einzelnen vor der Masse dann thematisiert. Erst in der Götterdämmerung übernimmt Hagens Mannenchor die Energie seines Einpeitschers.

Mit Techniken der Retardierung und Überbietung arbeitet Meyerbeer auch im Hinblick auf das Ganze der Oper. Der erste Akt ist eine Pastorale, die sich in der ana-lysierten Szene zu einem ersten Höhepunkt aufschwingt und dann wieder in sich zu-sammensackt. Der zweite Akt richtet sein Augenmerk auf die Individualgeschichte Jeans mit einem ersten dramatischen Hö-hepunkt. Das musikalische Gewicht liegt aber auf Traumerzählung und Pastorale Jeans. Der dritte Akt rückt das Volk mit ge-walttätigen Chören und dem großen Ballett ins Zentrum und endet mit einem gewalti-gen Finale, das nicht zu steigern ist. Irrtum. Nach einer kleinen Verschnaufpause mit Blick auf Mutter und Braut im ersten Bild des vierten Aktes übertrifft Meyerbeer den 3. Akt mit dem Krönungsbild, das in einen irrwitzigen Galopp mündet. Er klingt, als hätte sich Meyerbeer in den Schlusstakten einen Spaß daraus gemacht, so zu kompo-nieren, wie seine Feinde den Meyerbeer-Stil charakterisierten. Der 5. Akt wechselt mit Fidès‘ großer Szene „O prêtres de Baal“, die sich über 90 (!) Seiten im Klavier-auszug hinweg zum Duett, schließlich zum Terzett erweitert und steigert, das Register. Das Schlussbild eilt dann über Jeans char-mant-heroisches Trinklied unter Beteiligung des Chores rasch der finalen Katastrophe zu. Wir erleben also über den 3., 4. und 5.

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Akt einschließlich regelmäßige Entspan-nungsszenen eine stetige Überbietung der Überbietung, wie sie mir aus keiner ande-ren Oper bekannt ist.

Belcanto

Dabei bedient sich Meyerbeer in den indivi-duellen Gesangsnummern, also Arie, Duett, Terzett, der gesamten Bandbreite des sei-nerzeit gängigen Formenrepertoires, vom veredelten Strophenlied mit Verzierungen, Variationen, Kadenzen und Doppelkaden-zen bis hin zur großen, vielgliedrigen Szene, von denen die oben beschriebene des 5. Aktes die Krönung darstellt. Ihre Vielteilig-keit dient der Steigerung der Wirkung, teils durch Überbietung, teils durch kontrastie-rende Affekte im Sinn der barocken Af-fektenlehre. Ihr Vokalstil steht demjenigen Rossinis und des Belcanto näher als dem-jenigen Verdis, dessen bekannteren Opern aber mit Ausnahme des Nabucco und der 1. Fassung des Macbeth noch garnicht kom-poniert waren. Er basiert auf den barocken Prinzipien der Wiederholung von Formtei-len, die verziert, variiert und mit virtuosen Kadenzen durchsetzt werden. Meyerbeer berief sich immer wieder auf Rossini. Der hatte diese Vibratos, Trillerketten, Sequen-zen, Läufe und Intervallsprünge aus dem Schematismus des Spätbarock befreit und wieder zum direkten Ausdruck der vor Er-regung zitternden, vor Freude jauchzenden, vor Verwirrung sich im Kreise drehenden oder vor Indignation hochfahrenden Seele gemacht, der die Worte unter dem Andrang der Gefühle in bloße Laute zerstieben. Das romantische Melodramma veredelte diese Gesangstechniken im Ausdruck und machte sie den neuen Empfindungswelten der Menschen um 1830 dienstbar. Mey-erbeer nutzt die Errungenschaften beider Schulen als Ausdrucksmittel, aber natürlich

auch, um – wie Rossini – die Emotionen hochzuputschen. Besonders die Kette der Solonummern des 5. Aktes, wo ein Fass nach dem andern aufgemacht wird, ist Ad-renalin pur. Und das am Ende einer langen Oper! Darüber hinaus erweiterte er das artifizielle Ausdrucksrepertoire um Mittel aus dem Sprechtheater. Er übersäte die Notation der Vokalstimme mit Vorschriften wie „weinend“, „ausbrechend“, „mit hal-ber Stimme“, „mit erstickter Stimme“, „mit zitternder Stimme“, „fast gesprochen“, „frei deklamiert“, „schreiend“. Schließlich orientierte er sich in den idyllischen Num-mern am naiven Chanson legère der Opéra comique.

Erinnerungsmotive

Stärker noch als seine Vorgänger drängt Meyerbeer zur durchkomponierten Oper. Von Gluck und seinem großen Vorbild Carl Maria von Weber hatte er sich inspirieren lassen. Die Nummern sind im Propheten oft zwar noch in sich geschlossen. Oft aber ge-hen sie bruchlos in einander über. Vor allem die Rezitative gehen fließend von dekla-mierten in ariose Passagen über und wie-der zurück. Noch wichtiger sind die Leitmo-tive, mit denen Meyerbeer die Oper durch-zieht und die einzelnen Szenen aufeinander bezieht. Der sinistre Wiedertäufer-Choral wurde schon erwähnt. Er erscheint immer dann, wenn die Hassprediger ihr unheiliges Wesen treiben. Vier Fagotte umgeben ihn mit einer Art musikalischem Antiheiligen-schein, um hörbar zu machen, welchen Höllenkreisen sie entsteigen. Meyerbeer hatte diesen Trick Bachs Matthäuspassion abgeguckt. Außerdem hatte er schon dem braven Marcel in den Hugenotten den Choral „Eine fest Burg ist unser Gott“ als musikalische Visitenkarte mitgegeben, was große Begeisterung beim Publikum auslös-

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te. Im Propheten verfuhr er wieder so. Der 2. Akt führt sodann in der sogenannten Pas-torale das Berthe-Motiv ein, das für jenes häusliche Leben in Frieden und Unschuld steht, das Jean mit seiner Karriere als Pro-phet für immer verliert. Im 3. und 5. Akt, wo er vergeblich zurückkehren möchte, taucht es wieder auf. Ebenfalls im 2. Akt, in Jeans berühmter Traumerzählung, lernen wird das Königsmotiv kennen, das Jean die Krone verheißt und das der Kinderchor zwei Akte später bei seiner Krönung dann ganz real anstimmen wird. Schließlich beschreibt das Galoppmotiv im 4. Finale Fidès‘ Herzrasen. Es wird im großen Duett des 5. Aktes wie-derkehren und sich aus der Situation erklä-ren, dass die Mutter halb wahnsinnig vor Angst um das Seelenheil ihres verlorenen Sohnes kämpft.

Instrumentation

In der Instrumentation bemühte sich Mey-erbeer um Neuheit und Feinheit. In den Werkstätten der Instrumentenbauer war er regelmäßiger Gast, um sich über die neuesten Instrumente und Klangfarben zu informieren. Für den Propheten ließ er neue Pauken konstruieren. Er setzte die neuesten Blasinstrumente seines Freundes Adolphe Sax ein, warf das Saxophon in Fidès Arie

aber auch wieder hinaus, weil es nicht den gewünschten Effekt machte. Als Instrumen-tator experimentierte er ständig mit unkon-ventionellen Instrumentenverbindungen, was ihm die Freundschaft Berlioz‘ eintrug. Die vier Fagotte, die er den sinistren Wie-dertäufern zuordnete, hatte es zuvor in keinem anderen Werk gegeben.

Meyerbeers Orchester ist riesig. Anders als bei Wagner spielen aber selten alle Instrumente zusammen. Es musste groß sein, weil Meyerbeer die Veränderung der Klangfarben in der Multiplikation mehrerer Instrumente einer Familie studierte und weil er mit der Mischung möglichst vieler unterschiedlicher Farben experimentierte. Während der Proben seiner Opern dünnte Meyerbeer den Orchestersatz laufend aus, weil für ihn wie für alle Belcanto-Komponisten der Gesang das Primäre war. Das Orchester koloriert die dramatischen Situationen, charakterisiert sie, vollendet sie. Die große Wiener Sopranistin Pauline Lucca, die sich vertraglich garantieren ließ, niemals in Wagner-Opern eingesetzt zu werden, brachte 1871 auf den Punkt, was diese Haltung dem Orchester gegenüber für die Kunst des schönen Gesangs bedeu-tete: „Bach, Mozart und Meyerbeer verkör-pern das Gewissen der Musik.“

WARUM DONNERT DER HIMMEL NICHT AUF DIESE SUNDENHAUPTER NIEDER?

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WARUM DONNERT DER HIMMEL NICHT AUF DIESE SUNDENHAUPTER NIEDER?

Armin Kolarczyk, Ks. Ina Schlingensiepen, Staatsopernchor, Extrachor

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Gespräch mit Tobias Kratzer (TK), Rainer Sellmaier (RS) und Manuel Braun (MB)

Ihr verlegt die Geschichte von dem Mann, der sich sein Recht nur mit Gewalt ver-schaffen kann, in die Gegenwart. Warum?

TK Weil es sich nicht wie eine Verlegung anfühlt. Wir haben auf den Proben die Er-fahrung gemacht, dass jede Szene unmittel-bar gegenwärtig wirkt. Wo man in anderen Stücken die Aktualität mit Tricks und Knif-fen herstellen muss, kann man sie hier qua-si vom Blatt spielen. Das Stück weht einen bis ins Detail hinein heutig an. Ich zitiere in diesem Zusammenhang immer einen kurzen Rezitativsatz aus dem 3. Akt, in dem das Volk eine Geisel genommen hat und sie nun töten will. Und dann kommen die drei Wiedertäufer und sagen: Nein, wir haben eine bessere Verwendung für ihn. Lasst uns doch Lösegeld verlangen. Sofort ist man bildmäßig in heutigen ISIS-Videos, wie sie

über Youtube laufen, wie religiöse Bewe-gungen Gefangene nehmen, um auf brutale Weise ihre Forderungen durchzusetzen. Von solchen Szenen ist das Stück voll.

Ihr thematisiert politische Agitation mit neuen Medien und sozialen Plattformen. Meyerbeer arbeitet mit dem musikalischen Mittel der Märsche.

TK Ich empfinde beide in der Kinetik relativ identisch. Nehmen wir die zweite Hälfte des Galopps im Ballett. Die geht bei uns von einer konkreten szenischen Aktion in einen Stillstand auf der Bühne über, während sich die Aktion auf die Videoebene überträgt. Wir codieren den Galopp, der eigentlich die aufgepeitschte Masse zeigt, in laufen-de Eingänge auf Facebook-Accounts um, durch die sich das Bild dieser brutalen Aktion verbreitet. Da versuche ich, die Ki-netik der Musik aufzunehmen, sie aber in ein anderes Medium zu transponieren. Die

ZUR INSZENIERUNG

AKTUELLESPOTENZIAL

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Inszenierung arbeitet oft mit ähnlichen Mit-teln, weil Revolutionen heute nicht mehr auf die Art und Weise funktionieren wie im 19. Jahrhundert. Das geht nicht mehr über den Feldherren, der das Volk auf dem Platz an-spricht, sondern über dessen mediale Ver-breitung. Da finde ich das Stück sehr klar. Die Vergrößerung, die der Prophet als Rolle erfährt, erfährt heutzutage jede bekannte Gestalt, weil sie nie mehr leibhaftig erfasst werden kann, sondern einem immer medial vergrößert oder verfälscht entgegentritt.

Braucht er dann überhaupt noch das Cha-risma, das Meyerbeer thematisiert?

RS Ich glaube, dass die unterschiedlichen Medien das vorhandene Charisma ver-größern und ihn zu einem Star machen. Natürliche nehmen die drei Wiedertäufer am Anfang nicht Max Mustermann von der Straße, sondern suchen jemanden, der eine telegene Ausstrahlung hat…MB … und sich missbrauchen lässt.

Ist das ein Thema der Inszenierung?

TK Die Frage, wie überträgt sich das Charis-ma eines Einzelnen auf die Masse ist in der Tat ein Thema und eine Qualität des Stücks. Wir versuchen in der großen Chorszene am Ende des 3. Akts zu zeigen, wie oben vor dem Bluescreen Charisma erzeugt wird und welche Reaktionen das wiederum unten bei der Bevölkerung hervorruft. Das übertra-gene Bild ist ja fast schon die Satire einer medialen Übertragung, wenn man oben sieht, was hinter den Kulissen stattfindet. Damit wird die permanente Doppelbödigkeit des Bildes und der Bildwirkung betont.

Stichwort Satire. Habt ihr die aus dem Pathos, den Übertreibungen der Musik abgeleitet?

MB Nicht nur. Die Realität, die das Stück beschreibt, ist selbst nahe genug an der Satire. Es gibt die drei Wiedertäufer, die bei uns in Richtung Mormonen, Zeugen Jeho-vas, Scientology gehen. Die funktionieren meist über eine simple Ästhetik. Da reicht ein Regenbogen oder eine schöne, helle Landschaft, um mir den Seelenfrieden zu verkaufen. Ich habe bewusst einfache Mo-tive gewählt, um zu zeigen, mit wie platten Bildern Verführung funktioniert. Das zeigen auch die Filme von IS und all‘ diesen Bewe-gungen. Die haben kein raffiniertes Design, sondern meist sehr klare, oft kitschige und unprofessionelle Bilder, die trotzdem diese Wirkung entfalten.

Warum erzielen die die?

TK Das ist eine interessante Frage, weil sich ikonographisch da in den letzten 200 Jahren nicht viel verändert hat. Den Re-genbogen in der idyllischen Landschaft findet man auch in der heroischen Land-schaftsmalerei des frühen 19. Jahrhunderts zuhauf. Letztes Wochenende war Tag der offenen Tür bei Scientology in München. Da sieht man die Regenbogen-Plakate immer noch hängen. Das scheinen archetypische Muster zu sein, die irgendwelche Grund-bedürfnisse ansprechen, sodass sie von der Hochkultur bis zum Andachtsbild gleich verbreitet sind. Aber um auf Deine Frage nach der Musik zurückzukommen. Ich finde erstaunlich, dass Meyerbeers Szenen in ei-nem positiven Sinne immer auch oberfläch-lich funktionieren. Es ist keine Musik, durch die sich die Charaktere im Laufe des Stücks psychologisch vertiefen würden. Dafür geraten sie in immer neue und aberwitzige Situationen. Die Reduktion eines solchen Stücks auf einen harten psychologischen oder intimen Kern fällt schwer, weil die Musik immer neue äußere Situationen und

POTENZIAL

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43Avtandil Kaspeli, Marc Heller, Lucia Lucas, Matthias Wohlbrecht

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Reaktionen der Figuren hervorruft, aber keine psychologisch-emotionale Vertiefung leistet. Insofern funktionieren, das haben wir auf den Proben festgestellt, die Situa-tionen am stärksten, die man über eine deutliche Äußerlichkeit aufladen konnte. Das war eine interessante Entdeckung.

Gilt das auch für das Beziehungsdreieck Berthe – Jean – Fidès?

TK Eigentlich ja. Die große Kerkerszene der drei im 5. Akt ähnelt zwar am stärksten einem klassischen Melodram. Aber selbst da tauchen nicht völlig neue psycholo-gische Schattierungen auf, sondern es verschiebt sich bloß das situative Gleich-gewicht permanent. Das Stück braucht darum auch immer wieder hemmungslose Hilfskonstruktionen wie den schnell her-einplatzenden Offizier. So folgerichtig und grandios das Libretto geplottet ist, so sehr fehlen im Detail oft organische Motivatio-nen und auskomponierte Entwicklungen, was natürlich auch durch die Kürzungen verstärkt wird, die das Stück schon vor der Uraufführung erfahren hat. Aber insgesamt funktioniert es in diesem Punkt wirklich anders als eine Verdi-Oper.

Auch anders als die Belcanto-Opern, die Ihr inszeniert habt?

TK Völlig anders. Ich habe Anna Bolena und Lucrezia Borgia gemacht, das sind unglaubliche Well-made-plays. Da werden die Figuren einmal auf Kurs gebracht und dann entfaltet sich das Drama. Ich meine das ganz wertneutral. Den Propheten muss man dagegen immer wieder neu zum Laufen kriegen. In ihrer Makrostruktur ist diese Oper in jeder Szene wahnsinnig gut auf einzelne dramatische Höhepunkte zugespitzt, aber in der Organik, die die Fi-

guren mitbringen, ist es viel vertrackter als Donizetti. Allerdings haben diese Brüche und Neuansätze bei Meyerbeer natürlich eine eigene Qualität. Man muss eben nur den Fokus zwischen Panoramansicht und Einzelschicksal ständig neu einstellen.

Darum stellt Ihr eine ganze Stadt auf die Bühne?

RS Ja, das ist im Stück so angelegt. Was kann ein Mann oder können ein paar Leute für eine verheerende Wirkung auf eine ganze Gesellschaft ausüben? Das wechselt im Stück immer zwischen intimen Szenen und Massenaufläufen. Wir haben versucht, in der Banlieue-Installation, die wir entwik-kelt haben, Möglichkeiten für beide Quali-täten zu finden, damit die intimen Szenen nicht auf einer leeren Bühne verpuffen und auch die großen Szenen rein physisch Platz haben, um 90 Leute sinnvoll unterzubringen. TK Manchmal brechen wir das auch kontradiktorisch. In der Krönungsszene liegt der Schwerpunkt z. B. nicht auf dem großen Tableau, sondern auf den intimen Reaktionen von Fidès und Jean. Da haben wir ganz bewusst noch einmal eine andere mediale Komponente drin, nicht das Propa-gandavideo und die mediale Bilderzeugung, sondern eine Kamera, die die Intimität der Situation für den Zuschauer in Close-Ups aus dem herauspräpariert, was außen her-um an Trubel geschieht.MB Am Anfang sind die Screens Werbepla-kate, die auf dem Marktplatz hängen. Wir zeigen die Stadt mit Litfaßsäulen, Plakaten, Fernsehen, Internet und dann hacken sich die Täufer dort langsam rein und über-nehmen das. Bei der Leinwand, die in der Krönungsszene runterfährt, geht es darum, der Masse etwas zu zeigen. Das ist das Staatsfernsehen. Die sind jetzt soweit, dass sie die Medien kontrollieren. Und wenn die

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Und wenn die Mutter zurückkommt, sehen wir auf der Rückseite des Billboards einen Moment, der nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist, der nicht gesendet werden sollte. TK Da zeigen die Bilder nicht mehr die Haupt- und Staatsaktion, sondern die Re-aktion von Fidès auf Jeans Ansprache oder Jeans Versuche, die Fassung zu bewahren und mit dem zurechtzukommen, was Fidès ihm vorwirft.

Der Kameramann hat also zufällig gefilmt, was nicht gezeigt werden sollte.

MB Genau, man hat vielleicht vorne schon den Screen abgestellt, damit das niemand sieht und hat das hinten vergessen. Heutzu-tage kann man ja nichts mehr abstellen. Wo immer irgendwo was passiert, schneidet das jemand mit und das geht dann nie wie-der aus dem Internet raus.TK Zum Beispiel: Angela Merkel zeigt Annette Schavan die Kurzmitteilung, dass Guttenberg zurück getreten ist, was ja auch das zentrale mediale Bild des Kabinetts Merkel II ist im Gegensatz zu vielen offizi-ellen Fotos, die nie diesen Ikonen-Status erreicht haben.MB Damit schließen wir den Kreis, dass die Täufer erst beginnen, mit den Medien zu spielen und dass man die Medien dann nicht mehr loswird. Dann laufen die Kame-ras auch weiter, wo man sie nicht haben will.

Wie ernst nehmt Ihr die politische Reflexi-on des Stücks? Ist das bloß Unterhaltung? TK Das Stück ist politisch und Unterhaltung. Es ist kein psychologisches Melodram im Sinne Verdis, sondern ein Stück, das seine Themen stark über äußere Bilder und kol-portagehafte Situationen erzählt. Ich würde nicht sagen, dass das weniger ernsthaft ist.

Das ist eher eine Genrefrage.

Welche Themen?

TK Es geht um die Verführbarkeit der Masse und Radikalisierung. Das ist unglaublich klar geplottet, wie im 1. Teil aus der persön-lichen Verwundung einer Person eine Ideo-logie erwächst, die nicht diskursiv hergelei-tet wird, sondern aus einem Racheimpuls, und wie sich dann so eine Bewegung von der Einzelperson ablösen kann. Und wie wenig das Ganze ein gutes Ende findet.

Welches Gewicht hat die Religion im Stück?

TK Ich halte es für das böseste und schwärzeste religionskritische Stück, das es gibt. Die meisten so genannten religi-onskritischen Stücke hängen sich an den bigotten Moralvorstellungen einer existie-renden Religion auf, glauben aber dennoch, dass man zu einem wahren Kern religiöser Humanität vorstoßen könne, wenn man zum Beispiel Christus von seinen Falschverste-hern befreien würde. Der Prophet geht ei-nen Schritt weiter, weil er die Irrationalität jeder Religion in den Fokus rückt. Hier gibt es keinen Hoffnungsschimmer einer wah-ren oder humanen Religion mehr. Religion ist nur noch Vorwand für Massenekstase, Machtspielchen und politische Einfluss-nahme. Das finde ich die erschreckende Dimension daran.

Wie sind die Gegenwartsanalogien in Eure Inszenierung gekommen?

RS Das drängt sich beim Hören und Le-sen sofort auf. Und nicht nur weil es eine französische Oper ist, war der Sprung in die Banlieue einer vielleicht französischen Großstadt nicht weit. Dann haben in der

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Zeit, als wir das Stück erarbeiteten, in den Fußgängerzonen auch noch die „Koran, Lies!“-Aktionen stattgefunden und plötzlich ist man mitten drin in dieser Welt, die in der Oper beschrieben wird. Wenn man die Zei-tung aufschlägt, fliegen einem die Motive förmlich zu.TK Wenn ich an Inszenierungen arbeite, entstehen dabei oft zwei Konzepte oder Ansatzpunkte für ein Stück parallel. Beim Propheten habe ich lange daran gedacht, stärker auf die kolportagehaften und unter-haltenden Züge des Stücks einzugehen und es als eine Art Proto-Musical zu inszenie-ren. Dann fiel genau in diese Planungspha-se die Charlie Hebdo-Attacke und ich hätte es frivol gefunden, das Stück nach langen Jahren des Begrabenseins wieder aufzu-führen und nicht sein aktuelles Potenzial hervorzukehren, sondern es als eine reine Reflexion über Unterhaltungstheater zu behandeln.

Eure Inszenierung ist sehr schnell und filmisch.

TK Das Stück ist dramaturgisch wunderbar exponiert, wie ein gutes Drehbuch. Das ist viel eleganter als Die Hugenotten, die eine stärkere Tableau-Struktur haben. Im Propheten wird jede Figur in einer spannen-den Konfliktsituation eingeführt. Das finde ich schon ziemlich gut gemacht. Die drei Wiedertäufer platzen herein, der Chor tritt schnell auf und sobald Oberthal da ist, hat er sich auch schon an Berthe vergangen und dann sind die Konflikte etabliert. Ich finde, es ist das Stück mit der elegantesten Exposition, das ich in der letzten Zeit insze-niert habe. Es tritt nie lange auf der Stelle.

Ist das das Geheimnis für Meyerbeers Er-folg gewesen?

TK Das kann ich historisch nicht sagen, weil ich nicht dabei war. Aber die Mittel dieses Stückes sind viel filmischer als die Mittel einer Wagner-Oper oder einer her-kömmlichen Belcanto-Oper. Vielleicht ist damit auch das Vergessen begründet. Es heißt ja immer, dass er aus antisemitischen Gründen vergessen wurde. Das halte ich in gewisser Weise für eine apologetische Behauptung. Es ist natürlich wahr und his-torisch auch unentschuldbar, dass vieles, was man dramaturgisch an ihm aussetzen kann, erstmals mit einem entsetzlichen antisemitischen Unterton artikuliert wur-de. Aber damit auch die dramaturgischen Schwierigkeiten des Stückes zu negieren, wäre genauso falsch. Da ich selbst ja Gott sei Dank nicht über Komponisten urteilen muss, sondern den schönen Job habe, ihr Wirkungspotenzial optimal zu entfalten, ist das für mich jedoch eher ein handwerkli-ches als ein ideologisches Problem. Aber ich würde einen Grund für sein Verschwin-den von den Spielplänen tatsächlich auch darin sehen, dass eine Dramaturgie wie die seine zu Beginn des 20. Jahrhunderts viel stärker vom Film übernommen wurde, als das bei vielen anderen seiner Zeitgenossen der Fall war, die andere Alleinstellungs-merkmale hatten. Er hat sozusagen ein Marktsegment, auch ein Pathossegment oder ein Emotionssegment bedient, das viel stärker vom Film abgegraben wurde als andere Operngenres. Das ist für mich auch eher der Grund, warum er sich dramatur-gisch nicht so rüber gerettet hat. Genauso, wie ja auch heutzutage Blockbuster bis auf ganz wenige Ausnahmen die am wenigsten nachhaltigen Filme einer Epoche sind. Ben Hur sieht heute viel veralteter aus als ein Film noir der Zeit.

Marc Heller, Mehmet Altiparmak, Staatsopernchor, Extrachor

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TOBIAS KRATZER Regie

Tobias Kratzer studierte Kunstgeschichte und Philosophie in München und Bern sowie Opern- und Schauspielregie an der Bayerischen Theaterakademie August Everding. 2008 gewann er mit seinem Aus-statter Rainer Sellmaier den internationalen Regiewettbewerb Ring Award Graz und ist seitdem als freischaffender Opernre-gisseur tätig. Er inszenierte Lohengrin am Deutschen Nationaltheater Weimar, Die Zauberflöte am Theater Heidelberg, La Sonnambula an der Oper Graz, Anna Bole-na und Carmen am Luzerner Theater, Der Rosenkavalier und Tannhäuser am Theater Bremen, Rigoletto und Johannespassion im schwedischen Karlstad. Am STAATSTHEA-TER KARLSRUHE erarbeitete er Erkki Sven Tüürs Wallenberg und Wagners Meister-singer von Nürnberg, eine Produktion, mit der er für den diesjährigen FAUST-Preis in der Kategorie Beste Musiktheater-Regie nominiert wurde. 2019 wird er Tannhäuser bei den Bayreuther Festspielen inszenieren.

JOHANNES WILLIG Musikalische Leitung

Nach dem Studium an den Hochschulen seiner Heimatstadt Freiburg i.B. und Wiens begann der DAAD-Stipendiat seine berufli-che Laufbahn am Theater Biel / Solothurn. Im Januar 2000 wechselte Willig als 2. Ka-pellmeister und Assistent des GMD an das STAATSTHEATER KARLSRUHE, drei Jahre später als 1. Kapellmeister und stellvertre-tender GMD an die Oper Kiel. Gastspiele führten ihn an die Opernhäuser von Neapel, Bologna, Wiesbaden, Freiburg i.B., Lyon sowie an die Deutsche Oper Berlin. Sein Opernrepertoire erstreckt sich von Werken Mozarts, Verdis und Puccinis über Richard Strauss bis hin zur Moderne. Seit 2011/12 ist Willig 1. Kapellmeister und Stellvertre-tender Generalmusikdirektor am STAATS-THEATER KARLSRUHE. Hier dirigierte er u. a. Ein Maskenball, Tosca, La Traviata und Doctor Atomic. 2015/16 leitet er die Neupro-duktionen Der Prophet und Macbeth sowie das 6. Sinfoniekonzert mit Werken von Adams, Ligeti, Tomasi und Strauss.

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RAINER SELLMAIER Ausstattung

Rainer Sellmaier studierte Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft in seiner Heimat-stadt München sowie Bühnen- und Kostüm-bild am Salzburger Mozarteum. Seit 2002 arbeitet er mit Tobias Kratzer zusammen und schuf für ihn die Ausstattungen zahlreicher Inszenierungen vom Barock bis zur Gegen-wart. 2006 bis 2009 war er Ausstattungsleiter am Theater Regensburg. 2008 gewann er gemeinsam mit Kratzer sämtliche Preise beim „Ring Award“ Graz. Für sein Bühnenbild zu Glucks Telemaco bei den Schwetzinger Festspielen sowie am Theater Basel wurde er von der Fachzeitschrift „Opernwelt“ als Büh-nenbildner des Jahres 2011 nominiert. 2016 wird er mit Katzer Verdis Aida in Tallinn, 2019 den neuen Tannhäuser in Bayreuth heraus-bringen. Am STAATSTHEATER KARLSRUHE entwarf er Bühnenbilder zu Robin Hood, Wallenberg, Die Regimentstochter, Die Meistersinger von Nürnberg sowie 2013/14 und 2014/15 Bühnenbild und Dekoration zu DER BALL.

MANUEL BRAUN Video

Nach dem Studium an der Mediadesign Akademie München und Regieassistenzen am Münchner Volkstheater u. a. bei Chris-tian Stückl, Hans Neuenfels und Simon Sol-berg inszenierte der Grenzgänger zwischen den Medien Theater, Video und Internet Mo-nica Marinescus und David Schwartz‘ Am falschen Ort sowie Azar Mortazavis Himmel und Hölle am STAATSTHEATER KARLS-RUHE. Am falschen Ort, ein Stück über Le-bensläufe, die unter anderem mit der Flücht-lings- und Asylsuchendengemeinschaft Bukarest erfasst wurden, gewann 2011 den Europäischen Dramatikerpreis „Über Gren-zen sprechen“ in Rumänien. Ebenfalls am STAATSTHEATER KARLSRUHE entwarf der gebürtige Rosenheimer das Videodesign für Simon Solbergs Hermannsschlacht, Tomas Schweigens Superman KA, Martin Nimz‘ Jakob der Lügner. Weitere Arbeiten führ-ten ihn an das Nationaltheater Mannheim, sowie als Videokünstler und Referent zum Berliner Theatertreffen 2014.

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MARC HELLER a. G. Jean van LeydenIn der letzten Spielzeit erregte Marc Heller vor allem als Sigurd in Ernest Reyers gleichnamiger Oper in Erfurt Aufsehen. Davor sang der Amerikaner an der Seite Placido Domingos und Anna Netrebkos an der Met, in Ams-terdam, Berlin, London, Stockholm, Oviedo, Toulouse, vor den Pyramiden von Gizeh, sowie an allen bedeutenden amerikanischen Opernhäusern.

ERIK FENTON a. G. Jean van LeydenDer Amerikaner war zwischen 2003 und 2010 Ensemblemitglied des Erfur-ter Theaters, bevor er den Wechsel vom lyrischen ins Spinto-Fach und in die freie Tätigkeit wagte. Er sang an vielen bedeutenden Bühnen Europas und war als Cover an der Bayerischen Staatsoper, an der Deutschen Oper Berlin sowie sowie beim Verbier-Festival unter Charles Dutoit gebucht.

Ks. EWA WOLAK FidèsDie Preisträgerin glanzvoller Gesangswettbewerbe kam als DAAD-Stipen-diatin nach Karlsruhe. Seit 1998 gehört die vielseitige Altistin zum Ensemble des STAATSTHEATERS KARLSRUHE, wo sie als Dalila, Carmen, Fricka, Erda, in den virtuosen Partien Händels und Rossinis sowie den Fachpartien Verdis brilliert. Gastspiele führen sie an alle bedeutenden Bühnen der Welt.

GIOVANNA LANZA a. G. FidèsDie Sizilianerin begann ihre Karriere mit den virtuosen Rossini-Partien am Theater von Verona. Gastspiele als Carmen und Dalila sowie in den großen Mezzo-Rollen Verdis und Puccinis führten sie an Bühnen in ganz Europa sowie mit dem Ensemble der Mailänder Scala nach Japan. Am STAATS-THEATER KARLSRUHE gibt sie mit Der Prophet ihr Deutschland-Debüt.

Ks. INA SCHLINGENSIEPEN BertheNach Engagements in Bulgarien und unter Marc Minkowski am Teatro RealMadrid kam die Wuppertaler Sopranistin über Bremen 2002 ans BADISCHESTAATSTHEATER. Hier kreierte sie von Donizettis Lucia bis Strauss‘ Sophiezahllose Partien. 2006 erhielt sie den Goldenen Fächer der TheatergemeindeKarlsruhe, 2007 den Otto-Kasten-Preis, 2013 den Titel Kammersängerin.

AGNIESZKA TOMASZEWSKA BertheDie polnische Sopranistin studierte an der Musikakademie Danzig. AmSTAATSTHEATER KARLSRUHE gastierte sie als Susanna in Figaros Hochzeitund Katja in Die Passagierin bevor sie 2014 ins Ensemble kam. Hier machte sie vor allem als Sina in Verlobung im Traum, Musetta und Fiordiligi von sich reden. 2015/16 stehen neben Berthe die Micaela auf ihrem Programm.

AVTANDIL KASPELI ZachariasDer georgische Bass studierte u. a. in München, wo er als Sparafucile in Rigolet-to debütierte. Am Prinzregententheater war er der Komtur in Don Giovanni. Seit 2011/12 ist er am STAATSTHEATER KARLSRUHE engagiert. Hier gestaltete er Partien wie Pimen in Boris Godunow, Colline, Sarastro. 2015/16 wird er neu als Banquo in Macbeth, Pater Lorenzo in Capuletti und Fafner in Rheingold zu erleben sein.

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LUIZ MOLZ ZachariasDer Brasilianer ist nach Engagements in Stuttgart und Freiburg i. B. seit 2001 fest am STAATSTHEATER KARLSRUHE. Hier war er in über 60 Partien zu erleben. Gastspiele führten ihn an Bühnen der Bundesrepublik, Kroati-en, Bosnien, Estland, Luxemburg, Schweiz, Slowenien, Südkorea und Bra-silien, wo er regelmäßig im Rahmen von Musikfestivals unterrichtet.

JAMES EDGAR KNIGHT JonasDer Australier ist seit dieser Spielzeit Ensemblemitglied des STAATSTHEA-TERS KARLSRUHE. Hier stellte sich der Absolvent der New Yorker Juilliard School und Stipentiat des Metropolitan Opera Development Programs als Fenton in der Neuproduktion von Falstaff vor. Außerdem wird er als Freddy in My Fair Lady sowie als Macduff in Macbeth zu erleben sein.

MATTHIAS WOHLBRECHT JonasDer Tenor studierte in Würzburg und Mailand, debütierte 1998 an der Kam-meroper Schloss Rheinsberg und kam über Rostock, Darmstadt, Mann-heim 2004 ans STAATSTHEATER KARLS RUHE. Gastspiele führten ihn nach Venedig, Bari, Moskau, München, Seoul unter Myung-Whun Chung, Berlin unter Ingo Metzmacher. In Karlsruhe ist er 2015/16 u.a. Loge in Rheingold.

LUCIAS LUCAS MathisenDie Bariton-Sängerin war Mitglied des Studios der Santa Fe Opera und Sti-pendiatin der Deutschen Oper Berlin. Seit 2011 ist die Amerikanerin fest am STAATSTHEATER KARLSRUHE, wo sie in der vergangenen Spielzeit u. a. als Ford in Falstaff einen großen Erfolg feierte. 2015/16 wird sie hier u. a. Fasolt in Rheingold, Escamillo in Carmen, Marcello in La Bohème gestalten

RENATUS MESZAR MathisenDer studierte Kirchenmusiker gab 1990 bei der Münchner Biennale sein Operndebüt. Über Braunschweig, Weimar, Bonn kam er 2012 ans STAATS-THEATER KARLSRUHE, wo er die großen Wagner-Partien, aber auch Eich-mann in Wallenberg und Groves in Doctor Atomic sang. Gastpiele führten ihn zuletzt als Kaspar nach Darmstadt und Wotan nach Minden.

ANDREW FINDEN OberthalDer australische Bariton studierte in Sydney und London, wo ihm an derGuildhall School of Music and Drama 2009 der Harold Rosenthal Preisverliehen wurde. Seit 2011/12 ist er Ensemblemitglied am STAATSTHEATERKARLSRUHE. In der Spielzeit 2015/16 singt er u. a. Graf Oberthal in DerProphet, Papageno in Die Zauberflöte sowie Schaunard in La Bohème.

ARMIN KOLARCZYK OberthalDer in Trento aufgewachsene Bariton gehörte 1997 zehn Jahre dem Thea-ter Bremen an, bevor er an das STAATSTHEATER KARLSRUHE wechselte. Hier gestaltete er neben den großen Mozart-Partien Glucks Orest in Iphi-genie auf Tauris, Wagners Wolfram und Beckmesser und John Adams‘ Doctor Atomic. 2017 wird er bei den Bayreuther Festspielen debütieren.

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BILDNACHWEISE

TITELFOTO Felix GrünschloßPROBENFOTOS Matthias Baus

Foto J. Willig: John Wright

IMPRESSUM

HERAUSGEBER BADISCHES STAATSTHEATERKARLSRUHE

GENERALINTENDANT Peter Spuhler

VERWALTUNGSDIREKTOR Michael Obermeier

OPERNDIREKTOR Michael Fichtenholz

LEITENDER DRAMATURG OPERCarsten Jenß

REDAKTIONDr. Boris Kehrmann

KONZEPT DOUBLE STANDARDS BERLIN www.doublestandards.net

GESTALTUNGKristina Schwarz

DRUCK medialogik GmbH, Karlsruhe

BADISCHES STAATSTHEATER KARLSRUHE 2015/16 Programmheft Nr. 277www.staatstheater.karlsruhe.de

TEXTNACHWEIS

Die Inhaltsangabe schrieb Tobias Kratzer für dieses Programmheft. Alle übrigen Texte sind Originalbeiträge von Dr. Boris Kehr-mann.

Sie basieren auf Recherchen in der Badi-schen Landesbibliothek Karlsruhe, Abtei-lung Historische Bestände, sowie auf den Meyerbeer-Forschungen von Fabien Guill-oux (Text- und Stoffgeschichte), Matthias Brzoska (Musik) und Heinz Becker (Briefe und Tagebücher), denen an dieser Stelle herzlich gedankt sei.

Sämtliche Stückzitate sind in eigener Über-setzung wiedergegeben.

GOTTES WILLE GESCHEHE!

Marc Heller, Staatsopernchor, Extrachor

ICH MARSCHIERE UNTER DEM BANNER GOTTES, UM DEN TYRANNEN ZU BESTRAFEN