DER TAGESSPIEGEL „DenBegriffBrennpunktschulestreichen ... · Siehaben kürzlich in Bremen einen...

1
Sie haben kürzlich in Bremen einen Kon- gress „Failing identities“ über Schule und Lehren in Zeiten der Migration veranstal- tet. Was meinen Sie mit Scheitern? Schule tut in Deutschland das, was auch die Gesellschaft als ganze tut: Sie stellt in ihren Angeboten und Inhalten stets Men- schen mit Migrationserfahrung denen ohne diese Geschichte gegenüber. Die mehrsprachigen, mobilen, auf mehr als ei- nen nationalen Kontext bezogenen Kin- der und Jugendlichen sind in dieses Schema kaum einzuordnen. Zudem wer- den sie überwiegend als Problem angese- hen. Das spiegelt sich in Lehrmaterialien ebenso wie in den Einstellungen von Leh- rerinnen und Lehrern. Das Merkmal Mi- gration wird als kollektive Zuschreibung in einer Weise verwendet, die einer Art „Ethnie“ oder gar „Rasse“ gleichkommt. Jemand, der etwa nicht mit Deutsch als Erstsprache aufwächst oder ohne Deutschkenntnisse in die Schule kommt, wird fast ausschließlich über seine oder ihre fehlenden oder nicht ausreichenden Deutschkenntnisse wahrgenommen und Sonderbeschulungsmaßnahmen unterzo- gen. Die fördern aber kaum ein Zugehö- rigkeitsgefühl. Sie erwähnen neben Unterrichtsmateria- lien, die nicht auf der Höhe diverser Gesell- schaften sind, auch die Einstellungen von Lehrkräften. Was kritisieren Sie? Schule ist sehr widerständig. Wir können sehr viel ändern in der Lehrerausbildung. Aber die moderne Ausbildung nutzt we- nig, wenn die jungen Leute dann in Leh- rerzimmer kommen, in denen ein Klima der Abwehr und der Überforderung durch migrationsgesellschaftliche Bedin- gungen herrscht und sie irgendwann ge- zwungen sind, dort herrschende Stereoty- pen und Denkweisen anzunehmen. Das ist ein Prozess, der extrem schwer zu durchbrechen ist. Das gehört zur Schule dazu: eine merkwürdige Deprofessionali- sierung durch Anpassung an einen Com- mon Sense, der aber wiederum aus dem politischen Klima der Gesellschaft außer- halb der Schule kommt. Alle im System Schule sind verstrickt. In was genau? In Verhältnisse von Macht und Hierar- chie, die maßgeblich geprägt sind von na- tionalen Sichtweisen. Das ist im Übrigen ein weltweites Phänomen. Ein Kollege aus der Türkei hat beim Kongress berich- tet, welch stereotype, ja rassistische Vor- stellungen viele Lehrer in der Türkei von ihren syrischen Schülerinnen und Schü- lern haben. Dahinter steckt ein tiefwur- zelndes Vorurteil in der türkischen Ge- sellschaft gegenüber Arabern. Auch in Ja- pan – einem Land, das sich selbst als eth- nisch weitgehend homogen versteht – muss man sich zunehmend mit der Be- deutung von Zuwanderung für das Selbst- verständnis des nationalen Bildungssys- tems auseinandersetzen. Überall in der Welt beobachten wir, dass die nationale Schule einen zunehmend vielfältigeren Adressatenkreis hat, der sich in ihren na- tionalen Lehrplänen nicht wiederfindet. Die Baustellen eines modernen Bildungs- systems sind also Lehrerkollegien, Politik, Lehrpläne und -materialien. Was ist mit den Eltern? Die Flucht bildungsorientierter Mittelschichtseltern aus sogenannten Brennpunktschulen ist seit vielen Jahren ein Problem. Wie würden Sie auf das ver- breitete Argument reagieren, die multikul- turelle Schule vernachlässige Lernen und Bildung, „Leistung“? Ich würde es zunächst einmal ernst neh- men. Es gibt schließlich dieses Bild von ethnischer Zugehörigkeit, wie sie bis 2000 auch unser Staatsangehörigkeitsge- setz bestimmt hat, und das seine Wur- zeln im Nationalsozialismus hat. Wer jahrzehntelang mit dieser Gewissheit auf- gewachsen ist, es gebe so etwas wie die selbstverständlich Zugehörigen, die deut- sche Mehrheit, und dann die Anderen, die Zugewanderten, denen man etwas ge- währt, gestattet, die eine Bringschuld ha- ben und froh sein dürfen, überhaupt hier zu sein, für die oder den ist es schwer, von jetzt auf gleich Pluralität im Klassen- zimmer als Normalfall zu akzeptieren. Die Pisa-Studien haben die Abstiegsangst der Mittelschicht noch verstärkt. Dabei unterstelle ich natürlich den Pisa-Verant- wortlichen keine Absicht. Das hat eine Ei- gendynamik bekommen – auch medial un- terstützt. Und dann? Dann würde ich als Erstes „Brennpunkt- schule“ aus dem Wörterbuch streichen. Das klingt wie eine öffentliche Gefahr, ein Ort, an dem „es brennt“. Sehen Sie sich die Gewinnerinnen des Deutschen Schulpreises an. Als beste Schulen wer- den da häufig genau die großartigen Schu- len ausgezeichnet, von denen man es – aufgrund ihrer Zusammensetzung von Schülern und Schülerinnen und ihrer Lage – am wenigsten erwarten würde. Und wie gelingt das? Mit Programmen, die für alle attraktiv sind, auch für die berühmten Mittel- schichtseltern, die die Schulen so umwer- ben. Mathe-Olympiaden, Kooperationen mit den Unis, Mehrsprachigkeit, die – ne- ben den üblichen und mit Prestige ausge- statteten Sprachen wie Englisch, Franzö- sisch, Spanisch, neuerdings auch Chine- sisch – auch Einwanderersprachen einbe- zieht. Ein spezifisches Fachprofil hilft, sei es naturwissenschaftlich oder mu- sisch, ein vorbildlich ausgestattetes Schulgebäude mit Räumen zum Lernen und Entspannen, reformpädagogische Ansätze ebenso. Das alles zieht auch Mit- telschichtseltern an, mit und ohne soge- nannten Migrationshintergrund. Warum fallen Programm und Klientel der Schule so auseinander – oder, wie Sie es ausdrücken: Warum ist Schule so „wider- ständig“ gegen eine postnationale Welt? Weil sie überall in der Zeit der National- staaten einen besonderen politischen Auf- trag hatte, nämlich die Nation erst herzu- stellen oder zu festigen. Sie sollte die Schule der Nation sein. Vor allem die staatliche Schule sollte nationale Bin- dung und Zugehörigkeit vermitteln. Die deutsche Schule galt als unverrückbares Faktum, an das sich alle Neuen anzupas- sen hatten. Mit diesem Konzept muss sie ebenso zwangsläufig scheitern, wie auch der ethnisch definierte Nationalstaat ein „failing state“ geworden ist. Weil er nicht mehr der Realität seiner Bürger ent- spricht, verliert er zunehmend seine Legi- timität. Mit dieser Geschichte der deut- schen Schule ist es beinahe etwas wider- sinnig, von ihr zu verlangen, dass sie sich auf eine transnationale Wirklichkeit ein- stellt und sich mit ihrer Funktion in Ver- gangenheit und Gegenwart kritisch ausei- nandersetzt. Wir tun es aber trotzdem. Weil Sie sie weiter als wichtig ansehen? Unbedingt. Schule ist vor allem die Schule der Demokratie. Sie muss die Men- schen in die Lage versetzen, ihren Beitrag zu leisten, damit eine pluralistische De- mokratie funktioniert und die Gesell- schaft zusammenhält. In einer zuneh- mend global vernetzen Welt, mit Men- schen, die durch viele transnationale bio- grafische wie Alltagsbezüge in ihrem täg- lichen Leben geprägt sind, kann der allge- genwärtige Bezug auf das Nationale so nicht mehr klappen. Das muss aufgebro- chen werden. Als ich zur Schule ging, war die Eroberung Amerikas ein großer Coup, etwas grausam vielleicht, okay, aber zivilisatorisch sinnvoll, die Entde- ckung einer neuen Welt, der Beginn der Neuzeit. Gleichzeitig tobte in Spanien die Reconquista, zutiefst zivilisationsfeind- lich mit ihren Massakern an Juden und Muslimen. So, mit diesem Überlegen- heitsgefühl, lässt sich Geschichte heute nicht mehr erzählen. Es gibt Ansätze, das in postkolonialer Perspektive aufzubre- chen, aber die sind noch nicht Common Sense. Wir müssen in der Lage sein, un- sere tief sitzenden Stereotypen und Ras- sismen zu entdecken und uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Sie werden im All- tag wirksam, weil wir – wir alle! – sie ein- fach nicht bemerken, so selbstverständ- lich sind sie. Eine ganz andere Zusam- mensetzung der Gesellschaft fordert das ebenso von uns wie grundlegend men- schenrechtliche Verpflichtungen. Die Po- litik hilft leider nicht, weil sie das Ringen um eine neue Zugehörigkeit in der Gesell- schaft eher polarisierend begleitet, ja so- gar unverantwortlich zündelnd. Auch Sie in den Medien. Zugehörigkeit oder auch: Identität. Das war im Programm Ihres Kongresses ein Schlüsselwort. Warum? Identität ist doch eher die Feindin der Multikulturalität? Das haben wir bewusst als Provokation gedacht. Als kollektive Identität funktio- niert sie vor allem über die Abgrenzung gegenüber anderen Kollektiven, ja deren Abwertung. Aber individuell ist Identität in Ordnung? Als selbstbestimmter Bezug zu einer Re- gion, zu einem Land, einer Religion oder auch Lebensform? Natürlich. Ich kann im- mer noch sagen: Ich bin Rheinländerin in Berlin. Oder: Ich bin in einer türkischen Familie aufgewachsen, das spielt eine Rolle für mich. Aber es ist nicht in Ord- nung, wenn ich in meinem ganzen Sein darauf festgelegt werde: „Sie als Türkin“. Die Realität für alle sind doch Mehrfach- identitäten. Die selbst- und verantwor- tungsbewusst ins Gemeinwesen einzu- bringen, dazu sollte Schule in der Migrati- onsgesellschaft ihren Beitrag leisten. Jüngere Schüler in Deutschland wissen ei- ner neuen Studie zufolge während und nach ihrer Grundschulzeit wenig über Ju- den und noch weniger über Roma. Zwar hat die Hälfte aller befragten Sechs- bis 13-Jährigen das Wort „Jude“ schon ein- mal gehört, erklären kann es jedoch nur ein gutes Drittel, wie das Internationale Zentralinstitut für das Jugend- und Bil- dungsfernsehen (IZI) in München heraus- gefunden hat. Dabei ist das Thema Teil der meisten Grundschullehrpläne. Kin- der, deren Eltern einen Volks- oder Hauptschulabschluss haben, konnten den Begriff „Juden“ noch seltener richtig einordnen. Dass Juden zur Zeit des Zweiten Welt- kriegs in Deutschland und in den vom NS-Staat besetzen Ländern verfolgt wur- den, wissen laut der Umfrage zwar die Hälfte der Acht- bis Neunjährigen und fast alle Zwölf- bis 13-Jährigen (94 Pro- zent), ganz sicher über diesen histori- schen Fakt ist sich jedoch bei den Acht- bis Neunjährigen nur knapp jeder Fünfte (18 Prozent). Bei den Zwölf- bis 13-Jähri- gen sind sich 58 Prozent sicher, dass Ju- den im Zweiten Weltkrieg verfolgt wur- den. „Dies sind Hinweise darauf, dass hier dringend mehr Wissen zu den Zu- sammenhängen vermittelt werden sollte“, erklärte IZI-Leiterin Maya Götz. Noch schlechter ist es der Studie zufolge um das Wissen über Roma bestellt. Den Begriff „Roma“ hat die Hälfte der Sechs- bis 13-Jährigen noch nie gehört. „Während bei vielen zum Thema „Mus- lime“ ein altersgemäßes Wissen vorhan- den ist, weiß nur eine Minderheit, wer „Roma“ sind“, sagt Götz. Der Begriff „Zi- geuner“ sei - falls überhaupt bekannt – nur mit eindeutig abwertenden Vorurtei- len belegt. Die Medienpädagogin hält die Ergeb- nisse für brisant, weil die Grundschulzeit als entscheidende Phase für die Ausprä- gung von Vorurteilen gelte. Je mehr Vor- urteile Kinder am Ende ihrer Kindheit entwickelt hätten, desto hartnäckiger hielten sich diese. Das fehlende Wissen könne bei gleichzeitig fehlendem Kon- takt zu diesen Gruppen zur Vorurteilsbil- dung beitragen, sagte Götz. Das Münchner Institut hatte im Rah- men des Forschungsschwerpunkts „Vor- urteile, Rassismus, Extremismus“ 840 re- präsentativ ausgewählte Kinder zwi- schen sechs und 13 Jahren zu ihrem Wis- sen und ihren Assoziationen zu diesen Be- griffen befragt. In weiteren Untersuchun- gen will das IZI herausfinden, inwiefern gut gemachte Film- und Fernsehprodukte für Kinder bei Abbau von Vorurteilen hel- fen können. dpa ANZEIGE Yasemin Karakasoglu ist Erziehungswissen- schaftlerin und Leiterin des Arbeitsbe- reichs Interkulturelle Bildung an der Universität Bre- men. Mit ihr sprach Andrea Dernbach. Im Dschungel kommen kleine Menschen besser voran als große. Das ergeben Lauf- analysen, die Forscher um Vivek Venkata- raman von der Harvard Universität in Cambridge in der aktuellen Ausgabe des Fachblatts „Proceedings B“ der briti- schen Royal Society vorstellen. Klein zu sein und so im dichten Urwald effizienter auf Nahrungssuche gehen zu können, sei womöglich ein evolutionärer Vor- teil für Waldbewoh- ner gewesen, heißt es in der Studie. In afrikanischen, südostasiatischen und südamerikani- schen Regenwaldge- bieten gibt es meh- rere indigene Völker von vergleichsweise kleinem Wuchs. Die Forscher hatten mehr als 30 Männer zweier solcher Gruppen – der Batek aus Malaysia und der Tsimane aus Bolivien – auf offener Fläche und durch Wald laufen lassen. Dabei maßen sie die Schrittlän- gen und Geschwindigkeiten der im Mittel 1,63 Meter großen Männer und berech- neten daraus den Laufaufwand. Während größere Individuen in offener Umgebung eher längere Schritte machten, seien in dichter Waldumgebung alle zu ähnli- chen, relativ kleinen Schrittlängen ge- zwungen, erläutern die Forscher. Größere Individuen verlieren dabei an Geschwindigkeit, kleinere manövrieren hingegen effizienter durch Büsche und Zweige. Berechnungen der Forscher zu- folge käme ein großgewachsener Mensch im Dickicht nur etwa halb so schnell vo- ran wie Angehörige des afrikanischen Efe-Volks, die zu den kleinsten der Erde zählen. Effizientere Fortbewegung ist aller- dings nicht der einzige Grund, der von Experten als mögliche Ursache für die ge- ringere Größe von Waldbewohnern dis- kutiert wird. Auch Umweltfaktoren wie Hitze, Feuchtigkeit, Krankheitserreger so- wie eine geringere Verfügbarkeit von Nahrung könnten demnach eine Rolle spielen. Zudem gibt es Volksgruppen mit eher geringer Körpergröße auch in Land- schaften ohne Wald. dpa Foto: Hannibal Hanschke/dpa Wenig Wissen über Juden und Roma Acht- bis neun-jährige Schüler kaum informiert über Verfolgung in der NS-Zeit Antibiotika gehören zu den großen Errun- genschaften im Kampf gegen Infektions- krankheiten. Resistenzen bedrohen die- sen Erfolg allerdings. Die Krankheitserre- ger legen die verabreichten Stoffe durch Enzyme lahm, verweigern ihnen den Zu- tritt oder verändern die Zielmoleküle und damit das Schloss, in das der Wirkstoff als Schlüssel eigentlich passen sollte. Und je mehr Antibiotika eingesetzt werden, desto größer scheint der evolutionäre Er- findungsreichtum der Kleinstlebewesen. Wie groß die Gefahren sind, wenn Bak- terien unempfindlich werden gegen die Mittel, mit denen sie bekämpft werden sol- len, zeigt eine Studie von Mitarbeitern des European Center of Disease Prevention and Control (ECDC), die gerade im Fach- blatt „The Lancet Infectious Diseases“ ver- öffentlicht wurde: Allein im Untersu- chungsjahr 2015 sind demnach in den be- rücksichtigten 30 Ländern der EU und des europäischen Wirtschaftsraums mehr als 33 000 Menschen infolge der Unwirksam- keit der Arzneimittel gegen fünf große Gruppen von bakteriellen Infektionen ge- storben. Für Deutschland werden 2336 Todesfälle angegeben. Die Forscher legten ihren Berechnun- gen zunächst Daten des Europäischen Netzwerks zu Antibiotika-Resistenzen (EARS-Net) zugrunde, die sie mit weite- ren Daten aus den jeweiligen Ländern und mit den Ergebnissen anderer Studien ver- knüpften. Die ECDC-Mitarbeiter um Ales- sandro Cassini kommen zu dem Ergebnis, dass 2015 in den 30 Ländern 671 689 In- fektionen mit Erregern auftraten, die ge- gen gängige Antibiotika unempfindlich waren – doppelt so viele wie 2007. Rund zwei Drittel aller Resistenzen traten bei vier Bakterienarten auf, darunter „MRSA“, ein Staphylococcus aureus, der gegen Methicillin und andere unempfind- lich ist. Er hat zwar in den vergangenen Jah- ren etwas an Bedeutung verloren. Dafür haben Probleme bei einer Gruppe von Bak- terien mit einem anderen Aufbau der Zell- wand („gram-negative“ Erreger) deutlich zugenommen. Zu ihnen gehören das Darmbakterium Escherichia coli und Kleb- siella pneumoniae. Letztere Art ist norma- lerweise ungefährlich, kann aber Immun- geschwächten zur Gefahr werden. Besonders viele Resistenzen zeigten sich gegen Reservemittel aus der Gruppe der Carbapeneme und gegen Colistin. Am größten waren die Probleme in Griechen- land, wo Antibiotika auch ohne Rezept er- hältlich sind, und in Italien, wo Antibio- tika noch immer weit großzügiger verord- net werden als in Deutschland. 63,5 Prozent der Problemfälle traten der Studie zufolge in Kliniken und ande- ren Gesundheitseinrichtungen auf, wo sich auch 72 Prozent der Todesfälle ereig- neten, die einer Antibiotika-Resistenz zu- gerechnet werden könnten. Die Autoren weisen allerdings darauf hin, dass unter stationär aufgenommenen Patienten viele besonders anfällige hochbetagte und mehrfach kranke Menschen sind. Neu an der Studie ist, dass die Wissen- schaftler sich nicht allein für die Anzahl der Todesfälle interessierten, die Folge der Resistenzen sein könnten, sondern auch für Leid und Einschränkungen, die auf ihr Konto gehen. Die Lebensjahre, die Menschen in den untersuchten Ländern insgesamt aufgrund der Antibiotika-Resis- tenzen durch frühzeitigen Tod verloren ge- hen oder durch krankheitsbedingte Ein- schränkungen bestimmt werden (als „Dis- ability-adjusted life years“,kurz DALYsbe- zeichnet) veranschlagen sie mit 874541. Petra Gastmeier, Direktorin des Insti- tuts für Hygiene und Umweltmedizin der Charité, findet es wichtig, erstmals auch die Folgen eines durch Resistenzen in die Länge gezogenen Behandlungsver- laufs in den Blick zu nehmen: „Viele Pa- tienten, die eine Blut- vergiftung überle- ben, haben noch lange an ihren Fol- gen zu leiden.“ Auf Null werde man die Zahl der To- desfälle und schwerer gesundheitlicher Folgen von Infektionen mit multiresisten- ten Keimen auch bei klügerem Einsatz von Antibiotika nicht bringen, sagt Gastmeier. Trotzdem sieht sie bei Antibiotika deutli- ches Einsparpotential. In deutschen Kran- kenhäusern stehe „an jedem x-beliebigen Tag jeder vierte Patient unter Antibio- tika“. Vor allem nach operativen Eingrif- fen würden sie oft zu lange gegeben. Viele Krankenhäuser versuchen den ra- tionalen Einsatz der Mittel dadurch zu be- fördern, dass Experten auf Wunsch in die verschiedenen Abteilungen kommen, um in kniffligen Fällen zu beraten. An der Cha- rité wurden zudem in den letzten Jahren 350 Ärztinnen und Ärzte in „Antibiotic Stewardship“ geschult, die Hälfte davon aus anderen Krankenhäusern. „Das führte zu einem Rückgang der Antibiotika-An- wendung quer durch die Fachgebiete“, be- richtet Gastmeier. Bei zurückhaltendem Einsatz verrin- gert sich auch die Gefahr, dass Bakterien unempfindlich werden. Tun sie es doch, so sind Resistenz-Gene schnell über Län- dergrenzen hinweg ausgetauscht. Petra Gastmeier wird durch die Studie in einem alten Wunsch bestärkt: „Ähnlich wie die Klimaziele sollte man international auch Resistenz-Ziele aufstellen.“ Adelheid Müller-Lissner Klein zu sein, hat einen großen Vorteil Die geringe Größe von Pygmäen kommt ihrer Lebensweise im Urwald zugute Menschen mit langen Beinen verbrauchen im Urwald mehr Energie Aufgezeigt. Schule ist vor allem die Schule der Demokratie, sagt Yasemin Karakasoglu. Sie vermisst einen Bezug von Schule auf die transnationale Wirklichkeit. Foto: Frank Molter/dpa Kein Glück. Kleeblattmuster entstehen im Labor, wenn Bakterien gegen Reserveantibiotika aus der Gruppe der Carba- peneme resistent geworden sind. Foto: CDC Resistenzen können tödlich sein. Aber auch wer überlebt, leidet oft Indigen. Angehörige des Basua-Volkes im Westen Ugandas werden selten größer als 155 Zentimeter. F.: dpa/epa H. Landstedt 18 DER TAGESSPIEGEL NR. 23 643 / MITTWOCH, 7. NOVEMBER 2018 WISSEN & FORSCHEN „Den Begriff Brennpunktschule streichen“ Die Erziehungswissenschaftlerin Yasemin Karakasoglu über Migration und die Schule der Zukunft Tödliche Unempfindlichkeit Deutliche Zunahme von Antibiotika-Resistenzen Ältester exakt dokumentierter Meteoritenfall in Europa: 7.11.1492, 11.30 Uhr, Ensisheim/Elsass. Diesen Stein- meteorit und 29.999.999 andere Naturen finden Sie im www.museumfuernaturkunde.berlin Folge 283 von 30.000.000

Transcript of DER TAGESSPIEGEL „DenBegriffBrennpunktschulestreichen ... · Siehaben kürzlich in Bremen einen...

Page 1: DER TAGESSPIEGEL „DenBegriffBrennpunktschulestreichen ... · Siehaben kürzlich in Bremen einen Kon-gress„Failing identities“ über Schule und Lehren in Zeiten der Migration

Sie haben kürzlich in Bremen einen Kon-gress „Failing identities“ über Schule undLehren in Zeiten der Migration veranstal-tet. Was meinen Sie mit Scheitern?

Schule tut in Deutschland das, was auchdie Gesellschaft als ganze tut: Sie stellt inihren Angeboten und Inhalten stets Men-schen mit Migrationserfahrung denenohne diese Geschichte gegenüber. Diemehrsprachigen, mobilen, auf mehr als ei-nen nationalen Kontext bezogenen Kin-der und Jugendlichen sind in diesesSchema kaum einzuordnen. Zudem wer-den sie überwiegend als Problem angese-hen. Das spiegelt sich in Lehrmaterialienebenso wie in den Einstellungen von Leh-rerinnen und Lehrern. Das Merkmal Mi-gration wird als kollektive Zuschreibungin einer Weise verwendet, die einer Art„Ethnie“ oder gar „Rasse“ gleichkommt.Jemand, der etwa nicht mit Deutsch alsErstsprache aufwächst oder ohne

Deutschkenntnisse in die Schule kommt,wird fast ausschließlich über seine oderihre fehlenden oder nicht ausreichendenDeutschkenntnisse wahrgenommen undSonderbeschulungsmaßnahmen unterzo-gen. Die fördern aber kaum ein Zugehö-rigkeitsgefühl.

Sie erwähnen neben Unterrichtsmateria-lien, die nicht auf der Höhe diverser Gesell-schaften sind, auch die Einstellungen vonLehrkräften. Was kritisieren Sie?Schule ist sehr widerständig. Wir könnensehr viel ändern in der Lehrerausbildung.Aber die moderne Ausbildung nutzt we-nig, wenn die jungen Leute dann in Leh-rerzimmer kommen, in denen ein Klimader Abwehr und der Überforderungdurch migrationsgesellschaftliche Bedin-gungen herrscht und sie irgendwann ge-zwungen sind, dort herrschende Stereoty-pen und Denkweisen anzunehmen. Dasist ein Prozess, der extrem schwer zudurchbrechen ist. Das gehört zur Schuledazu: eine merkwürdige Deprofessionali-sierung durch Anpassung an einen Com-mon Sense, der aber wiederum aus dempolitischen Klima der Gesellschaft außer-halb der Schule kommt. Alle im SystemSchule sind verstrickt.

In was genau?In Verhältnisse von Macht und Hierar-chie, die maßgeblich geprägt sind von na-tionalen Sichtweisen. Das ist im Übrigenein weltweites Phänomen. Ein Kollegeaus der Türkei hat beim Kongress berich-tet, welch stereotype, ja rassistische Vor-stellungen viele Lehrer in der Türkei vonihren syrischen Schülerinnen und Schü-lern haben. Dahinter steckt ein tiefwur-zelndes Vorurteil in der türkischen Ge-sellschaft gegenüber Arabern. Auch in Ja-pan – einem Land, das sich selbst als eth-nisch weitgehend homogen versteht –muss man sich zunehmend mit der Be-deutung von Zuwanderung für das Selbst-verständnis des nationalen Bildungssys-tems auseinandersetzen. Überall in derWelt beobachten wir, dass die nationaleSchule einen zunehmend vielfältigerenAdressatenkreis hat, der sich in ihren na-tionalen Lehrplänen nicht wiederfindet.

Die Baustellen eines modernen Bildungs-systems sind also Lehrerkollegien, Politik,Lehrpläne und -materialien. Was ist mit

den Eltern? Die Flucht bildungsorientierterMittelschichtseltern aus sogenanntenBrennpunktschulen ist seit vielen Jahrenein Problem. Wie würden Sie auf das ver-breitete Argument reagieren, die multikul-turelle Schule vernachlässige Lernen undBildung, „Leistung“?Ich würde es zunächst einmal ernst neh-men. Es gibt schließlich dieses Bild vonethnischer Zugehörigkeit, wie sie bis2000 auch unser Staatsangehörigkeitsge-setz bestimmt hat, und das seine Wur-zeln im Nationalsozialismus hat. Werjahrzehntelang mit dieser Gewissheit auf-gewachsen ist, es gebe so etwas wie dieselbstverständlich Zugehörigen, die deut-sche Mehrheit, und dann die Anderen,die Zugewanderten, denen man etwas ge-währt, gestattet, die eine Bringschuld ha-ben und froh sein dürfen, überhaupt hierzu sein, für die oder den ist es schwer,von jetzt auf gleich Pluralität im Klassen-zimmer als Normalfall zu akzeptieren.Die Pisa-Studien haben die Abstiegsangstder Mittelschicht noch verstärkt. Dabeiunterstelle ich natürlich den Pisa-Verant-wortlichen keine Absicht. Das hat eine Ei-gendynamik bekommen – auch medial un-terstützt.

Und dann?Dann würde ich als Erstes „Brennpunkt-

schule“ aus dem Wörterbuch streichen.Das klingt wie eine öffentliche Gefahr,ein Ort, an dem „es brennt“. Sehen Siesich die Gewinnerinnen des DeutschenSchulpreises an. Als beste Schulen wer-den da häufig genau die großartigen Schu-len ausgezeichnet, von denen man es –aufgrund ihrer Zusammensetzung vonSchülern und Schülerinnen und ihrerLage – am wenigsten erwarten würde.

Und wie gelingt das?Mit Programmen, die für alle attraktivsind, auch für die berühmten Mittel-schichtseltern, die die Schulen so umwer-ben. Mathe-Olympiaden, Kooperationenmit den Unis, Mehrsprachigkeit, die – ne-ben den üblichen und mit Prestige ausge-statteten Sprachen wie Englisch, Franzö-sisch, Spanisch, neuerdings auch Chine-sisch – auch Einwanderersprachen einbe-zieht. Ein spezifisches Fachprofil hilft,sei es naturwissenschaftlich oder mu-sisch, ein vorbildlich ausgestattetesSchulgebäude mit Räumen zum Lernenund Entspannen, reformpädagogischeAnsätze ebenso. Das alles zieht auch Mit-telschichtseltern an, mit und ohne soge-nannten Migrationshintergrund.

Warum fallen Programm und Klientel derSchule so auseinander – oder, wie Sie es

ausdrücken: Warum ist Schule so „wider-ständig“ gegen eine postnationale Welt?Weil sie überall in der Zeit der National-staaten einen besonderen politischen Auf-trag hatte, nämlich die Nation erst herzu-stellen oder zu festigen. Sie sollte dieSchule der Nation sein. Vor allem diestaatliche Schule sollte nationale Bin-dung und Zugehörigkeit vermitteln. Diedeutsche Schule galt als unverrückbaresFaktum, an das sich alle Neuen anzupas-sen hatten. Mit diesem Konzept muss sieebenso zwangsläufig scheitern, wie auchder ethnisch definierte Nationalstaat ein„failing state“ geworden ist. Weil er nichtmehr der Realität seiner Bürger ent-spricht, verliert er zunehmend seine Legi-timität. Mit dieser Geschichte der deut-schen Schule ist es beinahe etwas wider-sinnig, von ihr zu verlangen, dass sie sichauf eine transnationale Wirklichkeit ein-stellt und sich mit ihrer Funktion in Ver-gangenheit und Gegenwart kritisch ausei-nandersetzt. Wir tun es aber trotzdem.

Weil Sie sie weiter als wichtig ansehen?Unbedingt. Schule ist vor allem dieSchule der Demokratie. Sie muss die Men-schen in die Lage versetzen, ihren Beitragzu leisten, damit eine pluralistische De-mokratie funktioniert und die Gesell-schaft zusammenhält. In einer zuneh-mend global vernetzen Welt, mit Men-schen, die durch viele transnationale bio-grafische wie Alltagsbezüge in ihrem täg-lichen Leben geprägt sind, kann der allge-genwärtige Bezug auf das Nationale sonicht mehr klappen. Das muss aufgebro-chen werden. Als ich zur Schule ging,war die Eroberung Amerikas ein großerCoup, etwas grausam vielleicht, okay,aber zivilisatorisch sinnvoll, die Entde-ckung einer neuen Welt, der Beginn derNeuzeit. Gleichzeitig tobte in Spanien dieReconquista, zutiefst zivilisationsfeind-lich mit ihren Massakern an Juden undMuslimen. So, mit diesem Überlegen-heitsgefühl, lässt sich Geschichte heutenicht mehr erzählen. Es gibt Ansätze, dasin postkolonialer Perspektive aufzubre-chen, aber die sind noch nicht CommonSense. Wir müssen in der Lage sein, un-sere tief sitzenden Stereotypen und Ras-sismen zu entdecken und uns mit ihnenauseinanderzusetzen. Sie werden im All-tag wirksam, weil wir – wir alle! – sie ein-fach nicht bemerken, so selbstverständ-lich sind sie. Eine ganz andere Zusam-mensetzung der Gesellschaft fordert dasebenso von uns wie grundlegend men-schenrechtliche Verpflichtungen. Die Po-litik hilft leider nicht, weil sie das Ringenum eine neue Zugehörigkeit in der Gesell-schaft eher polarisierend begleitet, ja so-gar unverantwortlich zündelnd. Auch Siein den Medien.

Zugehörigkeit oder auch: Identität. Daswar im Programm Ihres Kongresses einSchlüsselwort. Warum? Identität ist docheher die Feindin der Multikulturalität?Das haben wir bewusst als Provokationgedacht. Als kollektive Identität funktio-niert sie vor allem über die Abgrenzunggegenüber anderen Kollektiven, ja derenAbwertung.

Aber individuell ist Identität in Ordnung?Als selbstbestimmter Bezug zu einer Re-gion, zu einem Land, einer Religion oderauch Lebensform? Natürlich. Ich kann im-mer noch sagen: Ich bin Rheinländerin inBerlin. Oder: Ich bin in einer türkischenFamilie aufgewachsen, das spielt eineRolle für mich. Aber es ist nicht in Ord-nung, wenn ich in meinem ganzen Seindarauf festgelegt werde: „Sie als Türkin“.Die Realität für alle sind doch Mehrfach-identitäten. Die selbst- und verantwor-tungsbewusst ins Gemeinwesen einzu-bringen, dazu sollte Schule in der Migrati-onsgesellschaft ihren Beitrag leisten.

Jüngere Schüler in Deutschland wissen ei-ner neuen Studie zufolge während undnach ihrer Grundschulzeit wenig über Ju-den und noch weniger über Roma. Zwarhat die Hälfte aller befragten Sechs- bis13-Jährigen das Wort „Jude“ schon ein-mal gehört, erklären kann es jedoch nurein gutes Drittel, wie das InternationaleZentralinstitut für das Jugend- und Bil-dungsfernsehen (IZI) in München heraus-gefunden hat. Dabei ist das Thema Teilder meisten Grundschullehrpläne. Kin-der, deren Eltern einen Volks- oderHauptschulabschluss haben, konntenden Begriff „Juden“ noch seltener richtigeinordnen.

Dass Juden zur Zeit des Zweiten Welt-kriegs in Deutschland und in den vomNS-Staat besetzen Ländern verfolgt wur-den, wissen laut der Umfrage zwar dieHälfte der Acht- bis Neunjährigen undfast alle Zwölf- bis 13-Jährigen (94 Pro-zent), ganz sicher über diesen histori-schen Fakt ist sich jedoch bei den Acht-bis Neunjährigen nur knapp jeder Fünfte(18 Prozent). Bei den Zwölf- bis 13-Jähri-gen sind sich 58 Prozent sicher, dass Ju-den im Zweiten Weltkrieg verfolgt wur-

den. „Dies sind Hinweise darauf, dasshier dringend mehr Wissen zu den Zu-sammenhängen vermittelt werdensollte“, erklärte IZI-Leiterin Maya Götz.Noch schlechter ist es der Studie zufolgeum das Wissen über Roma bestellt. DenBegriff „Roma“ hat die Hälfte der Sechs-bis 13-Jährigen noch nie gehört.

„Während bei vielen zum Thema „Mus-lime“ ein altersgemäßes Wissen vorhan-den ist, weiß nur eine Minderheit, wer„Roma“ sind“, sagt Götz. Der Begriff „Zi-geuner“ sei - falls überhaupt bekannt –nur mit eindeutig abwertenden Vorurtei-len belegt.

Die Medienpädagogin hält die Ergeb-nisse für brisant, weil die Grundschulzeitals entscheidende Phase für die Ausprä-gung von Vorurteilen gelte. Je mehr Vor-urteile Kinder am Ende ihrer Kindheitentwickelt hätten, desto hartnäckigerhielten sich diese. Das fehlende Wissenkönne bei gleichzeitig fehlendem Kon-takt zu diesen Gruppen zur Vorurteilsbil-dung beitragen, sagte Götz.

Das Münchner Institut hatte im Rah-men des Forschungsschwerpunkts „Vor-urteile, Rassismus, Extremismus“ 840 re-

präsentativ ausgewählte Kinder zwi-schen sechs und 13 Jahren zu ihrem Wis-sen und ihren Assoziationen zu diesen Be-griffen befragt. In weiteren Untersuchun-gen will das IZI herausfinden, inwieferngut gemachte Film- und Fernsehproduktefür Kinder bei Abbau von Vorurteilen hel-fen können. dpa

ANZEIGE

Yasemin Karakasogluist Erziehungswissen-schaftlerin undLeiterin des Arbeitsbe-reichs InterkulturelleBildung an derUniversität Bre-men. Mit ihr sprachAndrea Dernbach.

Im Dschungel kommen kleine Menschenbesser voran als große. Das ergeben Lauf-analysen, die Forscher um Vivek Venkata-raman von der Harvard Universität inCambridge in der aktuellen Ausgabe desFachblatts „Proceedings B“ der briti-schen Royal Society vorstellen. Klein zusein und so im dichten Urwald effizienter

auf Nahrungssuchegehen zu können,sei womöglich einevolutionärer Vor-teil für Waldbewoh-ner gewesen, heißtes in der Studie.

In afrikanischen,südostasiatischenund südamerikani-schen Regenwaldge-bieten gibt es meh-rere indigene Völker

von vergleichsweise kleinem Wuchs. DieForscher hatten mehr als 30 Männerzweier solcher Gruppen – der Batek ausMalaysia und der Tsimane aus Bolivien –auf offener Fläche und durch Wald laufenlassen. Dabei maßen sie die Schrittlän-gen und Geschwindigkeiten der im Mittel

1,63 Meter großen Männer und berech-neten daraus den Laufaufwand. Währendgrößere Individuen in offener Umgebungeher längere Schritte machten, seien indichter Waldumgebung alle zu ähnli-chen, relativ kleinen Schrittlängen ge-zwungen, erläutern die Forscher.

Größere Individuen verlieren dabei anGeschwindigkeit, kleinere manövrierenhingegen effizienter durch Büsche undZweige. Berechnungen der Forscher zu-folge käme ein großgewachsener Menschim Dickicht nur etwa halb so schnell vo-ran wie Angehörige des afrikanischenEfe-Volks, die zu den kleinsten der Erdezählen.

Effizientere Fortbewegung ist aller-dings nicht der einzige Grund, der vonExperten als mögliche Ursache für die ge-ringere Größe von Waldbewohnern dis-kutiert wird. Auch Umweltfaktoren wieHitze, Feuchtigkeit, Krankheitserreger so-wie eine geringere Verfügbarkeit vonNahrung könnten demnach eine Rollespielen. Zudem gibt es Volksgruppen miteher geringer Körpergröße auch in Land-schaften ohne Wald. dpa

Foto

:Han

niba

lHan

schk

e/dp

a

Wenig Wissen über Juden und RomaAcht- bis neun-jährige Schüler kaum informiert über Verfolgung in der NS-Zeit

AntibiotikagehörenzudengroßenErrun-genschaften im Kampf gegen Infektions-krankheiten. Resistenzen bedrohen die-sen Erfolg allerdings. Die Krankheitserre-ger legen die verabreichten Stoffe durchEnzyme lahm, verweigern ihnen den Zu-tritt oder verändern die Zielmoleküle unddamit das Schloss, in das der Wirkstoff alsSchlüssel eigentlich passen sollte. Und jemehr Antibiotika eingesetzt werden,desto größer scheint der evolutionäre Er-findungsreichtum der Kleinstlebewesen.

Wie groß die Gefahren sind, wenn Bak-terien unempfindlich werden gegen dieMittel,mitdenensiebekämpftwerdensol-len,zeigteineStudievonMitarbeiterndesEuropean Center of Disease Preventionand Control (ECDC), die gerade im Fach-blatt„TheLancetInfectiousDiseases“ver-öffentlicht wurde: Allein im Untersu-chungsjahr 2015 sind demnach in den be-rücksichtigten30LändernderEUunddeseuropäischen Wirtschaftsraums mehr als33000MenscheninfolgederUnwirksam-keit der Arzneimittel gegen fünf großeGruppen von bakteriellen Infektionen ge-storben. Für Deutschland werden 2336Todesfälle angegeben.

Die Forscher legten ihren Berechnun-gen zunächst Daten des EuropäischenNetzwerks zu Antibiotika-Resistenzen(EARS-Net) zugrunde, die sie mit weite-renDaten ausden jeweiligen Ländernundmit den Ergebnissen anderer Studien ver-knüpften.DieECDC-MitarbeiterumAles-sandro Cassini kommen zu dem Ergebnis,dass 2015 in den 30 Ländern 671689 In-fektionen mit Erregern auftraten, die ge-gen gängige Antibiotika unempfindlichwaren – doppelt so viele wie 2007. Rundzwei Drittel aller Resistenzen traten beivier Bakterienarten auf, darunter„MRSA“, ein Staphylococcus aureus, dergegen Methicillin und andere unempfind-lichist.ErhatzwarindenvergangenenJah-ren etwas an Bedeutung verloren. DafürhabenProblemebeieinerGruppevonBak-terienmiteinem anderenAufbauderZell-wand („gram-negative“ Erreger) deutlichzugenommen. Zu ihnen gehören dasDarmbakteriumEscherichiacoliundKleb-siella pneumoniae. Letztere Art ist norma-lerweise ungefährlich, kann aber Immun-geschwächten zur Gefahr werden.

Besonders viele Resistenzen zeigtensich gegen Reservemittel aus der GruppederCarbapenemeund gegenColistin. Amgrößten waren die Probleme in Griechen-land,woAntibiotika auch ohneRezept er-hältlich sind, und in Italien, wo Antibio-tikanochimmer weit großzügiger verord-net werden als in Deutschland.

63,5 Prozent der Problemfälle tratender Studie zufolge in Kliniken und ande-ren Gesundheitseinrichtungen auf, wosich auch 72 Prozent der Todesfälle ereig-neten, die einer Antibiotika-Resistenz zu-

gerechnet werden könnten. Die Autorenweisen allerdings darauf hin, dass unterstationäraufgenommenen Patientenvielebesonders anfällige hochbetagte undmehrfach kranke Menschen sind.

Neu an der Studie ist, dass die Wissen-schaftler sich nicht allein für die Anzahlder Todesfälle interessierten, die Folgeder Resistenzen sein könnten, sondernauch für Leid und Einschränkungen, dieauf ihr Konto gehen. Die Lebensjahre, dieMenschen in den untersuchten LänderninsgesamtaufgrundderAntibiotika-Resis-tenzendurchfrühzeitigenTodverlorenge-hen oder durch krankheitsbedingte Ein-schränkungenbestimmtwerden(als„Dis-ability-adjustedlifeyears“,kurzDALYsbe-zeichnet) veranschlagen sie mit 874541.

Petra Gastmeier, Direktorin des Insti-tuts für Hygiene und Umweltmedizin derCharité, findet es wichtig, erstmals auch

die Folgen einesdurchResistenzenindieLänge gezogenenBehandlungsver-laufs in den Blick zunehmen: „Viele Pa-tienten,dieeineBlut-vergiftung überle-ben, haben nochlange an ihren Fol-gen zu leiden.“

Auf Null werdeman die Zahl der To-

desfälle und schwerer gesundheitlicherFolgen von Infektionen mit multiresisten-tenKeimenauchbeiklügeremEinsatzvonAntibiotikanichtbringen,sagtGastmeier.Trotzdem sieht sie bei Antibiotika deutli-chesEinsparpotential. IndeutschenKran-kenhäusern stehe „an jedem x-beliebigenTag jeder vierte Patient unter Antibio-tika“. Vor allem nach operativen Eingrif-fen würden sie oft zu lange gegeben.

VieleKrankenhäuser versuchendenra-tionalen Einsatz der Mittel dadurch zu be-fördern, dass Experten auf Wunsch in dieverschiedenen Abteilungen kommen, uminkniffligenFällenzuberaten.AnderCha-rité wurden zudem in den letzten Jahren350 Ärztinnen und Ärzte in „AntibioticStewardship“ geschult, die Hälfte davonausanderenKrankenhäusern.„Dasführtezu einem Rückgang der Antibiotika-An-wendungquerdurchdieFachgebiete“,be-richtet Gastmeier.

Bei zurückhaltendem Einsatz verrin-gert sich auch die Gefahr, dass Bakterienunempfindlich werden. Tun sie es doch,so sind Resistenz-Gene schnell über Län-dergrenzen hinweg ausgetauscht. PetraGastmeier wird durch die Studie in einemalten Wunsch bestärkt: „Ähnlich wie dieKlimaziele sollte man international auchResistenz-Ziele aufstellen.“

Adelheid Müller-Lissner

Klein zu sein, hat einen großen VorteilDie geringe Größe von Pygmäen kommt ihrer Lebensweise im Urwald zugute

Menschenmit langenBeinenverbrauchenim Urwaldmehr Energie

Aufgezeigt. Schule ist vor allem die Schule der Demokratie, sagt Yasemin Karakasoglu. Sievermisst einen Bezug von Schule auf die transnationale Wirklichkeit. Foto: Frank Molter/dpa

Kein Glück.Kleeblattmuster

entstehen im Labor,wenn Bakterien gegen

Reserveantibiotika ausder Gruppe der Carba-

peneme resistentgeworden sind.

Foto: CDC

Resistenzenkönnentödlich sein.Aber auchwer überlebt,leidet oft

Indigen. Angehörige des Basua-Volkes imWesten Ugandas werden selten größer als155 Zentimeter. F.: dpa/epa H. Landstedt

18 DER TAGESSPIEGEL NR. 23 643 / MITTWOCH, 7. NOVEMBER 2018WISSEN & FORSCHEN

„DenBegriffBrennpunktschulestreichen“Die Erziehungswissenschaftlerin Yasemin Karakasoglu über Migration und die Schule der Zukunft

TödlicheUnempfindlichkeit

Deutliche Zunahme von Antibiotika-Resistenzen

Ältester exakt dokumentierterMeteoritenfall in Europa:7.11.1492, 11.30 Uhr,Ensisheim/Elsass.

Diesen Stein-meteorit und29.999.999andere Naturenfinden Sie im

www.museumfuernaturkunde.berlin

Folge 283 von 30.000.000