Der Topos des französischen Hofes in der Budapester ... · PDF filewird von Leonardo...

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Architektur Schweizer Ingenieur und Architekt Nr. 23, 5.Juni 1997 458 Tibor Joanelly, Zürich Der Topos des französischen Hofes in der Budapester Architektur Viele ostmitteleuropäische Städte präsentieren sich dem Besucher aus dem Westen als ein Sammelsurium von Stilen und Stilbrüchen, das eine wechselhafte Geschichte widerspie¬ gelt.1 In diesem Aufsatz soll anhand von drei Budapester Bauten gezeigt werden, wie ein Architektur-Motiv immer wieder auftritt und sich eine Stadt somit ein kulturelles Erbe jen¬ seits von Ideologie und Stilfragen erhalten kann. In Budapest fällt ein Gebäudetyp auf, der in der ganzen Stadt verbreitet ist. Zumeist handelt es sich um Wohnhäuser, deren Fas¬ sade in einem Teil von der Strassenflucht zurückweicht und einen Raum entstehen lässt, der allgemein «Francia Udvâr», fran¬ zösischer Hof oder cour d'honneur, ge¬ nannt wird." In Paris hat Auguste Perret 1903 an der 25bis rue Franklin ein ver¬ gleichbares Haus gebaut. Die Typologie wird von Leonardo Benevolo als funktio¬ nal erklärt. Interessant ist, dass dieses Thema in Budapest bereits Ende des 19 Jahrhunderts auftritt und sich im Laufe der Zeit weiter¬ entwickelt. Das Phänomen zieht sich seit 1880 durch alle Baustile.' Vor dem Ersten Weltkrieg wurden einige Dutzend solcher Wohn häuser gebaut, auch aus der Zeit zwi¬ schen den beiden Weltkriegen sind einige Beispiele zu finden. Selbst moderne Ge¬ schäftshäuser der kulturellen und wirt¬ schaftlichen Neuorientiereung unter dem ersten Parteisekretär Jänos Kädär nach dem Volksaufstand von 1956 sind dieser Tradition verhaftet. Das erste Budapester Hochhaus, 1968 gebaut, wird über einen Vorhof erschlossen. Aus jüngerer Zeit datiert ein 1983 erbautes postmodernes Hotel an der Väci utca, der Budapester Flaniermeile; auch hier tritt das Motiv wie¬ der auf. 1 Königsbasar, Budapest. 1899-1902 von den Architekten Géza Kàrmén und Gyula Ullmann in Wiener Jugendstil erbaut fr i ^~~^' Z rt» T", ...fei,"' s---: X, i- L .-' ~ r - KS _ il frasa -i- '¦-' "'-- £sü£3 c IS S ;J r Budapester Höfe Um die Beliebtheit des französischen Hofes zu verstehen, ist es wichtig, einen Blick zurück auf die städtebauliehe Ent¬ wicklung Budapests zu werfen. Vom letz¬ ten Viertel des 19.Jahrhunderts his zum Budapest Atisbruch des Ersten Weltkrieges erfuhr Budapest ein Wachstum, das das heutige Gesicht der Stadt entscheidend geprägt hat. Die noch immer feudalen Grundbe¬ sitzverhältnisse Hessen eine Regulierung des Stadtgrundrisses mit Ringstrassen und Prinzipalen zu, wie sie nur noch in Paris unter Haussmann durchgesetzt worden war. Dabei wurden keine rechtlichen Mit¬ tel gegen die wilde Bodenspekulation be¬ reitgestellt, wohnhygienische Vorschriften waren zweitrangig. Hinter den repräsentativen Strassen- fassaden finden sich denn auch oft elende und enge Höfe, die in krassem Gegensatz zu den grosszügigen Strassenräumen ste¬ hen. Um die Mietskasernen in der Tiefe des Grundstückes zu erschliessen und mit Licht zu versorgen, griff man auf die Höfe der traditionellen ein- bis zweigeschossi¬ gen Stadthäuser zurück. Darin teilten sich meist zwei Generationen einer Familie Xtraly - Jjazdr Königs - "Bazar einen quer zur Strasse liegenden, längsge¬ richteten Hof. Die Grösse, Lage und Er¬ schliessung dieses Hofes wurde für den mehrgeschossigen Mietshausbau über¬ nommen, wobei die rückwärtig liegenden Wohnungen kaum mehr zu belichten und belüften waren. Im vorderen Teil wohnten meist die Hausbesitzer - später oft ver¬ armte Adelige -, dahinter, zwischen lang¬ gezogenem Hof und Brand wand, die min¬ derbemittelten Mieter. Die strassenseitig gelegenen Woh¬ nungen konnten aufgewertet werden, indem sie durch Vorhöfe mehr Fassaden¬ fläche erhielten. Die Strassenwohnungen waren generell besser und teurer vermiet¬ bar, so dass Vorhöfe entstanden, die oft die Tiefe des Grundstücks selber aufweisen und eigentlichen Sackgassen gleichen. Die Wohnungen, die zu diesen vorderen Ein¬ schnitten hin orientiert waren, galten noch immer als Strassenwohnungen.

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Architektur Schweizer Ingenieur und Architekt Nr. 23, 5.Juni 1997 458

Tibor Joanelly, Zürich

Der Topos des französischenHofes in der BudapesterArchitektur

Viele ostmitteleuropäische Städtepräsentieren sich dem Besucher ausdem Westen als ein Sammelsuriumvon Stilen und Stilbrüchen, das einewechselhafte Geschichte widerspie¬gelt.1 In diesem Aufsatz soll anhandvon drei Budapester Bauten gezeigtwerden, wie ein Architektur-Motivimmer wieder auftritt und sich eine

Stadt somit ein kulturelles Erbe jen¬seits von Ideologie und Stilfragenerhalten kann.

In Budapest fällt ein Gebäudetyp auf, der

in der ganzen Stadt verbreitet ist. Zumeisthandelt es sich um Wohnhäuser, deren Fas¬

sade in einem Teil von der Strassenflucht

zurückweicht und einen Raum entstehen

lässt, der allgemein «Francia Udvâr», fran¬

zösischer Hof oder cour d'honneur, ge¬

nannt wird." In Paris hat Auguste Perret

1903 an der 25bis rue Franklin ein ver¬

gleichbares Haus gebaut. Die Typologiewird von Leonardo Benevolo als funktio¬nal erklärt.

Interessant ist, dass dieses Thema in

Budapest bereits Ende des 19 Jahrhundertsauftritt und sich im Laufe der Zeit weiter¬

entwickelt. Das Phänomen zieht sich seit

1880 durch alle Baustile.' Vor dem Ersten

Weltkrieg wurden einige Dutzend solcher

Wohn häuser gebaut, auch aus der Zeit zwi¬

schen den beiden Weltkriegen sind einige

Beispiele zu finden. Selbst moderne Ge¬

schäftshäuser der kulturellen und wirt¬schaftlichen Neuorientiereung unter dem

ersten Parteisekretär Jänos Kädär nach

dem Volksaufstand von 1956 sind dieser

Tradition verhaftet. Das erste BudapesterHochhaus, 1968 gebaut, wird über einen

Vorhof erschlossen. Aus jüngerer Zeit

datiert ein 1983 erbautes postmodernesHotel an der Väci utca, der BudapesterFlaniermeile; auch hier tritt das Motiv wie¬

der auf.

1

Königsbasar, Budapest. 1899-1902 von den

Architekten Géza Kàrmén und Gyula Ullmann in

Wiener Jugendstil erbaut

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Budapester Höfe

Um die Beliebtheit des französischenHofes zu verstehen, ist es wichtig, einen

Blick zurück auf die städtebauliehe Ent¬

wicklung Budapests zu werfen. Vom letz¬

ten Viertel des 19.Jahrhunderts his zum

Budapest

Atisbruch des Ersten Weltkrieges erfuhr

Budapest ein Wachstum, das das heutigeGesicht der Stadt entscheidend geprägthat. Die noch immer feudalen Grundbe¬sitzverhältnisse Hessen eine Regulierungdes Stadtgrundrisses mit Ringstrassen und

Prinzipalen zu, wie sie nur noch in Paris

unter Haussmann durchgesetzt worden

war. Dabei wurden keine rechtlichen Mit¬tel gegen die wilde Bodenspekulation be¬

reitgestellt, wohnhygienische Vorschriften

waren zweitrangig.Hinter den repräsentativen Strassen-

fassaden finden sich denn auch oft elende

und enge Höfe, die in krassem Gegensatzzu den grosszügigen Strassenräumen ste¬

hen. Um die Mietskasernen in der Tiefe

des Grundstückes zu erschliessen und mit

Licht zu versorgen, griff man auf die Höfe

der traditionellen ein- bis zweigeschossi¬

gen Stadthäuser zurück. Darin teilten sich

meist zwei Generationen einer Familie

Xtraly - Jjazdr Königs - "Bazar

einen quer zur Strasse liegenden, längsge¬richteten Hof. Die Grösse, Lage und Er¬

schliessung dieses Hofes wurde für den

mehrgeschossigen Mietshausbau über¬

nommen, wobei die rückwärtig liegenden

Wohnungen kaum mehr zu belichten und

belüften waren. Im vorderen Teil wohntenmeist die Hausbesitzer - später oft ver¬

armte Adelige -, dahinter, zwischen lang¬

gezogenem Hof und Brand wand, die min¬

derbemittelten Mieter.Die strassenseitig gelegenen Woh¬

nungen konnten aufgewertet werden,indem sie durch Vorhöfe mehr Fassaden¬

fläche erhielten. Die Strassenwohnungenwaren generell besser und teurer vermiet¬bar, so dass Vorhöfe entstanden, die oft die

Tiefe des Grundstücks selber aufweisenund eigentlichen Sackgassen gleichen. Die

Wohnungen, die zu diesen vorderen Ein¬

schnitten hin orientiert waren, galten noch

immer als Strassenwohnungen.

Architektur Schweizer Ingenieur und Architekt Nr. 23, 5.Juni 1997 459

Eines der ersten Häuser, bei dem der

Vorhof in der typischen, noch wenig tie¬

fen Form auftritt, ist der Kirâly bazar (Kö¬nigsbasar), 1899-1902 von den ArchitektenGéza Karman und G}aila Ullmann im Wie¬

ner Jugendstil erbaut. Bei diesem Ein¬

gangshaus zu einer Passage weicht die Ein¬

gangsfront im Mittelfeld von der Strasse

zurück, so dass ein kleiner Vorhof entsteht,der zugleich das Eingangsportal bildet.Diese Geste kann als Verneigung gegen¬über dem noch hauptsächlich aristokra¬tischen Grossstadtpublikum verstandenwerden. Sie wurde auch den Repräsenta¬tionsbedürfnissen des noch jungen Bür¬

gertums gerecht, das die Etikette der Ari¬stokratie annahm. Die Zäsur im Strassen-

raum lockt die Passanten ins Innere der

Passage. Es mag sein, dass Perrets Haus in

Paris, etwas später erbaut, dazu beitrug,dass dieser Vorhof so in Mode kam. Paris

galt - eher als Wien - in Budapest als leuch¬tendes Vorbild für gelebte Urbanität.

Heute sind diese Höfe städtische Einö¬

den, besonders die tiefen Einschnittehaben den Reiz einer Durchdringung vonStrasse und Block verloren. Der Lärm und

die Abgase des chaotischen BudapesterVerkehrs dringen ungehindert in sie ein;die Verantwortlichkeit für Pflege und Un¬

terhalt ist durch die verworrenen Eigen¬tumsverhältnisse - Privatisierung des einst

staatlichen Eigentums - nicht geregelt. Umin einen hinteren Hof zu gelangen, muss

man den Vorhof durchschreiten, den

Blicken der dort Wohnenden ausgesetzt.Die dahinter liegenden geschlossenen,

engen, jedoch gut gepflegten Hinterhöfedagegen wirken wie familiäre Oasen in der

hektischen und anonymen Grossstadt -mit allen Vor- und Nachteilen einer engenNachbarschaft.

Avantgarde und Kontinuität

Nach dem Ersten Weltkrieg und damitnach dem Scheitern der sozialistischen Rä¬

terepublik musste ein grosser Teil der lin¬ken Intelligenz unter dem Druck einer

willkürlichen und oft brutalen Repressionins Ausland emigrieren. Einige wichtigeVertreter der ungarischen Avantgarde,unter ihnen die bekannteren Läszlo Mo-holy-Nagy, Marcell Breuer, Fréd Forbät,Farkas Molnar und Jözsef Fischer, fanden

am Bauhaus Aufnahme.' Ende der zwan¬ziger Jahre kehrten einige Vertreter des so¬

genannten ungarischen Aktivismus nach

Budapest zurück, sie wraren kulturell äus¬

serst aktiv. Entgegen der offiziellen neo-barocken Gesellschaftsordnung und kon¬servativen Kulturpolitik hatte sich unterzumeist reichen und aufgeschlossenen

Grossbürgern eine moderne Gegenkulturetabliert. Die zurückgekehrten Architek¬ten wurden jetzt reichlich mit privatenBauaufträgen bedacht. Mit der Zeitschrift«Ter es Forma» (Raum und Form) hatte

die Avantgarde auch ein Sprachrohr, das

nicht nur in Ungarn Beachumg fand. «Teres Forma» war jedoch nicht nur die Platt¬form der Avantgarde, welche sich nach

1929 in der ungarischen CIAM-Gruppe or¬

ganisiert hatte - publiziert wurde darin

alles, was als «modern» galt. Mittlerweilewar «die Moderne» ein Lebensgefühl ge¬worden, mit dem sich eine bürgerlicheOberschicht identifizierte und schmück-te.6

Die Koexistenz von Avantgarde und

Konservatismus kann eine Erklärungdafür sein, dass bei einigen der bedeuten-sten Mietswohnhäuser dieser Zeit das

Motiv des französischen Hofes wieder auf¬

tritt. Dieser wurde im Sinne der Moderne

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Hof eines Wohnhauses zu der Régi posta utez in

Budapest, ca. 1905

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Wohnblock Dunapark, Budapest.Architekten Bêla Hofstätter und

Ferenc Domany, 1936/37. Schnitt(oben). Gesamtansicht (links)

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Architektur Schweizer Ingenieur und Architekt Nr. 23, 5.Juni 1997 460

weiterentwickelt und neu interpretiert,ohne dass dadurch ein Widerspruch ent¬standen wäre. Französische Höfe warenmittlerweile in städtischen Bebauungsplä¬nen sogar vorgeschrieben, hatten sie sich

doch als probates Mittel erwiesen, um we¬

nigstens gewisse wohnhygienische Ver¬

besserungen durchsetzen zu können. Bei

solchen Bebauungsplänen war der Spiel¬

raum der Architekten stark eingeschränkt,wie das folgende Beispiel zeigen soll.

Die Architekten Bêla Hofstätter und

Ferenc Domâny bauten 1936-37 auf der Pe¬

ster Seite an der Donau den WohnblockDunapark. Das Grundstück liegt an einem

damals neu angelegten grosszügigen Park

und erstreckt sich entlang der Donau. Das

Planungsamt verlangte, dass die rückwär¬

tig liegende Strasse von einzelnen, zur

Strasse hin geöffneten Höfen gesäumtwürde. In einem ersten Entwurf ordnetendie Architekten die Höfe zur Donau hin

an; alle Wohnungen wären somit mit Blick

zum Fluss und guter Besonnung ausge¬stattet gewesen.

Dieser Entwurf wurde von der Stadt

nicht akzeptiert; die Architekten be¬

schränkten sich in der Folge auf eine Ver¬

besserung der Erschliessung und nicht zu¬

letzt auf das Zelebrieren eines modernen

Erscheinungsbildes. Sie trennten die Höfedurch einen zweigeschossigen Gebäu¬

dekörper von der Strasse; womit das Ge¬

bäude zu dieser hin klar abgegrenzt ist. Die

entstandenen niedrigen Höfe dienten aus¬

schliesslich der Belichtung; funktionalwaren sie von den Treppenhäusern ge¬

trennt, was der modernen Forderung nach

Aufgliederung und Entwirrung der Funk¬

tionen nachkam. Im Vergleich zu den Häu¬

sern, die vor dem Ersten Weltkrieg gebautworden waren, war dies eine wesentliche

Verbesserung, denn das Prinzip der sozia¬

len Kontrolle entsprach nicht mehr dem

bürgerlich grossstädtischen Lebensstil.Vom cour d'honneur blieb nur noch das

Bild, das Repräsentativität evozierte und

an die Tradition anklang. Um so mehr

Sorgfalt wurde für die Gestaluing der Ein¬

gänge und Treppenhäuser verwandt, die

punkto Grosszügigkeit und Materialauf¬wand dem selbstbewussten Auftreten der

Bewohner gerecht wurden. Der Nachteildieser Disposition lag darin, dass die Höfenicht genutzt und deshalb vernachlässigtwurden.

Ein Jahr später realisierte der ArchitektBêla Mälnai in einem benachbarten Haus

eine Variation desselben Themas: Die

Wohnungen wurden von der Strasse her

über einen kleinen Hof erschlossen, womitdieser besser genutzt wurde. Die Trep¬penhäuser behandelte Mälnai wohl auch

sehr sorgfältig und grosszügig, während¬dem die Eingangssituation jedoch eine

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2PGeschäftshaus der staatlichen Chemiemonopol¬gesellschaft Chemolimpex und der Landesspar¬kasse OTR Budapest. Architekt Zoltän Gulyäsim staatlichen Planungsbüro Iparterv, 1963/64.

Strassenansicht

eher enge und kleinbürgerliche Atmo¬sphäre vermittelt.

Durch die beiden Gebäude wurdeeine Art Kamm zur Strasse hin ausgebil¬det, der der modernen Forderung nach

guter Belichtung und Belüftung im Weite¬

sten nahe kam, ohne dass der städtische

Block grundsätzlich in Frage gestellt wor¬den wäre. Entstanden ist ein Komplex, der

zwischen Block und Zeilenbau oszilliert.In bezug auf die Wohnungsgrundrisse, die

technische Ausstattung und die Gestal¬

tung galt der Teil von Hofstätter und

Domâny als der fortschrittlichere, so dass

«Ter es Forma» ihm eine ganze Nummerwidmete. In derselben Ausgabe werdendie Höfe explizit cour d'honneur genannt,was im Einklang mit der Repräsentativitätdieses städtischen Mietspalastes steht.

Verspätete Nachkriegsmoderne

Die Nachkriegsarchitektur im sozialisti¬schen Ungarn war bis zum Volksaufstand1956 durch die von der Sowjetunion über¬

nommene stalinistische Architektur ge¬

prägt, die in Ungarn heute allgemein mit«Sozreal» bezeichnet wird. Dieser wareinem eigenen Formenschatz verpflichtet,der hauptsächlich dem Klassizismus des

Reformzeitalters in der ersten Hälfte des

19- Jahrhunderts entlehnt war.' Erst nach

1956 war eine Auseinandersetzung mit der

Moderne der Zwischenkriegszeit möglich.Die «Partei der ungarischen Werktätigen»hatte nach den kurzen freien Monatenwährend des Aufstandes die Kulairpolitikwieder fest im Griff;Jänos Kädär, der erste

Parteisekretär, versuchte jedoch eine prag¬matische und weniger doktrinäre Kulair¬politik durchzusetzen, was für die Archi¬tekten mehr Freiheit bedeutete. Auch

musste ein Weg gefunden werden, um die

anhaltende wirtschaftliche Misere zu über¬

winden.Das Geschäftshaus der staatlichen

Chemiemonopolgesellschaft Chemolim¬

pex und der Landessparkasse OTP ist ein

gutes Beispiel für die aufgekommene fri¬

sche und optimistische Architektur, die aufdie dogmatische und starre Bauart der dik¬

tatorischen Zeit reagierte. Das von Zoltän

Gulyäs 1963/64 im auf Industriebau spe-

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Architektur Schweizer Ingenieur und Architekt Nr. 23. S.Juni 1997 461

genden Büros befinden, suggeriert gedie¬

gene Geschäftigkeit. Das Gebäude lebt

noch immer von einer verhaltenen Reprä¬sentativität, ohne jedoch monumental zu

wirken.

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Geschäftshaus OTR Budapest. Schnitt durch

den Hof vor dem Umbau

zialisierten staatlichen Planungsbüro Ipar-terv geplante Geschäftshaus steht im hi¬

storischen Zentrum von Budapest.Das Bauprogramm umfasste Ge¬

schäftsräume für die Chemolimpex und

Büros fur die OTP mit einer repräsentati¬ven Schalterhalle. Das U-förmige Gebäu¬de steht so auf einer Eckparzelle, dass der

Rücken und ein Flügel mit den Brand¬wänden der benachbarten Häuser zusam¬menfallen. Ein Flügel steht frei, nimmt aber

die Strassenflucht auf. Der so entstandene

Hof ist zu der grösseren Strasse hin ge¬

richtet. An dieser Strasse, zwischen den

beiden Flügeln des Gebäudes, befindetsich ein zweigeschossiger Gebäudeteil, der

die Schalterhalle aufnimmt. Dahinter, ähn¬

lich dem 1952 in New York erbauten Lever

House von Skidmore Owings&Merill,liegt ein kleiner Vorraum zu den Büros in

den oberen Stockwerken. Dieser Raum

wird durch zwei grosszügige Durchgängevon der Strasse her erreicht. Wie beim

Lever House ist so ein Spaziergang auf

Strassenniveau durch das Gebäude mög¬lich. 1964 wurde das Chemolimpex-Hausin der Zeitschrift -Magyar Epitömüveszef

(Ungarische Baukunst) explizit mit dem

Lever House verglichen und als Zeichender kulturellen Öffnung und des hohentechnischen Niveaus gerühmt. Zoltän Gu¬

lyäs griff bei seinem Entwurf auf die Buda¬

pester Klassiker der Moderne zurück;tatsächlich entspricht der Querschnittdurch den Hof demjenigen durch den courd'honneur des oben beschriebenen Miet¬wohnhauses Dunapark von Hofstätterund Domâny. An der städtebaulich sensi¬

blen Lage in der Pester Altstadt ist so ein

Geschäftshaus entstanden, das den Bruchder Moderne mit der Tradition auf konge¬niale Art und Weise verwischt.

Das Chemolimpex-Haus, das als eines

der besten Beispiele der ungarischenNachkriegsmoderne gilt, ist vor kurzem

komplett umgebaut worden: Die ur¬

sprünglich graue Granitverkleidungwurde durch einen roten Stein ersetzt;über der ehemals durch eine auf vier Stüt¬

zen ruhenden, lichtdurchlässigen Kasset¬tendecke gleichmässg mit Tageslicht ver¬

sorgten Schalterhalle thront jetzt eine

Glaspyramide. Der Piano Nobile, in wel¬chem sich die Schalterhalle und die umlie-

Adresse des Verfassers:

TiborJoanelly, dipl. Arch. ETH. Seefeldstrasse86. 8008 Zürich

AnmerkungenZur Befindlichkeit der ostmitteleuropäi¬

schen Stadt siehe auch: Âkos Moravânszky:Brandmauern. Die Intensität Mitteleuropas unddie ungarische Architekair. in: Daidalos 1991/39

"Die Genesis des Begriffs cour d'honneurin der ostmitteleuropäischen Architektur bliebenoch zu klären. Einen Überblick über die viel¬

fältigen Beziehungen ungarischer Architektenzur Ecole des Beaux-Arts und anderer europäi¬scher Schulen im 19-Jahrhundert gibtjözsef"Sisa:Magyar épitészek külföldi tanulmânyai a 19-

szäzad mäsodik felében. Akadémiai Kiadö. Buda¬

pest 1996" Siehe auch: Leonardo Benevolo: Storia

dell'architettura moderna. Editori La Terza, Bari1960

Der in Budapest lebende und arbeitendeWiener Architekt Gustav Petschacher baute von1888-90 am Kodäly-Rondell einen Mietspalastmit Ehrenhof.

Vergl: Wechselwirkungen: Die Künstlerder ungarischen Avantgarde in Weimar, Kassel1986

Vergl.: Akos Moravânszky: Die Avantgar¬de wird heimisch, in: Bauwelt 1985/37

Ter es Forma 1937/5

Siehe dazu: Architecture and planning in

Hungary 1945 -1959. Orszagos MuemlékvédelmiHivatal / Magyar Épitészeti Müzeum. Budapest1996.

Die Architektur der Moderne war von1945-56 in die Nische des Industriebaus -ver¬

drängt. Iparterv schuf in dieser Zeit einige be¬

achtenswerte moderne Industriebauten. Siehe

auch Kàroly Polönyi: On the peripheries. Bu¬

dapest 1992

Bilder2. 6: Tibor Joanelly. Zürich. 3. 5: MagyarepitömCiveszet. 1995. 1. 4: ter es forma / 1937-5