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Der unbegreifliche Zufall Nicolas Gisin Nichtlokalität, Teleportation und weitere Seltsamkeiten der Quantenphysik

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Zufall

Nicolas Gisin

Nichtlokalität, Teleportation

und weitere Seltsamkeiten der

Quantenphysik

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Nicolas Gisin ist Direktor des Instituts für Angewand-te Physik an der Universität Genf und Mitbegründer derGesellschaft ID Quantique. Er ist international bekanntfür seine Arbeit in der Kryptographie und der Quanten-Informationstheorie sowie Herausgeber der Reihe „Quan-tum Science and Technology“.

2009 erhielt er den ersten John S. Bell Preis für dieDemons-tration langreichweitiger Verschränkungen und Quanten-teleportationen sowie für seine zahlreichen Beiträge zu denBell’schen Ungleichungen.

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Nicolas Gisin

Derunbegreifliche

Zufall

Nichtlokalität, Teleportation undweitere Seltsamkeiten der

Quantenphysik

Aus dem Französischenvon Manfred Stern

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Nicolas GisinUniversität GenfGenf, Schweiz

ISBN 978-3-662-43957-9 ISBN 978-3-662-43958-6 (eBook)DOI 10.1007/978-3-662-43958-6

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut-schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Springer SpektrumÜbersetzung der französischen Originalausgabe „L’Impensable Hasard. Non-localité, téléportation et autres merveilles quantiques“ von Nicolas Gisin,erschienen bei Odile Jacob (www.odilejacob.fr) 2012, © Odile Jacob 2012,alle Rechte vorbehalten.© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

DasWerk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Ver-wertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarfder vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfäl-tigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei-cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungenusw. in diesemWerk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu derAnnahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutztwerden dürften.

Planung und Lektorat: Vera Spillner, Bettina SaglioRedaktion: Prof. Dr. Karin Richter, Laura KellerEinbandentwurf : deblik, BerlinÜbersetzung: Aus dem Französischen von Manfred Stern

Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.

Springer Spektrum ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil derFachverlagsgruppe Springer Science+Business Mediawww.springer-spektrum.de

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Geleitwort

Liebe auf den ersten Blick!

Als ich hörte, wie Nicolas Gisin seine Emotionen beschrieb,als er Bekanntschaft mit dem Bell’schen Theorem machte,durchlebte ich sofort wieder jenen Tag im Herbst 1974,an dem ich mich in eine Kopie des damals wenig bekann-ten Artikels von John Bell vertieft hatte, und begriff, dasseine experimentelle Antwort auf die fundamentale Debat-te möglich war, die Bohr und Einstein bei der Interpreta-tion des quantenmechanischen Formalismus zu Widersa-chern gemacht hatte. Zwar kannte eine Reihe von Physikerndas Problem von Einstein, Podolsky und Rosen (Stichwort:„EPR-Paradoxon“ oder „EPR-Effekt“), aber kaum jemandhatte von den Bell’schen Ungleichungen gehört und nichtviel zahlreicher waren diejenigen, die Fragen zu den konzep-tuellen Grundlagen der Quantenmechanik überhaupt füruntersuchenswert hielten. Der EPR-Artikel, der 1935 imPhysical Review erschien, war in den großen Bibliothekenleicht zugänglich – imGegensatz zu John Bells Arbeit, die ineiner unbekannten neuen Zeitschrift erschien, die nach nurvier Ausgaben wieder von der Bildfläche verschwand. Da-mals gab es weder Internet noch Online-Bibliotheken undman verbreitete Artikel, die nicht in den großen Zeitschrif-

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ten veröffentlicht wurden, mit Hilfe von Fotokopien. Ichhatte meine Kopie aus einemOrdner, den Christian Imbert,ein junger Professor des Instituts für Optik, anlässlich einesBesuches von Abner Shimony angelegt hatte, der von Ber-nard d’Espagnat nach Orsay eingeladen worden war. DemReiz des Bell’schen Artikels verfallen, beschloss ich, meineDissertation über die experimentellen Tests der Bell-Unglei-chungen zu schreiben und Christian Imbert nahm mich insein Labor auf.

Dem beeindruckend klaren Artikel von Bell habe ichentnommen, was die äußerste Herausforderung für einenExperimentator ist: Während der Ausbreitung der ver-schränkten Teilchen von der Quelle zu den Messberei-chen die Ausrichtung der Messgeräte zu verändern, umdurch das Prinzip der relativistischen Kausalität – die denphysikalischen Effekten eine Ausbreitung mit Überlichtge-schwindigkeit verbietet – jede Möglichkeit eines Einflussesauszuschließen, den die Ausrichtung der Geräte auf denEmissionsmechanismus oder auf die entfernte Messung ha-ben könnten. Mit einem solchen Experiment hätte mandie Quintessenz des Konflikts eingefangen, der zwischender Quantenmechanik und dem lokalen Realismus, dasheißt, dem von Einstein verfochtenen Weltbild, besteht.Von dieser Warte aus kann man von der physikalischen Rea-lität eines Systems sprechen, das sich in einem endlichenBereich der Raumzeit befindet, und diese physikalischeRealität (Lokalität) lässt sich nicht durch das beeinflussen,was mit einem zweiten System passiert, welches vom erst-genannten durch ein „raumartiges“ Intervall der Raumzeitgetrennt ist – in dieser Situation können beide Systeme nurdann miteinander kommunizieren, wenn man die Exis-

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Geleitwort VII

tenz von Einflüssen annimmt, die sich schneller als dasLicht ausbreiten. Falls das Experiment die Voraussagen derQuantenmechanik bestätigt, dann müsste man auf denlokalen Realismus verzichten, also auf das Weltbild, dasEinstein auf überzeugendeWeise verteidigte. Demnach wä-re die Frage verlockend, ob man auf den Realismus oder aufdie Lokalität verzichten müsste.

Die Infragestellung des Konzepts der physikalischenRealität an sich überzeugt mich nicht, denn mir scheint,dass die Rolle des Physikers darin besteht, die Realitätder Welt zu beschreiben, und nicht nur in der Fähigkeitzum Ausdruck kommt, die von Messgeräten festgestelltenErgebnisse vorherzusagen. Falls sich aber nun die Quanten-mechanik bestätigt – was wir heute akzeptieren müssen –,muss man dann nicht die Existenz von nichtlokalen Wech-selwirkungen anerkennen, was scheinbar das Einstein’schePrinzip der relativistischen Kausalität verletzt? Und kannman davon träumen, diese Nichtlokalität der Quanten-mechanik zu nutzen, um ein verwertbares Signal (zumEinschalten einer Lampe oder der Erteilung einer Bör-senorder) mit Überlichtgeschwindigkeit zu übermitteln?An dieser Stelle kommt ein weiteres spezifisches Merk-mal der Quantenmechanik ins Spiel: Die Existenz einesfundamentalen Quantenindeterminismus – die absolute Un-möglichkeit, das Ergebnis aus einem speziellen Experimentabzuleiten, wenn die Quantenmechanik vorhersagt, dassmehrere Ergebnisse möglich sind. Freilich gestattet es dieQuantenmechanik, die Wahrscheinlichkeiten dieser ver-schiedenen Ergebnisse präzise zu berechnen, aber sie sindnur statistisch signifikant, weil das Experiment viele Malewiederholt wird – über das Ergebnis eines einzelnen Expe-

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riments kann damit keine Aussage gemacht werden. Hierkommt der fundamentale Quantenzufall ins Spiel, der dieMöglichkeit einer Kommunikationmit Überlichtgeschwin-digkeit verbietet.

Unter den zahlreichen Büchern, die einem breitenPublikum die aktuellen Fortschritte der Quantenphysikerläutern wollen, zeichnet sich das Buch von Nicolas Gisindadurch aus, dass es die bedeutende Rolle dieses funda-mentalen Quantenzufalls hervorhebt, ohne den ein mitÜberlichtgeschwindigkeit funktionierender Telegraph vor-stellbar wäre. Sollte ein solches Gerät Wirklichkeit werden,dann würde dieser Science-Fiction-Mythos eine radikaleRevision der heutigen Physik erfordern. Nichts liegt mirferner als zu behaupten, dass es physikalische Gesetze gäbe,die für immer unantastbar sind – ganz im Gegenteil, ichbin zutiefst davon überzeugt, dass jede physikalische Theo-rie früher oder später durch eineTheorie verdrängt wird, dieein größeres Gebiet umfasst. Aber einige der Theorien sindso fundamental, dass ihre Infragestellung eine konzeptuel-le Revolution von beispiellosem Ausmaß erfordern würde.In der Menschheitsgeschichte gab es einige solche Beispie-le, aber sie sind derart außergewöhnlich, dass man ihrenAusnahmecharakter hervorheben muss. In diesem Zusam-menhang scheint es mir ein besonders wichtiger Aspekt desBuches von Nicolas Gisin zu sein, dass der Autor erklärt,warum es die Quantennichtlokalität trotz ihrer Außerge-wöhnlichkeit nicht gestattet, die relativistische Kausalität zukippen, die eine Kommunikation mit Überlichtgeschwin-digkeit verbietet.

Es ist kaum überraschend, dass sich dieses Buch von an-deren populärwissenschaftlichen Werken abhebt, denn Ni-

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Geleitwort IX

colas Gisin war einer der Hauptakteure der neuen Quan-tenrevolution, die im letzten Viertel des zwanzigsten Jahr-hunderts stattfand. Die ersteQuantenrevolution, welche diePhysik zu Beginn des 20. Jahrhunderts grundlegend verän-dert hat, beruhte auf dem Welle-Teilchen-Dualismus. Die-se Revolution hat es ermöglicht, das statistische Verhaltender Milliarden und Abermilliarden von Atomen, aus denensich die Materie zusammensetzt, sowie der Elektronenwol-ken, die den elektrischen Strom in Metall oder in einemHalbleiter leiten, ebenso beeindruckend genau zu beschrei-ben wie das statistische Verhalten von Photonen, die einenLichtstrahl bilden. Die Quantenmechanik hat die notwen-digen Instrumente zum Verständnis der mechanischen Ei-genschaften der Festkörper bereitgestellt, wohingegen dieklassische Physik nicht erklären konnte, warum dieMaterie,die aus sich anziehenden positiven und negativen Ladungenbesteht, nicht in sich selbst zusammenfällt. Außerdem hatdie Quantenmechanik eine präzise quantitative Beschrei-bung der elektrischen und optischen Eigenschaften derMa-terialien gegeben sowie den konzeptuellen Rahmen für dieBeschreibung von so überraschenden Phänomenen bereit-gestellt wie die Supraleitfähigkeit oder die seltsamen Eigen-schaften gewisser Elementarteilchen. Es war außerdem imZusammenhang mit dieser ersten Quantenrevolution, dassPhysiker neue Erfindungen gemacht haben (Transistoren,Laser und integrierte Schaltkreise), die zur Informations-gesellschaft geführt haben. In den 1960er Jahren aber ha-ben Physiker angefangen, sich zwei neue Fragen zu stellen,die von der ersten Quantenrevolution unbeachtet gebliebensind:

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X Der unbegreifliche Zufall

(1) Wie wendet man die Quantenphysik, deren Vorhersa-gen von statistischer Natur sind, auf einzelne mikrosko-pische Objekte an?

(2) Entsprechen die überraschenden Eigenschaften von ver-schränkten Paaren von Quantenobjekten, die im EPR-Artikel von 1935 beschrieben wurden, aber niemals be-obachtet worden sind, tatsächlich dem Verhalten derNatur, oder wäre es möglich, dass man an eine derGren-zen der Quantenmechanik gestoßen ist?

Diese Fragen sind zuerst von den Experimentatoren beant-wortet und dann von denTheoretikern vertieft worden. Dashat die neue Quantenrevolution eingeleitet, deren Zeugenwir jetzt sind1.

Die Physiker haben die Frage nach dem Verhalten ein-zelner Quantenobjekte stets lebhaft und mitunter äußerstkontrovers diskutiert. Lange Zeit dachte die Mehrheit derPhysiker – darunter durchaus nicht die unbedeutendsten –,dass diese Frage keinen Sinn mache und allenfalls unwichtigsei, da es nicht denkbar war, ein einzelnes Quantenobjektzu beobachten, geschweige denn, es zu kontrollieren oderzu manipulieren. Dazu hat zum Beispiel Erwin Schrödin-ger Folgendes gesagt: „[. . . ] es ist nun einmal so, dass wirgenauso wenig mit einzelnen Teilchen experimentieren, wiewir Ichthyosaurier in einem Zoo züchten können2.“ Aberab Beginn der 1970er Jahre waren die Experimentatorendazu in der Lage, einzelne mikroskopische Objekte (Elek-tronen, Atome, Ionen) zu beobachten, zu manipulieren undzu kontrollieren. Ich erinnere mich immer noch lebhaft andie Begeisterung der Teilnehmer der Internationalen Kon-ferenz über Atomphysik, die 1980 in Boston stattfand: Peter

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Geleitwort XI

Toschek präsentierte das erste Foto eines einzelnen eingefan-genen Ions, das direkt beobachtet werden konnte dank derFluoreszenzphotonen, die es re-emittierte, als es mit einemLaser angestrahlt wurde. Diese experimentellen Fortschrittehaben es ermöglicht, die berühmten Quantensprünge di-rekt zu beobachten und damit jahrzehntelange Kontrover-sen zu beenden. Diese Fortschritte haben auch gezeigt, dassder Quantenformalismus in der Lage ist, das individuelleVerhalten der betreffenden Teilchen zu beschreiben – vor-ausgesetzt, dass die probabilistischen Ergebnisse der Berech-nungen richtig interpretiert werden. Was die zweite Fragebetrifft, die sich auf die Eigenschaften der Verschränkungbezieht, hat man zuerst mit Hilfe von Photonenpaaren ge-zeigt, dass sich die Quantenberechnungen testen lassen. Dasgeschah in einer Reihe von Experimenten, die sich immermehr dem idealen Schema annäherten, von dem die Theo-retiker – angefangen mit John Bell – geträumt hatten. DieseExperimente bestätigten die Gültigkeit der Vorhersagen derQuantenphysik, so überraschend sie auch gewesen sein mö-gen.

Nicolas Gisin hatte schon immer ein persönliches In-teresse an den Grundlagen der Quantenmechanik undwar entsprechend im Rahmen der theoretischen Erfor-schung dieser Grundlagen aktiv. Zudem gründete er in den1980er Jahren eine Arbeitsgruppe für angewandte Phy-sik, die mit Glasfasern arbeitete (das erfolgte mehr oderweniger heimlich oder zumindest seinem Arbeitgeber ge-genüber diskret, da Fragen dieser Art damals nicht immerwohlwollend betrachtet wurden). Aufgrund dieser Vorge-schichte gehörte Nicolas Gisin ganz selbstverständlich zuden ersten, die die Quantenverschränkung an in Glasfasern

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XII Der unbegreifliche Zufall

injizierten Photonenpaaren getestet haben. Seine Kennt-nisse der kommerziellen Glasfasertechnologien haben esihm – wohl zur allgemeinen Überraschung – ermöglicht,unter Verwendung des rund um Genf installierten kom-merziellen Telecom-Glasfasernetzes zu beweisen, dass dieVerschränkung Entfernungen von mehreren Dutzend Kilo-metern übersteht. Verschiedene konzeptuell einfache Testshaben es ihm gestattet, den absolut verblüffenden Cha-rakter der Verschränkung von weit voneinander entferntenEreignissen herauszuarbeiten und das berühmte Quanten-teleportationsprotokoll zu erstellen. Aufgrund von Gisinsdoppelter Kompetenz als Grundlagentheoretiker und alsExperte für Anwendungen von Glasfasern ist es auch nichtüberraschend, dass er zu den ersten Entwicklern von An-wendungen der Verschränkung gehört – Anwendungen wiezum Beispiel die Quantenkryptographie oder die Erzeu-gung von echten Zufallszahlen.

Die beiden oben genannten Talente von Nicolas Gisinfinden wir in diesem spannenden Buch wieder, in dem esdem Verfasser gelungen ist, besonders subtile Fragen derQuantenphysik populärwissenschaftlich und ohne Rück-griff auf den mathematischen Formalismus darzustellen.Der Autor verrät uns, was sich hinter den Konzepten derVerschränkung, der Quantennichtlokalität und des Quan-tenzufalls verbirgt, und stellt uns einige Anwendungendavon vor. Aber dieses Buch ist mehr als nur ein populärwis-senschaftliches Werk: Auch Spezialisten der Quantenphysikfinden hier tiefgründige Diskussionen über diese Phänome-ne, deren Tragweite wir – wie Nicolas Gisin schreibt –bei weitem noch nicht vollständig verstanden haben, ge-schweige denn ihre Konsequenzen. Auf die Frage, ob uns

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Geleitwort XIII

die experimentelle Ablehnung des lokalen Realismus dazuführen muss, das Konzept der physikalischen Realität oderdas der Lokalität3 aufzugeben, antworte ich wie der Au-tor des vorliegenden Buches: So kohärent und intellektuellzufriedenstellend das umfassende Konzept des lokalen Rea-lismus auch war, so viel weniger befriedigend ist es, diesesin Stücke zu zerlegen und nur eines der beiden Teilkon-zepte (physikalische Realität oder Lokalität) beizubehalten.Wie soll man die autonome physikalische Realität eines inder Raumzeit lokalisierten Systems definieren, wenn diesesSystem von dem beeinflusst wird, was in einem anderenSystem geschieht, das vom ersten durch ein raumartigesIntervall getrennt ist? Das vorliegende Buch bietet uns ei-ne weniger einschneidende Lösung an. Der Autor weistnämlich Folgendes nach: Zieht man die Existenz eines fun-damentalen Quantenzufalls in Betracht, dann lässt sichdie Koexistenz zwischen einer nichtlokalen physikalischenRealität und der relativistischen Kausalität, die Einstein sowichtig war, friedlicher gestalten. Sogar Physiker, die mitdiesen Fragen vertraut sind, werden im Buch von NicolasGisin Material finden, das ihre Überlegungen voranbringt.Und das wissbegierige Lesepublikum, das hier die Geheim-nisse der Verschränkung und der Nichtlokalität entdeckt,kann unmittelbar zur zentralen Fragestellung vordringenund alle einschlägigen Feinheiten lernen, die von einemder auf diesem Gebiet weltweit führenden Spezialisten aufeinleuchtende Weise erläutert werden4.

Alain Aspect, Palaiseau, Mai 2012

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Vorwort

Hätten Sie zur Zeit der Newton’schen Revolution gelebt,hätten Sie dann verstehen wollen, was vor sich ging? Heutegibt uns die Quantenphysik die Gelegenheit, eine konzep-tuelle Revolution ähnlichen Ausmaßes direkt zu erleben.Dieses Buch wird Ihnen dabei helfen, zu verstehen, wasvor sich geht. Und zwar ohne Mathematik, aber auch ohnezu versuchen, die konzeptuellen Schwierigkeiten unter denTisch zu kehren. Zwar braucht die Physik die Mathematik,um die Folgen der aufgestellten Hypothesen zu erforschenund gewisse physikalische Vorhersagen exakt zu berech-nen. Aber die große Geschichte der Physik kann auch ohneMathematik erzählt werden. Denn das Interessante an derPhysik sind nicht die mathematischen Aspekte, sonderndie Konzepte. Er geht hier nicht darum, die Gleichungenrichtig zu lösen, sondern die Konzepte dahinter zu verstehen.

Manche Passagen dieses Buches verlangen dem Lesereiniges an Gehirnakrobatik ab. Jeder wird etwas verstehenund niemand wird alles verstehen! Auf diesem Gebiet wirdselbst der Begriff des Verstehens unscharf. Ich wette je-doch, dass alle einen Teil der gegenwärtig stattfindendenkonzeptuellen Revolution verstehen und auch ihre Freudedaran haben können. Dafür muss man akzeptieren, dassnicht alles gleich „glasfaserklar“ ist, und sich gleichzeitig

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XVI Der unbegreifliche Zufall

nicht vom Vorurteil irreführen lassen, Physik sei einfachunverständlich . . .

Falls Ihnen eine Stelle zu schwierig erscheint, dann le-sen Sie einfach weiter, in der Folge wird Ihnen die Sachewahrscheinlich klar werden.Mitunter werden Sie auch mer-ken, dass es sich um eine Feinheit handelt, die ich mit Blickauf meine Physikerkollegen habe einfließen lassen, denn dieLektüre dieses Buches soll auch ihnen Vergnügen bereiten.Und falls notwendig, dann blättern Sie einfach zurück, umeine schwierige Stelle noch einmal zu lesen. Vergessen Siedabei bitte nicht: Wichtig ist nicht, alles zu verstehen, son-dern einen Gesamtüberblick zu bekommen. Sie werden se-hen, dassman schließlich nicht nur einQuäntchen, sondernwirklich eine Menge Quantenphysik verstehen kann, ohnedie Mathematik einzuspannen!

Die Quantenphysik ist oft Gegenstand weitschweifigerInterpretationen und approximativer philosophischer Ab-handlungen. Um diese Klippen zu umschiffen, stützen wiruns hier lediglich auf den gesunden Menschenverstand.Wenn Physiker ein Experiment durchführen, dann hinter-fragen sie eine externe Realität. Die Physiker entscheiden,welche Fragen sie stellen und wann. Geht zum Beispiel einrotes Licht an, dann fragen sich Physiker nicht, ob das Lichtwirklich rot ist oder ob es sich um eine Illusion handelt: DieAntwort ist „rot“ und Punkt.

Die Leser werden bemerken, dass gewisse Anekdoten inverschiedenen Kapiteln des Buches wiederholt auftauchen.Meine Erfahrungen in der Lehre haben mir gezeigt, dass esfür das Verständnis oft sehr hilfreich ist, manche wichtigenPunkte in unterschiedlichen Zusammenhängen zu wieder-holen. Und schließlich sei gesagt, dass das vorliegende Buch

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Vorwort XVII

keinen historischen Anspruch erhebt. Die Anmerkungen zumeinen berühmten Vorgängern spiegeln lediglich meine ei-genen Überlegungen wider, die sich in den mehr als dreißigJahren meines Lebens als Berufsphysiker akkumuliert ha-ben.

Nicolas Gisin, Genf, März 2014

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Danksagungen

Ich denke in Dankbarkeit an alle meine Studenten undanderen Mitarbeiter, die mich angespornt haben. Eben-so danke ich allen, die die ersten Versionen gelesen undkritische Bemerkungen gemacht haben, insbesondere FrauLaura Keller undmeinem Verleger NicolasWitkowski. Die-ses Buch verdankt ihrer Geduld und Kompetenz sehr viel.Mein Dank geht auch an den Schweizerischen National-fonds zur Förderung derWissenschaftlichen Forschung undan Europa für die großzügige Finanzierung meines Laborssowie an die Universität Genf für die guten Arbeitsmög-lichkeiten. Und schließlich danke ich der Vorsehung, die esmir gegeben hat, in einer für die Physik fabelhaften Zeit zuleben und einen – bescheidenen – Beitrag dazu zu leisten.

Nicolas Gisin

* * *

Der Übersetzer dankt Karin Richter (Martin-Luther-Uni-versität Halle, Fachbereich Mathematik) für das Lesen derKorrektur und Gerd Richter (Angersdorf bei Halle) fürdie deutschsprachige Bearbeitung der Abbildungen. FrankHolzwarth (Springer Verlag Heidelberg) gab mir dankens-

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XX Der unbegreifliche Zufall

werterweise Hinweise zur Erstellung der LATEX-Fassungdes Manuskripts. Dank für hilfreiche Bemerkungen gehtan den Autor Nicolas Gisin (Universität Genf, Fachbe-reich für Angewandte Physik), an Heidrun Aspect (Genf )sowie an Matthias Freyberger (Universität Ulm, Institutfür Quantenphysik). Bei Vera Spillner und Bettina Saglio(Springer Spektrum, Heidelberg) bedanke ich mich fürweitestgehendes Entgegenkommen seitens des Verlages.

Manfred Stern, Halle a. d. Saale, August 2014

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Inhaltsverzeichnis

Kastenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXV

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

1.1 Wozu ist das gut? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

2 Aperitifs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

2.1 Newton: Eine so große Absurdität . . . . . . . . . . 72.2 Ein seltsames „nichtlokales Telefon“ . . . . . . . . 10

3 Lokale und nichtlokale Korrelationen . . . . . . . . . . . 17

3.1 Korrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183.2 Das Bell-Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243.3 Nichtlokaler Kalkül: a C b D x � y . . . . . . . . . . . 283.4 Lokale Strategien für das Bell-Spiel . . . . . . . . . 313.5 Gewinnen im Bell-Spiel:

nichtlokale Korrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . 423.6 Gewinnen im Bell-Spiel

gestattet keine Kommunikation . . . . . . . . . . . 463.7 Boxen auf! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

4 Nichtlokalität und echter Zufall . . . . . . . . . . . . . . . 55

4.1 Eine nichtlokale Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 564.2 Telepathie und eineiige Zwillinge . . . . . . . . . . 58

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XXII Der unbegreifliche Zufall

4.3 Koordinieren bedeutet nicht kommunizieren . . 604.4 Ein nichtlokaler Zufall . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654.5 Ein „echter“ Zufall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674.6 Der echte Zufall gestattet Nichtlokalität

ohne Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

5 Quantenklonen ist unmöglich . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

5.1 Quantenklonen impliziertunmögliche Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . 75

5.2 Kann man DNA klonen? . . . . . . . . . . . . . . . . . 785.3 Zwischenspiel: approximatives Klonen . . . . . . . 79

6 Quantenverschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

6.1 Quantenholismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 836.2 Quantenunbestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . 856.3 Quantenverschränkung konkret . . . . . . . . . . . 866.4 Wie ist das möglich?! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 886.5 Wie gewinnt man mit der Verschränkung

das Bell-Spiel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 916.6 Quantennichtlokalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 946.7 Ursprung der Quantenkorrelationen . . . . . . . . 97

7 Ein Experiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

7.1 Erzeugung von Photonenpaaren . . . . . . . . . . . 1017.2 Erzeugung der Verschränkung . . . . . . . . . . . . 1037.3 Quantenbitverschränkung . . . . . . . . . . . . . . . 1077.4 Das Experiment von Bernex-Bellevue . . . . . . . . 109

8 Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

8.1 Erzeugung von echten Zufallszahlen . . . . . . . . 1148.2 Quantenkryptographie: Das Prinzip . . . . . . . . . 1178.3 Quantenkryptographie: Die Praxis . . . . . . . . . . 120

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Inhaltsverzeichnis XXIII

9 Quantenteleportation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

9.1 Substanz und Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1249.2 Gemeinsame Messung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1279.3 Protokoll der Quantenteleportation . . . . . . . . 1329.4 Quantenfax und Quantenkommunikationsnetze 1369.5 Kann man große Objekte teleportieren? . . . . . 138

10 Ist die Natur wirklich nichtlokal? . . . . . . . . . . . . . . 141

10.1 Die Nichtlokalität bei Newton . . . . . . . . . . . . . 14210.2 Das Detektionsschlupfloch . . . . . . . . . . . . . . . 14410.3 Das Lokalitätsschlupfloch . . . . . . . . . . . . . . . . 14810.4 Eine Kombination von Schlupflöchern? . . . . . . 15410.5 Eine verborgene Kommunikation

mit Überlichtgeschwindigkeit? . . . . . . . . . . . . 15510.6 Alice und Bob messen jeweils voreinander . . . . 16210.7 Hyperdeterminismus und freier Wille . . . . . . . . 16510.8 Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16810.9 Das Multiversum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

11 Aktuelle Forschungen zur Nichtlokalität . . . . . . . . . . 175

11.1 Kann man die Nichtlokalität „wiegen“? . . . . . . 17611.2 Warum gewinnt man nicht jedes Mal

im Bell-Spiel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17711.3 Nichtlokalität mit mehr als zwei Bestandteilen . 18111.4 Das „Free Will Theorem“ . . . . . . . . . . . . . . . . 18211.5 Ein verborgener Einfluss? . . . . . . . . . . . . . . . . 186

12 Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

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Kastenverzeichnis

Kasten 1 – Newton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8Kasten 2 – Aufs Geratewohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32Kasten 3 – Die Bell-Ungleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39Kasten 4 – John Bell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44Kasten 5 – Eine Kommunikation ohne Übertragung ist

unmöglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47Kasten 6 – Eine nichtlokale Berechnung . . . . . . . . . . . . . . 58Kasten 7 – Determinismus würde eine Kommunikation ohne

Übertragung implizieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63Kasten 8 – Die Heisenberg’sche Unschärferelation . . . . . . . 74Kasten 9 – Das „No-Cloning-Theorem“ . . . . . . . . . . . . . . . 77Kasten 10 – Das Detektionsschlupfloch . . . . . . . . . . . . . . . 147Kasten 11 – Das Experiment von Satigny-Jussy . . . . . . . . . . 158

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1Einleitung

Von frühester Jugend anmachen wir die Erfahrung, dass wirnur zwei Möglichkeiten haben, ummit einemObjekt zu in-teragieren, das sich außerhalb unserer Reichweite befindet.Entweder wir bewegen uns bis zu diesem Objekt hin, aufallen Vieren, wie ein Kleinkind, oder wir benutzen einenGegenstand, zum Beispiel einen Stock, um unseren Arm zuverlängern und dadurch das Objekt zu erreichen. Wenn wirgrößer werden, erkennen wir, dass auch komplexere Me-chanismen eingesetzt werden können – zum Beispiel zurBeförderung eines Briefes, den wir in einen Briefkasten wer-fen. Der Brief wird von einem Postangestellten abgeholt,manuell oder maschinell sortiert, mit einem Transporter,Zug oder Flugzeug befördert und schließlich dem Empfän-ger zugestellt. Das Internet, das Fernsehen und unzähligeandere Beispiele aus dem Alltag lehren uns, dass sich jedeWechselwirkung und jede Kommunikation zwischen zweivoneinander entfernten Objekten kontinuierlich nach undnach ausbreitet – und zwar gemäß einem Mechanismus,der komplex sein kann, aber immer eine stetige Bahn be-schreibt, die man zumindest im Prinzip in Raum und Zeitrückverfolgen kann.

Die Quantenphysik – die sich mit einer Welt beschäf-tigt, die wir nicht direkt wahrnehmen können – behauptet,

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dass räumlich weit voneinander entfernte Objekte mituntereine Einheit bilden können. Wenn man eines dieser Objek-te berührt, dann erzittern alle beide – unabhängig von ihrerEntfernung! Was soll man von einer solchen Sache halten?Ist eine derartige Behauptung überprüfbar? Wie ist dieserSachverhalt überhaupt zu verstehen? Und ist dank diesermerkwürdigen Quantenphysik eine Fernkommunikationüber diese voneinander-entfernten-aber-eine-Einheit-bil-denden Objekte möglich?

Das sind die Hauptfragen, mit denen wir uns in diesemBuch beschäftigen.

Ich werde versuchen, Sie an der faszinierenden Entde-ckung einer Welt teilhaben zu lassen, die nicht mit Wech-selwirkungen beschrieben werden kann, die sich nach undnach ausbreiten – eine Welt, in der so genannte „nichtlo-kale“ Korrelationen vorkommen können. Wir werden Be-griffen wie „echter Zufall“, Korrelation, Information undsogar „freier Wille“ begegnen. Wir werden sehen, wie Phy-siker nichtlokale Korrelationen erzeugen, wie sie diese dazuverwenden, unknackbare Kryptographieschlüssel herzustel-len, und wie diese fabelhaften Korrelationen die „Quanten-teleportation“ ermöglichen. Ein weiteres Ziel dieses Buchesbesteht darin, eine wissenschaftliche Herangehensweise zuillustrieren.Wie kannman sich davon überzeugen, dass einevollkommen kontra-intuitive Sache stimmt? Welchen Be-weis braucht man für einen Paradigmenwechsel und umeine konzeptuelle Revolution zu akzeptieren? Aus einer et-was übergeordneten Perspektive werden wir erkennen, dassdie Geschichte der Nichtlokalität der Quantenphysik letzt-endlich ziemlich einfach und sehr menschlich ist und dassdie Natur Zufälle hervorbringt (echte Zufälle!), die sich an

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1 Einleitung 3

mehreren, sehr weit voneinander entfernten Orten manifes-tieren können, ohne sich nach und nach von einemOrt zumanderen auszubreiten. Wir werden sehen, dass es der Zu-fall auch verhindert, dass diese Form der Nichtlokalität zuKommunikationszwecken genutzt wird – er lässt die Verlet-zung eines der Gesetze der Relativitätstheorie nicht zu, jenesGesetzes nämlich, das besagt, dass Kommunikation nichtmit Überlichtgeschwindigkeit erfolgen kann.

Wir leben in einer außergewöhnlichen Zeit: Vor unserenAugen deckt die Physik auf, dass unsere am tiefsten veran-kerte Intuition nicht stimmt – nämlich die Intuition, dasseine „Interaktion“ zwischen Objekten über eine Entfernunghinweg nicht möglich ist. Ich habe „Interaktion“ in An-führungszeichen gesetzt, weil wir noch präzisieren müssen,was das tatsächlich bedeuten soll. Physiker erforschen dieWelt der Quantenphysik, eine Welt, die von Atomen, Pho-tonen und anderen, in unseren Augen geheimnisvollen Ob-jekten bevölkert ist. Dieser Revolution keine Beachtung zuschenken und sich nicht dafür zu interessieren, wäre genau-so schade, wie wenn Zeitgenossen der Darwin’schen oderder Newton’schen Revolution diese Umwälzungen ignorierthätten.

Die jetzt ablaufende konzeptuelle Revolution ist näm-lich nicht weniger bedeutsam – sie verändert grundlegenddas Bild, das wir uns von der Natur machen, und wird allemöglichen Technologien hervorbringen, die wir uns nochgar nicht vorstellen können.

In Kap. 3 kommen wir zum Kern der Sache: Wir stel-len das Konzept der Korrelation mit Hilfe eines Spiels vor,das wir Bell-Spiel nennen wollen. Dieses Spiel wird zeigen,dass gewisse Korrelationen nicht möglich sind, wenn man

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4 Der unbegreifliche Zufall

lediglich Wechselwirkungen verwendet, die sich allmählichausbreiten. Dieses Kapitel ist für die nachfolgenden wesent-lich, obwohl es keinerlei Quantenphysik enthält. Kapitel 3ist wahrscheinlich auch das schwierigste, aber der Rest desBuchs wird Ihnen beim Verständnis helfen.

Anschließend fragen wir uns, wie man damit umgehensoll, wenn jemand im Bell-Spiel gewinnt – ein scheinbarunmögliches Ergebnis, das aber dank der Quantenphysikeintreten kann. Danach befassen wir uns mit dem Konzeptdes „echten Zufalls“ (Kap. 4) und mit der Unmöglichkeit,ein Quantensystem zu klonen (Kap. 5). Die beiden nach-folgenden Kap. 6 und 7 geben eine Einführung in dieseseltsame Quantenphysik – zunächst führen wir das theo-retische Konzept der Verschränkung ein, danach stellen wirdie Experimente vor und ziehen die Schlussfolgerung, diesich aufdrängt: Die Natur ist nichtlokal .

Bevor wir diese Schlussfolgerung akzeptieren, fragen wiruns, ob sie tatsächlich unvermeidlich ist. In Kap. 10 wer-den einige Beispiele der Erfindungsgabe vorgestellt, mit derPhysiker versucht haben, zu einer lokalen Beschreibung derNatur zurückzukehren. Dieses Eisen ist noch heiß, sehr ak-tuell und zeigt, was es bedeutet, „gewitzt wie ein Physiker“zu sein. Wir setzen unsere Geschichte in Kap. 11 fort mitder Schilderung einiger spannender Forschungsrichtungen.Damit stoßen wir das Tor auf zur aktuellen Forschung.

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1 Einleitung 5

1.1 Wozu ist das gut?

„Wozu ist das gut?“ ist die Frage, die mir am häufigstengestellt wird. Allem Anschein nach darf man nichts tun,was keine unmittelbare Anwendung hat. Ich könnte ant-worten: „Wozu ist es gut, ins Kino zu gehen?“ Es stimmt,dass ich bezahlt werde, um meine geliebte Forschung zutreiben, während ich für das Kino selbst zahlen muss. Ichversuche also, eine politisch korrekte Antwort zu finden.Aber die beste Antwort lautet einfach, dass das Thema fas-zinierend ist!

Ich leite zwar eine Forschungsgruppe für angewandtePhysik. Dennoch stehe ich nicht jeden Morgen auf, umeinen tollen Apparat zu erfinden, sondern weil mich diePhysik fasziniert! Die Natur zu verstehen – insbesonderewie sie nichtlokale Korrelationen hervorbringen kann – istein Ziel, das für sich genommen schon ausreicht. Aberwarum arbeite ich dann in einer Gruppe für angewandtePhysik? Aus einfachem Opportunismus? Es gibt einen sehrguten Grund, sich für Anwendungen zu interessieren, sogarund vielleicht besonders dann, wenn sich unsere innersteMotivation um Konzepte dreht: Ein wirklich stichhaltigesund neues Konzept zieht zwangsläufig Folgen nach sichund eröffnet notwendigerweise neue praktische Perspekti-ven. Je revolutionärer ein Konzept, desto futuristischer dieAnwendungen. Der riesige Vorteil der Arbeit an potenziel-len Anwendungen besteht darin, ein Werkzeug zu haben,um die Konzepte zu testen. Hat man darüber hinaus ersteinmal eine Anwendung identifiziert, dann kann niemandmehr die Wichtigkeit des Konzeptes bestreiten: Wie will

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6 Der unbegreifliche Zufall

man die Bedeutsamkeit eines Konzeptes in Abrede stellen,das die Grundlage für eine Anwendung in der realen Weltbildet?

Die Quantennichtlokalität ist ein ausgezeichnetes Bei-spiel dafür. Bis zur ersten Anwendung hat die überwie-gende Mehrheit der Physiker die Verschränkung und dieNichtlokalität weitgehend ignoriert, wenn nicht sogar alsrein philosophisch verunglimpft. Vor 1991 brauchte esMut, wenn nicht gar Verwegenheit, um sich dafür zuinteressieren1. Es gab nahezu keine akademischen Stellenfür diese Forschungsrichtung, während sich heute alle dafürinteressieren. Die Motivation der Regierungen, die dieseForschungszentren finanzieren, ist offensichtlich stärker aufdie Quantentechnologien zurückzuführen als auf die ihnenzugrunde liegenden Konzepte. Wichtig ist aber, dass dieStudenten an diesen Zentren diese neue Physik lernen.

Kapitel 8 stellt zwei nunmehr bereits kommerzialisierteAnwendungen vor: die Quantenkryptographie und die aufder Quantenphysik beruhenden Zufallszahlengeneratoren.Und schließlich berichten wir in Kap. 9 von der wohl über-raschendsten Anwendung, der Quantenteleportation.

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2Aperitifs

Bevor ich das zentrale Konzept dieses Buches vorstelle,möchte ich mit zwei kleinen Geschichten als Aperitif be-ginnen: die eine – wahre – Geschichte hat sich in derVergangenheit ereignet, die andere ist noch Fiktion, könnteaber in nicht allzu ferner Zukunft wahr werden.

2.1 Newton: Eine so großeAbsurdität . . .

Wir alle haben von Newtons universeller Gravitationstheo-rie gehört, gemäß der sich sämtliche Objekte in Abhängig-keit von ihrer Masse und ihrer Entfernung anziehen (ge-nauer gesagt: in Abhängigkeit vom Kehrwert des Quadratesihrer Entfernung voneinander, aber das ist für dieses Buchnicht wesentlich). Zum Beispiel ziehen Sonne und Erde ein-ander mit einer Kraft an, welche die Fliehkraft ausgleichtund die Erde auf einer ungefähr kreisförmigen Umlaufbahnum die Sonne hält. Genauso verhält es sich mit den an-deren Planeten, mit dem Paar Erde-Mond und sogar mitunserer Galaxie, die sich um das Zentrum eines Galaxie-haufens dreht.Wir wollen uns auf das Paar Erde-Mond kon-zentrieren: Woher weiß der Mond, dass er von der Erde

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8 Der unbegreifliche Zufall

in Abhängigkeit von deren Masse und der Entfernung Er-de-Mond angezogen werden muss? Wieso kennt der Monddie Masse der Erde und die Entfernung, die ihn von unstrennt? Benutzt er, so wie das eingangs erwähnte Kleinkind,eine Art Stock? Wirft er uns eine Art Kugeln zu? Findetirgendeine Kommunikation statt? Diese kindlichen Fragensind äußerst ernst zu nehmen. Sie haben bereits den großenNewton aus der Ruhe gebracht, für den die Hypothese deruniversellen Schwerkraft, die ihn berühmt gemacht hat, soabsurd war, dass kein vernünftiger Mensch ernsthaft daranglauben könne! (Kasten 1). Aber vorläufig reicht es zu wis-sen, dass Newtons Intuition richtig war, selbst wenn es nochJahrhunderte dauerte und des ganzen Genies eines Einsteinbedurfte (der Newtons Gravitationstheorie „ergänzte“), umdie Antwort zu finden. Physiker wissen heute, dass die Fern-wirkung, um die es bei der Gravitation oder bei der Wech-selwirkung zwischen zwei elektrischen Ladungen geht, kei-neswegs augenblicklich erfolgt: Sie ergibt sich vielmehr ausder Versendung von Boten, so dass die obengenannte Hy-pothese der „Kugeln“ stimmt. Diese Boten sind kleine Teil-chen, denen die Physiker Namen geben. Die Boten der Gra-vitation heißen Gravitonen, die der elektrischen Kräfte sindPhotonen.

Kasten 1 – Newton1

That Gravity should be innate, inherent and es-sential to Matter, so that one Body may act uponanother at a Distance thro’ a Vacuum, without the

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2 Aperitifs 9

mediation of any thing else, by and through whichtheir Action and Force may be conveyed from oneto another, is to me so great an Absurdity, that Ibelieve no Man who has in philosophical Mattersa competent Faculty of thinking, can ever fall intoit.

Dass die Gravitation eine angeborene, inhärenteund wesentliche Eigenschaft der Materie sein soll,so dass ein Körper auf einen anderen über eine Ent-fernung durch Vakuum hindurch und ohne dieVermittlung von etwas Sonstigem wirken soll, istfür mich eine so große Absurdität, dass ich glau-be, dass kein Mensch, der eine in philosophischenDingen geschulte Denkfähigkeit hat, sich dem je-mals anschließen kann.

Seit Einstein beschreibt die Physik also die Natur als eineGesamtheit von lokalisierten Objekten, die nur nach undnach wechselwirken können. Diese Vorstellung entsprichtsowohl unserer als auch Newtons intuitiver Vorstellung vonder Welt. Aber die heutige Physik ruht auch auf einemanderen theoretischen Pfeiler: auf der Quantenphysik, diedie Welt der Atome und der Photonen beschreibt. Ein-stein war an dieser Entdeckung beteiligt. Er hat 1905 denphotoelektrischen Effekt auf einen Beschuss mit Lichtteil-chen (Photonen) zurückgeführt: Wie bei einem Bocciaspielschleudern die Photonen durch eine mechanische Wech-selwirkung Elektronen aus der Oberfläche eines Metallsheraus. Aber als sich die Quantenphysik entwickelte und

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formalisiert wurde, hat sich Einstein davon distanziert,denn er hatte schnell bemerkt, dass diese seltsame Physikwieder eine Art Fernwirkung einführt2. Wie Newton dreiJahrhunderte zuvor verwarf Einstein diese Hypothese, die erfür absurd hielt und als spukhafte Fernwirkung bezeichnete.

Die Quantenmechanik ist heute ein Grundpfeiler derPhysik. Sie enthält tatsächlich eine Form der Nichtlokali-tät, die Einstein wahrscheinlich nicht gefallen hätte, auchwenn sie sich grundlegend von der Nichtlokalität New-tons unterscheidet. Diese Form der quantenphysikalischenNichtlokalität ist außerdem experimentell sehr gut unter-mauert – sie hat sogar vielversprechende Anwendungen inder Kryptographie und lässt ein unglaubliches Phänomenzu: die Quantenteleportation.

2.2 Ein seltsames„nichtlokales Telefon“

Und nun eine kleine Science-Fiction-Geschichte, die abernicht so futuristisch ist, wie es scheint. DieTechnologie wirdes nämlich bald ermöglichen, diese Geschichte wahr werdenzu lassen.

Stellen wir uns eine „Telefon“-Verbindung zwischen zweiPartnern vor, die wir aus praktischen Gründen Alice undBob nennen – in Anlehnung an die ersten zwei Buchstabendes Alphabets. Wie es manchmal vorkommt, ist die Verbin-dung schlecht: Man hört ein Rauschen. Die Verbindung istsogar so schlecht, dass Alice nichts von dem hört, was Bobihr sagenmöchte; alles, was sie hört, ist ein anhaltendes Rau-schen „chrzukscryprrskrzypc-zykrt . . . “. Bob hört ebenfalls

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2 Aperitifs 11

nur „chrzukscryprrskrzypc-zykrt . . . “. Auch wenn die bei-den „Gesprächsteilnehmer“ noch so laut in ihren jeweiligenHörer brüllen, auf ihn klopfen, sich in der Wohnung be-wegen, soweit es das Hörerkabel zulässt – nichts tut sich.Ärgerlich! Unmöglich, mit Hilfe dieses Apparates zu kom-munizieren, der die Bezeichnung „Telefon“ wahrlich nichtverdient.

Aber Alice und Bob sind Physiker: Sie zeichnen eineMi-nute des Rauschens auf, das aus ihrem Apparat kommt. Siekönnen sich damit gegenseitig beweisen, dass es sich ihrer-seits nicht umBöswilligkeit handelt. Das Überraschende ist:Das von den beiden aufgezeichnete Rauschen stellt sich alsabsolut identisch heraus.

Da sie beide digitale Aufnahmegeräte verwenden, kön-nen Alice und Bob überprüfen und nachweisen, dass sämt-liche Bits ihrer Aufzeichnungen absolut identisch sind.Unglaublich . . . Die Quelle des Rauschens kann also nurauf den Telefonanbieter zurückzuführen sein oder befindetsich irgendwo in der Telefonleitung. Aus der perfekten Syn-chronisation schließen sie, dass sich die Quelle genau in derMitte der Verbindung befinden muss, damit das Rauschengleichzeitig bei Alice und bei Bob ankommt.

Alice und Bob beschließen also, ihre Hypothese zu tes-ten, nämlich dass die Ursache des Rauschens wahrschein-lich ein Defekt elektronischen Ursprungs in der Mitte derTelefonleitung ist, die sie verbindet. Alice schlägt vor, ih-re Leitung mit einem Kabel zu verlängern: Das Rauschenmüsste dann bei ihr etwas später als bei Bob ankommen.Aber wieder tut sich nichts: Das Rauschen ist immer nochda und kommt bei beiden Gesprächsteilnehmern nicht nuridentisch, sondern sogar perfekt synchron an. Bob schlägt

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deswegen vor, die Telefonschnur zu zerschneiden. Aber dasRauschen geht unvermindert weiter!

Wie lässt sich ein solches Phänomen erklären? Dient dieTelefonschnur etwa nur dazu, dass man den Hörer nichtirgendwo in der Wohnung verlegt? Handelt es sich viel-leicht um ein schnurloses Telefon, das nur bequemlichkeits-halber an eine Wand gehängt wurde? Oder sind es die Te-lefonhörer, die das Rauschen verursachen und nicht einedazwischen liegenden Quelle? Ist es vielleicht die Explosi-on einer fernen Galaxie, die das Rauschen in beiden Emp-fängern auslöst? Wie lassen sich diese Hypothesen testen?Bob, der sichmit elektromagnetischenWellen gut auskennt,zieht sich in einen Faraday’schen Käfig zurück, ein Metall-gitter, das Radiowellen abschirmt – aber das Rauschen istimmer noch da. Alice schlägt vor, dass sie sich sehr weitvoneinander entfernen: Dannmüsste die Übertragungsqua-lität abnehmen und das Signal schließlich ganz verschwin-den – unabhängig vom Mechanismus, mit dem die Hö-rer kommunizieren. Aber ein weiteres Mal tut sich absolutnichts.

Alice und Bob schließen daraus, dass ihre Telefonhörereine sehr lange Rauschsequenz aufgezeichnet haben, von dersie jedesMal, wenn sie denHörer abheben, eine Teilsequenzreproduzieren – wobei die genaue Sequenz exakt in Abhän-gigkeit von der Uhrzeit gewählt wird. Damit wäre es nichtmehr überraschend, dass die beiden Telefonhörer immer dasgleiche Rauschen erzeugen.

Voller Stolz auf ihre wissenschaftliche Vorgehensweisegehen Alice und Bob zu ihrem Physikprofessor, um ihmihre Erkenntnis zu präsentieren. Der Professor beglück-wünscht sie, fügt aber hinzu: „Die Hypothese, dass Ihre

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Telefone das gleiche Rauschen aufgrund einer gemeinsa-men Ursache erzeugen, und dass das gleiche Rauschen inIhren beiden Telefonhörern aufgezeichnet wird, ist eine Hy-pothese, die man testen kann; man nennt das einen Bell-Test.“ Wir stellen die Bell-Tests im nächsten Kapitel vor.Begnügen wir uns einstweilen mit der Feststellung, dassAlice und Bob zu sich nach Hause hasten, um den Bell-Test mit ihren Telefonhörern durchzuführen, und dass derTest scheitert. Sie wiederholen das Experiment mehrmals,aber es gibt nichts daran zu rütteln. Die Hypothese einergemeinsamen Ursache für das aufgezeichnete Rauschen inden beiden Telefonhörern ist hiermit widerlegt.

Alice und Bob fragen sich nun, welcher Mechanismus esihren Telefonhörern ermöglicht, das gleiche Rauschen übereine große Entfernung zu erzeugen, und zwar ohne irgend-eine Kommunikation und ohne dass es in ihrenHörern vor-her aufgezeichnet worden wäre. Sie zermartern sich gehörigden Kopf, können sich aber nicht den geringstenMechanis-mus vorstellen, mit dem sich das Phänomen erklären ließe.Sie kehren zu ihrem Professor zurück, der zu ihnen sagt:„Es ist nicht überraschend, dass Sie keinen Mechanismusgefunden haben, denn es gibt keinen; es geht hier nichtum Mechanik, sondern um Quantenphysik: Das Rauschenwird zufällig erzeugt, aber es handelt sich um einen echtenZufall; keines der Rausch-Bits existierte, bevor es die Tele-fonhörer in einem reinen Schöpfungsakt erzeugten. DieserQuantenzufall ist außerdem in der Lage, sich gleichzeitigan mehreren Orten zu manifestieren, zum Beispiel in Ihrenbeiden Telefonhörern.“

Aber das ist nicht möglich, ruft Alice aus: Das Signalmuss mit der Entfernung zwischen den zwei Geräten ab-

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nehmen, sonst bedeutet das, dass man über beliebige Ent-fernungen kommunizieren könnte.

Außerdem, fügt Bob hinzu, würde die perfekte Synchro-nisation eine beliebig große Geschwindigkeit implizieren –ja sogar Überlichtgeschwindigkeit und das ist unmöglich.

Der Professor bleibt unerschütterlich: „Sie haben mir er-zählt, dass sich das Rauschen nicht ändert, selbst wenn Siein Ihr Telefon brüllen oder sich bewegen, sich um sich selbstdrehen oder den Apparat schütteln. Sie sehen also: Die Tat-sache, dass von beiden Seiten zufällig das gleiche Rauschenerzeugt wird, verhindert jegliche Kommunikation. Ihr „Ge-sprächspartner“ erfährt nichts von dem, was Sie gerade ma-chen.“ Und er schließt: „Es besteht also kein Konflikt mitEinsteins Relativitätstheorie: Sie haben gerade nachgewie-sen, dass keinerlei Kommunikation mit Überlichtgeschwin-digkeit stattfindet.“

Alice und Bob bleibt der Mund offen stehen. Ihre selt-samen „Telefone“, die keine Kommunikation gestatten,sind also gar keine Telefone, selbst wenn sie so aussehen.Aber wie können sich diese aufeinander abstimmen, umohne Kommunikation und ohne vorherige Verständigungimmer das gleiche Ergebnis zu liefern? Und was bedeutetdiese Geschichte mit dem „echten“ Zufall, der gleichzeitigan mehreren unterschiedlichen Orten auftreten kann? Bobmeint schließlich: „Aber wenn daswirklich so ist, dannmussman das Phänomen irgendwie nutzen können; in diesemFall werde ich etwas konstruieren und damit so lange her-umspielen, bis ich verstehe, wie es funktioniert. Schließlichhabe ich auf diese Weise verstanden, wie die Elektrizitätfunktioniert, wie die Flugbahn eines Balls mit einem Drall

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verläuft und vieles andere mehr – letztlich habe ich alles, wasich jemals verstanden habe, auf diese Weise verstanden.“

Aber ja, erwidert der Professor, man kann das Phänomenzur Erzeugung von Zufallszahlen ebenso verwenden wie zurSicherung von vertraulichen Informationen – für das, wasman Quantenkryptographie nennt, und es kann sogar zurQuantenteleportation dienen. Aber zuerst müssen wir daszentrale Konzept dieses Buches verstehen: die Nichtlokali-tät. Sie wird sich uns über die Konzepte der Korrelation unddes Bell-Spiels erschließen.

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3Lokale und nichtlokale

KorrelationenDas zentrale Konzept dieses Buches ist das der nichtlokalenKorrelation.Wir werden sehen, dass dieses Konzept eng mitdemKonzept des echten Zufalls zusammenhängt, das heißt,mit intrinsisch unvorhersehbaren Ereignissen. Der Zufall istschon an sich ein faszinierendes Phänomen, aber wir werdenhier einem nichtlokalen Zufall begegnen. Diese Konzep-te sind neu und überraschend, ja sogar revolutionär. Es istnicht leicht, sich von ihrer Stichhaltigkeit zu überzeugen.Dieses Kapitel ist vielleicht auch das schwerste, aber die Fol-gekapitel werden zum Verständnis beitragen. Um sich vonder Existenz nichtlokaler Korrelationen und des echten Zu-falls zu überzeugen, haben die Physiker ein Spiel erfunden,das Bell-Spiel. Physiker sind letztlich große Kinder, die ihreSpielzeuge so lange auseinandernehmen, bis sie verstandenhaben, wie sie funktionieren.

Bevor wir dieses Spiel einführen, müssen wir uns daranerinnern, was eine Korrelation ist. Das Ziel der Wissen-schaft besteht im Wesentlichen darin, Korrelationen zubeobachten und dann Erklärungen für diese Korrelationenzu ersinnen. John Bell hat geschrieben, dass Korrelatio-nen nach Erklärungen schreien („correlations cry out forexplanations1“). Wir werden uns also ein einfaches Beispieleiner Korrelation vornehmen und dann die Frage stellen,

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welche Erklärungsschemas man dazu verwenden kann. Wirwerden feststellen, dass es davon letzten Endes nur sehr we-nige gibt. Wenn man sich auf lokale Schemas beschränkt,die also mit einem Mechanismus wirken, der sich allmäh-lich ausbreitet, so gibt es sogar nur zwei davon.

Mit Hilfe des Bell-Spiels können wir dann bestimmteKorrelationen untersuchen. Das Spiel wird zu zweit gespielt,wobei die beidenMitspieler zusammenarbeitenmüssen, umals Team eine möglichst hohe Punktzahl zu erreichen. DieSpielregeln sind einfach und das Spiel ist leicht zu spielen.Man versteht aber dafür nicht sofort das Ziel, eine Art nicht-lokalen Kalkül. Eigentlich ist weniger das Spiel selbst vonInteresse – wichtiger ist vielmehr zu verstehen, wie es funk-tioniert. Damit kommen wir zum Kern der Sache: zu dennichtlokalen Korrelationen und der damit zusammenhän-genden konzeptuellen Revolution.

Aber der Reihe nach: Beginnen wir mit demKonzept derKorrelation.

3.1 Korrelationen

Jeden Tag treffen wir Entscheidungen, die Folgen haben.Manche Entscheidungen und deren Folgen sind wichtigerals andere.

Manche Folgen hängen nur von unseren Entscheidun-gen ab, aber viele auch von den Entscheidungen anderer. Indiesem Fall sind die Folgen unserer Entscheidungen nichtunabhängig voneinander: Sie sind korreliert. Zum Beispielhängt die Wahl des Menüs für ein Abendessen unter ande-rem vom Preis der Produkte im Lebensmittelgeschäft an der

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3 Lokale und nichtlokale Korrelationen 19

Ecke ab – und dieser Preis wird mehr oder weniger frei vonanderen bestimmt. Entsprechend besteht eine Korrelationzwischen den Gerichten, die bei den Anwohnern des glei-chen Viertels auf den Tisch kommen. Ist Spinat in der loka-len Supermarktfiliale im Sonderangebot, dann ist es wahr-scheinlich, dass er häufig auf dem Speiseplan steht. EineandereKorrelationsursache zwischen denMenüs ist der Ein-fluss der Wahl des Nachbarn. Bildet sich vor einem Standeine Schlange, dann könnten wir beeinflusst werden undversucht sein, einmal nachzusehen, was so anziehendwirkt –oder aber wir werden abgeschreckt und machen einen Bo-gen um die Schlange. In beiden Fällen besteht eine Korrela-tion – diese ist im ersten Fall positiv und im zweiten negativ.

Treiben wir das Beispiel auf die Spitze. Stellen wir unszwei Nachbarn vor, die wir wieder Alice und Bob nennen(wir werden sehen, dass sie eine ähnliche Rolle spielen wiedie Studenten in der Story vom seltsamen Telefon): Sie es-sen Abend für Abend das gleiche Menü. Ihre Abendmenüssind also perfekt korreliert.Wie kannman diese Korrelationerklären?

Eine erste Möglichkeit ist, dass Bob Alice systematischalles nachmacht und somit kein eigenes Menü wählt, oderumgekehrt, dass Alice Bob alles nachmacht. Wir haben hierein erstes Erklärungsschema für die Korrelation: Ein ers-tes Ereignis beeinflusst ein zweites Ereignis. Dieses Erklä-rungsschema kann getestet werden – gehen wir also wis-senschaftlich vor und tun genau das. Stellen wir uns vor,dass Alice und Bob sehr weit voneinander entfernt leben –in zwei Städten auf zwei verschiedenen Kontinenten, wobeijeder sein eigenes örtliches Lebensmittelgeschäft zur Verfü-gung hat. Um zu vermeiden, dass sich die beiden beein-

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flussen, stellen wir uns weiter vor, dass Alice und Bob ih-re Besorgungen im gleichen Moment erledigen. Noch bes-ser: In unserem Gedankenexperiment befinden sie sich inzwei unterschiedlichen Galaxien. Unter diesen Bedingun-gen ist es unmöglich, miteinander zu kommunizieren odersich unbewusst zu beeinflussen – wie wenn jemand gähntzum Beispiel2. Wir wollen uns aber vorstellen, dass weiter-hin eine perfekte Korrelation zwischen ihren Abendmenüsbesteht. Es ist unmöglich, eine solche Korrelation durch ei-ne Beeinflussung zu erklären – wir brauchen also ein anderesErklärungsschema.

Eine zweite Erklärungsmöglichkeit besteht darin, dasssowohl das Lebensmittelgeschäft von Alice als auch das vonBob ein und dasselbe Produkt anbieten – sodass sie gar kei-ne Wahl haben. Die beiden Lebensmittelgeschäfte habenvielleicht vor langer Zeit eine Liste der Abendmenüs für diekommenden Jahre zusammengestellt. Die Menüs könntensich von einem zum anderen Abend ändern, aber die bei-den Lebensmittelgeschäfte halten sich an die Anweisungen,die auf ihren Listen stehen. Die Liste ist vielleicht vomGeschäftsführer einer Kette von Lebensmittelgeschäftenverfasst worden und per E-Mail allen Mitgliedern diesesintergalaktischen Konsortiums von Lebensmittelgeschäf-ten zugeschickt worden. Somit kommt bei Alice und BobAbend für Abend gezwungenermaßen das Gleiche auf denTisch. Nach dieser Erklärung werden die Menüs von Aliceund Bob durch eine gleiche Ursache bestimmt, die ihrenUrsprung in einer hinreichend fernen Vergangenheit hat, sodass sie sowohl Alice als auch Bob beeinflussen kann – un-geachtet der Entfernung, die sie voneinander trennt. Diesegemeinsame Ursache pflanzt sich kontinuierlich im Raum

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3 Lokale und nichtlokale Korrelationen 21

fort, ohne dass es dabei zu Sprüngen oder Brüchen kommt.Man spricht in einem solchen Fall von einer „gemeinsa-men lokalen Ursache“: „gemeinsam“, weil die Ursache aufeine gemeinsame Vergangenheit zurückzuführen ist, und„lokal“, weil alles lokal und kontinuierlich, nach und nachabläuft.

Uns wurde hiermit eine logisch nachvollziehbare Erklä-rung vorgelegt. Überlegen Sie nun gut, ob es eine anderemögliche Erklärung gibt. Versuchen Sie, ein drittes Erklä-rungsschema für die Tatsache zu finden, dass Alice und Bobjeden Abend das gleiche Gericht zu sich nehmen – eineErklärung, bei der weder Alice Bob beeinflusst noch um-gekehrt, und bei der keine gemeinsame lokale Ursache vor-liegt. Gibt es wirklich keine andere mögliche Erklärung? Soüberraschend es auch erscheinen mag: Kein Wissenschaft-ler hat je eine dritte Erklärung gefunden. Außerhalb derQuantenphysik lassen sich alle in der Wissenschaft beob-achteten Korrelationen entweder durch den Einfluss einesEreignisses auf ein anderes erklären (Erklärung des Typs 1)oder durch gemeinsame lokale Ursachen, wie etwa die An-weisung des Geschäftsführers der beiden Lebensmittelge-schäfte (Erklärung des Typs 2). Bei beiden Erklärungstypenbreitet sich die Beeinflussung oder die gemeinsame Ursa-che nach und nach aus: In diesem präzisen Sinn sind allediese Erklärungen lokal. Man spricht deshalb im weiterenSinne von lokalen Korrelationen, um hervorzuheben, dassdiese Korrelationen eine lokale Erklärung haben. Wir wer-den aber sehen, dass die Quantenphysik eine dritte Erklä-rung bereithält, die exakt der Gegenstand des vorliegendenBuches ist. Aber außerhalb der Quantenphysik gibt es nurzwei Erklärungstypen für sämtliche beobachteten Korrela-

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tionen, ganz gleich, ob in der Geologie oder in der Medizin,in der Soziologie oder in der Biologie. Und diese beiden Er-klärungstypen sind lokal, da sie auf einer Aufeinanderfolgevon Mechanismen beruhen, die sich allmählich ausbreiten.

Es ist die Suche nach lokalen Erklärungen, die der Wis-senschaft Erfolg beschert hat. Die Wissenschaft lässt sichdurch ihre ständige Suche nach guten Erklärungen beschrei-ben. Eine Erklärung ist gut, wenn sie drei Kriterien erfüllt.Das bekannteste dieser Kriterien ist die Exaktheit. Diesedrückt sich in mathematischen Gleichungen aus, die ihrer-seits Vorhersagen ermöglichen, die man wiederum mit denBeobachtungen und experimentellen Ergebnissen verglei-chen kann. Das ist zwar ein wesentliches Kriterium, aberin meinen Augen nicht das wichtigste. Ein zweites Merk-mal einer guten Erklärung ist, dass sie eine Geschichte insich birgt. Alle Wissenschaftsvorlesungen beginnen mit ei-ner Geschichte. Wie könnte man sonst neue Konzepte ein-führen, wie etwa Energie, Moleküle, geologische Schichtenoder Korrelationen?

Bis zum Aufkommen der Quantenphysik liefen alle Ge-schichten kontinuierlich in Raum und Zeit ab, also lokal.Das dritte Kriterium einer guten Erklärung ist schließlich,dass sie nicht leicht abgeändert werden kann. Eine gute Er-klärung kann somit experimentell getestet werden, weil mansie nicht ohne Weiteres modifizieren kann, um eine Anpas-sung an neue experimentelle Daten vorzunehmen, die ihrwidersprechen (die Erklärung kann falsifiziert werden, wür-de Popper sagen).

Kommen wir auf Alice und Bob und auf die perfekteKorrelation zwischen ihren Abendmenüs zurück. Die Ent-fernung eliminiert jeden Erklärungsversuch, der sich auf

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3 Lokale und nichtlokale Korrelationen 23

einen direkten Einfluss stützt (Typ 1). Wie könnten wireine Erklärung testen, die auf einer gemeinsamen lokalenUrsache beruht (Typ 2)? In unserem Beispiel hat Alice keineWahl: Es gibt in ihrer Nähe nur ein einziges Lebensmittel-geschäft und dieses bietet Abend für Abend nur ein einzigesMenü an. Diese Situation ohne Wahlmöglichkeit ist zueinfach, um getestet zu werden. Daher müssen wir unserBeispiel etwas weiterentwickeln.

Stellen wir uns vor, dass es in der Nähe der Wohnungvon Alice zwei Lebensmittelgeschäfte gibt, eines zur linkenSeite, wenn sie ihr Haus verlässt, das andere rechts. Genauso verhält es sich mit den beiden Lebensmittelgeschäften inBobs Nähe. Jeden Abend können sich Alice und Bob al-so frei entscheiden, ob sie ihre Besorgungen im linken oderim rechten Lebensmittelgeschäft erledigen. Alice und Bobleben immer noch in zwei verschiedenen Galaxien und kön-nen sich folglich gegenseitig nicht beeinflussen. Stellen wiruns nun aber vor, dass jedes Mal, wenn sie sich zufällig al-le beide entscheiden, in das linke Lebensmittelgeschäft zugehen, sie sich auch immer mit dem gleichen Menü wie-derfinden. Die einzige lokale Erklärung für diese Korrela-tion besteht darin, dass die Lebensmittelgeschäfte auf derlinken Seite eine gemeinsame Liste haben, mit der Abendfür Abend das einzige Abendmenü festgelegt wird. Für dieLebensmittelgeschäfte auf der linken Seite hat sich die Situa-tion gegenüber dem früher im Buch beschriebenen Beispielnicht verändert. Das Vorhandensein von mehreren Lebens-mittelgeschäften in der Nähe von Alice und Bob gestattetes jedoch, sich weitere Korrelationen vorzustellen. Wähltzum Beispiel Alice das Lebensmittelgeschäft auf ihrer lin-ken Seite, aber Bob dasjenige auf seiner rechten Seite, dann

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kann man sich wieder vorstellen, dass sie sich mit dem glei-chen Menü wiederfinden. Das kann auch geschehen, wennAlice in das rechte Lebensmittelgeschäft und Bob in daslinke geht. Wir folgern daraus, dass die einzige lokale Erklä-rung dieser drei Korrelationen (links-links, links-rechts undrechts-links) erneut darin besteht, dass alle vier Lebensmit-telgeschäfte die gleiche Menü-Liste haben. Stellen wir unsjetzt aber zusätzlich vor, dass Alice und Bob – wenn alle bei-de das Lebensmittelgeschäft zu ihrer Rechten aufsuchen –niemals das gleiche Menü vorfinden. Ist das möglich? Hm,das scheint unmöglich, nicht wahr?

Wir sind hier der Quintessenz des Bell-Spiels ganz nahe.Lassenwir die Lebensmittelgeschäfte jetzt „links“ liegen undgehen wir wissenschaftlich vor, um die Situation so weit wiemöglich zu vereinfachen. Anstelle von Abendmenüs spre-chen wir von Ergebnissen. Und da es ausreicht, nur zweimögliche Ergebnisse zu betrachten, werden wir auch keineweiteren berücksichtigen.

3.2 Das Bell-Spiel

Der Hersteller des Bell-Spiels liefert zwei anscheinend iden-tische Boxen (vgl. Abb. 3.1). Jede ist mit einem Hebel undeinemBildschirm versehen. DerHebel ist in senkrechter Po-sition in Ruhestellung. Er kann entweder nach links odernach rechts gedrückt werden. Eine Sekunde nach Drückendes Hebels auf die eine oder andere Seite wird auf dem Bild-schirm der Box ein binäres Ergebnis angezeigt. Das heißt, esgibt nur zwei mögliche Ergebnisse: entweder 0 (null) oder 1(eins). Informatiker sagen, dass die Ergebnisse Informati-

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3 Lokale und nichtlokale Korrelationen 25

Zeit x a9:00 links 0

9:01 links 1

9:02 rechts 1

9:03 links 1

9:04 rechts 1

9:05 rechts 0...

Zeit y b9:00 links 0

9:01 links 1

9:02 links 1

9:03 rechts 1

9:04 rechts 1...

Abb. 3.1 Alice und Bob spielen das Bell-Spiel. Alle beide sitzenvor je einer Box, die mit einem Hebel versehen ist. Sie drückenim Minutentakt ihre Hebel entweder nach links oder nach rechts,wonach jede Box ein Ergebnis anzeigt. Alice und Bob notieren ge-wissenhaft die Uhrzeit, die von ihnen jeweils getroffene Wahl unddie von ihren Boxen erzeugten Ergebnisse. Am Ende des Tagesvergleichen sie ihre Ergebnisse und ermitteln, ob sie das Bell-Spielgewonnen haben oder nicht. Ihr Ziel ist es zu verstehen, wie dieBell-Spiel-Boxen funktionieren, so wie Kinder durch Probieren ler-nen, wie ihre Spielzeuge funktionieren

onsbits sind. Für jede Box scheinen die Ergebnisse zufälligzu sein.

Alice und Bob wollen es genauer wissen. Sie nehmen jeeine Box, stimmen ihre Uhren aufeinander ab und entfer-nen sich voneinander. Ab 9 Uhr morgens drücken beideim Minutentakt ihre Hebel und notieren gewissenhaft das

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von ihrer jeweiligenBox erzeugte Ergebnis sowie dieUhrzeitund die Richtung der Hebelbewegung. Es ist wichtig, dasssie in jeder Minute die linke oder die rechte Hebelrichtungfrei und unabhängig voneinander wählen. Sie dürfen außer-dem keinesfalls immer die gleiche Wahl treffen oder sich imVoraus auf eine Wahl einigen. Wichtig ist auch, dass wederAlice die Entscheidungen von Bob kennt, noch umgekehrt.Alice und Bob versuchen außerdem keinesfalls zu betrügen:Ihr Ziel ist es, herauszufinden, wie die Boxen des Bell-Spielsfunktionieren.

Sie spielen so bis 19 Uhr, sammeln 600 Datensätze, alsodie Ergebnisse von ungefähr 150 Hebelbetätigungen „links-links“ und etwa genauso vielen „links-rechts“, „rechts-links“und „rechts-rechts“. Am Ende des Tages kommen sie wiederzusammen und berechnen die Punkte und ihren Spielstandgemäß den folgenden Regeln:

1. Jedes Mal, wenn Alice ihren Hebel nach links gedrückthat oder wenn Bob seinen Hebel nach links gedrückt hatoder wenn alle beide ihre Hebel nach links gedrückt ha-ben, dann erhalten sie einen Punkt, wenn die Ergebnisseidentisch sind .

2. Jedes Mal, wenn Alice und Bob aber alle beide ihre He-bel nach rechts gedrückt haben, dann erhalten sie einenPunkt, wenn die Ergebnisse verschieden sind .

� Der Spielstand wird folgendermaßen berechnet: Fürdie vier Wahlkombinationen „links-links“, „links-rechts“, „rechts-links“ und „rechts-rechts“ berechnensie zunächst die Erfolgsquote (die Punktzahl dividiertdurch die Gesamtzahl der Versuche); danach addieren

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sie die vier Erfolgsquoten. Der maximale Spielstandist demnach 4, da es vier Wahlkombinationen gibtund jede Erfolgsquote höchstens 1 beträgt. Bei einemSpielstand S sagen wir, dass unsere beiden FreundeAlice und Bob das Bell-Spiel in S von 4 Fällen ge-winnen. Da der Spielstand ein Durchschnittswert ist,kann er irgendeine Zahl sein. Ein Spielstand von 3,41bedeutet somit, dass Alice und Bob im Durchschnittin 3,41 von 4 oder in 341 von 400 Fällen gewinnen.

� Wir werden sehen, dass es leicht ist, Boxen zu konstru-ieren, mit denen Alice und Bob einen Spielstand von 3erzielen können. Wir werden mitunter auch schreiben,dass sie das Bell-Spiel gewinnen, wenn sie es in mehrals 3 von 4 Fällen gewinnen.

Um uns ein wenig mit diesem seltsamen Bell-Spiel vertrautzumachen, stellen wir uns folgenden Fall vor: Alice und Bobschreiben nicht die von ihren Boxen erzielten Ergebnisseauf, sondern das, was ihnen durch den Kopf geht (kurzum:sie erzeugen zufällige Ergebnisse, unabhängig voneinanderund jeder für sich3). In diesem Fall betragen die Erfolgs-quoten alle 1/2. Die Hälfte der Male notieren Alice undBob nämlich das gleiche Ergebnis und in der anderenHälfteunterschiedliche Ergebnisse – und das unabhängig von denEntscheidungen, die Alice und Bob treffen. Der Spielstanddes Bell-Spiels ist demnach 4 � 1=2 D 2. Um also einenSpielstand von 2 zu überschreiten, können die Boxen vonAlice und Bob nicht unabhängig voneinander sein – viel-mehr müssen sie so koordiniert werden, dass sie korrelierteErgebnisse erzeugen.

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28 Der unbegreifliche Zufall

Um uns weiter in das Spiel zu vertiefen, nehmen wir unsein zweites Beispiel vor, bei dem die beiden Boxen unabhän-gig von der Hebelposition immer das gleiche Ergebnis 0 er-zeugen. In diesem Fall haben die Entscheidungen von Aliceund Bob keinerlei Einfluss. Man kann mühelos überprüfen,dass die Erfolgsquoten für die drei Entscheidungen „links-links“, „links-rechts“ und „rechts-links“ den Wert 1 haben,während die Wahl „rechts-rechts“ den Wert 0 aufweist. DerSpielstand ist demnach S D 3.

Bevor wir die Funktionsweise dieser Boxen analysieren,versuchen wir es mit einer kleinen Abstraktion. So könnenwir zum Kern der Nichtlokalität vordringen.

3.3 Nichtlokaler Kalkül: a C b D x � yWissenschaftler codieren mit Vorliebe die von ihnen ana-lysierten Objekte mit Hilfe von Zahlen, wie etwa hier dieEntscheidungen und die Ergebnisse. Damit können sie sichauf das Wesentliche konzentrieren, ohne sich durch langeSätze wie zum Beispiel „Alice hat ihren Hebel nach linksgedrückt und das Ergebnis 0 beobachtet“ stören zu lassen.Das ermöglicht es ihnen, zu addieren und zu multiplizie-ren. Wie wir sehen werden, ist das nützlich, um den Kernder Nichtlokalität in einer ganz einfachen Gleichung zu-sammenzufassen.

Konzentrieren wir uns zuerst auf Alice. Notieren wirihre Wahl mit dem Buchstaben x und ihr Ergebnis mitdem Buchstaben a. Demnach bedeutet x D 0, dass Alicebeschlossen hat, ihren Hebel nach links zu drücken, undx D 1, dass sie den Hebel nach rechts drückt. Analog dazu

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3 Lokale und nichtlokale Korrelationen 29

notieren wir die Wahl von Bob durch den Buchstaben yund sein Ergebnis durch b. Mit diesen Bezeichnungen fasstdie unten stehende kleine Tabelle die Fälle zusammen, indenen Alice und Bob nach den Regeln des Bell-Spiels einenPunkt erhalten:

x D 0 x D 1

y D 0 a D b a D b

y D 1 a D b a ¤ b

Zum Spaß treiben wir etwas elementare Arithmetik. DasBell-Spiel, bei dem Alice und Bob vor ihren jeweiligen Bo-xen sitzen, beide sehr weit voneinander entfernt sind (umNachmachen zu vermeiden), jeder der beiden frei entschei-det und seine Ergebnisse notiert, lässt sich in einer schönenGleichung zusammenfassen:

a C b D x � y �lies: a plus b gleich x mal y

�:

Das Produkt x � y ist nämlich immer 0, außer wenn x Dy D 1 ist. Die Gleichung sagt uns also, dass a C b D 0 ist,außer wenn x D y D 1 ist. Betrachten wir zuerst den Fallx D y D 1. In diesem Fall ist a C b D 1 und da a undb die Werte 0 und 1 annehmen können, hat die Gleichunga C b D 1 nur zwei Lösungen: entweder aD 0 und bD 1oder aD 1 und bD 0. Ist also a C b D 1, dann bedeutetdas zwingend a ¤ b und nach den Regeln des Bell-Spielserhalten Alice und Bob je einen Punkt.

Wir wollen jetzt die drei anderen Fälle betrachten:.x; y/ D .0; 0/ oder .0; 1/ oder .1; 0/. Es gilt immer x � yD 0 und die Gleichung vereinfacht sich zu a C b D 0.

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Eine erste mögliche Lösung ist a D b D 0. Die zweiteLösung ist a D b D 1. Aber wie kommt das? Ist 1 + 1 nichtgleich 2? Nein! Wenn man mit 0 und 1 rechnet (mit Bits,wie es hier der Fall ist), dann muss auch das Ergebnis immereine 0 oder eine 1 sein (Mathematiker sagen hier, dass siemodulo 2 rechnen). Die Gleichung aC b D 0 ist demnachäquivalent zu a D b.

Kurz gesagt: Die schöne Gleichung a C b D x � y fasstdas Bell-Spiel perfekt zusammen. Jedes Mal, wenn die Glei-chung erfüllt ist, erhalten Alice und Bob einen Punkt. Siesehen also, dass es möglich ist, die Quantenrevolution miteinfacher Mathematik darzulegen4.

Diese Gleichung stellt das Phänomen der Nichtlokalitätdar. Um das Bell-Spiel systematisch zu gewinnen, müssendie Boxen das Produkt x � y berechnen. Aber wenn die Wahlvon x nur in Bezug auf die Box von Alice und die Wahl vony nur in Bezug auf die Box von Bob bekannt ist, dann istes unmöglich, diese Berechnung lokal durchzuführen. Wirkönnen bestenfalls auf x � y D 0 wetten und damit in 3 von4 Fällen Recht haben, und entsprechend einen Spielstandvon 3 erzielen. Aber ein Spielstand von mehr als 3 erforderteine „nichtlokale“ Berechnung von x � y, denn die Fakto-ren des Produkts x � y existieren beide nur an voneinanderentfernten Orten.

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3.4 Lokale Strategienfür das Bell-Spiel

Alice und Bob sitzen beide vor ihren Boxen, treffen jedeMi-nute ihre freie und unabhängige Wahl und notieren gewis-senhaft ihre Entscheidungen sowie die von ihnen beobach-teten Ergebnisse. Was können diese Boxen wohl machen,damit Alice und Bob einen guten Spielstand erzielen kön-nen?

Stellen wir uns gleich zu Beginn vor, dass Alice und Bobzu weit voneinander entfernt sind, um einander zu beein-flussen. Dafür entfernen wir Alice und Bob in Gedankenvoneinander – und zwar so weit, dass keine Kommunika-tion möglich ist. Trennen wir zum Beispiel Alice und Bobdurch eine Entfernung, für deren Überwindung sogar dasLicht mehr als eine Sekunde braucht (mehr als 300.000 Ki-lometer, ungefähr die Entfernung Erde-Mond). In diesemExtremfall ist es nicht mehr möglich, dass Alice (oder bes-ser gesagt: ihre Box) ihre Wahl ihrem Mitspieler Bob (oderbesser gesagt: der Box von Bob) mitteilt. Es ist also keineErklärung möglich, die auf eine Kommunikation oder aufeine Beeinflussung zurückzuführen wäre – wir benötigen al-so eine andere Erklärung.

Analysieren wir zuerst den Fall, in dem die beiden Hebelzufällig nach links gedrückt werden. In diesem Fall erhaltenAlice und Bob nur dann einen Punkt, wenn ihre Ergeb-nisse identisch sind. Das ist die gleiche Situation wie beiden Kunden der Lebensmittelgeschäfte: Die Kunden findenimmer das gleiche Menü vor, wenn sie das linke Lebensmit-telgeschäft wählen. Wir haben bereits gesehen, dass das –bei Ausschluss jeglichen direkten Einflusses – nur möglich

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ist, wenn die beiden Lebensmittelgeschäfte keine Auswahlanbieten und das jeweils gleiche Menü vorschreiben. ImFalle der Boxen des Bell-Spiels bedeutet das: Wenn die He-bel nach links gedrückt werden, dann erzeugen die Boxenalle beide das gleiche Ergebnis. Dieses Ergebnis ist in je-der Minute vorbestimmt, kann sich aber von einer Minutezur nächsten ändern, so wie die Einheitsmenüs von einemAbend zum anderen variieren können. Man hat hier die Er-klärung einer maximalen Korrelation für den Fall, in demdie beiden Hebel nach links gedrückt worden sind. Das isteine Erklärung des Typs zwei – eine Erklärung, die auf einegemeinsame lokale Ursache zurückzuführen ist. Die in jederMinute vorbestimmten Ergebnisse wurden nämlich in jederBox registriert, das heißt, sie wurden lokal aufgezeichnet.

Führen wir die Analyse dieses Falles noch etwas weiter.Die am Anfang in den Boxen aufgezeichneten Ergebnissekönnen das Resultat einer langen Reihe von Münzwürfen(Kopf oder Zahl) sein. Für Alice sehen die Ergebnisse al-so alle nach Zufall aus. Und für Bob genauso. Wenn siedagegen beobachten, dass sie immer das gleiche Ergebniserzielen, dann werden sie nicht mehr an einen Zufall glau-ben . . . es sei denn, es handelt sich um einen nichtlokalenZufall, oder? Aber darauf kommen wir noch zurück.

Kasten 2 – Aufs Geratewohl Ein zufälliges Ergebnisist ein unvorhergesehenes Ergebnis. Aber für wen istes unvorhergesehen? Viele Dinge sind unvorhergese-hen: Entweder sind sie das Ergebnis eines Prozesses,der zu komplex ist, um verstanden zu werden, oder

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3 Lokale und nichtlokale Korrelationen 33

man hat nicht sämtliche Einzelheiten berücksichtigt,die das Ergebnis beeinflusst haben. Dagegen ist ein„echt“ zufälliges Ergebnis unvorhergesehen, weil esintrinsisch unvorhersehbar ist: Ein solches Ergebniswird nicht durch eine oder mehrere Kausalketten be-stimmt, so komplex diese auch sein mögen. Ein echtzufälliges Ergebnis ist nicht vorhersehbar, weil es –bevor es sich manifestiert hat – überhaupt nicht exis-tierte: Es war nicht notwendig, seine Entstehung istein reiner Schöpfungsakt.

Zur Illustration dieses Konzeptes stellen wir unsvor, dass sich Alice und Bob zufällig an der Straßen-ecke treffen. Das kann sich zum Beispiel ereignen,weil sich Alice in ein Restaurant in der Nähe begibtund Bob zu seinem Freund geht, der in einer benach-barten Straße wohnt. Ab dem Augenblick, in demsie zu Fuß losgegangen sind und den kürzesten Weggewählt haben (Alice zum Restaurant und Bob zu sei-nem Freund), ist die Begegnung vorhersehbar. Das istein Beispiel für zwei Kausalketten: DieWege von Ali-ce und Bob, die sich kreuzen und damit ein Ereignisproduzieren, das vom Standpunkt der beiden Perso-nen zufällig ist. Aber die Begegnung der beiden warfür jemanden vorhersehbar, der eine globale Sicht aufdie Abläufe hat. Der scheinbare Zufall ist demnachnur das Ergebnis von Unwissenheit: Bob kannte dieMarschroute von Alice nicht und Alice auch nicht je-ne von Bob. Was aber war, bevor Alice sich entschied,ins Restaurant zu gehen? Wenn man ihr einen freien

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34 Der unbegreifliche Zufall

Willen zugesteht, dann war die Begegnung – bevorsich Alice zum Losgehen entschloss – unvorherseh-bar. Der echte Zufall ist ähnlich.

Der echte Zufall hat also keine Ursache im glei-chen Sinn wie in der klassischen Physik. Ein echtzufälliges Ergebnis ist in keiner Weise vorbestimmt.Gleichwohl muss man diese Behauptung nuancie-ren, da der echte Zufall eine Ursache haben kann.Diese letztere bestimmt aber nicht das Ergebnis, siebestimmt nur die Wahrscheinlichkeit der verschiede-nen möglichen Ergebnisse. Allein die Neigung, mitder dieses oder jenes Ergebnis eintritt, ist vorherbe-stimmt.

Entsprechend dem Erklärungsschema der lokalen gemein-samen Ursachen erzeugt jede Box in jeder Minute ein vor-herbestimmtes Ergebnis. Für diesen Erklärungstyp wird dieListe der Ergebnisse von jeder Box vorher festgelegt und ge-speichert: Jede Box enthält also eine Art kleinen Computermit einem großen Speicher, eine Uhr und ein Programm,das im Minutentakt die unten stehenden Daten aus demSpeicher abliest.

Je nach Programm kann das Ergebnis abhängig oderunabhängig von der Hebelposition sein. Aber welche Pro-gramme laufen in den Boxen von Alice und Bob? Gibt esnicht unendlich viele mögliche Programme oder zumindesteine große Anzahl davon? Die Antwort lautet nein, denndie wissenschaftliche Vereinfachungsmethode mit binärenEntscheidungen und Ergebnissen beschränkt die Anzahl

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3 Lokale und nichtlokale Korrelationen 35

der möglichen Programme auf nur 4 pro Box: Das Pro-gramm muss für jede der 2 möglichen Entscheidungen nurein Ergebnis von 2 möglichen liefern. Diese 4 möglichenProgramme5 sind für Alice die folgenden:

#1. Unabhängig von derWahl von x ist das Ergebnis immeraD 0.

#2. Unabhängig von derWahl von x ist das Ergebnis immeraD 1.

#3. Das Ergebnis ist identisch mit der Wahl: a D x.#4. Das Ergebnis ist das Entgegengesetzte der Wahl: a D

1 � x.

Analog dazu gibt es auch für Bob 4 mögliche Programme.Insgesamt liegen uns demnach für Alice und Bob 4 � 4 D16 Programmkombinationen vor. Selbstverständlich kön-nen die Programme von Minute zu Minute wechseln – beiBob ebenso wie bei Alice –, aber jede Minute bestimmt ei-nes der 4 Programme bei Alice das Ergebnis a und eines der4 Programme bei Bob das Ergebnis b.

Nehmen wir uns diese 16 möglichen Kombinationenvon Programmen vor und berechnen die entsprechendenSpielstände. Denken Sie bitte daran, unser Ziel ist es, denmaximal möglichen Spielstand zu finden, für den es einelokale Erklärung gibt. Wir werden sehen, dass es unmög-lich ist, Boxen herzustellen, die mit lokalen Strategien einenSpielstand von mehr als 3 erzielen. An dieser Stelle habenSie die Wahl. Sie können mir aufs Wort glauben und direktzu Abschn. 3.5 gehen („Gewinnen im Bell-Spiel: nicht-lokale Korrelationen“) oder sich selbst davon überzeugen,

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36 Der unbegreifliche Zufall

indem Sie die Überlegungen des folgenden Absatzes selbstnachvollziehen (wozu ich Sie ausdrücklich ermutige).

Beginnen wir mit der Kombination der Programme #1für Alice und #1 für Bob; in diesem Fall sind die beidenErgebnisse immer a D b D 0 und Alice und Bob gewin-nen das Bell-Spiel in 3 von 4 Fällen. Sie scheitern nämlichnur dann im Bell-Spiel, wenn sie beide die Wahl 1 treffen.Wir wollen nun eine zweite Kombination von Programmenuntersuchen: #1 für Alice, also aD 0, und #3 für Bob, al-so b D y. Wir betrachten nacheinander die 4 gepaartenAuswahlmöglichkeiten. Für x D 0 und y D 0 sind die Ergeb-nisse .0; 0/, also „gewinnen“ Alice und Bob, das heißt, sieerhalten einen Punkt. Für x D 0 und y D 1 sind die Ergeb-nisse .0; 1/ und sie „verlieren“, das heißt, sie erhalten keinenPunkt. Für x D 1 und yD 0 sind die Ergebnisse .0; 0/ undsie gewinnen. Schließlich sind für x D 1 und yD 1 die Er-gebnisse .0; 1/ und sie gewinnen wieder (da für x D y D 1das Ziel darin besteht, dass sich die Ergebnisse unterschei-den). Zusammenfassend gesagt: Das von Alice und Bob er-zielte Ergebnis ist wieder 3. Jetzt können Sie die Überle-gung selbst zu Ende führen und die verbleibenden 14 Pro-grammkombinationen betrachten (oder Sie nehmen Bezugauf Tab. 3.1).

Unabhängig von der lokalen Strategie des Boxenherstel-lers – also unabhängig von der Kombination der Program-me – können Alice und Bob das Bell-Spiel insgesamt nieöfter als in 3 von 4 Fällen gewinnen.

Physiker drücken dieses Ergebnis gerne in Form ei-ner Ungleichung aus, die man als Bell-Ungleichung oderBell’sche Ungleichung bezeichnet6. Da diese Ungleichung

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3 Lokale und nichtlokale Korrelationen 37

Tabelle 3.1 Bell-Spiel-Punktetabelle für die 4 � 4 D 16 möglichenlokalen Strategien

Pro-gramm

Pro-gramm

Ergebnisfür Wahl

Ergebnisfür Wahl

Ergebnisfür Wahl

Ergebnisfür Wahl

Punk-te

beiAlice

beiBob

(x, y) D(0, 0)

(x, y) D(0, 1)

(x, y) D(1, 0)

(x, y) D(1, 1)

# 1 # 1 a D 0b D 0

a D 0b D 0

a D 0b D 0

a D 0b D 0

3

# 1 # 2 a D 0b D 1

a D 0b D 1

a D 0b D 1

a D 0b D 1

1

# 1 # 3 a D 0b D 0

a D 0b D 1

a D 0b D 0

a D 0b D 1

3

# 1 # 4 a D 0b D 1

a D 0b D 0

a D 0b D 1

a D 0b D 0

1

# 2 # 1 a D 1b D 0

a D 1b D 0

a D 1b D 0

a D 1b D 0

1

# 2 # 2 a D 1b D 1

a D 1b D 1

a D 1b D 1

a D 1b D 1

3

# 2 # 3 a D 1b D 0

a D 1b D 1

a D 1b D 0

a D 1b D 1

1

# 2 # 4 a D 1b D 1

a D 1b D 0

a D 1b D 1

a D 1b D 0

3

# 3 # 1 a D 0b D 0

a D 0b D 0

a D 1b D 0

a D 1b D 0

3

# 3 # 2 a D 0b D 1

a D 0b D 1

a D 1b D 1

a D 1b D 1

1

# 3 # 3 a D 0b D 0

a D 0b D 1

a D 1b D 0

a D 1b D 1

1

# 3 # 4 a D 0b D 1

a D 0b D 0

a D 1b D 1

a D 1b D 0

3

# 4 # 1 a D 1b D 1

a D 1b D 0

a D 0b D 0

a D 0b D 0

1

# 4 # 2 a D 1b D 1

a D 1b D 1

a D 0b D 1

a D 0b D 1

3

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38 Der unbegreifliche Zufall

Tabelle 3.1 (Fortsetzung)

Pro-gramm

Pro-gramm

Ergebnisfür Wahl

Ergebnisfür Wahl

Ergebnisfür Wahl

Ergebnisfür Wahl

Punk-te

beiAlice

beiBob

(x, y) D(0, 0)

(x, y) D(0, 1)

(x, y) D(1, 0)

(x, y) D(1, 1)

# 4 # 3 a D 1b D 0

a D 1b D 1

a D 0b D 0

a D 0b D 1

3

# 4 # 4 a D 1b D 1

a D 1b D 0

a D 0b D 1

a D 0b D 0

1

für die gesamte Thematik dieses Buch von zentraler Wich-tigkeit ist, führe ich sie hier vollständig auf. Wir könnenvielleicht nicht auf Anhieb die Bedeutung der Ungleichungermessen, aber wir sehen ihr ihre Schönheit an, so wie man-che von uns in der Lage sind, die Schönheit einer Partiturzu beurteilen:

P.a D bj0; 0/C P.a D bj0; 1/C P.a D bj1; 0/C P.a ¤ bj1; 1/ � 3:

Hier wird P.a D bjx; y/ wie folgt gelesen: „Wahrschein-lichkeit dafür, dass a gleich b ist, wenn man x und y wählt“.Analog liest man P.a ¤ bj1; 1/ als „Wahrscheinlichkeit da-für, dass a ungleich b ist, wenn man x D y D 1 wählt“.Die Bell-Ungleichung sagt das aus, was wir gefunden ha-ben: Die Summe der 4 Wahrscheinlichkeiten im Bell-Spiel,das heißt, der Spielstand, beträgt höchstens 3.

In Falle von lokalen Korrelationen ist also die Bell-Un-gleichung immer erfüllt.

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3 Lokale und nichtlokale Korrelationen 39

Kasten 3 – Die Bell-Ungleichung Ganz allgemeinkann sich die Wahrscheinlichkeit P.a; bjx; y/ aus ei-nem statistischen Gemisch verschiedener möglicherSituationen ergeben. Zum Beispiel kann eine ers-te mögliche Situation, die man traditionell mit �1bezeichnet, mit einer Wahrscheinlichkeit p.�1/ auf-treten, eine zweite Situation�2 mit einerWahrschein-lichkeit p.�2/ und so weiter. Diese Wahrscheinlich-keiten p.�/ gestatten es, auch Fälle zu analysieren,bei denen man die reale Situation nicht genau kennt.Man braucht die Wahrscheinlichkeiten dieser Situa-tionen dazu überhaupt nicht zu kennen – es reichtaus, zu wissen, dass verschiedene Situationen mit un-terschiedlichen Wahrscheinlichkeiten eintreten.

Diese Situationen � können den Quantenzustandeinschließen, der üblicherweise mit bezeichnetwird. Diese � können sämtliche Vergangenheiten vonAlice und Bob einschließen, ja sogar den Zustanddes gesamten Universums, wobei allerdings die Wahlvon x und y unabhängig von � sein muss. Aber die� können auch sehr viel eingeschränkter sein, wiedie Wahl der Strategien von Alice und Bob im Bell-Spiel. Historisch bezeichnete man diese � als „ver-borgene lokale Variablen“, aber es ist besser, sie alsphysikalischen Zustand von Systemen (der Boxenvon Alice und Bob) zu betrachten, wie sie in einerbeliebigen gegenwärtigen oder zukünftigen Theoriebeschrieben werden können. Demnach verraten unsdie Bell-Ungleichungen etwas über die Struktur ei-

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40 Der unbegreifliche Zufall

ner jeden zukünftigen physikalischenTheorie, diemitden heutigen Erfahrungen vereinbar ist. Kurz gesagt:Die einzige Annahme zu den � ist, dass sie keine In-formationen über die Wahl von x und y enthalten.

Für jede Situation � lässt sich die bedingte Wahr-scheinlichkeit immer in folgender Form schreiben:P.a; bjx; y; �/ D P.ajx; y; �/ � P.bjx; y; a; �/.

Die Lokalitätshypothese lässt sich also folgender-maßen ausdrücken: Für jedes � hängt das, was sichbei Alice ereignet, nicht von dem ab, was sich beiBob ereignet, also P.ajx; y; �/ D P.ajx; �/. Das giltauch umgekehrt, also P.bjx; y; a; �/ D P.bjy; �/.Kurz: Die Hypothese, die allen Bell-Ungleichungenzugrunde liegt, ergibt sich durch die Mittelung überalle möglichen Situationen �:

P.a; bjx; y/ DX

p.�/P.ajx; �/ � P.bjy; �/;

wobei p.�/ die Wahrscheinlichkeit bezeichnet, dassdie Situation � eintritt.

Wir haben bislang vorausgesetzt, dass die Boxen von Aliceund Bob jeweils ein Programm enthalten, das die Ergebnissein Abhängigkeit von der Wahl von x und y bestimmt. (In-formatiker bezeichnen x und y als Programmdaten). Waswürde geschehen, wenn diese Programme die Ergebnissenicht vollständig bestimmen, sondern Raum für den Zu-fall ließen? Man könnte sich beispielsweise vorstellen, dass

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3 Lokale und nichtlokale Korrelationen 41

die Box von Alice von Zeit zu Zeit zufällig das Programm# 1 oder das Programm # 3 verwendet. Oder dass die Box abund zu ein Ergebnis zufällig auswählt. Kann das vielleichtdabei helfen, im Bell-Spiel zu gewinnen? Zunächst Folgen-des: Die Erzeugung eines zufälligen Ergebnisses ist identischmit der zufälligen Wahl zwischen dem Programm # 1 (dasaD 0 bestimmt) und dem Programm # 2 (das aD 1 be-stimmt). Das ist aber nicht zweckmäßig und ändert auchnicht viel. Das Bell-Spiel impliziert eine lange Dauer unddie Berechnung eines Mittelwertes. Wählt die Box von Ali-ce für eine gegebeneMinute zufällig ein Programm aus einerGesamtheit von Programmen aus, dann unterscheidet sichder Spielstand nicht von demjenigen, den man erhält, wenndiese Box in jeder Minute ein bestimmtes Programm zufäl-lig aus dieser Gesamtheit von Programmen auswählt. DieAnnahme, dass die Boxen in jeder Minute ein bestimmtesProgramm verwenden, ist also keine einschränkende An-nahme. Zufällige Strategien hinzuzufügen, hilft weder Alicenoch Bob dabei, das Bell-Spiel zu gewinnen, im Gegenteil.Wie wir gesehen haben, erzielen die Boxen von Alice undBob einen Spielstand von lediglich 2, wenn sie unabhängigvoneinander zufällige Ergebnisse erzeugen.

Kurz gesagt: Keine lokale Strategie ermöglicht es, dasBell-Spiel in mehr als 3 von 4 Fällen zu gewinnen. Physikerwürden sagen, dass „keine lokale Korrelation die Bell-Un-gleichung verletzen kann“. Falls es Alice und Bob dennochgelingt, das Bell-Spiel in mehr als 3 von 4 Fällen zu gewin-nen, dann gäbe es keine lokale Erklärung für dieses Phäno-men. Wie wir gerade gesehen haben, gibt es nur zwei Artenvon lokalen Erklärungen: Diejenigen, die auf sich allmäh-lich ausbreitenden Einflüssen beruhen (Typ 1), und dieje-

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42 Der unbegreifliche Zufall

nigen, die auf gemeinsame Ursachen zurückzuführen sind,die ihrerseits auf einer gemeinsamenVergangenheit beruhenund sich ebenfalls nach und nach ausbreiten (Typ 2). Nunsind aber die Erklärungen des Typs 1 aufgrund der großenEntfernung zwischen Alice und Bob ausgeschlossen, wäh-rend es – wie ebenfalls oben ausgeführt – die Erklärung vomTyp 2 nicht gestattet, das Bell-Spiel in mehr als 3 von 4 Fäl-len zu gewinnen.

3.5 Gewinnen im Bell-Spiel:nichtlokale Korrelationen

Stellen wir uns jetzt vor, dass Alice und Bob das Bell-Spiellange Zeit spielen und imDurchschnitt viel öfter als in 3 von4 Fällen gewinnen. Das erlaubt die Quantenphysik dankder Verschränkung. Aber lassen wir diese Physik und diesefaszinierende Verschränkung für den Moment beiseite undnehmen wir einfach an, dass Alice und Bob das Bell-Spielsehr oft gewinnen. Wir haben die Annahme ausgeschlos-sen, dass sie sich gegenseitig beeinflussen – oder ihre Boxenmiteinander kommunizieren –, und sei es mit Hilfe vonWellen unbekannter Art (wir werden später auf diese wichti-ge Annahme zurückkommen). Wir haben gerade Folgendesgesehen: Erzeugen die Boxen das Ergebnis lokal in Abhän-gigkeit von der Zeit und der Position des Hebels (also inAbhängigkeit von der Entscheidung, die der Bediener trifft),dann kann das Bell-Spiel nicht in mehr als 3 von 4 Fällengewonnen werden. Kurzum: Es ist unmöglich, in mehr als 3von 4 Fällen zu gewinnen, wenn man nur lokale Strategien

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3 Lokale und nichtlokale Korrelationen 43

einsetzt, das heißt, wenn man nur Vorgänge verwendet, diesich nach und nach ausbreiten.

Deswegen werden Korrelationen, bei denen man dasBell-Spiel in mehr als 3 von 4 Fällen gewinnen kann, als„nichtlokal“ bezeichnet.

Aber wie stellen Alice, Bob und ihre Boxen das an?Hätten wir einem Physiker vor der Ära der Quantenphy-

sik die Frage gestellt, vor 1925 etwa, dann wäre die Antwortsehr einfach gewesen: Das ist absolut unmöglich! Um imBell-Spiel in mehr als 3 von 4 Fällen zu gewinnen, müssenAlice und Bob oder ihre Boxen schummeln, miteinander aufdie eine oder andere Weise kommunizieren oder sich viel-leicht unbewusst beeinflussen, so wie man jemanden zumGähnen bringen kann, indem man selbst gähnt. Aber oh-ne Kommunikation ist das ganz einfach unmöglich, würdeunser Wissenschaftler aus dem Prä-Quantium sagen.

Und Sie? Verstehen Sie, wie man im Bell-Spiel in mehrals 3 von 4 Fällen gewinnen kann? Glauben Sie, dass dasmöglich ist? Es tut mir leid, dass ich Ihre kleinen grauenZellen mit dem Bell-Spiel strapaziere, aber wir befinden unssozusagen im Herzstück der Nichtlokalität. Wir sind einbisschen wie die Menschen im Mittelalter, denen man er-zählt hat, dass die Erde rund sei wie eine Kugel und dassauch auf der anderen Seite Menschen leben. Aber warumfallen sie nicht herunter? Heute weiß jeder, dass die Gegen-stände und dieMenschen nicht von oben nach unten fallen,sondern dass sie in Richtung Erdmittelpunkt fallen. DieMenschen auf der anderen Seite der Erde werden so am Bo-den festgehalten wie unsereMagneten amKühlschrank.MitderMagnetenmetapher versteht jeder, dass wir von der Erdeangezogen werden und demnach weder die Australier noch

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die Europäer von ihr herunterfallen. Aber welche Erklärungfür das Bell-Spiel ist so gut wie die Magnetenmetapher fürdie Schwerkraft? Welche Geschichte soll man erzählen, umdie Sache zu verstehen? Leider kann ich Ihnen nicht intui-tiv erklären, wie es die Quantenverschränkung ermöglicht,das Bell-Spiel in mehr als 3 von 4 Fällen zu gewinnen. Aberlassen sie sich trotzdem ein auf unsere Erforschung derWeltder Atome und der Photonen. Ich lade Sie ein, dieses seltsa-me Spiel mit uns zu spielen und sich vorzustellen, welcheamüsanten, ja sogar nützlichen Dinge man damit anstel-len kann. Sehen wir uns nun an, welche Bedeutung das fürunser Bild vom Universum haben kann. Wir wollen die-se Korrelationen zerpflücken, ein bisschen so wie ein Kind,das sein Spielzeug auseinandernimmt, um dessen verborge-ne Mechanismen zu entdecken.

Kasten 4 – John Bell

I am a quantum engineer, but on Sundays haveprinciples.

Ich hatte das Glück, John Bell oft zu begegnen. Hierist die Geschichte einer meiner ersten Begegnungenmit ihm.

„Ich bin ein Quanteningenieur, aber sonntags ha-be ich Prinzipien“– so begann John Bell im März1983 ein ganz besonderes geheimes Kolloquium.Worte, die ich nie vergessen werde! John Bell, der be-rühmte John Bell, stellte sich als Ingenieur vor, also als

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3 Lokale und nichtlokale Korrelationen 45

einer von denen, die Dinge zum Funktionieren brin-gen, ohne zu wissen, warum sie funktionieren. WoJohn Bell doch für mich, der ich so stolz war auf mei-nen unlängst erworbenenDoktortitel in theoretischerPhysik, zu den Giganten unter den Theoretikern ge-hörte.

1983 organisierte die „Association vaudoise deschercheurs en physique“, der waadtländische Ver-band der Forscher im Fachbereich Physik, ihre jähr-liche Weiterbildungswoche, an der Physiker ausForschung und Lehre gemeinsam teilnehmen. EineWoche in Montana, zur Hälfte Skifahren, zur Hälf-te Vorträge von großen Wissenschaftlern. In jenemJahr drehte sich diese Woche um die Grundlagen derQuantenphysik. Das war für mich die Gelegenheit,Alain Aspect kennenzulernen, den erstenMenschen7,der im Bell-Spiel gewonnen hat – mit ihm habe ichtolle Nachmittage auf der Skipiste verbracht.

Den Zielen dieser Gemeinschaft entsprechend,war John Bell offensichtlich als Gast geladen wor-den, ohne aber im Programm aufgeführt zu sein, dasheißt, ohne Zeitangabe für einen Vortrag – eine Ab-surdität. Zusammen mit einem befreundeten Dok-toranden haben wir John Bell darum gebeten, unsaußerhalb des Programms einen Vortrag zu halten.Er hat das zunächst mit der Begründung abgelehnt,er habe seine Folien nicht mitgebracht. Schließlichfand das geheime Kolloquium dennoch statt – aneinem Abend nach dem Abendessen in einem has-

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46 Der unbegreifliche Zufall

tig in einen Vorlesungssaal verwandelten Keller, indem die Studenten auf dem Boden saßen. Der „Prin-zipieningenieur“ erklärte uns, dass man die Physikpragmatisch zur Entwicklung von Anwendungen, zurDurchführung von schwierigen oder lustigen Experi-menten ebenso nutzen kann wie zum Auffinden vonempirischen Regeln, die in der Praxis gut funktionie-ren; dabei dürfe man jedoch die große Aufgabe derWissenschaft nicht aus den Augen verlieren, nämlichdie Natur auf konsistente Weise zu erklären und zubeschreiben. Die Botschaft von John Bell treibt michnoch heute um.

3.6 Gewinnen im Bell-Spiel gestattetkeine Kommunikation

Nehmen wir an, dass Alice und Bob im Bell-Spiel in mehrals 3 von 4 Fällen gewinnen, vielleicht sogar jedes Mal.Könnten sie so miteinander kommunizieren8? Da die bei-den beliebig weit voneinander entfernt sind, würde dieMöglichkeit einer Kommunikation implizit bedeuten, dassdiese mit einer beliebig großen Geschwindigkeit erfolgt.

Wie könnte Alice ihrem Partner Bob eine Informationmitteilen? Sie hat lediglich die Möglichkeit, ihren Hebelzu betätigen. Zum Beispiel nach links, um „ja“ zu signali-sieren und nach rechts, um „nein“ mitzuteilen. Aber vonBobs Standpunkt aus erzeugt die Box von Alice zufällige

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3 Lokale und nichtlokale Korrelationen 47

Ergebnisse. Unabhängig von der Position ihres Hebels tre-ten die zwei möglichen Ergebnisse bD 0 und bD 1 mit dergleichen Häufigkeit auf. Und das bleibt unabhängig davonwahr, in welcher Position der Hebel von Alice sich befindet.Es gibt also keine Möglichkeit, die Korrelationen des Bell-Spiels zu verwenden, damit Alice eine Nachricht an Bobschicken kann oder umgekehrt. Erst durch einen Vergleichder Ergebnisse der beiden Boxen kann man feststellen, dasssie korreliert sind. Vergessen sie nicht das seltsame „Telefon“von Kap. 2!

Alice und Bob können also nicht ihre beiden Boxen be-nützen, um zu kommunizieren9. Erst nachdem Alice undBob ihre Ergebnisse verglichen haben, nachdem sie also amEnde des Tages wieder zusammenkommen und nicht mehrspielen, können sie herausfinden, ob sie im Bell-Spiel ge-wonnen haben oder nicht. Es gibt also keine Verbindungzwischen Alice und Bob, die es ihnen gestatten würde zukommunizieren. Eine Kommunikation, die einzig und al-lein über das Bell-Spiel erfolgt, wäre eine Kommunikati-on ohne ein Objekt, das die Nachricht vom Sender zumEmpfänger transportiert: also eine Kommunikation ohneÜbertragung, kurz gesagt eine unmögliche Form der Kom-munikation (vgl. Kasten 5).

Kasten 5 – Eine Kommunikation ohne Übertra-gung ist unmöglich Wenn eine Person, nennenwir sie Alice, einer anderen Person, etwa Bob, ei-ne Nachricht übermitteln möchte, dann muss Aliceihre Nachricht zuerst auf einen physikalischen Trä-

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ger schreiben. Die Nachricht wird dann nach undnach auf diesem physikalischen Träger transportiert –durch einen Brief, mit Hilfe von Elektronen odervon Photonen. Schließlich erhält Bob den physika-lischen Träger und liest (decodiert) die Nachricht,die er enthält. Auf diese Weise wird die Nachrichtnach und nach von Alice an Bob übertragen. Jedeandere Art der Nachrichtenübermittlung wäre nichtphysikalisch.Wenn zumBeispiel Alice eineNachrichtwählen und diese auf einen physikalischen Trägerschreiben könnte, aber kein physikalisches Objektden Standort von Alice verließe, dann könnte sie ihreNachricht nicht übermitteln.

Andernfalls würde es sich, wie bereits Newton er-kannt hat (vgl. Kasten 1), um eine Mitteilung ohneÜbertragung handeln. Aber eine Kommunikation istnicht möglich, ohne dass irgendetwas physikalisches(Material, Welle oder Energie) von Alice aus auf dieReise geht, nachdem sie die Nachricht ausgewählthat, die übermittelt werden soll.

Diese Unmöglichkeit lässt sich mit einfachem ge-sundemMenschenverstand nachvollziehen. Eine Ver-letzung dieses Prinzips, zum Beispiel durch Telepa-thie, würde es erlauben, mit beliebiger Geschwin-digkeit zu kommunizieren. Da nämlich nichts dieNachricht transportiert, würde die Entfernung zwi-schen Alice und Bob keine Rolle spielen. Und wennman diese Entfernung beliebig verlängert, dann hätteman eine beliebig große Übertragungsgeschwindig-

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keit, die möglicherweise über der Lichtgeschwindig-keit liegt. Aber diese Unmöglichkeit ist noch funda-mentaler als die der Relativitätstheorie, die Überlicht-geschwindigkeit ausschließt: Eine nichtphysikalischeForm der Kommunikation ist unmöglich.

Aber gibt es vielleicht eine Verbindung, eine „unsichtbareLeitung“, welche die beiden Boxen miteinander verbin-det – nicht um zu kommunizieren, sondern einfach nur,um den Boxen zu ermöglichen, im Bell-Spiel zu gewin-nen? Würde eine solche Verbindung existieren, dann würdeman den „Trick“ verstehen. Das wäre vielleicht eine Ent-täuschung: ein einfacher Zaubertrick. Aber für Physikerkönnte das der Anfang einer wichtigen Entdeckung sein:Herauszufinden, woraus diese Verbindung besteht, wie siefunktioniert, mit welcher Geschwindigkeit sie die verbor-genen Nachrichten zwischen den Boxen übermittelt undso weiter. Begnügen wir uns im Augenblick damit, (inGedanken) zu beobachten, dass man keine sichtbare Ver-bindung erkennen kann. Und erinnern wir uns daran, dassunsere beiden Boxen so weit voneinander entfernt sind,dass kein sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitender Ein-fluss rechtzeitig seinen Bestimmungsort erreicht. Darüberhinaus müssen Alice und Bob nicht wissen, wo sich ihrPartner befindet. Sie können ihre Boxen unter den Armklemmen und sich auf den Weg an einen unbekannten Ortmachen.

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3.7 Boxen auf!

Als John Bell 1964 sein Spiel vorstellte, das er „the ine-quality“ – die Ungleichung – nannte, war es lediglich einGedankenexperiment, aber seitdem ist dieses Spiel in zahl-reichen Labors umgesetzt worden. Öffnen wir also endlichdiese magisch erscheinenden Boxen, da sie es gestatten, dasBell-Spiel zu gewinnen.

Wenn man sie öffnet, entdeckt man eine ganze physika-lische Apparatur: Laser (rote, grüne und sogar solche, dieein schönes gelbes Licht erzeugen), einen Kryostaten (ei-ne Art Kühlschrank, mit dem man Objekte fast bis zumabsolutenNullpunkt, auf ungefähr�270GradCelsius, her-abkühlen kann), Interferometer aus Glasfasern (eine Art op-tische Schaltkreise für Photonen), zwei Photonendetektoren(Lichtteilchendetektoren) und eine Uhr (Abb. 3.2). Das al-les hilft uns jedoch nicht viel weiter.

Wennwir die Apparatur zerpflücken, entdecken wir, dasssich in der Mitte des Kryostaten, wo sich alle Laserbündelüberschneiden, ein kleiner Kristall von einigen MillimeternGröße befindet, der einem Glasstückchen ähnelt. Und esscheint, dass dieser unbedeutende Kristall das Herzstück derApparatur ist. Wird nämlich der Hebel nach links oder nachrechts gedrückt, dann löst das eine Reihe von Laserpulsenaus, die den Kristall beleuchten und in dem Interferometer,das an den Kristall angeschlossen ist, ein piezoelektrischesElement11 aktivieren. Dieses piezoelektrische Element be-wegt sich ein kleines bisschen in die gleiche Richtung wieder Hebel. Und dann wird einer der beiden Photonendetek-toren ausgelöst, wonach die Box eine 0 oder eine 1 erzeugt.Es liegt auf derHand, dass derHebel aufgrund der Laserpul-

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3 Lokale und nichtlokale Korrelationen 51

Kryostat elektrische Leitungen

piezo-elektrisches Element

Detektoren

InterferometerLinse

Kristall

Laser

Abb. 3.2 Im Inneren der Boxen des Bell-Spiels entdecken Aliceund Bob eine komplizierte physikalische Apparatur. Aber indemsie „lokal“ in die beiden Boxen hineinschauen, werden Alice undBob nicht verstehen, wie das Bell-Spiel funktioniert, denn diesesSpiel gestattet die Erzeugung von Korrelationen, für die es keinelokale Erklärung gibt

se etwas im Kristall erzeugt und dann über das piezoelektri-sche Element den Zustand des Interferometers bestimmt.Am Schluss liefert der Detektor das Ergebnis. Die beidenBoxen sind vollkommen identisch. Wieder hat es den An-schein, als sei das Geheimnis in dem kleinen Kristall in derMitte der Apparatur verborgen.

Die Untersuchung der Boxen ist im Grunde genommennicht beweiskräftig. Und genau das ist die Botschaft die-

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52 Der unbegreifliche Zufall

ses Kapitels: Auch wenn man den Aufbau und die Funkti-onsweise der Boxen eingehend studiert, findet man keineErklärung. Auf jeden Fall wissen wir bereits, dass es kei-ne lokale Erklärung für einen Gewinn im Bell-Spiel gibt.Demnach findet man gewiss auch keine Erklärung, wennman bei jeder der beiden Boxen einen „Lokalaugenschein“durchführt! Betrachten wir nun das Geschehen aus einerübergeordneten Sicht. Letzten Endes macht diese ganze Ap-paratur nur Folgendes: Sie erzeugt jedes Mal dann ein bi-näres Ergebnis, wenn man den Hebel nach links oder nachrechts drückt. Obwohl also der Mechanismus sehr kompli-ziert ist, kann er anscheinend nichts anderes machen, alseines der vier oben beschriebenen Programme durchlaufenzu lassen. Was könnte er denn auch anderes machen? Nocheinmal: Es gibt für den Hebel nur zwei mögliche Positio-nen und nur ein einziges binäres Ergebnis. Die Verwendungvon mehreren Lasern, einem Kryostaten und von Photo-nendetektoren, um ein solches Programm ablaufen zu las-sen, scheint übertrieben zu sein! Aber diese Apparatur kannmehr, denn sie gestattet es, im Bell-Spiel zu gewinnen. EinPhysiker aus der Epoche des Prä-Quantiums hätte diese Ap-paraturen lange untersuchen können, ohne irgendetwas zuverstehen. Unsere Leser brauchen also nicht laserrot zu wer-den, wenn sie nicht erkennen, wozu alle diese Geräte die-nen.

Kapitel 7 wird die Lösung liefern. Für den Momentreicht es, sich zu merken, dass die Kristalle das Herzstückdieser Boxen sind und dass sie „verschränkt“ sind11. Aberwas bedeutet das? Vorerst ist die Verschränkung nur einWort zur Bezeichnung des quantenphysikalischen Konzep-

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3 Lokale und nichtlokale Korrelationen 53

tes, das es gestattet, im Bell-Spiel zu gewinnen. Geduld istgefragt!

Zusammenfassung: Der genaue Inhalt der Boxen ist un-wichtig. Wichtig ist nur, sich zu merken, dass Physiker –im Prinzip – wissen, wie man Boxen konstruiert, die es Ali-ce und Bob ermöglichen, das Bell-Spiel in mehr als 3 von4 Fällen zu gewinnen, und dass die Hauptzutat den Na-men „Verschränkung“ trägt. Die einfache Tatsache, dass esmöglich ist, im Bell-Spiel zu gewinnen, ist eine wichtigeSchlussfolgerung – ein Fakt, der einem fast so sehr ins Augespringt wie ein Foto der im Weltraum schwebenden Erde:Die Erde ist rund und die Quantenphysik sagt nichtlokaleKorrelationen vorher.

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4Nichtlokalität und echter

ZufallWir haben gesehen, dass es leicht ist, im Bell-Spiel einenSpielstand von 3 zu erzielen. Es reicht zum Beispiel, sichim Voraus zu einigen und immer das gleiche Ergebnis zuerzeugen. Aber wir haben auch gesehen, dass es unmöglichist, eine lokale Strategie zu definieren, die es sowohl Alice alsauch Bob gestattet, in mehr als 3 von 4 Fällen zu gewinnen.Das ist die Kernschlussfolgerung von Kap. 3.

Und was wäre, wenn zwei Personen im Bell-Spiel gewön-nen, das heißt, wenn sie einen Spielstand von mehr als 3erhielten? Welche Schlussfolgerung müsste man daraus zie-hen?

Es scheint sich zuerst eine doppelte Schlussfolgerung auf-zudrängen: Entweder sie beeinflussen sich auf subtile Weiseoder sie mogeln geschickt. Stellen wir uns nun vor, dasswir diese zwei Optionen ausschließen können. Die zweitemögliche Schlussfolgerung besteht darin, dass die in Kap. 3vorgestellte Überlegung fehlerhaft ist. Viele Physiker undPhilosophen haben damit Jahre verbracht – versuchen auchSie es einenMoment lang. Man darf nämlich keinesfalls einAutoritätsargument gelten lassen: Jeder kann und muss wis-senschaftliche Überlegungen selbst überprüfen. Das ist hierumso wichtiger, weil die Schlussfolgerung der Unmöglich-keit, ohne Kommunikation im Bell-Spiel zu gewinnen, ein-

N. Gisin, Der unbegreifliche Zufall, DOI 10.1007/978-3-662-43958-6_4,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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56 Der unbegreifliche Zufall

fach und klar ist. Noch einmal der Klarheit halber: Jeder derbeiden Partner, Alice und Bob, können nur zwischen viermöglichen Strategien wählen. Es gibt also nur 4 � 4 D 16mögliche Strategiekombinationen, von denen es keine er-laubt, inmehr als 3 von 4 Fällen zu gewinnen (vgl. Tab. 3.1).Gehen Sie die Überlegung noch einmal durch und erklärenSie diese Ihrem Partner und einem Freund.

Sie können von der Stichhaltigkeit dieser Überlegungdurchaus überzeugt sein – sie ist vollkommen fundiert undwurde von Tausenden von Physikern, Philosophen, Mathe-matikern und Informatikern bestätigt.

Aber warum stellt man sich dann die Frage nach Spie-lern, die in mehr als 3 von 4 Fällen gewinnen – wo das dochunmöglich scheint, oder? Das ist in der Tat die richtige Fra-ge, die man sich hier stellen muss. Die Logik dahinter ist soeinfach, dass sich ohne die Quantenphysik niemand dafürinteressieren würde: Es wäre nur eine zusätzliche Tatsacheinmitten der Berge von Tatsachen, die unerheblich und des-wegen uninteressant sind. Der einzige gute Grund, sich fürdiese Frage zu interessieren, besteht darin, dass es die heutigePhysik gestattet, das Spiel zu gewinnen – und das ohne dassdie Spieler miteinander kommunizieren oder schummeln.

4.1 Eine nichtlokale Einheit

Kommen wir also auf unsere Frage zurück: Welche Schluss-folgerung muss man im Bell-Spiel aus einem Spielstand zie-hen, der systematisch größer als 3 ist? Die einzige mögli-che Erklärung besteht darin, dass die Boxen von Alice undBob zwar räumlich, nicht aber logisch voneinander getrennt

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4 Nichtlokalität und echter Zufall 57

sind: Trotz der Entfernung, die sie trennt, kannman die Bo-xen von Alice und Bob nicht gesondert für sich beschreiben.Anders ausgedrückt: Man kann nicht beschreiben, was dieBoxen von Alice und Bob jeweils für sich machen. Es ist alsob sich die beiden Boxen trotz ihrer räumlichen Entfernungso verhielten, als wären sie ein einheitliches Ganzes – eineEinheit, die sich auf logische Weise nicht in zwei Teile auf-teilen lässt. Kurz gesagt: Die Boxen bilden eine nichtlokaleEinheit.

Eine nichtlokale Einheit! Hilft Ihnen das, die Sache zuverstehen? Wahrscheinlich nicht (es sei denn, Sie sind einechtes Genie!). „Nichtlokal“ bedeutet hier ganz einfach et-was, was sich nicht als „zwei voneinander unabhängige undklar lokalisierte Bestandteile“ beschreiben lässt. Alice undBob sowie ihre Boxen sind selbstverständlich wie ganz ge-wöhnliche Personen und Boxen lokalisiert – man kann siezwar mit Mauern aus Eisenbeton, mit einem Befestigungs-gürtel aus Blei oder mit beliebigen anderen Dingen einzäu-nen, aber es ist unmöglich, ihr Verhalten als getrennte Boxenjeweils gesondert für sich zu beschreiben.

Hätten nämlich die Boxen jeweils für sich eine geson-derte Verhaltensweise, also eine Strategie, dann wäre es fürsie unmöglich, im Bell-Spiel zu gewinnen. Und das sogardann, wenn diese Verhaltensweisen und Strategien vor derräumlichen Trennung der Boxen diskutiert und koordiniertworden wären.

Wir sehen uns hier mit einer Schlussfolgerung konfron-tiert, die äußerst bemerkenswert und sehr schwer zu verdau-en ist. Wenn Alice und Bob einen Spielstand erzielen, dergrößer ist als 3, dann bleibt uns zwangsläufig nur folgendesEingeständnis: Ungeachtet der Entfernung, welche die bei-

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58 Der unbegreifliche Zufall

den Spieler voneinander trennt, und trotz der Möglichkeit,die Identitäten der beiden Spieler festzustellen, können ih-re Spielergebnisse nicht lokal erzeugt werden – das heißt,in Form eines Ergebnisses durch die Box von Alice und inForm eines anderen Ergebnisses für die Box von Bob. Die-se Ergebnisse werden auf nichtlokale Weise erzeugt . Es ist, als„wüsste“ die Box von Alice, was die Box von Bobmacht undumgekehrt.

Kasten 6 – Eine nichtlokale Berechnung . . . Ge-winnen im Bell-Spiel bedeutet, dass sich die Ergeb-nisse von Alice und Bob gegenseitig so „anziehen“,dass die Gleichung a C b D x � y in mehr als 3 von4 Fällen erfüllt ist. Das Produkt x � y wird demnachöfter korrekt ermittelt als es lokal möglich ist, obwohldie Werte x und y nirgendwo gemeinsam auftreten: xist nur Alice und ihrer Box bekannt, y hingegen nurBob und seiner Box.Man sieht hier, wie die Idee einesSuperrechners Gestalt annimmt: der Quantencom-puter. Die Geschichte dieses Computers ist lang undgeht weit über den Rahmen dieses Buches hinaus. ImÜbrigen sollte man eher von einem Quantenprozes-sor als von einem echten Allzweckrechner sprechen.

4.2 Telepathie und eineiige Zwillinge

Einige werden hier an Telepathie oder an eineiige Zwillingedenken, die getrennt für sich die gleichen Entscheidungen

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4 Nichtlokalität und echter Zufall 59

treffen oder an den gleichen Krankheiten leiden. Aber dieseVorstellung ist trügerisch.

Beginnen wir mit den Zwillingen. Zwillinge zeichnensich dadurch aus, dass sie den gleichen Gen-Bestand ha-ben: Sie tragen die gleichen genetischen Instruktionen insich und sind sich infolgedessen ähnlich, häufig sogar be-merkenswert ähnlich. Das ist so, als ob Alice und Bob als„lokale Personen“ ebenfalls Strategien besäßen, die den ge-netischen Instruktionen ähneln. Aber wir haben ja geradegesehen, dass Alice und Bob so – unabhängig von ihren„mitgeführten“ oder von ihren Boxen gespeicherten Strate-gien – niemals im Bell-Spiel gewinnen könnten. Genausowie zwei vollkommen identische Zwillinge, die – wie wirannehmen wollen – ihr Leben lang haargenau den gleichenUmwelteinflüssen ausgesetzt waren, im Bell-Spiel nichtgewinnen könnten. Der Vergleich mit den Zwillingen istalso ausgezeichnet, um die lokalen Korrelationen zu ver-stehen, trägt aber überhaupt nicht dazu bei, zu verstehen,wie man im Bell-Spiel gewinnen könnte. Ganz im Ge-genteil: Sogar ideale Zwillinge können im Bell-Spiel nichtgewinnen1.

Kommen wir nun zur Telepathie. Gäbe es diese, dannkönnten zwei voneinander entfernte Personen durch Ge-danken miteinander kommunizieren. Der große Unter-schied zum Bell-Spiel liegt darin, dass man im Bell-Spieleben nicht kommunizieren muss, um zu gewinnen. Es ge-nügt, die Ergebnisse zufällig, aber auf koordinierte Weisezu erzielen: Die Boxen von Alice und Bob müssen irgend-wie „wissen“, was die jeweils andere macht, aber die Spielerselbst können dieses „Wissen“ nicht nutzen, um sich Infor-mationen zu übermitteln. Um im Bell-Spiel zu gewinnen,

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60 Der unbegreifliche Zufall

betreiben die Spieler keine Telepathie, selbst wenn man sichvorstellen kann, dass die Boxen telepathisch sind.

Persönlich missfällt mir die Vorstellung, dass Boxen tele-pathiefähig sind, denn mir ist nicht ganz klar, wie das zumVerständnis beitragen könnte – ich habe den Eindruck, dassda einfach ein Begriff (Nichtlokalität) gegen einen ande-ren (Telepathie) ausgetauscht wird. Aber wenn Ihnen dieseTerminologie hilft, warum nicht? Sie müssen sich lediglichdaran erinnern, dass bei dieser Telepathie keine Personen amWerk sind, sondern nur die Boxen oder die Kristalle, die sichim Inneren dieser Boxen befinden. Diese Terminologie istaber trotz alledem trügerisch, denn in der Telepathie gibt eseinen Sender und einen Empfänger. Wir werden später se-hen, dass diese Annahme nicht möglich ist. Darüber hinausist im Bell-Spiel und in den Experimenten die Symmetriezwischen Alice und Bob perfekt: Nichts unterscheidet eineneventuellen Sender von einem Empfänger.

4.3 Koordinieren bedeutet nichtkommunizieren

Die Vorstellung von einer nichtlokalen Einheit lässt einensofort an eine augenblicklich ablaufende Kommunikationdenken. Erinnern Sie sich an Newtons Reaktion auf dieNichtlokalität seiner universellen Gravitationstheorie. Ge-winnen nämlich die Boxen von Alice und Bob imBell-Spiel,dann liegt das daran, dass sie sich koordinieren, nachdemihre Hebel nach links oder nach rechts gedrückt wordensind. Da aber die Boxen durch eine große Entfernung von-einander getrennt sind, müssen sie in der Lage sein, sich

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4 Nichtlokalität und echter Zufall 61

über die betreffende Entfernung hinweg zu koordinieren.Das ist das, was Einstein als „spukhafte Fernwirkung“ be-zeichnet hat – eine Bezeichnung, die deutlich unterstreicht,wie wenig der große Wissenschaftler an dieses Phänomengeglaubt hat. Heute stehen jedoch zahlreiche Experimen-te im Widerspruch zu Einsteins Intuition und haben dieQuantentheorie bestätigt: Die Natur ist sehr wohl fähig,zwei voneinander entfernte Boxen zu koordinieren.

Koordinieren bedeutet nicht kommunizieren. Aber wiekann man sich koordinieren ohne zu kommunizieren? WirMenschen sind dazu nicht in der Lage und haben deswe-gen allergrößte Schwierigkeiten mit der Vorstellung, wie dasvonstatten gehen soll.Wir werden sehen, dass die Boxen zu-fällige Ergebnisse erzeugenmüssen, um sich zu koordinierenohne zu kommunizieren. Um das zu verstehen, nehmen wirerst einmal das Gegenteil an, das heißt, wir setzen voraus,dass die Boxen vorbestimmte Ergebnisse liefern. Wir wer-den sehen, dass dadurch Alice und Bob die Möglichkeit be-kämen, ohne Übertragung miteinander zu kommunizieren.Da jedoch derartige Kommunikationen ohne Übertragungunmöglich sind (vgl. Kasten 5), folgern wir daraus, dass dieBoxen, die einen Gewinn im Bell-Spiel ermöglichen, keinevorbestimmten Ergebnisse erzeugen können.

Um das Problem klarer zu erkennen, wollen wir uns zu-nächst den folgenden einfachen Fall vorstellen: Die Box vonAlice erzeugt immer aD 0 und Bob wählt y D 1.Wenn Bobdas Ergebnis bD 0 erhält, dann weiß er, dass a D b undkann daraus ableiten, dass Alice wahrscheinlich x D 0 ge-wählt hat. Andernfalls, wenn er bD 1 erhält, dann weiß er,dass a ¤ b und kann hieraus folgern, dass Alice wahrschein-lich x D 1 gewählt hat. Nur so erhalten sie einen Punkt im

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62 Der unbegreifliche Zufall

Bell-Spiel. Kasten 7 zeigt, dass diese wichtige Schlussfolge-rung immer wahr ist – unabhängig von der Beziehung, diedas Ergebnis von Alice in Abhängigkeit von ihrer Wahl be-stimmt.

Vom vorhergehenden Absatz muss man sich Folgendesmerken: Wenn die Box von Alice das Ergebnis auf determi-nistische Weise erzielt und wenn Bob das weiß, dann kanner aus dem Ergebnis seiner Box dieWahl von Alice ableiten.Unter dieser Voraussetzung könnte Bob demnach aus derFerne die Gedanken von Alice lesen. In der Tat: Jedes Mal,wenn sie einen Punkt erhalten, hat Bob die Wahl von Ali-ce korrekt erraten. Wenn sie im Bell-Spiel gewinnen, dannwürde diese Art Kommunikation häufig auftreten.

Diese Kommunikation würde praktisch augenblicklichablaufen, denn die Übertragungszeit ist unabhängig von derEntfernung zwischen Alice und Bob. Insbesondere könntedie Kommunikationsgeschwindigkeit größer als die Licht-geschwindigkeit sein, aber die Lichtgeschwindigkeit hat indiesenÜberlegungen nichts zu suchen:Wenn sich Alice undBob voneinander entfernen, dann könnte man jede beliebi-ge Geschwindigkeit überschreiten. Wichtiger noch ist, dasswir eine nichtphysikalische Kommunikation vorliegen hät-ten, denn die Kommunikation würde von keinerlei Über-tragung zwischen den Boxen von Alice und Bob transpor-tiert. Und eine solche Kommunikation ohne Übertragungist unmöglich (vgl. Kasten 5).

Schlussfolgerung: Könnten sich die Boxen von Alice undBob über die Entfernung hinweg koordinieren, ohne dassAlice oder Bob diesen Umstand zur Kommunikation nut-zen können, dann kann das Ergebnis von Alice nicht aufdeterministische Weise erzeugt worden sein. Das Ergebnis

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4 Nichtlokalität und echter Zufall 63

muss notwendigerweise zufällig erzeugt worden sein, undzwar durch einen nichtlokalen Zufall.

Kasten 7 – Determinismus würde eine Kommu-nikation ohne Übertragung implizieren Entspre-chend der Gesetze des Determinismus würde es eineBeziehung geben, die das von jeder der Boxen erzeug-te Ergebnis in Abhängigkeit von der Richtung be-stimmt, in die der Hebel gedrückt wird. Nun würdeaber eine beliebige deterministische Beziehung zwi-schen der Richtung des Hebels von Alice und ihremErgebnis dazu führen, dass Bob über die Entfernunghinweg die jeweilige Wahl von Alice erkennt und so-mit ohne Übertragung kommuniziert. Eine solcheKommunikation ist jedoch unmöglich und deswegenmuss die Annahme desDeterminismus fallen gelassenwerden. Um uns hiervon zu überzeugen, wollen wirein zweites Beispiel untersuchen.

Stellen wir uns Folgendes vor: Wird der Hebel vonAlice nach links gedrückt, dann erzeugt ihre Box dasErgebnis aD 0 und wird er „nach rechts“ gedrückt,dann ist das Ergebnis aD 1 (diese Strategie entsprichtder Strategie #3 von Kap. 3, das heißt a D x).Drückt Bob in diesem Fall seinen Hebel nach links(also y D 0), dann kann er aus dem von seiner Box er-zeugten Ergebnis die Richtung ableiten, in die Aliceihren Hebel gedrückt hat. Ist nämlich sein Ergebnisetwa bD 0, dann weiß Bob, dass Alice ihren Hebelwahrscheinlich nach links gedrückt hat, denn nur so

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erhalten sie einen Punkt imBell-Spiel. Für yD 0mussnämlich a D b gelten. Da Bob bD 0 beobachtet, fol-gert er daraus, dass aD 0, aber dieses Ergebnis ist inunserem Beispiel nur möglich, wenn x D 0. Folglichhat Alice ihren Hebel nach links gedrückt.

Um uns davon zu überzeugen, dass diese Schluss-folgerung unabhängig von der Beziehung richtig ist,die das Ergebnis a in Abhängigkeit von der Wahlvon x bestimmt, reicht es aus, sich daran zu erin-nern, dass Bob zwei der vier Variablen der Gleichunga C b D x � y kennt, nämlich seine Wahl y und seinErgebnis b. Kennt Bob darüber hinaus die Beziehunga D Funktion von x, dann kann er die Wahl x vonAlice berechnen (ist zum Beispiel a D x, dann wirdaCb D x � y zu xCb D x � y und hieraus folgt x D b,falls Bob yD 0 wählt: Das von Bobs Box erzeugte Er-gebnis stimmt mit der Wahl x von Alice überein).

Die Beziehung, die das Ergebnis von Alice in Ab-hängigkeit von der Richtung ihres Hebels bestimmt,könnte sich jeden Moment ändern, wäre aber zujedem Zeitpunkt lange im Voraus festgelegt. Wäredas wirklich der Fall, dann könnte nichts auf derWelt Bob daran hindern, diese Beziehung für jedenAugenblick zu kennen. Nun kann Bob mit hoherWahrscheinlichkeit für jede Beziehung die Richtungerraten, in die Alice ihren Hebel drückt. Es wäre also,als ob Bob über die Entfernung hinweg die Gedan-ken von Alice lesen könnte: Wir hätten es mit einerKommunikation ohne Übertragung zu tun.

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4.4 Ein nichtlokaler Zufall

Wir haben soeben erkannt, dass die Ergebnisse von Aliceund Bob zufällig erzeugt werden, aber diese Zufälle sindnicht unabhängig voneinander: Es ist der gleiche Zufall, dersich bei Alice und bei Bob offenbart. Das ist wirklich fas-zinierend! Der Zufall ist an sich schon ein faszinierendesKonzept, aber hier tritt darüber hinaus der gleiche Zufallan zwei voneinander entfernten Orten auf. Diese Erklärungläuft unserem gesunden Menschenverstand völlig zuwider,aber sie ist unvermeidlich. Sollten SieMühe haben, diese Er-klärung zu verdauen, dann seien Sie unbesorgt! ZahlreichePhysiker haben und hatten ebenfalls ihre Schwierigkeitendamit, darunter auch Albert Einstein, der nie an die Mög-lichkeit geglaubt hat, im Bell-Spiel zu gewinnen.

Wir machen uns also daran, diesen „nichtlokalen Zufall“zu beschreiben (Kap. 6) und die Experimente zu erläutern,die es ermöglichen, im Bell-Spiel zu gewinnen (Kap. 7).Wirwerden auch die Stichhaltigkeit dieser Experimente analy-sieren: Gibt es wirklich keinen Schwachpunkt, der es erlau-ben würde, die Lokalität zu retten (Kap. 10)?

Bevor wir dieses Kapitel abschließen, kommen wir aufunsere „Erklärung“ zurück. Ich habe dieses Wort in Anfüh-rungszeichen gesetzt, da wir an einem Punkt angekommensind, an dem wir uns die Frage stellen müssen, was eine Er-klärung überhaupt ist. Eine Erklärung ist im Wesentlicheneine Geschichte, in der das zu erklärende Phänomen dar-gestellt wird. Dennoch werden manche mit gewissen Rechtausrufen, dass es keine Erklärung ist, von einem „nichtlo-kalen Zufall“ zu sprechen. Die Schlussfolgerung ist jedochunvermeidlich: Es gibt keine Geschichte, mit der man –

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durch Schilderung von (lokal) im Raum und (kontinuier-lich) in der Zeit ablaufenden Vorgängen – deutlich machenkönnte, wie man im Bell-Spiel gewinnt.

Erinnern Sie sich an Newtons Zeitgenossen, die die „Er-klärung“ verdauen mussten, dass man in Richtung Erdmit-telpunkt fällt. Ist das überhaupt eine Erklärung? Ja und nein.Die Erklärung der Schwerkraft hat den unermesslichen Vor-teil, dass sie sich innerhalb unserer Zeit („wir fallen“) undin unserem Raum („in Richtung Erde“) abspielt. Aber dieseErklärung lässt die Frage offen, woher unser Körper „weiß“,wo die Erde ist – und zwar sogar dann, wenn wir die Augengeschlossen halten.

Die Erklärung des „nichtlokalen Zufalls“ ist vielleichtweniger befriedigend als die des freien Falls. Der Dreh- undAngelpunkt ist, dass es keine Erklärung gibt, die sich nur auflokalisierte Entitäten stützt. Im Bell-Spiel gewinnen ist alsogleichbedeutend mit dem Nachweis, dass die Natur nichtlo-kal ist.

Müssen wir demnach auf jegliche Erklärung verzichten?Gewiss nicht: Wir müssen jedoch akzeptieren, dass die er-klärende Geschichte nichtlokale Bestandteile einschließt,wie zum Beispiel einen nichtlokalen Zufall – einen „echtenZufall“, der sich an mehreren weit voneinander entferntenOrten manifestieren kann, ohne sich nach und nach voneinem Ort zum anderen auszubreiten2. Die Nichtlokalitätzwingt uns dazu, unseren konzeptuellen Werkzeugkastenzu erweitern, der uns dazu dient, zu beschreiben, wie dieNatur funktioniert.

Als gedankliche Hilfe stellen Sie sich eine Art nichtloka-lenWürfel vor, einen „Würfel“, der beim Drücken eines derbeiden Hebel geworfen wird – es spielt keine Rolle, welchen

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Hebel man drückt. Dieser „nichtlokale Würfel“ erzeugt einErgebnis a bei Alice, sobald sie ihren Hebel in die Richtungx gedrückt hat, und ein Ergebnis b bei Bob, sobald er sei-nen Hebel in die Richtung y gedrückt hat. Die Werte a undb sind zufällig, aber „mit dem Versprechen“, dass sie sich„anziehen“, sodass sie im Bell-Spiel häufig die Gleichunga C b D x � y erfüllen und damit das Ziel des Bell-Spielserreichen.

Sobald man gelten lässt, dass die Welt nicht determi-nistisch ist – dass es also einen echten Zufall gibt –, mussman ebenfalls anerkennen, dass einerseits dieser echte Zufallnicht notwendigerweise denselben Gesetzen unterliegt, de-nen die klassischen Wahrscheinlichkeiten gehorchen3, unddass andererseits nichts einem echten Zufall a priori ver-bietet, sich an mehreren Orten zu manifestieren, solangedadurch keine Kommunikation ermöglicht wird.

4.5 Ein „echter“ Zufall

Wir haben gerade gesehen, dass es nur eine Möglichkeitgibt, zu vermeiden, dass das Bell-Spiel zu einer Kommu-nikation mit beliebig großen Geschwindigkeiten führt: DieBox von Alice erzeugt ihre Ergebnisse nicht in Abhängig-keit von Beziehungen, die zu jedem Zeitpunkt vorbestimmtsind, sondern ihre Ergebnisse entstehen zufällig, aufgrundeines „echten“ Zufalls. Nur die Annahme eines echten Zu-falls verhindert, dass Bob die Beziehung zwischen der Wahlvon Alice und ihrem Ergebnis kennen kann. Wäre hier keinechter Zufall am Werk, dann würden Bob (und seine Phy-sikerkollegen) diese Beziehung letzten Endes finden.

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Wir müssen also endgültig die Vorstellung aufgeben,dass die Box von Alice ihr Ergebnis lokal erzeugt. Vielmehrerzeugen beide Boxen global ein Ergebnispaar, selbst wennvom Standpunkt eines jeden der beiden Partner aus dasjeweils eigene Ergebnis dem Zufall geschuldet ist.

Das Konzept des echten Zufalls verdient es, dass mansich eine Weile damit aufhält. Typische Beispiele für Zufäl-le sind das Spiel „Kopf oder Zahl“ oder das Werfen einesWürfels. In diesen beiden Fällen ist die Komplexität derbeteiligten Mikrophänomene – das Aneinanderstoßen vonLuftmolekülen auf dem Geldstück, die Unebenheit der Flä-che, auf welcher der Würfel abprallt usw. – so umfassend,dass es in der Praxis unmöglich ist, das Ergebnis vorherzu-sagen. Aber diese Unmöglichkeit ist nicht intrinsisch, sie istnur das Ergebnis einer Verkettung zahlreicher kleiner Ur-sachen, die ineinandergreifen und das Ergebnis erzeugen.Könnte man mit hinreichend großer Achtsamkeit und aus-reichendem Einsatz von Rechnern die Einzelheiten des La-gewechsels des Würfels verfolgen – unter Einbeziehung derBedingungen des Werfens, der Luftmoleküle und der Flä-che, auf welcher der Würfel abprallt und schließlich zumStehen kommt –, dann könnte man die Würfelfläche vor-hersagen, die am Schluss oben zu sehen ist. Es handelt sichalso um keinen echten Zufall.

Ein anderes Beispiel lässt uns diesen Unterschied bessererfassen. Für digitale Simulationen verwenden Ingenieurehäufig sogenannte Pseudozufallszahlen. Es gibt unzähligeProbleme, die man auf diese Weise analysiert. Denken wirzum Beispiel an die Entwicklungsphase eines Flugzeugs.Anstatt zahlreiche Prototypen herzustellen und diese nach-einander zu testen, simulieren Ingenieure diese Prototypen

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auf Großrechnern. Zur Simulation von Flugbedingungen,die in Abhängigkeit vom Wind und allen möglichen ArtenvonZufälligkeiten extremen Änderungen unterworfen sind,benutzen Ingenieure in ihren SimulationsprogrammenPseudozufallszahlen. Diese Zahlen werden von Compu-tern erzeugt, die deterministische Maschinen sind – derZufall spielt dabei keine Rolle. Demnach werden dieseZahlen nicht zufällig erzeugt, sondern so wie die ErgebnissevonWürfelwürfen – daher der Begriff „pseudozufällig“. DieBeziehung zwischen einer Pseudozufallszahl und der nach-folgenden ist vorbestimmt, aber zu kompliziert, um leichtdahinterzukommen. Grundsätzlich könnte man meinen,dass das ausreicht und dass es keinen wirklichen Unter-schied zwischen computererzeugten Pseudozufallszahlenund Zahlen gibt, die durch einen echten Zufall entstandensind. Das stimmt aber nicht. Es gibt Flugzeugprototypen,an denen während einer Simulation mit diesen Pseudozu-fallszahlen nichts auszusetzen ist, die aber in der Realitätsehr schlecht fliegen4. Diese Fälle sind selten, aber es gibtsie – egal, wie einfallsreich das Programm ist, das diesePseudozufallszahlen erzeugt. Bei Zahlen, die durch einenechten Zufall erzeugt werden, gibt es diese Störfälle dage-gen nicht. Es besteht also ein echter Unterschied zwischendem „scheinbaren Zufall“, wie etwa beimWerfen vonWür-feln, und dem echten Zufall, ohne den es nicht möglichist, im Bell-Spiel zu gewinnen, ohne eine Kommunika-tion zu gestatten. Darüber hinaus stellen wir fest, dassdie Existenz des echten Zufalls eine nützliche Ressourcefür unsere Gesellschaft ist. Wir werden in Kap. 8 daraufzurückkommen.

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4.6 Der echte Zufall gestattetNichtlokalität ohneKommunikation

Zusammenfassend gesagt: Im Bell-Spiel ohne Kommuni-kation zu gewinnen impliziert notwendigerweise, dass dieErgebnisse der Boxen von Alice und Bob infolge eines ech-ten Zufalls entstehen. Dieser Zufall ist fundamental undlässt sich nicht auf einen komplexen deterministischen Me-chanismus reduzieren. Die Natur ist also zu einem reinenSchöpfungsakt fähig!

Anstatt wie Einstein zu behaupten, dass Gott nicht wür-felt, fragen wir uns lieber, warum er würfelt5. Die Antwortdarauf lautet, dass die Natur auf diese Weise nichtlokal seinkann, ohne dass hieraus eine Kommunikation ohne Über-tragung folgt. Hat man nämlich erst einmal akzeptiert, dassdie Natur dazu fähig ist, einen echten Zufall zu erzeugen,dann gibt es keinen Grund, das Auftreten dieses Zufalls aufeinen einzigen, klar lokalisierten Ort zu beschränken. Derechte Zufall kann an mehreren Orten auftreten. Ein solchernichtlokaler Zufall gestattet keine Kommunikation; es gibtalso keinen Grund, die Natur einzuschränken.

Wir haben herausgefunden, dass zwei anscheinend weitvoneinander entfernte Konzepte – das Konzept des Zufallsund jenes der Lokalität – in Wirklichkeit eng zusammen-hängen. Ohne echten Zufall braucht es die Lokalität, umeine Kommunikation ohne Übertragung zu vermeiden.Wir müssen verstandesmäßig (oder intuitiv) erfassen, dasses einen echten Zufall gibt und dass er sich auf nichtlokaleWeise manifestieren kann. Wir müssen uns an die Vor-

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stellung eines Zufalls gewöhnen, der an mehreren Orten inErscheinung treten kann – an einen nichtlokalen Zufall, derErgebnisse koordiniert, die an weit voneinander entferntenOrten entstehen. Wir müssen unser intuitives Verständnisder Dinge insofern ausweiten, dass wir begreifen können,dass ein nichtlokaler Zufall keine Kommunikation gestattet:Es ist so, als ob Alice und Bob nur ein Rauschen „hören“,ein Rauschen wie bei dem seltsamen „Telefon“ – ein Rau-schen, das zwar nicht zur Kommunikation taugt, wohl aberdazu, im Bell-Spiel zu gewinnen.

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5Quantenklonen ist

unmöglichDie kommunikationsfreie Nichtlokalität hat andere überra-schende Folgen, zum Beispiel das, was man als „Quanten-klonen“ bezeichnet. In unserem Kontext läuft das auf denVersuch hinaus, eine Kopie von Bobs Box herzustellen. Die-ses relativ einfache Beispiel hängt mit einer zentralen Frageder Quantenkryptographie und der Quantenteleportationzusammen, wie wir in den Kap. 8 und 9 sehen werden. Esist also der Mühe wert, sich eingehender dafür zu interessie-ren.

Das Klonen von Tieren ist üblich geworden. Es bestehtkein Zweifel, dass das Klonen von Menschen in Reichweiteist und weit vor dem Ende dieses Jahrhunderts Wirklich-keit werden wird. Jenseits der berechtigten Emotionen unddes Skandals, den das auslösen wird, wollen wir uns fragen,ob das Klonen auf Quantenebene möglich ist: Ist es mög-lich, ein physikalisches System zu kopieren, das demBereichder Atome und der Photonen entstammt? Können Physikereinen Klon (eine perfekte Kopie) der Box von Alice oder dervon Bob herstellen?

Wir wollen etwas präziser an die Sache herangehen. Eswäre absurd, ein Elektron zu „kopieren“, da alle Elektronenvollkommen identisch sind. Wenn wir ein Buch kopierenwollen, dann geht es nicht darum, einfach nur ein anderes

N. Gisin, Der unbegreifliche Zufall, DOI 10.1007/978-3-662-43958-6_5,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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Buch mit dem gleichen Format und der gleichen Seitenzahlherzustellen. Eine Kopie muss genau die gleichen Informa-tionen enthalten, also den gleichen Text und die gleichenBilder. Der Klon eines Elektrons muss demnach ebenfallsdie gleichen „Informationen“ mitführen wie das Original,also die gleiche durchschnittliche Geschwindigkeit, die glei-che Unbestimmtheit1 in Bezug auf diese Geschwindigkeitund das gleiche gilt auch für seine anderen physikalischenGrößen. Lediglich seine durchschnittliche Position wird an-ders sein, damit man das Original auf der einen Seite undden Klon auf der anderen hat.

In diesem Kapitel fragen wir uns, ob es möglich ist, dieBox von Bob zu klonen. Wir haben bereits gesehen, dassdas Herzstück dieser Boxen aus Kristallen besteht, die einQuantenmerkmal besitzen (die berühmte Verschränkung).Das Klonen von Bobs Box läuft letzten Endes darauf hinaus,Quantenobjekte zu klonen – einschließlich der Eigenschaf-ten, die ihren Quantencharakter ausmachen.

Kasten 8 – Die Heisenberg’sche Unschärferelati-on Werner Heisenberg ist einer der Begründer derQuantenphysik. Er ist insbesondere für seine Un-schärferelation bekannt, die Folgendes besagt: Misstman die Position eines Teilchens genau, dann störtman zwangsläufig dessen Geschwindigkeit. Umge-kehrt gilt: Misst man die Geschwindigkeit eines Teil-chens genau, dann stört man zwangsläufig dessenPosition. Wir können demnach niemals gleichzei-tig die genaue Position und Geschwindigkeit eines

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Teilchens kennen. Die moderne Quantenphysik hatdieses Prinzip dadurch zum Ausdruck gebracht, dassTeilchen niemals gleichzeitig eine genau bestimmtePosition und Geschwindigkeit haben. Dementspre-chend spricht man sehr gerne von Indeterminismus.Wir behalten die Bezeichnung „Heisenberg’sche Un-schärferelationen“ bei, vermeiden aber, physikalischeGrößen als unscharf zu bezeichnen: sie sind unbe-stimmt. Entsprechend bedeutet „unscharf“ in diesemKontext „unbestimmt“.

5.1 Quantenklonen impliziertunmögliche Kommunikation

Die Unmöglichkeit, ein Quantensystem zu klonen, ist we-sentlich für Anwendungen wie die Quantenkryptographieund die Quantenteleportation, auf die wir später eingehen.Um diese Unmöglichkeit zu beweisen, gehen wir indirektvor, das heißt, wir nehmen an, dass man Quantensystemeklonen kann und leiten aus dieser Annahme einen Wider-spruch ab: eine Kommunikation ohne Übertragung. Daaber eine Kommunikation ohne Übertragung nicht mög-lich ist, folgern wir daraus, dass auch das Quantenklonennicht möglich ist.

Stellen wir uns vor, Bob sei es gelungen, seine Box zuklonen. Genauer gesagt, stellen wir uns vor, Bob sei es ge-lungen, den Kristall zu klonen, der sich im Inneren seinerBox befindet – der Rest der Box ist nichts weiter als ein kom-

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plexer Mechanismus, der sich ohne Schwierigkeiten nach-bilden lässt. Er hat also zwei Boxen vor sich – eine zu seinerLinken, die andere zu seiner Rechten. Jede dieser beiden Bo-xen verfügt über einenHebel, den Bob nach links oder nachrechts drücken kann, und eine Sekunde später liefert jedeBox ein Ergebnis. Sind die zwei Boxen richtig geklont, dannsind die beiden erzeugten Ergebnisse mit dem Ergebnis derBox von Alice so korreliert, dass jede Box ihr Bell-Spiel mitAlice gewinnt. Bob kann jedoch beschließen, keine Aus-wahl zu treffen und gleichzeitig beide Wahlmöglichkeitenzu versuchen: Er drückt den Hebel der zu seiner Linkenbefindlichen Box nach links und den Hebel der zu seinerRechten befindlichen Box nach rechts. Wir werden feststel-len, dass Bob jetzt aus seinen zwei Ergebnissen die Wahlableiten kann, die Alice weit weg von ihm getroffen hat.Beginnen wir mit dem Fall, in dem die beiden Ergebnisseidentisch sind: zweimal 0 oder zweimal 1. In diesem Fallhat Alice wahrscheinlich x D 0 gewählt. Hätte nämlich Ali-ce die Wahl x D 1 getroffen, dann müsste sich das Ergeb-nis der zur Rechten von Bob befindlichen Box von AlicesErgebnis unterscheiden [denn .x; y/ D .1; 1/ ) a ¤b], wohingegen das Ergebnis der zur Linken von Bob be-findlichen Box mit dem Ergebnis von Alice identisch seinmüsste [denn .x; y/ D .1; 0/ ) a D b]. Sind dagegendie beiden Ergebnisse von Bob verschieden, dann hat Ali-ce wahrscheinlich x D 1 gewählt. Kasten 9 fasst diese kleineÜberlegung mit Hilfe der elementaren binären Arithmetikzusammen.

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Kasten 9 – Das „No-Cloning-Theorem“ Es seien blund br die Ergebnisse, die von Bobs Boxen erzeugtwurden – die Ergebnisse der Box zu seiner Linkenund der zu seiner Rechten. Im Bell-Spiel zu gewin-nen bedeutet, dass die beiden folgenden Beziehungenhäufig erfüllt sind: a C bl D x � yl und a C br Dx � yr. Durch Addition der beiden Gleichungen erhal-ten wir: aCbl CaCbr D x � yl Cx � yr. Wir bedenkendabei, dass alle diese Symbole Bits (0 oder 1) dar-stellen, und dass die Addition „modulo 2“ erfolgt,sodass das Ergebnis immer ein Bit ist. Wir haben alsoa C a D 0. Wir rufen uns auch ins Gedächtnis, dassBob denHebel der zu seiner Linken befindlichen Boxnach links drückt, weswegen yl D 0 gilt, und dasser den Hebel der zu seiner Rechten befindlichen Boxnach rechts drückt, woraus yr D 1 folgt. Wir erhal-ten schließlich bl + br D x. Bob kann folglich durcheinfache Addition seiner beiden Ergebnisse mit einerhohen Wahrscheinlichkeit das Ergebnis x der Wahlvon Alice erraten.

Könnte also Bob seine Box klonen, dann könnte er mit ho-herWahrscheinlichkeit erraten, welcheWahl Alice getroffenhat – und das trotz der Entfernung, die sie voneinandertrennt. Es gäbe demnach eine Kommunikation ohne Über-tragung, und zwar mit einer beliebigen Geschwindigkeit.Manche werden sagen, dass Bob sich auch irren kann, wenner die Wahl von Alice errät, denn Alice und Bob erreichenkeinen Spielstand von 4, sondern nur einen Spielstand, der

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deutlich über 3 liegt. Bob kann sich tatsächlich mitunter ir-ren. Die Tatsache jedoch, dass er in mehr als 1 von 2 Fällendas Ergebnis richtig errät, reicht aus, um eine Kommuni-kation zu ermöglichen2. Diese Kommunikation wäre etwasverrauscht und müsste viele Male wiederholt werden (undfür jedes dieser Male würde Alice die gleiche Wahl treffen),damit Bob die Wahl von Alice praktisch mit absoluter Si-cherheit errät. In der Tat verhält es sich bei allen digitalenFormen der Kommunikationen ganz genau so: Das Inter-net und die anderen Übertragungsprotokolle zerlegen unse-re Mitteilungen in kleine Stücke, die sie an den Empfängersenden. Da es immer eine Fehlerwahrscheinlichkeit gibt,wird die Mitteilung unter Umständen mehrmals gesendet,bis die Wahrscheinlichkeit, dass weiterhin ein Fehler vor-handen ist, vernachlässigt werden kann.

Schlussfolgerung: Die Möglichkeit, im Bell-Spiel zugewinnen, impliziert, dass es unmöglich ist, Quantensyste-me zu klonen. Physiker sprechen dabei vom „No-Cloning-Theorem“. Das ist ein äußerst wichtiges Ergebnis der Quan-tenphysik. Sein mathematischer Beweis ist elementar, aberwir haben gesehen, dass man diesen Satz auch mühelos ausder Nichtlokalität ohne Kommunikation ableiten kann.Das streicht die fundamentale Rolle dieses Konzeptes her-aus.

5.2 Kann man DNA klonen?

Aber wenn es unmöglich ist, Quantensysteme zu klonen,wie kann es dannmöglich sein, Tiere zu klonen? Ist nicht dieDNA, ein biologisches Makromolekül, ebenfalls ein Quan-

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tensystem? Das ist eine ausgezeichnete Frage! Sie ist im Üb-rigen auch deswegen bemerkenswert, weil der Physiknobel-preisträger Eugene Wigner, der dieses Problem aufgeworfenhat, genau damit als erster die Frage nach dem Quanten-klonen gestellt hat3. Er hat aus der Antwort auf diese Fra-ge geschlussfolgert, dass klonen in der Biologie unmöglichist. Aber er lag mit seinem Schluss falsch. DNA ist zwarein Quantensystem (zumindest mit großerWahrscheinlich-keit – das ist zwar experimentell noch nicht bewiesen wor-den, wird jedoch von Physikern nicht angezweifelt), aberdie genetische Information ist in der DNA lediglich un-ter Verwendung eines ganz kleinen Teils der Möglichkei-ten codiert, die von der Quantenphysik geboten werden –und diese kleine Informationsmenge kann geklont werden4.Man kann ganz allgemein die Frage stellen, welche Rolle dieQuantenphysik in der Biologie spielt – ein sehr aktuellesForschungsthema.

5.3 Zwischenspiel:approximatives Klonen

Gestatten Sie mir, dieses Kapitel mit einem kleinen Zwi-schenspiel abzuschließen, das für den nachfolgenden Teildes Buches zwar nicht wesentlich ist, aber die wissenschafts-orientierte Leserschaft interessieren wird.

Wir bemerken – aber dieses Mal ohne Beweisführung –,dass die Quantentheorie ein approximatives Klonen ge-stattet, vergleichbar mit einer schlechten Kopie. Hierbeizeichnet sich das bestmögliche Klonen genau dadurchaus, dass es gerade hinreichend schlecht ist, um jegliche

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Kommunikation ohne Übertragung zu verbieten5. Das„No-Cloning-Theorem“ hängt eng mit einem großen Teilder Quantenphysik zusammen. Insbesondere spielt es, wieschon erwähnt, eine wesentliche Rolle bei Anwendungenwie der Quantenkryptographie (Kap. 8) und der Quanten-teleportation (Kap. 9). Es ist auch unbedingt notwendig,damit die berühmten Heisenberg’schen Unschärferela-tionen einen Sinn ergeben (vgl. Kasten 8). Könnte mannämlich ein Quantensystem perfekt klonen, dann könnteman danach zum Beispiel die Position am Original unddie Geschwindigkeit am Klon messen. Man würde somitgleichzeitig die Position und die Geschwindigkeit einesTeilchens erhalten, was gemäß dem Unbestimmtheitsprin-zip unmöglich ist. Eine andere wichtige Folge des „No-Cloning-Theorems“ besteht darin, dass die für Laser grund-legende stimulierte Emission ohne spontane Emissionennicht möglich ist. Andernfalls könnte man nämlich diestimulierte Emission dazu verwenden, den Zustand ei-nes Photons (seine Polarisation zum Beispiel) perfekt zuklonen. Das Verhältnis zwischen stimulierter und sponta-ner Emission liegt wieder sehr genau an der Grenze derForm des optimalen Klonens, die mit der Nichtlokalitätohne Kommunikation vereinbar ist6. Alles passt wunderbarzusammen: Die Quantentheorie weist eine bemerkens-werte Kohärenz und eine große Ästhetik auf. Einsteinwar der Erste, der die Beziehung zwischen stimulierterund spontaner Emission beschrieben hat. Er wäre erstauntgewesen, wenn er erfahren hätte, dass sich seine Formeldirekt aus dem Konzept der Nichtlokalität ergibt – auseinem Konzept, das der geniale Wissenschaftler überausverabscheute.

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5 Quantenklonen ist unmöglich 81

Abschließend noch eine letzte Bemerkung zum Zusam-menhang zwischen Klonen und Nichtlokalität. Wir habengesehen, dass die Unmöglichkeit einer Kommunikation oh-ne Übertragung der Qualität des Klonens von Bobs Boxin zwei Boxen eine Schranke auferlegt. Wie verhält es sich,wennman das Bell-Spiel (eine Ungleichung) durch ein Spielersetzt, in demBobmehrMöglichkeiten hat: Stellen wir unsetwa vor, sein Hebel ließe sich in n verschiedene Richtun-gen drücken. In diesem Fall erlegt die Unmöglichkeit einerKommunikation ohne Übertragung dem Klonen von BobsBox in n Boxen-Klone Schranken auf (und man stößt wie-der an eine Grenze für das optimale Quantenklonen).

Daraus folgt, dass Bob – und Alice genauso – zumNachweis der Nichtlokalität mehr Auswahlmöglichkeitenals Boxen haben muss; er muss also eine echte Wahl treffenkönnen und darf sich nicht damit begnügen, alle Wahl-möglichkeiten parallel auszuführen7. Wir haben hier einenHinweis auf die Bedeutung des Konzepts des freienWillens,oder – prosaischer ausgedrückt – auf die Bedeutung derMöglichkeit, dass Alice und Bob unabhängig voneinanderwählen können: Ohne unabhängige Wahlmöglichkeitenkeine Nichtlokalität.

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6Quantenverschränkung

Laut Quantenphysik ist die Verschränkung die Erklärungfür einen Gewinn im Bell-Spiel, das heißt für einen Spiel-stand, der größer ist als 3. Erwin Schrödinger, einer derVäter der Quantenphysik, hat als erster darauf hingewie-sen, dass die Verschränkung nicht einfach nur eines vonmehreren Merkmalen der Quantenphysik ist, sondern ihrHauptmerkmal1: „Die Verschränkung ist nicht ein, sonderndas wesentliche Charakteristikum der Quantenphysik, dasuns dazu zwingt, uns von der klassischen Denkweise voll-ständig frei zu machen.“

Im vorliegenden Kapitel stellen wir diese bemerkens-werte Eigenschaft der Welt der Atome und der Photonenvor2.

6.1 Quantenholismus

ImWesentlichen besagt diese seltsame Quantenphysik, dasses möglich ist und sogar häufig vorkommt, dass zwei von-einander entfernte Objekte inWirklichkeit ein einziges Ob-jekt bilden! Das ist das Phänomen der Verschränkung. „Be-rührt“ man also eines der beiden Objekte, erzittern alle bei-de. Erinnern wir uns zuallererst an Folgendes: „Berührt“

N. Gisin, Der unbegreifliche Zufall, DOI 10.1007/978-3-662-43958-6_6,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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man ein Quantenobjekt, das heißt, führt man an ihm eineMessung durch, dann erhält man als Reaktion eine zufälli-ge Antwort – ein Ergebnis unter einer gewissen Anzahl vonmöglichen Ergebnissen, und zwar mit einer wohldefinier-ten Wahrscheinlichkeit, die von der Quantentheorie sehrgenau vorhergesagt werden kann. Dieser Zufall impliziert,dass man die Tatsache, dass das mit dem ersten Objekt ver-schränkte Objekt ebenfalls reagiert, nicht zum Versendeneiner Information verwenden kann. Der Empfänger wür-de nämlich nur ein Rauschen vernehmen, ein zufällig ent-standenes Zittern. Wir begegnen hier demnach erneut derBedeutung des echten Zufalls. Aber – so werden Sie ein-wenden – wenn man das erste Objekt nicht berührt, dannerzittert das zweite nicht. Ich kann also eine Informationübermitteln, indem ich beschließe, das erste Objekt zu be-rühren oder nicht. Nur: Woher weiß man, ob das zweiteObjekt gezitter hat? Hierzu muss man eine Messung durch-führen, die das Objekt erzittern lässt . . . Unter dem Strichlässt sich die Vorstellung, dass zwei verschränkte Objekte eineinheitliches Ganzes bilden können, nicht mit einfachenAr-gumenten ausschließen – so kontraintuitiv diese Idee auchsein mag.

Theoretisch kann jedes Objekt verschränkt werden, aberin der Praxis haben Physiker vor allem die Verschränkungvon Atomen, Photonen und anderen Elementarteilchennachgewiesen. Die größten Objekte, die verschränkt wer-den konnten, sind Kristalle, wie etwa diejenigen, die sichin den Boxen des Bell-Spiels befinden. Die Verschrän-kung funktioniert immer ähnlich, unabhängig von denverschränkten Objekten. Wir erläutern diese „magische“

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6 Quantenverschränkung 85

Eigenschaft der Quantenwelt mit Hilfe von Elektronen,den kleinen Teilchen, die elektrischen Strom transportie-ren.

6.2 Quantenunbestimmtheit

Nehmen wir uns ein Beispiel vor. Ein Elektron kann sich ineinemZustand befinden, in dem seine Position unbestimmtist: Es hat ganz einfach keine exakte Position – ein bisschenso wie eine Wolke. Eine Wolke hat selbstverständlich einedurchschnittliche Position (ihren Massenmittelpunkt, wiePhysiker sagen würden), und auch ein Elektron hat einedurchschnittliche Position. Aber – und das ist der gewaltigeUnterschied zu einer Wolke – ein Elektron besteht wederaus einer Vielzahl von Wassertropfen noch aus Tropfen ir-gendeiner Art: Es ist unteilbar. Und obwohl es unteilbar ist,hat es dennoch keine exakte Position, sondern eine „Wolke“von potenziellen Positionen. Führt man trotzdem eine Posi-tionsmessung durch, dann antwortet das Elektron: „Ich binhier“. Aber diese Antwort ist bei der Messung zufällig er-zeugt worden. Das Elektron hatte keine Position, aber beimMessprozess haben wir es dazu gezwungen, auf eine Fragezu antworten, die keine vorher bestimmte Antwort hatte:Der Quantenzufall ist ein echter Zufall.

Formal beschreibt man den Indeterminismus mit Hil-fe des Prinzips der „Superposition“. Wenn ein Elektron„hier“ oder „einen Meter rechts von hier“ sein kann, dannkann sich dieses Elektron ebenso gut auch im Zustand derSuperposition von „hier“ und „ein Meter rechts von hier“befinden, sich also „hier und einen Meter rechts von hier“

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befinden. In diesem Beispiel wird das Elektron gleichzei-tig an zwei Orte „verlagert“. Es merkt, was „hier“ passiert,zum Beispiel an einem Young’schen Spalt, und das, was„einen Meter rechts von hier“ passiert, an einem anderenYoung’schen Spalt (die Bezeichnung bezieht sich auf das be-rühmte Doppelspaltexperiment vonThomas Young (1773–1829)). Es befindet sich also in der Tat „hier und einen Me-ter rechts von hier“. Misst man dagegen die Position desElektrons, dann erhält man zufällig entweder das Ergebnis„hier“ oder das Ergebnis „einen Meter von hier“.

6.3 Quantenverschränkung konkret

Wir haben gerade gesehen, dass ein Elektron durchaus kei-ne Position haben kann. Genauso können auch bei zweiElektronen alle beide keine Positionen haben. Dennoch istaufgrund der Verschränkung die Entfernung zwischen denbeiden Elektronen ganz genau bestimmt. Man erhält so-mit bei jeder Messung der Positionen der beiden Elektro-nen jeweils zufällige Ergebnisse, die aber immer genau diegleiche Differenz aufweisen! Was nun die durchschnittli-chen Positionen der Elektronen angeht, so liefern die beidenElektronen immer das gleiche Ergebnis, obgleich dieses Er-gebnis auf einen echten Zufall zurückzuführen ist: Wirdeines der Elektronen ein bisschen rechts von seiner durch-schnittlichen Position gemessen, dann wird auch das andereein bisschen rechts davon gemessen (wobei „ein bisschen“in beiden Fällen die gleiche Entfernung von seinem Mas-senmittelpunkt bedeutet). Und das gilt sogar dann, wenndie beiden Elektronen sehr weit voneinander entfernt sind.

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Die Position eines Elektrons in Bezug auf das andere istalso wohlbestimmt, selbst wenn es die Positionen der beidenElektronen nicht sind. Im Allgemeinen können sich ver-schränkte Quantensysteme in einem wohlbestimmten Zu-stand befinden, obgleich sich jedes einzelne System in einemunbestimmten Zustand befindet. Führt man Messungen anzwei verschränkten Systemen durch, dann werden die Er-gebnisse zwar durch den Zufall bestimmt, aber durch den-selben Zufall! Der Quantenzufall ist nichtlokal.

Die Verschränkung kann also durch die Fähigkeit vonQuantensystemen definert werden, das gleiche Ergebnis zuliefern, wenn man bei jedem einzelnen System die gleichephysikalische Größe misst. Die Verschränkung wird mitHilfe des Superpositionsprinzips beschrieben, das gleich-zeitig auf mehrere Systeme angewendet wird. Zum Beispielkönnen sich von zwei Elektronen „das eine hier und das an-dere dort“ befinden oder „das erste einen Meter rechts vonhier und das zweite einen Meter rechts von dort“. Entspre-chend dem Superpositionsprinzip können sich diese beidenElektronen ebenfalls im Zustand „eines hier und das anderedort“ superponiert mit dem Zustand „das erste einen Meterrechts von hier und das zweite einenMeter rechts von dort“befinden. Dieser superponierte Zustand ist ein „verschränk-ter Zustand“. Aber die Verschränkung geht weit über dasSuperpositionsprinzip hinaus: Sie ist die Grundlage für dienichtlokalen Korrelationen in der Physik. Zum Beispiel hatim obengenannten verschränkten Zustand kein Elektroneine vorher bestimmte Position, aber wenn eine Messungder Position des ersten Elektrons das Ergebnis „hier“ lie-fert, dann ist sofort die Position des anderen Elektrons mit

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„dort“ bestimmt, und das auch ohne Positionsmessung deszweiten Elektrons.

6.4 Wie ist das möglich?!

Wie können zwei Elektronen eine in Bezug aufeinanderwohlbestimmte Position haben, ohne dass jedes einzelneeine bestimmte Position hat? In der Welt der üblichen Ob-jekte ist das unmöglich. Damit erhebt sich natürlich derVerdacht, dass die Quantenphysik keine vollständige Be-schreibung der Position der Elektronen liefert und dasseine vollständigere Theorie die Elektronen immer mit ei-ner wohlbestimmten Position beschreiben würde, die aberverborgen ist. Intuitiv würde man die Existenz „lokaler ver-borgener Variablen“ vermuten – lokal, weil jedes Elektronseine Position unabhängig von den anderen Elektronen hat.

Jedoch wirft diese Hypothese der verborgenen Positio-nen auch Probleme auf. Die Position eines Elektrons istnämlich nicht die einzige messbare Variable. Man kannauch seine Geschwindigkeit messen, die ebenfalls unbe-stimmt ist: Ein Elektron hat zwar eine durchschnittlicheGeschwindigkeit, aber die bei einerMessung angezeigte Ge-schwindigkeit ist, wie auch die Position des Elektrons, einezufällige Größe unter der Vielzahl von potenziellen Wertenin einer ganzenWolke vonWerten. Und die Verschränkungerlaubt es den beiden Elektronen erneut, jeweils keine be-stimmte Geschwindigkeit aufzuweisen, obwohl beide genaudie gleiche Geschwindigkeit haben – und dieser Sachverhaltverändert sich selbst dann nicht, wenn die Elektronen sehrweit voneinander entfernt sind.

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Die Verschränkung geht sogar noch einen Schritt weiter:Es kann vorkommen, dass die beiden Elektronen weder einePosition noch eine Geschwindigkeit haben, aber so mitein-ander verschränkt sind, dass die Differenzen zwischen ihrenPositionen und zwischen ihren Geschwindigkeiten voll-kommen bestimmt sind. Falls es verborgene Positionengibt, dann muss es also auch verborgene Geschwindigkei-ten geben. Aber das widerspricht dem Heisenberg’schenUnschärfeprinzip, dem der Formalismus der Quanten-mechanik zugrunde liegt (vgl. Kasten 8, Kap. 5). WernerHeisenberg, sein Mentor Niels Bohr und seine Freunde ha-ben sich gegen die Hypothese der verborgenen Positionenund Geschwindigkeiten aufgelehnt, die als „lokale verbor-gene Variablen“ bezeichnet werden. Auf der anderen Seitehaben Erwin Schrödinger, Louis de Broglie und AlbertEinstein die Hypothese der verborgenen Variablen vertei-digt, weil sie sehr viel natürlicher sei als die Hypothese derVerschränkung, die einen echten Zufall impliziert, der anmehreren Orten gleichzeitig auftreten kann.

In der Zeit zwischen 1935 und 1964 hatte noch niemanddas Argument von John Bell gefunden, das wir in Kap. 3eingeführt haben. Kein physikalisches Experiment hatte esbis dahin ermöglicht, dieDebatte über die lokalen verborge-nen Variablen einem wirklichen Test zu unterziehen: Kannman das Bell-Spiel in mehr als 3 von 4 Fällen gewinnen – jaoder nein? Gäbe es lokale verborgene Variablen, dann könn-ten die Quantensysteme das Bell-Spiel nicht gewinnen: Dielokalen verborgenen Variablen würden (wie die Gene vonZwillingen) die Rolle von Programmen spielen, die beiAlice und bei Bob lokal die Ergebnisse bestimmen, die vonden beiden Boxen erzeugt werden. Nun haben wir aber

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gesehen, dass wenn die Ergebnisse lokal bestimmt werden,Alice und Bob das Bell-Spiel nicht inmehr als 3 von 4 Fällengewinnen können.

Da es noch keinen Bell-Test gab, eskalierte die Frageschnell zu einer emotionalen Debatte. Schrödinger hat ge-schrieben, dass er seinen Beitrag bedauern würde, wennsich diese Verschränkungsgeschichte als wahr herausstellte!Was Bohr betrifft, so genügt es, seine Antwort auf den 1935erschienenen Artikel von Einstein, Podolsky und Rosen zulesen (zum sogenannten EPR-Paradoxon3), um sich davonzu überzeugen, dass er aus dieser Schlacht eine persönlicheAngelegenheit gemacht hat.

Einstein als der Wissenschaftler, der Jahrhunderte nachNewton die Gravitationstheorie lokal gemacht hat, ist derGigant der Giganten: Vor der allgemeinen Relativitätstheo-rie (1915) lieferte die Physik eine nichtlokale Beschreibungder Gravitation: Wenn man auf dem Mond einen Kiesel-stein verschiebt, dann wird dadurch unser Gewicht4 auf derErde unmittelbar beeinflusst; man könnte somit im Prin-zip augenblicklich mit dem gesamten Universum kommu-nizieren. Mit Einsteins Theorie wurde die Schwerkraft zueinem Phänomen, das sich – wie alle anderen 1917 bekann-ten Phänomene – nach und nach mit endlicher Geschwin-digkeit ausbreitet. Gemäß Einsteins Relativitätstheorie giltdemnach Folgendes: Verschiebt man auf dem Mond einenKieselstein, dann werden die Erde und das gesamte Uni-versum darüber durch eine „Gravitationswelle“ informiert,die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitet. Es dauert alsoungefähr eine Sekunde (der Mond ist ca. 380.000 Kilome-ter entfernt), bis sich diese Gravitationswelle auf das Ge-wicht von uns Erdbewohnern auswirkt. Einstein, derMann,

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der die Physik lokal gemacht hat, sah sich ungefähr zehnJahre nach seiner heroischen Entdeckung erneut mit derNichtlokalität konfrontiert. Auch wenn die Quantennicht-lokalität ganz anders ist als die Newton’sche Nichtlokalitätder Gravitation, konnte Einstein gegenüber dieser Bedro-hung seines Hauptwerks nicht gleichgültig bleiben. SeineReaktion ist deswegen sehr verständlich und außerdem auchlogisch: Warum sollte man den Heisenberg’schen Unschär-ferelationen mehr vertrauen als dem Determinismus undder Lokalität?

6.5 Wie gewinnt man mit derVerschränkung das Bell-Spiel?

Das Wort „Quanten“, das die neue Physik der 1920er Jah-re kennzeichnet, ist darauf zurückzuführen, dass die mög-lichen Energieportionen eines Atoms gequantelt sind, dasheißt, die Energie kann keine beliebigen Werte annehmen,sondern lediglich eine gewisse Anzahl von möglichen Wer-ten. Es gibt außer der Energie noch viele andere physika-lische Größen, die nur eine endliche Anzahl von Wertenannehmen können, und somit gequantelt sind. Ein einfa-cher Fall, der häufig eintritt, ist, wenn es nur zwei möglicheWerte gibt: Man spricht dann von einem Quantenbit oder,wie Physiker sagen würden, von einem „Qubit“.

Die verschiedenen Messungen, die an einem Qubitdurchgeführt werden können, lassen sich als „Richtung“darstellen. Ist ein Photon polarisiert, steht diese Richtungin einem direkten Zusammenhang mit der Ausrichtung desPolarisators5. Man kann diese Messrichtungen als Winkel

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auf einem Kreis darstellen, vgl. Abb. 6.1 (links). Jedes Malwenn man einQubit entlang einer dieser Richtungen misst,stößt man entweder auf das Ergebnis 0, das einer „Paralle-len“ zu dieser Richtung entspricht, oder auf das Ergebnis 1,das einer „Antiparallelen“ zu dieser Richtung entspricht(die in die entgegengesetzte Richtung zeigt). Die Umkeh-rung der Messrichtung läuft einfach auf eine Umkehrungdes Ergebnisses hinaus: Das Ergebnis 0 in einer Richtungist identisch mit dem Ergebnis 1 in der entgegengesetz-ten Richtung. Das bedeutet, dass man für jedes Qubit dieWahl der Messrichtung hat. Da diese Messung das Qubitstört, kann man dasselbe Qubit anschließend nicht erneutin einer anderen Richtung messen. Dafür kann man aberzahlreiche Qubits erzeugen, die alle auf die gleiche Art undWeise präpariert sind (die sich also – so würden Physikersagen – alle im gleichen Zustand befinden). Man kannalso für die verschiedenen Qubits unterschiedliche Mess-richtungen wählen und auf diese Weise statistische Werteakkumulieren.

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Qubit das Ergebnis 0liefert, hängt vom Zustand ab, in dem sich das Qubit befin-det. Aber in welchem Zustand es sich auch immer befindet:Die Wahrscheinlichkeiten dafür, dass das Qubit das Ergeb-nis 0 in zwei benachbarten Richtungen liefert, sind ebenfallsbenachbart – es besteht eine Stetigkeit der Wahrscheinlich-keit eines Ergebnisses in Abhängigkeit der Messrichtung.

Sind zwei Qubits verschränkt6 und misst man alle bei-de in der gleichen Richtung, dann kommt man immerzum gleichen Ergebnis, das heißt, entweder zweimal 0 oderzweimal 1. Warum findet man immer das gleiche Ergebnis?Das ist die Magie der Verschränkung. Wie im Abschnitt

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6 Quantenverschränkung 93

Abb. 6.1 Ein Quantenbit (Qubit) kann in verschiedenen Richtun-gen gemessen werden. Falls zwei Qubits verschränkt sind und mansie in zwei benachbarten Richtungen misst, dann sind die Ergeb-nisse oft identisch und sind entsprechend stark korreliert. ZumBeispiel führen auf dem linken Bild die Messrichtungen x D 1 undy D 1 zu stark korrelierten Ergebnissen, genauso auch für x D 2und y D 1 usw. Die Wahl x D 1 und y D n führt jedoch zu unter-schiedlichen Ergebnissen. Für das Bell-Spiel verwenden die Boxenvon Alice und Bob die auf dem rechten Bild angegebenen Mess-richtungen

„Quantenverschränkung“ (Abschn. 6.3) diskutiert, verfügtjedes Qubit über eine Wolke von potenziellen Ergebnissen,aber die Differenz zwischen den Ergebnissen der beiden ver-schränkten Qubits ist gleich Null. Wenn sich also Alice undBob ein Paar verschränkte Qubits teilen und wenn Aliceihr Qubit in einer Richtung Amisst und Bob sein Qubit ineiner nahe bei A liegenden Richtung B misst, dann liegt dieWahrscheinlichkeit, dass beide Ergebnisse identisch sind, inder Nähe von 1. Nehmen wir etwa an, dass – wie in Abb. 6.1(links) – die Richtung von Bob ein wenig rechts von dervon Alice liegt. Stellen wir uns jetzt vor, dass Alice eine

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zweite Richtung QA verwendet, auch diese in der Nähe derRichtung von Bob, aber dieses Mal ein wenig mehr rechtsvon Bobs Richtung. Diese zwei Richtungen liegen wiedernahe beieinander und die Wahrscheinlichkeit, zweimal dasgleiche Ergebnis zu erzielen, liegt wieder in der Nähe von 1.

Wir können das nach und nach weiter fortsetzen, bissich die letzte Richtung von Bob gegenüber der ersten Rich-tung von Alice befindet. Aber dann sind für entgegengesetz-te Richtungen auch die Ergebnisse zwangsläufig entgegen-gesetzt! In diesem Sachverhalt finden wir die Quintessenzdes Bell-Spiels wieder: Die Ergebnisse sind fast immer iden-tisch – mit Ausnahme eines Falles, in dem sie verschiedensind. Beim Bell-Spiel entspricht dieser Spezialfall, in demdie Ergebnisse entgegengesetzt sein müssen, der Situation,in der sowohl Alice als auch Bob ihren Hebel nach rechtsdrücken. Im Falle zweier verschränkter Qubits entsprichtdieser Spezialfall der Ausgangslage, in der Alice ihre ersteMessrichtung und Bob seine letzte Messrichtung verwen-det. Entsprechend der Anzahl der betrachteten Messrich-tungen erhält man verschiedene Bell’sche Ungleichungen.Beim Bell-Spiel verwenden Alice und Bob jeweils nur zweiRichtungen, wie auf Abb. 6.1 (rechts) dargestellt. Mit dieserStrategie erzielen sie einen Spielstand von 3,41.

6.6 Quantennichtlokalität

Ziehen wir nun eine Zwischenbilanz. Die Quantentheo-rie sagt vorher – und viele Experimente haben das bestä-tigt –, dass die Natur fähig ist, zwischen zwei voneinan-

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der entfernten Ereignissen Korrelationen zu erzeugen, diesich weder durch eine gegenseitige Beeinflussung der Ereig-nisse noch durch eine gemeinsame lokale Ursache erklärenlassen. Zuallererst müssen wir den Sachverhalt ein wenigpräziser formulieren. Ausgeschlossen ist auf jeden Fall einEinfluss, der sich nach und nach mit einer Geschwindigkeitausbreitet, die zwar kleiner als die Lichtgeschwindigkeit ist,aber unterhalb dieser Schranke beliebig großeWerte anneh-men kann. (In den Kap. 10 und 11 werden wir sehen, dassman dieses Ergebnis auf beliebige endliche Geschwindig-keiten ausdehnen kann, sogar auf Geschwindigkeiten, diegrößer sind als die des Lichtes, solange sie nicht unendlichgroß sind). Ähnlicherweise sind gemeinsame Ursachen aus-geschlossen, deren Wirkungen sich allmählich ausbreiten.In Bezug auf diese beiden Erklärungsansätze sagt man, dasssie „auf lokalen Variablen beruhen“, denn alles läuft lokal abund entwickelt sich allmählich. Hierauf ist die Standardbe-zeichnung „lokale Erklärung“ (oder „Erklärung durch lokaleVariablen“) zurückzuführen7.

Toll ist, dass nach Ausschließen von Erklärungen, diesich auf eine gegenseitige Beeinflussung oder auf eine sichnach und nach ausbreitende Ursache stützen, keine an-dere lokale Erklärung übrig bleibt. Das bedeutet, dass eskeinerlei Erklärung gibt, die uns in einer Geschichte, diesich in Raum und Zeit abspielt, aufzeigen könnte, wiediese denkwürdigen Korrelationen erzeugt werden. Brutalausgedrückt: Diese nichtlokalen Korrelationen scheinengewissermaßen außerhalb der Raumzeit zu entstehen!

Aber gehen wir nicht zu schnell voran? Und was bedeutet„nichtlokale Korrelationen“? Beginnen wir mit dem einfa-cheren, nämlich mit der zweiten Frage. Da diese Korrela-

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tionen keine lokalen Erklärungen haben, sagt man, dass sienichtlokal sind. Nichtlokal bedeutet demnach ganz einfach„nicht lokal“ oder – pedantischer ausgedrückt – nicht durchlokale Variablen beschreibbar. Die Bezeichnung „nichtlo-kal“ ist demnach negativ: Sie sagt uns nicht, wie diese Kor-relationen sind, sondern wie sie nicht sind. So als ob manuns sagen würde, dass ein bestimmter Gegenstand nicht rotist: Wir erhalten keine Auskunft darüber, welche Farbe die-ser Gegenstand hat, sondern erfahren nur, dass er nicht rotist.

Ein sehr wichtiger Aspekt davon, dass „nichtlokal“ einnegatives Eigenschaftswort ist, besteht darin, dass es ganzund gar nicht bedeutet, dass man nichtlokale Korrelatio-nen zur Kommunikation nutzen kann, weder für eine au-genblicklich ablaufende Kommunikation, noch mit Über-lichtgeschwindigkeit, noch mit Unterlichtgeschwindigkeit:Nichtlokale Korrelationen gestatten überhaupt keine Kom-munikation. Nichts von dem, was wir in den Experimen-ten zu nichtlokalen Korrelationen überprüfen können, läuftmit Überlichtgeschwindigkeit ab; es findet keinerlei Über-tragung statt und damit auch keine Kommunikation. Diebeobachteten Ergebnisse lassen sich jedoch nicht durch lo-kale Modelle erklären (sie können nicht in eine plausibleRaum-Zeit-Geschichte eingebettet werden).

Die Abwesenheit von Kommunikation bedeutet, dassdie Quantenphysik nicht in direktem Konflikt zur Re-lativitätstheorie steht. Manche sprechen dabei von einerfriedlichen Koexistenz8 – eine überraschende Terminologiefür zwei Grundpfeiler der heutigen Physik. Aber trotzdemruhen diese beiden Pfeiler auf Fundamenten, die in einemtotalen Gegensatz zueinander stehen. Die Quantenphy-

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sik ist intrinsisch zufallsbedingt, während die Relativitätzutiefst deterministisch ist; die Quantenphysik sagt dieExistenz von Korrelationen vorher, die sich nicht mit Hilfevon lokalen Variablen beschreiben lassen, während in derRelativität grundsätzlich alles lokal ist.

6.7 Ursprung derQuantenkorrelationen

Zum Schluss dieses Kapitels fragen wir uns, wie der mathe-matische Formalismus der Quantenphysik die nichtlokalenKorrelationen beschreibt. Denn schließlich funktioniert derFormalismus ja sehr gut. Kann er uns nicht vielleicht be-schreiben, wie die nichtlokalen Korrelationen entstehen?

Gemäß diesem Formalismus rühren die seltsamen Kor-relationen von der Verschränkung her, die als eine ArtWellein einem Raum beschrieben wird, der sehr viel größer alsunser dreidimensionaler Raum ist. Dieser im Physikerjar-gon als „Konfigurationsraum“ bezeichnete Raum, in demsich die besagte „Welle“ ausbreitet, hat eine Dimension, dievon der Anzahl der verschränkten Teilchen abhängt: DieDimension ist das Dreifache der Anzahl der verschränktenTeilchen. In diesem Konfigurationsraum repräsentiert jederPunkt die Positionen sämtlicher Teilchen, auch wenn siesehr weit voneinander entfernt sind. Somit kann ein lokalesEreignis im Konfigurationsraum auch entfernte Teilcheneinschließen. Aber wir armen Menschenkinder sehen denKonfigurationsraum nicht, sondern nur die Schatten vondem, was sich dort abspielt: Jedes Teilchen wirft in unse-

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98 Der unbegreifliche Zufall

Posi

tiondes

1.T

eilc

hen

s

Position des 2. Teilchens

nichtlokaleSchatten

Unser drei-

dimensionaler

Raum

lokales Ereignis im

sechsdimensionalen

Konfigurationsraum

Abb. 6.2 Die Quantentheorie verwendet einen sehr großenRaum, um die Teilchen zu beschreiben. Für zwei Teilchen, die sichnur auf einer Geraden ausbreiten können, hat dieser Raum die Di-mension zwei, wie ein Blatt Papier. Jeder Punkt dieser Abbildungstellt somit die Positionen der beiden Teilchen dar. Die Diagonalebildet unseren gewohnten Raum ab. Ein Ereignis im großen Raumwirft also zwei Schatten in unserem Raum. Diese Schatten könnenvoneinander entfernt sein

rem dreidimensionalen Raum einen Schatten, welcher derPosition des Teilchens in unserem Raum entspricht. DieSchatten eines Punktes können also sehr weit voneinanderentfernt sein, selbst wenn es sich um die Schatten ein unddesselben Punktes im Konfigurationsraum handelt (vgl.Abb. 6.2). Damit kommen wir zu einer reichlich seltsamen„Erklärung“, soweit man das überhaupt eine Erklärung nen-nen kann: Die „Realität“ spielt sich gewissermaßen in einemanderen Raum ab als in dem unsrigen, und wir sehen davonnur Schatten – so wie in dem bekannten Höhlengleichnis,das Platon vor mehr als zweitausend Jahren formulierte, umzu schildern, wie schwierig es ist, die „wahre Realität“ zuerkennen.

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Diese „Erklärung“ für den Ursprung der nichtlokalenQuantenkorrelationen scheint eher mathematisch als physi-kalisch zu sein. Es fällt nämlich schwer, zu glauben, dass diewahre Realität in einem Raum zu finden ist, dessen Dimen-sion von der Anzahl der Teilchen abhängt – vor allem, wennman weiß, dass sich diese Anzahl im Lauf der Zeit ändert.Kurz gesagt: Der mathematische Formalismus der Quan-tentheorie liefert keinerlei Erklärungen, er ermöglicht nurBerechnungen. Manche Physiker schließen daraus, dass esnichts zu erklären gibt: „Man muss nur rechnen“, behaup-ten sie.

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7Ein Experiment

Ich möchte Ihnen in diesem Kapitel ein Bell-Experimentvorstellen, das wir 1997 in der Nähe von Genf zwischenden Ortschaften Bernex und Bellevue durchgeführt haben,die mehr als 10 Kilometer Luftlinie voneinander entferntliegen. Dabei haben wir das Glasfasernetz unseres nationa-len Telekommunikationsanbieters Swisscom benutzt. Ab-bildung 7.1 illustriert dieses Bell-Experiment – das erste, dasaußerhalb eines Labors durchgeführt worden ist.

7.1 Erzeugung von Photonenpaaren

Beginnen wir mit dem Kernstück des Experiments, der Er-zeugung zweier verschränkter Photonen.

In einem Kristall sind die Atome sehr regelmäßig aus-gerichtet (wir stellen gleich zu Beginn klar, dass diese kris-tallene Verschränkungsquelle nichts mit den Kristallen derBoxen von Alice und Bob zu tun hat). Jedes Atom ist voneiner Elektronenwolke umgeben. Versetzt man diese Ato-me in einen angeregten Zustand, indem man sie anstrahlt,dann schwingen die Wolken um die Atomkerne herum. Istdie Schwingung asymmetrisch, das heißt, entfernen sich dieElektronenwolken in eine Richtung leichter von den Ker-

N. Gisin, Der unbegreifliche Zufall, DOI 10.1007/978-3-662-43958-6_7,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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Abb. 7.1 Schema unseres nichtlokalen Korrelationsexperimentszwischen den Dörfern Bernex und Bellevue, die mehr als 10 Ki-lometer Luftlinie voneinander entfernt liegen. Bei der Durchfüh-rung dieses Experiments haben wir das Bell-Spiel zum ersten Malaußerhalb eines Labors gespielt. Dabei haben wir zur Verteilungder Verschränkung das Glasfasernetz des Telekommunikationsan-bieters Swisscom verwendet

nen weg als in eine andere Richtung, dann hatman esmit ei-nem „nichtlinearen“ Kristall zu tun. Warum diese Bezeich-nung?Wenn ein Photonmit einemAtomwechselwirkt, regtdas die Elektronenwolke an und sie beginnt zu schwingen.Falls die Wolke symmetrisch schwingt, dann „entregt“ siesich, indem sie in irgendeine Richtung ein weiteres Photonemittiert, das dem ursprünglichen Photon ähnelt. DieserVorgang wird als Fluoreszenz bezeichnet. Schwingt dieWol-ke dagegen asymmetrisch, dann entregt sie sich, indem sieein Photon in einer anderen Farbe emittiert.

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Die Farbe eines Photons bestimmt aber seine Energieund eines der physikalischen Grundgesetze besagt, dass dieEnergie erhalten bleibt. Meine obige Beschreibung ist al-so zwangsläufig unvollständig. Dennoch gibt es nichtlinea-re Kristalle, die – wenn sie durch Infrarotlicht angestrahltwerden – ein schönes grünes Licht erzeugen. Das ist dasFunktionsprinzip der grünen Laserpointer, die seit einigenJahren häufig auf Konferenzen verwendet werden. Die Er-klärung ist:Man braucht zwei Photonenmit niedriger Ener-gie im Infrarotbereich, um ein einziges Photon von größererEnergie imGrünbereich zu erzeugen.Die Intensität des grü-nen Lichts ändert sich also entsprechend dem Quadrat derInfrarot-Intensität1, daher der Ausdruck „nichtlinear“. Einnichtlinearer Kristall kann demnach die Farbe eines Licht-bündels ändern. Auf der Ebene der Photonen impliziert die-ser Prozess zwangsläufig mehrere Photonen mit niedrigerEnergie.

Die Gesetze der Physik sind umkehrbar. Das bedeutet,dass wenn ein elementarer Prozess in eine Richtung verläuft,auch der umgekehrte Prozess möglich seinmuss. Es muss al-so möglich sein, ein grünes Photon auf einen nichtlinearenKristall zu senden und dadurch wieder zwei infrarote Pho-tonen zu gewinnen. Damit haben wir einen Mechanismus,der Photonenpaare erzeugt2.

7.2 Erzeugung der Verschränkung

Wir müssen jetzt noch nachvollziehen, warum diese Pho-tonen verschränkt sind. Hierzu sei daran erinnert, dass dieQuantenteilchen, wie zum Beispiel die Photonen, im Allge-

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104 Der unbegreifliche Zufall

meinen über unbestimmte physikalische Größen (Position,Geschwindigkeit, Energie usw.) verfügen. Zum Beispielträgt ein Photon eine gewisse Energieportion. Aber dieseEnergie ist unbestimmt: Sie hat im Durchschnitt den undden Wert, aber die Unbestimmtheit des Werts kann großsein. Es handelt sich nicht um eine Ungewissheit in Be-zug auf unsere Kenntnis der Energie des Photons, sondernum eine intrinsische Unbestimmtheit des Photons selbst,das seine Energie „nicht genau kennt“. Im Klartext: DasPhoton hat keine präzise Energie, sondern ein ganzes Spek-trum von potenziellen Energien (so wie die Position einesElektrons, vgl. Beschreibung in Kap. 6). Misst man dieseEnergie sehr genau, dann findet man im ganzen möglichenSpektrum ein zufälliges Ergebnis (den berühmten echtenZufall!). Wir müssen hier allerdings Folgendes verstehen:Zur Erzeugung des echten Zufalls – der, wie wir gesehenhaben, notwendig ist, um das Bell-Spiel zu gewinnen –dürfen gewisse physikalische Größen keinen präzise be-stimmtenWert haben; sie müssen unbestimmt sein und nurdann einen exakten Wert annehmen, wenn man sie genaumisst. Welchen exakten Wert? Das ist dem Quantenzufallüberlassen.

Ebenso wie seine Energie, kann auch das Alter einesPhotons – das heißt, die Zeit, die seit seiner Emission auseiner Lichtquelle vergangen ist –, unbestimmt sein. Folg-lich kann sich die Gesamtheit der potenziellen Lebenszeiteneines Photons von einigen Milliardstel Sekunden bis zumehreren Sekunden erstrecken, je nachdem wie das Photonemittiert worden ist. Die berühmten UnschärferelationenvonHeisenberg (vgl. Kasten 8) besagen für die Photonen: Jegenauer das Alter eines Photons bestimmt ist, desto unbe-

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stimmter ist seine Energie. Und umgekehrt: Je genauer dieEnergie eines Photons bestimmt ist, desto unbestimmter istsein Alter.

Kehren wir nun wieder zu unseren nichtlinearen Kris-tallen und zu den von ihnen erzeugten Photonenpaarenzurück. Stellen wir uns vor, dass ein grünes Photon vonsehr exakter Energie – also von einer Energie, deren Un-bestimmtheit sehr klein ist –, einen nichtlinearen Kristallanregt. Das Photon verwandelt sich in zwei infrarote Pho-tonen, die beide eine unbestimmte Energie haben, aber so,dass die Summe der Energien der beiden infraroten Photo-nen exakt der Energie des grünen Photons entspricht. Wirhaben also zwei infrarote Photonen, die beide über eineunbestimmte Energie verfügen, wobei aber die Summe derbeiden Energien sehr präzise bestimmt ist.

Die Energien der beiden Photonen sind also korreliert:Misst man diese Energien und stellt man fest, dass derWert für eines der Photonen über dem Durchschnitt liegt,dann liegt der Wert für das andere Photon zwangsläufigunter dem Durchschnitt. Wir erkennen hier einen über-raschenden Aspekt der Nichtlokalität: Die ursprünglichunbestimmte Energie des einen Photons lässt sich durcheine Messung am anderen Photon bestimmen . . .

Aber das reicht noch nicht ganz aus: Um das Bell-Spielzu spielen, muss man die Wahl zwischen mindestens zweiMessarten haben, die den beiden Positionen des Hebelsentsprechen. So wie das ursprünglich grüne Photon einesehr exakte Energie hat, muss es – den Heisenberg’schenUnschärferelationen entsprechend – ein sehr unbestimmtesAlter haben. Und wie steht es mit den infraroten Photo-nenpaaren? Da ihre Energien unbestimmt sind, kann ihre

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Lebensdauer relativ genau bestimmt werden, und zwar sehrviel genauer als das Alter des grünen Photons.

Kann eines der infraroten Photonen älter sein als dasandere? Nein, denn hierzu müsste der Kristall dieses vordem anderen Photon erzeugt haben. Wenn aber ein infra-rotes Photon vor dem anderen existiert hätte, dann gäbe eseinen Augenblick, an dem der Energieerhaltungssatz nichtgegolten hätte. Das aber ist nicht möglich: Die beiden in-fraroten Photonen müssen unbedingt gleichzeitig erzeugtworden sein, nämlich zu dem Zeitpunkt, an dem das grünePhoton zerstört worden ist. Welches ist der Augenblick, indem die beiden infraroten Photonen erzeugt werden? DerAugenblick der Erzeugung der beiden infraroten Photonenist unbestimmt, ebenso wie das Alter des grünen Photons.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die beiden in-fraroten Photonen das gleiche Alter haben, aber dass diesesAlter unbestimmt ist: Misst man das Alter eines infrarotenPhotons, dann erhält man ein echt zufälliges Ergebnis. Aberab diesem Augenblick hat das Alter des zweiten Photonseinen ganz bestimmten Wert. Das ist die zweite Quanten-korrelation, die wir brauchen, um das Bell-Spiel zu spielen –und zu gewinnen3.

Kommen die Photonenpaare erst einmal an ihrem Be-stimmungsort an – das eine in der Box von Alice, das an-dere in Bobs Box –, dann müssten sie idealerweise gespei-chert werden. Solche Speicher, die man Quantenspeichernennt, werden gegenwärtig in den Labors entwickelt. Siesind heutzutage noch nicht sehr effizient und können einPhoton nur einen winzigen Sekundenbruchteil lang spei-chern. Aufgrund dieser Zwangslage bittet man daher Aliceund Bob in der Praxis, ihre Wahl ein wenig vor dem Zeit-

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punkt zu treffen, an dem die Photonen ankommen. Damitwerden die Photonen umgehend gemessen, sobald sie in denBoxen ankommen. Entsprechend den Positionen der He-bel erfolgt eine der beiden Messungen: Energie oder Alter(Energie oder Zeit, würden Physiker sagen). Jede Box lie-fert schließlich das Ergebnis dieser Messungen. Im Prinzipkönnte man aber in den Boxen von Alice und Bob ausrei-chend viele Photonen speichern, um das Bell-Spiel zu spie-len, wie wir es in Kap. 3 beschrieben haben (die Technolo-gie wird es bald ermöglichen, den ganzen Vorgang wirklichdurchzuführen). DieKristalle in derMitte der beidenBoxensind also Quantenspeicher, die einige Hundert verschränktePhotonen gespeichert haben, wie die Kristall-Quantenspei-cher, die wir in Genf entwickeln (aber mit einer Speicherzeitund einer Effizienz, die wir noch extrem verbessern müs-sen!).

7.3 Quantenbitverschränkung

Wir haben gerade gesehen, wie man zwei infrarote Pho-tonen erzeugen kann, die in Bezug auf Energie und Alterverschränkt sind. Misst man die Energie oder das Alterdieser beiden Photonen, dann erhält man vollkommen kor-relierte Ergebnisse. Die Hebel der Boxen von Alice undBob können bestimmen, ob die jeweilige Box die Ener-gie oder das Alter der Photonen misst. Aber das reichtnoch nicht aus, um das Bell-Spiel zu spielen, denn bei die-sem Spiel müssen die Boxen binäre Ergebnisse erzeugen.Nun liefern die Messungen der Energie oder des Altersaber numerische Ergebnisse, die eine sehr große Anzahl

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von möglichen Werten umfassen (im Prinzip sind es un-endlich viele Werte). Wir müssen also die Verschränkung„diskretisieren“.

Wir ersetzen zunächst den Laser, der den nichtlinea-ren Kristall kontinuierlich anstrahlt, durch einen Laser, dereinen kurzen Lichtpuls erzeugt. Nun trennen wir diesenPuls mit Hilfe eines halbdurchlässigen Spiegels in zwei Tei-le. Nach Verzögerung eines der beiden Halbpulse setzenwir sie wieder zusammen (vgl. Abb. 7.2). Der Kristall wirdalso von einer Folge von zwei Halbpulsen angestrahlt. Eshandelt sich immer noch um den gleichen nichtlinearenKristall, der Photonenpaare erzeugen kann. Wann werdendiese Photonenpaare erzeugt? Jedes grüne Photon des Laserswird in zwei Teile getrennt, von denen eine Hälfte verzö-gert und dann auf den Kristall weitergeleitet wird. Jedesgrüne Photon kann sich somit im nichtlinearen Kristallzu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten in zwei infrarotePhotonen umwandeln. Detektiert man eines der infrarotenPhotonen, dann kann man es zu zwei verschiedenen Zeit-punkten auffinden, entweder „pünktlich“ oder „zu spät“.Und das andere infrarote Photon befindet sich zwangsläufigam gleichen Zeitpunkt (hat das gleiche Alter). Wir habenhier also ein binäres Ergebnis für die Messung des Altersder infraroten Photonen. (Damit wir uns richtig verste-hen: Das grüne Photon ist nicht manchmal pünktlich undmanchmal verspätet, sondern immer gleichzeitig pünkt-lich und verspätet – in „Superposition“ würden Physikersagen. Seine potenzielle „Alterswolke“ hat zwei Spitzenwer-te: der eine entspricht dem „pünktlich“, der andere dem„verspätet“. Jedes Paar von infraroten Photonen, das voneinem grünen Photon erzeugt wird, ist ebenfalls gleichzeitig

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(verspätet) & (rechtzeitig)

Abb. 7.2 Illustration eines Quantenbits (Qubits), das zeitcodiertist (time-bin). Links ist ein einfallendes Photon zu sehen. DiesesPhoton kann den kurzen Weg (auf der Abbildung unten) oder denlangen Weg (oben) nehmen. Diese beiden Wege werden dannzusammengeführt. Das Photon kann demnach „pünktlich“ sein(wenn es den kurzen Weg genommen hat) oder es kommt „ver-spätet“ an (wenn es den langen Weg genommen hat). Gemäß derQuantenphysik kann das Photon gleichzeitig den kurzen Weg undden langen Weg nehmen. Es ist demnach gleichzeitig „rechtzei-tig“ und „verspätet“ (in Superposition, wie Physiker sagen)

pünktlich und verspätet; aber beide Photonen haben immerdas gleiche Alter).

Die zweiteMessung, die notwendig ist, um das Bell-Spielzu spielen, ist die Energiemessung. Hierzu ist ein Interfero-meter erforderlich. Wichtig ist, zu verstehen, dass man aufdiese Weise sowohl die Energiemessung diskretisieren4, alsauch das Bell-Spiel spielen und gewinnen kann.

7.4 Das Experimentvon Bernex-Bellevue

Wir haben dieses Experiment 1997 in Genf durchgeführt.Es war das erste Mal, dass das Bell-Spiel außerhalb einesPhysiklabors gespielt wurde. Ich kannte die klassischenTelekommunikationstechniken gut, insbesondere die Glas-

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fasern, da ich Anfang der 1980er Jahre an ihrer Einführungin der Schweiz beteiligt war. Die technische Hauptschwie-rigkeit bestand darin, ein Photon nach dem anderen aufder Wellenlänge einer Welle zu detektieren, die glasfaser-kompatibel ist. Damals gab es solche Detektoren nicht. Beiunseren ersten Versuchen haben wir Dioden in flüssigenStickstoff getaucht (um sie auf einer niedrigen Temperaturzu halten) . . . Eine Schwierigkeit anderer Art bestand dar-in, Zugang zum Glasfasernetz von Swisscom zu erhalten,unserem nationalen Telekommunikationsanbieter. Dankmeiner Arbeiten auf dem Gebiet der Telekommunikationhatte ich glücklicherweise ausgezeichnete Kontakte.

Der Kristall – dieVerschränkungsquelle – konntemit derganzen Begleitausrüstung in eine große Telekomzentrale inder Nähe des Genfer Hauptbahnhofs Cornavin transpor-tiert und dort installiert werden. Von dort verläuft ein Glas-faserkabel ohneUnterbrechungen bis zumDorf Bellevue imNorden vonGenf und ein anderes bis nach Bernex, einDorfsüdlich von Genf, das mehr als 10 Kilometer Luftlinie vonBellevue entfernt liegt. In jedem dieser Dörfer konnten wirunsere Interferometer und Photonendetektoren (mit flüs-sigem Stickstoff!) in kleinen Telekomzentralen installieren.Der Zugang zu diesen Zentralen erforderte natürlich einenSchlüssel. Nach dem Öffnen der Tür musste man inner-halb von einer Minute eine Alarmzentrale mit Hilfe einerspeziell dafür vorgesehenen Sprechanlage kontaktieren undein Passwort durchgeben. Anschließend stieg man ins vierteUntergeschoss hinunter, wo die Glasfasern der ganzen Re-gion zusammenlaufen. Da es dort nicht möglich war, einMobiltelefon zu benutzen, überlasse ich es den Lesern, sichdie logistischen Probleme auszumalen.

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Dann ging es los mit dem Experiment. Wir rechnetendamit, das Bell-Spiel zu gewinnen. Aber uns erwarteten dreiÜberraschungen. Erste Überraschung:Mit der aufgehendenSonne wurde die im Süden verlaufende Faser deutlich längerals die andere, obwohl beide Fasern eigentlich ungefähr diegleiche Länge hatten. Die wahrscheinliche Erklärung dafürist, dass die erstgenannte Glasfaser, die über eine Brücke ver-läuft, weniger tief liegt als die andere und daher auch Tem-peraturschwankungen stärker ausgesetzt ist. Das hat zu ei-nem schwierigen Synchronisationsproblem geführt, dessenLösung uns einige schlaflose Nächte bereitet hat. Die zwei-te Überraschung war besonders angenehm. Frau Mary Bell,John Bells Witwe, kam zu uns zu Besuch. Und schließlichkamen wir nach der Veröffentlichung unseres Experiments5noch in den Genuss einer dritten Überraschung in Formeines großen Artikels in der New York Times, eines Besu-ches der BBC, die unser Experiment filmte, sowie einer Zi-tierung der Amerikanischen Physikvereinigung, die unse-rer Experiment unter den bedeutendsten Ereignissen der1990er Jahre auflistet.

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8Anwendungen

Ein relevantes physikalisches Konzept hat zwangsläufig Aus-wirkungen auf unseren Alltag. Die Gleichungen der Elek-trodynamik, die Maxwell im 19. Jahrhundert entdeckt hat,haben einen Großteil der Elektronik des 20. Jahrhundertsgeprägt. Desgleichen muss man damit rechnen, dass die im20. Jahrhundert entdeckte Quantenphysik die Technologiedes 21. Jahrhunderts prägt. Die Quantenphysik hat unsbereits den Laser (und damit u. a. DVD-Geräte) und Halb-leiter geschenkt, die in Computern zur Anwendung kom-men. Diese ersten Anwendungen verwenden jedoch nurEigenschaften von Ensembles von Quantenteilchen: Pho-tonenensembles für die Laser und Elektronenensembles fürdie Halbleiter. Aber wie steht es mit nichtlokalen Quanten-korrelationen? Bei diesen treten Teilchen paarweise auf –eines für Alice, das andere für Bob; man muss also mit die-sen Teilchen einzeln umgehen können. Das ist eine riesigeHerausforderung! Aber ein Physiker weicht davor keinenSchritt zurück. Dieses Kapitel stellt zwei Anwendungenvor, die bereits jetzt kommerziell genutzt werden, aber esist sehr wahrscheinlich, dass noch viele andere wunderbareAnwendungen ihrer Entdeckung harren.

N. Gisin, Der unbegreifliche Zufall, DOI 10.1007/978-3-662-43958-6_8,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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8.1 Erzeugung von echtenZufallszahlen

Die erste Anwendung ist sehr einfach. Wir haben gesehen,dass nichtlokale Korrelationen nur möglich sind, wenn dieErgebnisse von Alice auf einen echten Zufall zurückzufüh-ren sind. Aber wozu dient der Zufall? Es gibt nichts Nütz-licheres in unserer heutigen Informationsgesellschaft. Wiralle besitzen Kreditkarten und haben unzählige Passwörter.Unsere Kreditkarten haben eine PIN, die geheim sein, al-so zufällig gewählt werden muss. Es ist aber nicht einfach,einen Zufall zu fabrizieren. Wir haben bereits gesehen, wiewichtig die Zufallszahlen bei der digitalen Simulation sind.Eine andere Anwendung, die sich schnell weiterentwickelt,rührt von Onlinespielen im Internet her. Auch hier mussman sicherstellen, dass die Auslosungen der virtuellen Kar-ten und der anderen Gewinnnummern das Ergebnis einesZufalls sind. Andernfalls betrügt entweder das elektronischeKasino oder es bestünde – falls das Kasino Pseudozufalls-zahlen verwendet – die Möglichkeit, dass ein Schlaubergerdie Folge herausfindet und das Kasino in die Knie zwingt.Daher ist die Nutzung des Quantenzufalls – des einzigenechten Zufalls, der in der Physik bekannt ist – eine vielver-sprechende Anwendung der Quantenphysik.

Eine physikalische Anwendung besteht darin, die Phy-sik hinreichend zu verstehen, um ein Protokoll so weit zuvereinfachen, dass es ökonomisch realisierbar wird. DieVerwendung zweier Computer, nämlich Alice und Bob,die durch eine räumliche Entfernung voneinander getrenntsind – also einander nicht mit Lichtgeschwindigkeit beein-flussen können – und im Bell-Spiel gewinnen, ist viel zu

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kompliziert für eine kommerzielle Anwendung. Betrachtetman nur Alice, dann sieht man, dass sie im Wesentlichenüber Photonen verfügt, die einen halbdurchlässigen Spiegelpassieren, bevor sie auf zwei Photonendetektoren treffen.Das Auftreten der Verschränkung und die AnwesenheitBobs gestatten es, das Bell-Spiel so zu gewinnen, dass dasErgebnis von Alice garantiert echt zufällig ist, aber letztenEndes benötigt man nur das Ergebnis von Alice; es reichtdemnach aus, dass Bob virtuell möglich ist. Vergessen wiralso Bob wenn es um Anwendungen geht. Hat man sicherst einmal hierzu durchgerungen, dann ist die Verschrän-kung nicht mehr notwendig – es genügt, dass das Photonvon Alice im Prinzip verschränkt sein könnte, in der Praxisbraucht es das nicht zu sein. Und schließlich kann Aliceanstelle eines einzigen Photons eine extrem abgeschwächteLaserquelle verwenden – so, dass praktisch nie mehr alsein Photon auftritt. So funktionieren die meisten der kom-merziellen Quantenzufallsgeneratoren (QRNG genannt,für quantum random number generator). Sieht man sichAbb. 8.1 an, die den QRNG der Genfer Gesellschaft „IDQuantique SA“1 vorstellt, dann erscheint uns der Aufbaufast zu simpel: Wo sind nur die nichtlokalen Korrelationenabgeblieben? Dieser Generator verwendet sie nicht direkt,aber die Möglichkeit, den gleichen Typ von Photonen so-wie von Photonenseparatoren und Photonendetektorenzur Erzeugung nichtlokaler Korrelationen zu verwenden,garantiert, dass die Ergebnisse echt zufällig sind.

Manche sind vielleicht argwöhnisch und fragen sich, wieman sich sicher sein kann, dass es sich um den gleichen Typvon Separatoren und Detektoren handelt? Und die Skepti-ker haben durchaus Recht: Um diesen Zufallszahlengene-

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Abb. 8.1 Quantenzufallsgenerator. Das Prinzip ist schematischdargestellt: Ein Photon trifft auf einen halbdurchlässigen Spiegel,bei dem sich zwei Detektoren befinden. Jedem Detektor wird ei-ne binäre Zahl (ein Bit) zugeordnet. Oben sieht man den von derGenfer Gesellschaft „ID Quantique SA“ hergestellten ersten kom-merziellen Generator (3 × 4 cm)

rator zu vereinfachen und ihn kommerziell interessant zumachen, mussten wir voraussetzen, dass die Vorrichtungenzuverlässig sind. Diese Voraussetzung ist weit verbreitet undhat sich bewährt. Man kann auf ziemlich elegante Art und

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Weise auf diese Voraussetzung verzichten, aber dann mussman sehr viel stärker auf das Bell-Spiel zurückgreifen undauf die meisten der oben vorgestellten Vereinfachungen ver-zichten. Die experimentelle Durchführung dessen ist bereitsgelungen, aber nur im Labor2.

8.2 Quantenkryptographie:Das Prinzip

Eine zweite Anwendung ist die Quantenkryptographie.Wir haben Folgendes bereits gesehen: Sind zwei Objekteverschränkt, dann liefern sie immer das gleiche Ergebnis,wenn man bei beiden die gleichen Messungen durchführt.Auf den ersten Blick scheint das nicht sehr nützlich zu sein,vor allem weil diese identischen Ergebnisse zufällig erzeugtwerden. Für einen Kryptographen ist das jedoch eine äu-ßerst interessante Sache. In unserer Informationsgesellschaftwerden nämlich riesige Mengen an Informationen ausge-tauscht, von denen ein großer Teil vertraulich bleiben muss.Aus diesem Grund codiert man die Informationen, bevorman sie an den Empfänger sendet. Folglich ähneln diesecodierten Informationen in den Ohren einer dritten Personeinem einfachen Rauschen ohne Struktur oder Bedeutung.Aber langfristig ist es geboten, den Code sehr häufig zuwechseln, idealerweise bei jeder neuen Nachricht. Das wirftdas Problem auf, dass die Codierungsschlüssel ausgetauschtwerden müssen. Diese Schlüssel müssen dem Sender unddem Empfänger bekannt sein, aber sonst niemandem. Mankönnte sich Armeen gepanzerter Taxis vorstellen, die auf

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dem Planeten umherfahren, um die Schlüssel an die Benut-zer zu verteilen. Aber geht es vielleicht auch einfacher?

Tatsächlich schicken heute manche Regierungen undgroßeUnternehmen Leutemit einemKöfferchen amHand-gelenk los, um Codierungsschlüssel an diejenigen ihrerPartner zu verteilen, mit denen sie supervertraulich kom-munizieren. Die Normalsterblichen unter uns begnügensich (etwa um im Internet einzukaufen) mit einem prakti-scheren System, dessen Sicherheit auf der mathematischenKomplexitätstheorie beruht. Dieses wird als Kryptogra-phiesystem mit öffentlichem Schlüssel bezeichnet. Die Ideeberuht darauf, dass gewisse mathematische Operationen,wie etwa die Multiplikation zweier großer Primzahlen, miteinem Computer leicht durchzuführen ist, während dieumgekehrte Operation sehr schwierig ist: Man müsste diePrimzahlzerlegung des Produktes finden.

Die Einzelheiten sind hier nicht von Bedeutung – wich-tig ist es zu verstehen, was „schwierig“ bedeutet. Für einenGymnasiasten ist eine Aufgabe schwierig, wenn es sogar denguten Schülern nicht gelingt, sie zu lösen. Bei der Krypto-graphie mit öffentlichem Schlüssel ist es genauso – außerdass man anstatt Gymnasiasten die besten Mathematikerder Welt nimmt: Man versammelt sie an einem komfor-tablen Ort und verspricht ihnen eine schöne Belohnung,wenn sie die Lösung des Problems finden. Wenn sich keinermeldet, dann ist das Problem wirklich schwierig. Schwierigallemal, aber nicht zwangsläufig unlösbar. Die Geschichteder Mathematik ist voll von Beispielen für Probleme, überwelche die besten Mathematiker jahrelang, mitunter sogarjahrhundertelang gestolpert sind, bevor ein schlauer Kopfdie Lösung gefunden hat.

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In derMathematik läuft es so: Ist eine Lösung erst einmalbekannt, dann ist es nicht schwer, sie zu reproduzieren undzu nutzen. Falls also eines Tages, morgen zum Beispiel, einGenie entdeckt, wie man die beiden Primzahlen findet, diesich in ihrem Produkt verstecken, dann würde das gesamteelektronische Geld unserer Gesellschaft sofort seinen Wertverlieren. Es gäbe keine Kreditkarten, keinen Onlinehandelund keine Interbankendarlehen mehr. Es wäre eine regel-rechte Katastrophe. Hätte darüber hinaus eine Organisati-on Nachrichten aufgezeichnet, die mit einem öffentlichenSchlüssel verschlüsselt wurden, dann könnte sie diese nach-träglich entschlüsseln und vertrauliche Mitteilungen lesen,die Jahre oder sogar Jahrzehnte zuvor gesendet worden sind.Wenn Sie also wollen, dass Ihre Informationen über Jahr-zehnte vertraulich bleiben, dann empfiehlt es sich, ab sofortauf die Kryptographie mit öffentlichem Schlüssel zu ver-zichten.

Die Tatsache, dass man bei Alice und Bob zufällige, aberidentische Ergebnisse findet, ist aus folgendemGrundwich-tig: Wenn Alice und Bob die Verschränkung miteinanderteilen, dann können sie jederzeit eine Folge von Ergebnissenerzeugen, die sie sofort als Codierungsschlüssel verwendenkönnen. Und dank des No-Cloning-Theorems können siesicher sein, dass kein anderer jemals eine Kopie ihres Schlüs-sels besitzen wird. So einfach ist das – zumindest auf demPapier.

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8.3 Quantenkryptographie: Die Praxis

Für neugierige Gemüter schildern wir jetzt, wie man in derPraxis vorgeht, um das System des Bell-Spiels zu vereinfa-chen. Wir werden erneut sehen, wie wichtig das Verständnisder wesentlichen physikalischen Prinzipien ist, wenn mandie Realisierung der Quantenkryptographie so weit wiemöglich vereinfachen möchte, ohne dabei über das Zielhinauszuschießen.

Erste Vereinfachung . An den experimentellen Realisierun-gen des Bell-Spiels sind drei Parteien beteiligt: Alice, Bobund der Kristall, der die verschränkten Photonen erzeugt.Aus Symmetriegründen befindet sich der Kristall üblicher-weise in der Mitte. Das ist aber nicht praktisch, und des-wegen positionieren wir ihn bei Alice. Man hat somit nurnoch zwei Parteien. Verfährtman auf dieseWeise, dann gehtdas von der Relativität vorgeschriebene Kommunikations-verbot zwischen Alice und Bob verloren. In der Kryptogra-phie muss man aber auf alle Fälle sicherstellen, dass wederbei Alice noch bei Bob ungewollt Informationen durchsi-ckern – andernfalls wäre keine Vertraulichkeitmehr gewähr-leistet.

Zweite Vereinfachung . Jetzt, da sich die Quelle der ver-schränkten Photonenpaare bei Alice befindet, misst Alicedas von ihrem Photon transportierte Qubit eine gute Weile,bevor Bob das kann. Ja, sie misst es sogar, bevor das anderePhoton Alice verlassen hat, um sich auf den Weg zu Bob zubegeben. Demnach ist es für Alice viel einfacher, direkt eineQuelle zu nutzen, die Photon um Photon erzeugt, anstatteine Quelle von Photonenpaaren zu verwenden und jeweilseines der Photonen zu messen (und es damit zu zerstören).

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Dritte Vereinfachung . Eine Quelle, die Photon um Pho-ton erzeugt, ist kompliziert. Es ist viel einfacher, eine Quellezu verwenden, die äußerst schwache Laserpulse erzeugt –so schwach, dass ein Puls nur sehr selten mehrere Photo-nen enthält. Damit haben wir es mit einer zuverlässigen,gut erprobten und preiswerten Quelle zu tun. Man mussjetzt nur noch herausfinden, was man mit den seltenen Fäl-len von Multiphotonenpulsen anstellt. Dafür reicht es aus,die Frequenz dieser Multiphotonenpulse hinlänglich genauzu kennen. Danach nimmt man auf ganz konservative Wei-se an, dass der Spion alle diese Multiphotonenpulse kennt.Nach dem Austausch von sehr, sehr vielen Pulsen – typi-scherweise sind es Millionen –, wissen Alice und Bob, wieviele Informationen ihr Gegner schlimmstenfalls über ihreErgebnisse besitzt. Sie können dann einen klassischen Algo-rithmus benutzen, der als „Vertrauensverstärkung“ (privacyamplification) bezeichnet wird3. Dieser Algorithmus gestat-tet es, von einem Schlüssel ausgehend, von dem man weiß,dass einem Gegner höchstens ein kleiner Teil bekannt ist,einen etwas kürzeren Schlüssel zu erzeugen. Bei diesem neu-en, durch „amplification“ gewonnenen Schlüssel kann mansich sicher sein, dass er absolut sicher ist4.

Und schließlich bleiben nur zwei Boxen übrig: Die einesendet Laserpulse von sehr schwacher Intensität, die ihrer-seits eine in der Polarisation oder in der Zeit codierte Quan-teninformation transportieren (wie in Kap. 7 beschrieben);die andere misst die Polarisation oder das Alter dieser Pho-tonen. In der Praxis gibt es selbstverständlich noch anderetechnologische Tricks, aber wenn Sie mir bis hierher gefolgtsind, dann haben Sie bereits ein gutes Stück angewandterPhysik verstanden5.

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Heute verwenden manche Genfer Organisationen, dieihr Sicherheitskopiesystem in der Nähe von Lausanne ha-ben – 70 Kilometer entfernt – kommerzielle Kryptogra-phiesysteme der Genfer Gesellschaft IDQ, einem Spin-Offder Universität Genf. Die Übertragung erfolgt über Glasfa-sern, die unter dem Genfer See verlaufen.

Historisch gesehen ist die Feststellung interessant, dassdie oben beschriebene vereinfachte Version viel frühererfunden wurde, als diejenige, die auf der Nichtlokalitätberuht – ein Geheimnis der Geschichte, menschlich, allzumenschlich, die nicht zwangsläufig einem logischen Ablauffolgt . . . Eine andere kleine und allzu menschliche Ge-schichte ist diese: Als Bennett und Brassard die vereinfachteVersion der Quantenkryptographie erfanden, wollte keinePhysikfachzeitschrift ihre Arbeit veröffentlichen. Zu neu!Zu originell! Also unverständlich für die Physiker, die denArtikel vor dessen Publikation hätten begutachten müssen.Schließlich haben Bennett und Brassard ihr Ergebnis imTagungsband einer Informatikkonferenz veröffentlicht, diein Indien stattgefunden hat! Die Feststellung erübrigt sich,dass diese Veröffentlichung von 1984 unbeachtet gebliebenist – bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Quantenkrypto-graphie 1991 von Artur Ekert unabhängig wiederentdecktwurde. Dieses Mal beruhte die Wiederentdeckung auf demKonzept der Nichtlokalität und wurde in einer renommier-ten Physikzeitschrift veröffentlicht.

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9Quantenteleportation

Was gibt es Erstaunlicheres als die Teleportation? Ein Ob-jekt, das hier verschwindet, um dort wieder aufzutauchen,ohne dabei irgendeine Zwischenposition eingenommen zuhaben!? Die Kommunikationstechnologie verführt mitun-ter dazu, an Teleportation zu denken: Eine E-Mail verlässtmeinenComputer, um innerhalb einiger Sekunden auf demBildschirm eines Freundes am anderen Ende der Welt wie-der zu erscheinen. Im Falle einer E-Mail weiß man abernatürlich, dass ein ganzes Netz von WiFi-Wellen sowie vonElektronen in Kupferkabeln und Photonen in Lichtwellen-leitern meine Nachricht nach und nach von meinem Stand-ort bis zum Empfänger transportiert hat. Im Falle der Tele-portation gibt es nichts dergleichen: Das Objekt „springt“gleichsam von hier nach dort, ohne irgendeine Zwischen-position eingenommen zu haben. Das sieht nach Zaubereiaus, nach Science Fiction . . . es sei denn, die Nichtlokali-tät der Quantenwelt, diese magisch anmutende Verbindungzwischen zwei voneinander entfernten Orten, ließe sich ge-winnbringend nutzen.

Im vorliegenden Buch haben wir durchgehend gesehen,dass die Nichtlokalität keine Kommunikation ermöglicht.Dagegen gestattet es die Teleportation der Science-Fiction-Literatur, mit einer beliebigen Geschwindigkeit miteinan-

N. Gisin, Der unbegreifliche Zufall, DOI 10.1007/978-3-662-43958-6_9,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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der zu kommunizieren. Darüber hinaus besteht ein Objektzwangsläufig aus Materie (oder Energie, falls es sich um einPhoton handelt), und Materie lässt sich nicht von einemOrt an einen anderen transportieren, ohne dabei Zwischen-positionen einzunehmen. Die Science-Fiction-Teleporta-tion ist also unmöglich. Dennoch hat 1993 eine Gruppevon Physikern, die auf einer kleinen Brainstorming-Sitzungmit dem Konzept der Nichtlokalität herumspielten, dieQuantenteleportation erfunden1. Die Publikation hat sechsVerfasser: Niemand hat sich also die Quantenteleportationallein ausgedacht – sie ist wirklich das Ergebnis eines „geis-tigen Pingpongspiels“ und somit weit entfernt vom Bild desisolierten und genialen Gelehrten2.

9.1 Substanz und Form

Wie funktioniert nun also die Teleportation? Zuallererstmüssen wir auf das Konzept des Objekts zurückkommen.Bereits Aristoteles hat vorgeschlagen, einen Gegenstand als„aus zwei Bestandteilen zusammengesetzt“ zu betrachten:Substanz und Form3. Heute würden die Physiker von Ma-terie und physikalischem Zustand sprechen. Beispielsweisebesteht ein Brief einerseits aus Papier und Tinte, welche dieMaterie bilden, und andererseits aus einem Text, der dieInformation oder den physikalischen Zustand des Papiersund der Tinte darstellt. Für ein Elektron ist die Substanzseine Masse und seine elektrische Ladung (ebenso wie ande-re permanente Attribute), während seine Positionswolkenund seine potenziellen Geschwindigkeiten den physikali-schen Zustand des Elektrons bilden. Für ein Photon, ein

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9 Quantenteleportation 125

Lichtteilchen ohne Masse, ist die Substanz seine Energieund sein physikalischer Zustand besteht aus seiner Pola-risation, seinen Positionswolken und seinen potenziellenSchwingungsfrequenzen.

In der Quantenteleportation teleportiert man nicht dasganze Objekt, sondern nur seinen Quantenzustand, alsoseine „Form“, wie Aristoteles sagen würde. Ist das enttäu-schend? Natürlich nicht! Zuallererst deswegen nicht, weiles auf der Hand liegt, dass man weder die Masse nochdie Energie eines Objekts teleportieren kann: Das würdedas Prinzip der Unmöglichkeit von Kommunikation ohneSignalübertragung verletzen (vgl. Kasten 5). Demnach istdie Tatsache, dass man den Quantenzustand eines Objektsteleportieren kann, eine ganz außerordentliche Sache. DerQuantenzustand ist nämlich die ultimative Struktur derMaterie; man teleportiert nicht einfach nur eine approxi-mative Beschreibung, sondern alles, was sich teleportierenlässt. Rufen Sie sich bitte das No-Cloning-Theorem vonKap. 5 in Erinnerung. Wenn man den Quantenzustandeines Objekts teleportiert, dann muss das Original not-wendigerweise verschwinden – andernfalls hätte man zweiKopien, was dem No-Cloning-Theorem widersprechenwürde. Man hat es hier also tatsächlich mit dem Verschwin-den des Originals an der ursprünglichen Stelle und demAuftreten des teleportierten Zustands an einer anderenStelle zu tun.

Wir fassen zusammen. Bei der Quantenteleportationbleibt die Substanz (Masse, Energie) des ursprünglichenObjekts am Ausgangsort, etwa bei Alice, aber seine gesam-te Struktur (sein physikalischer Zustand) verflüchtigt sich.Teleportiert beispielsweise Alice eine aus Knetmasse ge-

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formte Ente, dann bleibt die Knete an ihrem Ort, aber ihreForm verschwindet: Es bleibt nur die formlose Knetmas-se. Bei der Ankunft bei Bob, der im Prinzip beliebig weitentfernt ist (und sich an einem Ort befindet, der Alice viel-leicht unbekannt ist) befindet sich anfangs eine formloseKnetmasse (die Substanz). Am Ende des Teleportations-prozesses nimmt die Knete von Bob aber exakt die Formder ursprünglichen Ente an – und zwar einschließlich derallerkleinsten Details auf atomarer Ebene. Dieses Beispielgehört noch ins Reich der Science Fiction, denn man kanngegenwärtig keine Ente aus Knetmasse teleportieren – eshandelt sich um ein Objekt, das für unsere Technologienoch viel zu komplex ist. Es kann sogar sein, dass sich dieQuantenphysik auf gewöhnliche Gegenstände dieser Grö-ße gar nicht anwenden lässt. Wir wollen uns deswegen einzweites Beispiel ansehen, das gleichzeitig realistischer undabstrakter ist: die Polarisation eines Photons.

Ein Photon ist ein ganz kleines Lichtenergiepaket (Phy-siker sprechen von elektromagnetischer Energie). DieseEnergie besteht unter anderem aus einem schwachen elek-trischen Feld, das schwingt. Wenn das Photon eine gutstrukturierte Polarisation hat, dann schwingt das elektri-sche Feld regelmäßig in einer ganz präzisen Richtung. Hatdagegen das gleiche Photon eine Polarisation ohne Struktur(Physiker sprechen dann von depolarisierten Photonen4),dann schwingt dieses elektrische Feld vollkommen unge-ordnet in alle Richtungen.

Anfänglich hat das Photon von Alice eine klar struktu-rierte Polarisation: Es schwingt in einer ganz präzisen Rich-tung. Diese Richtung kann unbekannt sein, aber sie exis-tiert. Nach dem Teleportationsprozess ist die Energie des

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Photons von Alice immer noch vorhanden, ist aber depola-risiert worden. Auf der Seite des Empfängers – Bob – ist an-fangs ein depolarisiertes Photon vorhanden (also Energie5),das am Ende des Teleportationsprozesses die klar struktu-rierte Polarisation des teleportierten Photons angenommenhat. Bobs Photon ist von nun an in allen Punkten mit demursprünglichen Photon von Alice identisch und Alices Pho-ton ist in allen Punkten identisch mit dem ursprünglichenPhoton von Bob6.

Es handelt sich also tatsächlich um eine Teleportation:Das besagte Photon („Energie + Polarisation“) oder allge-meiner ein Objekt, das als „Substanz + physikalischer Zu-stand“ betrachtet wird, gelangt also wirklich von Alice zuBob, ohne irgendeinenZwischenort zu passieren.Nach demQuantenteleportationsprozess unterscheidet sich die Endsi-tuation in nichts von dem Fall, in dem man Alices Photonzu Bob bzw. umgekehrt Bobs Photon zu Alice transportierthätte.

All das erklärt uns immer noch nicht, wie die Quanten-teleportation funktioniert. Wir haben zwar erkannt, dassman die Nichtlokalität der Quantenphysik nutzen muss.Aber das reicht nicht – wir brauchen noch ein anderes Kon-zept, das der „gemeinsamen Messung“.

9.2 Gemeinsame Messung

Um eine Teleportation durchzuführen, brauchen wir alsoein Paar verschränkter Quantenobjekte. Um etwas konkre-ter zu sein, stellen wir uns ein in der Polarisation verschränk-tes Photonenpaar vor. Wir brauchen nun ein Objekt, das

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teleportiert werden soll – sagen wir ein Photon, dessen Po-larisation wir teleportieren möchten. Der Polarisationszu-stand ist also das Qubit, das teleportiert werden soll. Ali-ce, die Senderin, hat einerseits das Photon zur Verfügung,das teleportiert werden soll – genauer gesagt handelt es sichum das Photon als Träger des zu teleportierenden polari-sierten Qubits. Andererseits hat Alice ein Photon, von demsie weiß, dass es mit einem dritten Photon verschränkt ist,das sich im Besitz von Bob befindet und irgendwo sehr weitentfernt ist. Alice muss nicht wissen, wo sich Bob befindet.Was kann sie tun?Wenn sie das Qubit misst, das teleportiertwerden soll, dann stört sie es und könnte deswegen das Ori-ginal nicht mehr teleportieren. Wenn sie das Photon misst,das mit Bobs Photon verschränkt ist, dann weiß sie, dass sieeine nichtlokale Korrelation mit Bob herstellen kann, aberwas würde sie damit anfangen? Alles, was sie weiß, ist Fol-gendes: Wenn Bob die gleiche Messung wie sie durchführt,dann erhalten sie beide das gleiche Ergebnis – ein zufälligesErgebnis, das aber beiderseits gleich ist.

Das Wesentliche am Teleportationsprozess besteht fürAlice darin, einen zweiten Aspekt der Verschränkung zunutzen, denman noch kaum versteht. Bislang habenwir nurden ersten Aspekt der Verschränkung betrachtet, nämlichden, der es gestattet, zwei voneinander entfernte Quanten-objekte – zum Beispiel zwei Photonen – durch einen ver-schränkten Zustand zu beschreiben. Aber hier istAlice imBesitz von zwei Photonen, die durch zwei Zuständebeschrieben werden: Das erste ist in einem sehr präzisen Po-larisationszustand (der aber Alice unbekannt sein kann) unddas zweite befindet sich in einem verschränkten Zustand.Alice muss nun ihre beiden Photonen verschränken. Hierzu

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darf sie weder das eine noch das andere gesondert messen,sondern muss beide gemeinsam messen. Das ist schwer zuverstehen, denn wie bei der Verschränkung handelt es sichum etwas, das man in der uns direkt zugänglichen Weltnicht durchführen kann.

Um es dennoch zu verstehen, stellen wir uns vor, dassAlice ihren beiden Photonen folgende Frage stellt: „Seidihr ähnlich?“ Damit fragt Alice die Photonen: „Wenn ichbei jedem von euch die gleiche Messung durchführe, gebtihr dann alle beide die gleiche Antwort?“ In der Welt dergewöhnlichen Objekte kann man diese seltsame Frage nurdadurch beantworten, indemman beideMessungen durch-führt und die beiden Ergebnisse miteinander vergleicht.Aber in der Quantenphysik kann man es dank der Ver-schränkung besser machen. Man kann diese Frage denbeiden Photonen „stellen“, die sich zusammen in einenZustand der Verschränkung versetzen, ohne dass man beijedem von ihnen zwei Messungen durchführen muss. Wirwissen bereits, dass ein verschränkter Zustand folgender-maßen beschaffen ist: Misst man die beiden Photonen aufdie gleiche Art und Weise (in der gleichen Richtung wiein Kap. 6 beschrieben), dann liefern sie immer zufälligdas gleiche Ergebnis – hier ist der berühmte nichtlokaleechte Zufall am Werk. Und das alles unabhängig von dergewählten Messrichtung!

Falls die beiden Photonen von Alice auf die gleiche Fra-ge immer die gleiche Antwort geben und falls das Photonvon Bob, das mit dem Photon von Alice verschränkt ist, aufdie gleiche Frage ebenfalls das gleiche Ergebnis liefert, danngibt also das Photon von Bob immer die gleiche Antwort,die das zu teleportierende Photon gegeben hätte. So ein-

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fach ist das – oder zumindest fast. Man muss die Verschrän-kung demnach zweimal verwenden: Einerseits als nichtloka-lenQuantenteleportationskanal (verschränkter Zustand derPhotonen von Alice und Bob) und andererseits, um zweiSystemen (den beiden Photonen von Alice) eine Frage be-züglich ihres relativen Zustands zu stellen, ohne irgendeineInformation über den Zustand eines jeden der beiden Sys-teme zu erhalten (vgl. Abb. 9.1).

Aber wir sind noch nicht ganz fertig. Die gemeinsameMessung der beiden Photonen von Alice, also die Messungdes relativen Zustands der Photonen, führt – wie immer inder Quantenphysik – zu einem echt zufälligen Ergebnis un-ter mehreren möglichen Ergebnissen. Falls man Glück hatund das Ergebnis „wir sind ähnlich“ lautet, dann ist der Vor-gang offenbar abgeschlossen – nur weiß Bob das noch nicht.Und was würde geschehen, wenn Alice das Ergebnis „wirsind nicht ähnlich“ erhielte, das heißt, „auf ein und dieselbeFrage warten wir mit entgegengesetzten Antworten auf“? Indiesem Fall müsste Bob sein Photon erneut drehen, damit esin einen Zustand kommt, in dem es bereit ist, ebenfalls dasgleiche Ergebnis zu erzielen wie das ursprüngliche Photonvon Alice7.

Aber wie stellt es nun Alice an, ihre beiden Photonen zubefragen? Das ist die Hauptschwierigkeit des Experiments.Mehr sage ich hier dazu nicht, denn das würde den Rahmendieses Buches deutlich sprengen . . .

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9 Quantenteleportation 131

Verschränkung

gemeinsame Messung

Verschränkung

Vorher

Nachher

Abb. 9.1 Schematische Darstellung der Quantenteleportation.Alice hat anfangs zwei Photonen, die durch zwei Würfel veran-schaulicht sind. Das linke Photon ist Träger des zu teleportieren-den Quantenbits (Qubit, bezeichnet durch � ), das rechte ist mitBobs Photon verschränkt. Alice führt bei ihren beiden Photoneneine gemeinsame Messung durch. Diese Operation verschränkt ih-re beiden Photonen und teleportiert gleichzeitig das Qubit vonlinks auf das Photon von Bob. Um den Prozess abzuschließen,erhält Bob von Alice eine Mitteilung über das Ergebnis der vonihr durchgeführten gemeinsamen Messung und Bob „dreht“ seinPhoton in Abhängigkeit von diesem Ergebnis

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9.3 Protokoll derQuantenteleportation

Die gemeinsameMessung von Alice führt also zu einem zu-fälligen Ergebnis. Entsprechend diesemErgebnis produziertBobs Photon immer jenes Ergebnis, welches das ursprüngli-che Photon geliefert hätte, wäre es in der gleichen Richtunggemessen worden – oder aber Bobs Photon produziert einErgebnis, das entgegengesetzt zu dem Ergebnis ist, welchesdas ursprüngliche Photon geliefert hätte. Und diese zweiMöglichkeiten sind gleichwahrscheinlich. Für Bob ist dasbislang nicht wirklich interessant: In 50% der Fälle erzielter das gleiche Ergebnis, welches das ursprüngliche Photongeliefert hätte, und in den anderen 50% der Fälle erzielter das entgegengesetzte Ergebnis. Um zu dieser Erkennt-nis zu kommen, hätte Bob gar nichts weiter tun müssen.Da es nur zwei mögliche Ergebnisse gibt, wusste er im Vor-aus, dass er in einem von zwei Fällen das richtige Ergeb-nis findet. Aber bei der Quantenteleportation kennt Alicedas Ergebnis ihrer gleichzeitigen Messung und daher weißsie, ob Bob das richtige Ergebnis oder das entgegengesetztefindet. Um den Prozess der Quantenteleportation zu be-enden, muss Alice also Bob mitteilen, welcher Fall für ihnzutrifft.

Jetzt lässt sich auch nachvollziehen, wie die Quanten-teleportation vermeidet, dass Kommunikation mit einer be-liebigen Geschwindigkeit stattfindet: Der Vorgang ist erstbeendet, nachdem Bob das Ergebnis der gleichzeitigenMes-sung erhalten hat, welche die zwei Photonen von Alice ver-schränkt. Diese Mitteilung von Alice an Bob ist notwendig,denn ohne sie sind Bobs Ergebnisse einfach nur zufällig und

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Bob kann sie nicht interpretieren; die Mitteilung des Er-gebnisses von Alice breitet sich zwangsläufig mit Lichtge-schwindigkeit oder mit einer geringeren Geschwindigkeitaus. Die Quantenteleportation kann demnach in ihrer Ge-samtheit nicht schneller als mit Lichtgeschwindigkeit von-statten gehen. Es passiert schon einiges bei Bob, wenn Ali-ce ihre gemeinsame Messung durchführt, da Bobs Photonvon einem strukturlosen Zustand in ein Photon mit zweimöglichen Zuständen übergeht. Bob kann das nicht fest-stellen, denn er erhält – unabhängig von der Messung, dieer durchführt – ein zufälliges Ergebnis. Sobald ihm Alicejedoch mitteilt, in welchem der beiden Zustände sich ihrPhoton befindet, weiß Bob, wie er es anstellen muss, umimmer das Ergebnis zu bekommen, das Alice erzielt hätte,wenn sie ihr ursprüngliches Photon gemessen hätte – undzwar unabhängig davon, welche Messung Bob gewählt hät-te. Bobs Photon befindet sich folglich im Quantenzustanddes ursprünglichen Photons.

Wir halten fest, dass Bob sein Photon nicht unbedingtmessen muss. Er kann es für eine künftige Verwendungim gegenwärtigen Zustand bereithalten oder es seiner-seits an einen entfernteren Ort teleportieren. Man kannsich vorstellen, dass eines Tages nach und nach ein gan-zes Teleportationsnetz entsteht (etwa über Entfernungenvon jeweils 50 Kilometern, über die sich die Verschrän-kung durch Glasfasern mühelos ausbreitet). Wenn Bobvon Alice erfährt, dass sein Photon immer das entgegen-gesetzte Ergebnis liefern würde, dann reicht es für ihn aus,sein Photon umzudrehen8. Das kann durchgeführt werden,ohne das Photon zu stören (Bob dreht sein Photon um,ohne etwas über dessen Zustand zu erfahren). Halten wir

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an dieser Stelle fest, dass Bob sein Photon ebenso gut auchweiter teleportieren kann, ohne es auszurichten; es reicht,wenn er den Endempfänger darüber informiert, dass dieserdie Korrektur selbst durchführen muss. Der Endempfängerberechnet somit, wie oft er sein Photon umdrehen muss:Kommt er auf eine gerade Zahl, dann ist nichts zu tun;kommt er auf eine ungerade Zahl, dann dreht er sein Pho-ton um.

Noch eine wichtige Präzisierung. Weder Alice noch Boberfahren irgendetwas über den teleportierten Zustand. DasErgebnis der gemeinsamenMessung, die Alice an ihren bei-den Photonen durchführt, ist nämlich immer vollkommenzufällig. Dieses Ergebnis liefert also keinerlei Informationüber den teleportierten Zustand. Wenn man sich das durchden Kopf gehen lässt, ist das nicht überraschend. Wir ha-ben Folgendes gesehen: Geht man von einem verschränktenZustand aus, dann ist das Ergebnis einer Messung – ganzgleich, in welcher Richtung sie durchgeführt wird – immervollkommen zufällig. Es handelt sich um das Phänomen,was wir „echten Zufall“ nannten. Geht man umgekehrt voneinem Photon aus, das in einer wohlbestimmten Richtungschwingt – ganz gleich, um welche Richtung es sich han-delt –, und stellt man ihm die Frage „seid ihr ähnlich?“,dann ist das Ergebnis ebenfalls vollkommen zufällig, alsoein echter Zufall. Das ist gewissermaßen der umgekehrteProzess. Und wenn wir unsere Überlegung zu Ende füh-ren, ist das notwendigerweise so, denn andernfalls würdenAlice und/oder Bob etwas über den teleportierten Zustanderfahren und sie könnten das Verfahren wiederholen, in-dem sie diesen Zustand abwechselnd zwischen sich hin- undher teleportieren und dabei jedes Mal ein neues Paar von

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Verschränkung

Verschränkung

gemeinsame

Messung

Teleportation

über doppelte Entfernung erfolgende Verschränkung

von Photonen, die sich nie „gesehen“ haben

Abb. 9.2 Wenn man ein Qubit (Photon) teleportiert, das selbstverschränkt ist – wie hier das zweite von links, das mit dem ers-ten verschränkt ist –, dann folgt daraus, dass das erste mit demvierten verschränkt ist. Man spricht hier von einer Quantentele-portation. Dieser Prozess ist faszinierend, denn es werden Teilchenverschränkt, die sich nie getroffen haben. Das Verfahren ist auchnützlich, denn es gestattet, die Entfernung zwischen den ver-schränkten Objekten zu verdoppeln

verschränkten Photonen verwenden – so lange, bis sie hin-reichend viele Informationen gesammelt haben, um Kopiendieses Zustands herstellen zu können. Das aber würde demNo-Cloning-Theorem von Kap. 5 widersprechen.

Alice und Bob können schließlich auch den Zustand ei-nes Photons teleportieren, das seinerseits mit einem viertenPhoton verschränkt ist: Da sie nichts über den teleportiertenZustand erfahren, zerstören sie die teleportierte Verschrän-kung nicht. Somit haben wir beide Aspekte der Verschrän-kung genutzt: Zweimal, um Photonen über eine Entfer-nung zu korrelieren, und einmal, um eine gemeinsameMessung durchzuführen. Man kann also Photonen ver-schränken, die sich nie gesehen haben und die keine ge-

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meinsame Vergangenheit haben, so wie in Abb. 9.2 darge-stellt! Man spricht dann von einer Verschränkungstelepor-tation.

9.4 Quantenfax undQuantenkommunikationsnetze

Es könnte der Eindruck entstehen, dass die Quantentele-portation nichts anderes ist als ein Quantenfax. Schließlichmuss Bob bereits im Besitz eines Qubits sein, das als lee-res Blatt fungiert, auf dem am Ende des Prozesses der Zu-stand des „gefaxten“ Qubits steht. Aber diese Analogie istaus mehreren Gründen trügerisch.

Vor allen Dingen faxt man nicht einfach irgendeine In-formation: Teleportiert wird der ultimative Zustand, alsodie ultimative Struktur, die die betreffende Materie hat. Esist nicht nur so, dass das finale Qubit den Zustand des ur-sprünglichenQubits trägt, sondern es ist mit diesem in allenPunkten identisch.

Außerdem erfordert die Beschreibung des Zustands einesQuantensystems eine unendliche Informationsmenge, dennes gibt eine unendliche Anzahl von Quantenzuständen.Zum Beispiel kann der Polarisationszustand eines Pho-tons durch einen Winkel beschrieben werden. Um diesenWinkel zu übermitteln, braucht man eine unendliche An-zahl von Übertragungsbits. Im Gegensatz hierzu erfordertdie Übertragung des Polarisationszustands eines Photonsbei der Quantenteleportation nur ein einziges Bit. Die beider Quantenteleportation notwendige Kommunikation ist

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9 Quantenteleportation 137

also winzig im Vergleich zu der Informationsmenge, dienotwendig wäre, um den teleportierten Zustand zu über-mitteln (wenn dieser bekannt wäre).

Der dritte Unterschied besteht darin, dass bei der Quan-tenteleportation das Original notwendigerweise zerstörtwird. Das ist erforderlich, um das No-Cloning-Theorem zuerfüllen, das wir in Kap. 5 kennengelernt haben.

Und schließlich der Hauptunterschied. Bei der Quan-tenteleportation erfahren weder Alice noch Bob irgendet-was über den Zustand des teleportierten Qubits. Das istabsolut bemerkenswert und sehr nützlich in der Kryptogra-phie. Sendet jemand ein Fax, dann kann dieses an jedemPunkt der Telekommunikationsleitung abgefangen wer-den. Nichts dergleichen ist bei der Quantenteleportationmöglich: Wie wir gesehen haben, erfährt niemand etwasüber den Zustand des teleportierten Qubits – nicht ein-mal der Sender und der Empfänger. Somit kann Alice eineNachricht an Charles teleportieren, der diese seinerseits anBob teleportiert. Wenn Charles das Protokoll der Quan-tenteleportation korrekt ausführt, erfährt er nichts über dieNachricht. Alice und Bob können sogar überprüfen, ob derVorgang geklappt hat und dass Charles nichts erfahren hat:Diese Prüfung erfolgt über die Anwendung des Quanten-kryptographieprotokolls. Durch Verallgemeinerung auf einganzes Quantenteleportationsnetzwerk können sich Aliceund Bob der Vertraulichkeit ihrer Kommunikation ver-gewissern, selbst wenn dabei Zwischenknoten verwendetwerden („Quantenrepeater“ wie Physiker sagen würden).

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138 Der unbegreifliche Zufall

9.5 Kann man große Objekteteleportieren?

Sind Sie bereit, sich in eine Quantenteleportationsmaschinezu setzen? An Ihrer Stelle wäre ich misstrauisch – aus zweiGründen.

Einerseits haben außergewöhnliche Quantenteleportati-onsexperimente das Prinzip bewiesen – und das ist wunder-bar! –, aber man musste hierzu die seltenen Fälle auswählen,in denen das ursprüngliche Objekt nicht zerstört wordenist. In den meisten Fällen hat man nämlich Photonen ver-wendet für den Nachweis und, wie bei allen Beweisen desBell-Spiels, sind viele Photonen ganz einfach verloren ge-gangen. Physiker können gut nachvollziehen, warum dasso ist, und betrachten diese Beweise als schlüssig. Falls ichjedoch als Photon dieWahl hätte, würde ichmich nicht frei-willig für eine Teleportation zur Verfügung stellen. Aber imErnst: Auch mit Atomen sind einige Experimente durch-geführt worden und in diesem Fall ist praktisch keines vonihnen verloren gegangen. Aber die betreffenden Entfernun-gen liegen im Augenblick unter einem Millimeter.

Es gibt noch einen zweiten Grund, misstrauisch zu sein.Zur Teleportation eines Objekts gwöhnlicher Größe wä-re ein enormes Maß an Verschränkung notwendig. DieVerschränkung ist äußerst fragil. Um sie aufrecht zu er-halten, muss man unbedingt jede Störung vermeiden, alsojede Wechselwirkung mit der Umgebung. Man schafft dasganz gut mit Photonen, die in Glasfasern isoliert werden,oder mit einigen Atomen in speziellen Hochvakuumfallen.Aber für die riesigen Mengen von Verschränkungen – die

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9 Quantenteleportation 139

man etwa brauchte, um auch nur eine Bleistiftspitze zuteleportieren –, ist es heute unvorstellbar, eine Störung zuvermeiden. Das aber würde den gesamten Teleportations-prozess vollkommen zufällig machen.

Sogar mit einem unbegrenzten Budget wäre heute nie-mand in der Lage, diese Schwierigkeit zu überwinden. Eshandelt sich also nicht einfach um ein simples technischesProblem. Vielleicht wird man eines Tages den Quanten-zustand eines Virus teleportieren können – wer weiß? Wirsind jedenfalls heute noch weit davon entfernt. Und zu al-lem Überfluss müsste man dazu auch noch wissen, was derQuantenzustand eines Virus ist. Vielleicht wird man einesTages auch entdecken, dass dieses Vorhaben unmöglich ist:Es kann sein, dass man ein neues physikalisches Prinzip ent-deckt, das die Teleportation eines Objekts unserer Größeverbietet. Ich weiß es nicht – genau das macht die Unge-wissheit und die Schönheit der Wissenschaft aus!

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10Ist die Natur wirklich

nichtlokal?Nach dem zu urteilen, was wir bislang gesehen haben,scheint die Natur tatsächlich fähig zu sein, nichtlokale Kor-relationen hervorzubringen. Wissenschaftler sind es jedochnicht gewohnt, sich einer Theorie oder eines Konzepts oh-ne Weiteres zu entledigen. Liefert ein Experiment seltsameErgebnisse, dann hinterfragen die Forscher nicht nur dieTheorie, sondern auch das Experiment. Ist es reproduzier-bar? Ist es korrekt interpretiert worden? In unserem Fallist das Experiment mehrmals auf allen Kontinenten in ei-ner ganzen Vielfalt von Varianten reproduziert worden.Trotzdem werden wir sehen, dass es ziemlich schwierig ist,sicher zu sein, dass sämtliche Schlupflöcher gestopft wor-den sind – selbst wenn die Physiker heute zutiefst davonüberzeugt sind, dass die Natur tatsächlich nichtlokal ist.

In diesem Kapitel werden wir verschiedene Argumentedurchgehen, welche die Wissenschaftler ganz genau unter-suchen mussten, um sich davon zu überzeugen, dass sie aufeine Beschreibung der Natur durch lokalisierte und von-einander unabhängige „Realitätsstücke“ verzichten müssen.Das Bild von einer Natur, die wie in einem Lego-Spiel kon-struiert wird, ist tatsächlich unvereinbar mit der Nichtloka-lität, wie sie im Bell-Spiel zum Ausdruck kommt. Diejeni-gen Leser, die hiervon jetzt schon überzeugt sind und die

N. Gisin, Der unbegreifliche Zufall, DOI 10.1007/978-3-662-43958-6_10,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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142 Der unbegreifliche Zufall

im Folgenden geschilderte wissenschaftliche Debatte nichtverfolgen möchten, können diese überspringen und direktmit Kap. 11 weitermachen.

10.1 Die Nichtlokalität bei Newton

Beginnen wir mit einem anderen Beispiel der Nichtlokali-tät. Wie wir gesehen haben, ist das nicht das ersteMal in derGeschichte, dass Physiker der Nichtlokalität begegnen . . .Die universelle Gravitation des großen Newton ist eben-falls nichtlokal. Wennman einen Kieselstein auf demMondverschiebt, dann wird dadurch gemäß dieser Theorie unserGewicht auf der Erde unmittelbar beeinflusst. Diese soforti-ge Wirkung über eine beliebige Entfernung hinweg ist einenichtlokale Wirkung. Im Gegensatz zur Quantennichtlo-kalität gestattet diese nichtlokale Wirkung eine Kommu-nikation ohne Übertragung und mit einer beliebig großenGeschwindigkeit. Man kann sich zu Recht fragen, wie diePhysiker eine solche Theorie über Jahrhunderte akzeptie-ren konnten. Die Antwort ist, dass sie sie nicht wirklichakzeptiert haben. Bereits Newtons Reaktion ist vielsagend(vgl. Kasten 1): „Dass die Gravitation [. . . ] über eine Entfer-nung [. . . ] wirken soll, ist für mich eine so große Absurdität,dass ich glaube, kein Mensch, der eine in philosophischenDingen geschulte Denkfähigkeit hat, kann sich dem jemalsanschließen.“

Erst beginnend mit Laplace haben einige Jahrzehntespäter etliche Physiker Newtons Theorie in den Rang einerletzten Wahrheit erhoben und daraus auf einen absolutenDeterminismus geschlossen, wobei sie Wissenschaft und

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10 Ist die Natur wirklich nichtlokal? 143

Determinismus miteinander identifizierten. Newtons Hal-tung steht in einem starken Gegensatz zur Auffassung NielsBohrs, des geistigen Vaters der Quantenmechanik, der eineganze Generation von Physikern mit seiner hartnäckigenBehauptung niedergestreckt hat, dass die Quantentheorievollständig sei. Das hat Bohr dazu gebracht, die ArgumenteEinsteins herabzusetzen, die dieser sehr rasch vorgebrachthat, um die Nichtlokalität der Quantentheorie aufzuzei-gen. Möglicherweise hat dieser Umstand verhindert, dassein junger Physiker bereits in den 1930er Jahren das Argu-ment des Bell-Spiels hätte entdecken können. Aber lassenwir die Geschichtsfiktion beiseite und kommen wir aufunser Thema zurück.

Heute ist Newtons Nichtlokalität aus den physikalischenTheorien verschwunden. Einsteins Allgemeine Relativitäts-theorie hat Newtons Theorie ersetzt, die heute nicht mehrals den Status einer ausgezeichneten Annäherung an dieRealität hat. Gemäß der aktuellen Theorie beeinflusst dieVerschiebung eines Kieselsteins auf dem Mond unser Ge-wicht auf der Erde erst ungefähr eine Sekunde später – dieZeit, die das Signal benötigt, um sich mit Lichtgeschwin-digkeit vom Mond zur Erde auszubreiten.

Die Geschichte von Newtons Nichtlokalität ist in zwei-erlei Hinsicht bedeutsam. Wäre es nicht möglich, dass dieQuantennichtlokalität ebenfalls nur eine vorläufigeTheorieist und dass eine zukünftige Theorie zeigen wird, dass sichdie Korrelationen, die den Gewinn des Bell-Spiels gestatten,lokal in Raum und Zeit erklären lassen? Mit anderen Wor-ten, könnte sich nicht auch die Quantentheorie als eine ex-zellente Annäherung an eine zutreffende Beschreibung derRealität herausstellen? Ganz und gar nicht: Wie wir gesehen

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144 Der unbegreifliche Zufall

haben, ist Bells Argumentation unabhängig von der Quan-tentheorie und dieses Argument gestattet es, die Nichtlo-kalität direkt zu testen. Wenn es möglich ist, im Bell-Spielzu gewinnen, dann lässt sich die Natur nicht vollständigdurch eine lokale Theorie beschreiben – ganz egal, um wel-che Theorie es sich handelt.

Er ist andererseits faszinierend festzustellen, dass diePhysik fast immer eine nichtlokale Beschreibung der Na-tur geliefert hat: Newtons Nichtlokalität bis 1915 und dieQuantennichtlokalität seit 1927. Mit Ausnahme eines klei-nen Zeitfensters von zwölf Jahren ist die Physik also immernichtlokal gewesen. Man fragt sich folglich, warum sichauch heute noch so viele Physiker dagegen sträuben, dieNichtlokalität zu akzeptieren. Es ist dagegen nicht über-raschend, dass Einstein einer ihrer glühendsten Gegnergewesen ist. Schließlich war er es, der nach Jahrhunderteneine Antwort auf Newtons Theorie geliefert hat, indem erdie Physik lokal machte. Dass es zehn Jahre später eine an-dere Theorie gestattet hat, die Nichtlokalität ins Zentrumder Physik zurückzuholen, war für Einstein mehr als un-erträglich. Schade, dass in den 1930er oder 1940er Jahrenniemand die geniale Idee von Bell hatte: Es wäre spannendgewesen, Einsteins Reaktion zu sehen!

10.2 Das Detektionsschlupfloch

ImBell-Spiel liefern die Boxen jedesMal ein Ergebnis, wennder Hebel nach links oder nach rechts gedrückt wird. Beirealen Experimenten kommt es jedoch vor, dass ein Photonverloren geht oder nicht erfasst wird und deswegen kein Er-

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gebnis aufgezeichnet werden kann. Physiker wissen genau,warum gewisse Photonen verloren gehen und warum diePhotonendetektoren nur eine begrenzte Leistungsfähigkeithaben. Damit gibt es hier einen Unterschied zwischen demtheoretischen Spiel und dem realen Experiment.

In der Praxis betrachten die Physiker nur diejenigen Fäl-le, in denen die Boxen von Alice und Bob alle beide einErgebnis geliefert haben; über die anderen Fälle wissen sieganz einfach nichts. Sie setzen voraus, dass die so erhal-tenen Stichproben für die Gesamtheit repräsentativ sind,und rechtfertigen diese Hypothese, indem sie davon aus-gehen, dass die Natur nicht mogelt und ihnen keine ver-zerrten Stichproben präsentiert. Diese Überlegung ist zwarkohärent, aber weil darin eine Hypothese auftritt, gibt esvielleicht doch ein Nichtlokalitätsschlupfloch.

Stellen wir uns vor, dass die Boxen von Alice und Bobfolgende Strategie anwenden. Um 9.00 Uhr liefert jede vonihnen nur dann ein Ergebnis, wenn der Hebel nach linksgedrückt wird (Input 0) und in diesem Fall sind die bei-den Ergebnisse 0. Wird der Hebel einer Box nach rechtsgedrückt, dann liefert sie kein Ergebnis. Eine Minute späterliefern die Boxen nur dann ein Ergebnis, wenn der Hebelnach rechts gedrückt wird (Input 1) und in diesem Fall lau-ten die Antworten 1 bei Alice und 0 bei Bob. Und so geht esweiter: Jede Minute akzeptiert jede der zwei Boxen nur eineeinzige Frage und liefert gegebenenfalls ein vorher bestimm-tes Ergebnis. Findet im Vorfeld eine Absprache zwischenden beiden Boxen ab und betrachtet man nur die Fälle, indenen beide Boxen zufällig ein Ergebnis liefern, dann lässtsich das Bell-Spiel mit absoluter Sicherheit, das heißt, in 4von 4 Fällen gewinnen! Es ist dann nämlich so, als ob die

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Boxen die Fragen im Voraus kennen würden, da sie nurauf Fragen antworten, die sie zu beantworten bereit sind(das heißt für die sie programmiert sind). Es gibt zwei Aus-wahlmöglichkeiten für die Fragen und deswegen beträgt dieWahrscheinlichkeit, zufällig die richtige Frage zu ziehen, fürjede der beiden Boxen 50%. Geht also bei einem Experi-ment die Hälfte der Photonen auf jeder Seite verloren oderwerden sie gar nicht erst erfasst, dann kann man sich mü-helos eine Strategie vorstellen, mit der man das Bell-Spielin weitaus mehr als 3 von 4 Fällen „gewinnt“: Man kannsogar mit Sicherheit „gewinnen“! Ich habe „gewinnen“ inAnführungszeichen gesetzt, da man natürlich schummelt:Die Boxen antworten nicht immer.

Ist es möglich, dass zusätzliche lokale Variablen diePhotonen so programmieren, dass sie auf gewisse Fra-gen nicht antworten, das heißt, dass die Detektoren diePhotonen nicht entdecken können? Die meisten Phy-siker stehen dieser Annahme sehr skeptisch gegenüber.Sie haben das Gefühl, sie hätten die Funktionsweise derPhotonendetektoren sehr gut verstanden. Außerdem sindExperimente mit vielen Typen von unterschiedlichen De-tektoren durchgeführt worden: Halbleiter, Supraleiter,thermische Detektoren und so weiter. Nimmt man jedochdie Hypothese der zusätzlichen Variablen ernst, dann gibtes wirklich keinen Grund zu denken, dass diese Variablenkeinerlei Auswirkungen auf die Detektionswahrscheinlich-keiten hätten. Einmal mehr ist ein Experiment die einzigrichtige Antwort. Aber kein Experiment kann eine De-tektionsrate von exakt 100% haben. Man könnte dieseSchwierigkeit folgendermaßen umgehen: Liefert die phy-sikalische Apparatur keine Antwort, dann beschließt man,

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diese Ereignisse als Antworten mit dem Ergebnis 0 zu wer-ten. Dadurch erhalten wir immer eine Antwort, wobei dieMehrzahl der Antworten offensichtlich 0 ist.

Ein Argument gestattet es, nachzuweisen, dass es bei die-ser Strategie ausreicht, im Bell-Spiel 82,8% der Photonenmessen zu können, um jegliche Erklärung auszuschlie-ßen, die sich auf zusätzliche lokale Variablen stützt (vgl.Kasten 10). Aber 82,8% sind noch immer ein zu hoherProzentsatz für die heutige Photonentechnologie. Glück-licherweise ist man aber nicht auf Photonen angewiesen:Man kann das Bell-Spiel auch mit anderen Teilchen spie-len. Zwei Gruppen von amerikanischen Physikern habenIonen (Atome, die ein Elektron verloren haben) verwendet,um das Bell-Spiel mit Messungen von so hoher Qualitätzu gewinnen, die es erlaubt, das Detektionsschlupfloch zuschließen2.

Es hat mehr als zwanzig Jahre gedauert, dieses Schlupf-loch zu schließen. Diese Zeitdauer verdeutlicht die techni-schen Schwierigkeiten des Vorgangs.

Kasten 10 – Das Detektionsschlupfloch Es sei pdie Wahrscheinlichkeit, dass die Box von Alice einErgebnis liefert, und wir nehmen an, dass die Boxvon Bob mit der gleichen Wahrscheinlichkeit ein Er-gebnis liefert. Somit erzielen beide Boxen mit derWahrscheinlichkeit p2 ein Ergebnis. In dieser Situa-tion gewinnen Alice und Bob das Bell-Spiel in 2 Cp2 � 3;41 von 4 Fällen. Mit derWahrscheinlichkeit

.1�p2/ wird kein Ergebnis erzielt. In dieser Situation

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148 Der unbegreifliche Zufall

zählen Alice und Bob diese Nichtergebnisse als 0 undgewinnen somit in 3 von 4 Fällen. Liefert nur eineeinzige Box ein Ergebnis, dann gewinnen Alice undBob die Hälfte der Zeit, das heißt, in 2 von 4 Fällen.Daher ist die durchschnittliche Erfolgsrate von Aliceund Bob durch folgenden Ausdruck gegeben:

p2�2 C p

2�

C 2p.1 � p/ � 2 C .1 � p/2 � 3:

Diese Erfolgsrate ist größer als 3, falls p größer als2=

�1 C p

2� � 82;2% ist.

10.3 Das Lokalitätsschlupfloch

Eine weitere größere Schwierigkeit bei experimentellen De-monstrationen des Bell-Spiels ist die Notwendigkeit einerstrikten Synchronisation. Die Box von Alice muss das Er-gebnis a liefern, bevor ihr die Wahl von Bob – freiwilligoder unfreiwillig, offen oder verborgen – mitgeteilt wer-den kann. Die Relativität begrenzt die Geschwindigkeitjeglicher Kommunikation auf ein Maximum: die Lichtge-schwindigkeit. Ab dem Augenblick, in dem Bob seine Wahly trifft, bis zu dem Augenblick, in dem die Box von Alicedas Ergebnis a liefert, darf nicht mehr Zeit vergehen als dieZeit, die das Licht braucht, um die Entfernung von Bobzur Box von Alice zurückzulegen. Umgekehrt darf keineInformation, die sich auf die Wahl von Alice bezieht, die

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Zeit haben, die Box von Bob zu erreichen, bevor diese dasErgebnis b liefert. Andernfalls öffnet man das, was als Lo-kalitätsschlupfloch bezeichnet wird (Alice und Bob wärenim Sinne der Relativität „lokal verknüpft“)3.

Um das Lokalitätsschlupfloch zu schließen, muss manalso das Bell-Spiel spielen (und es in mehr als 3 von 4 Fäl-len gewinnen), wobei garantiert sein muss, dass Alice undBob hinreichend weit voneinander entfernt und gut syn-chronisiert sind. Physiker würden sagen, dass sie durch eine„raumartige“ Trennung voneinander abgegrenzt sein müs-sen. Man beachte, dass die Trennung jedes Zeitintervall beiAlice betrifft – zwischen dem Augenblick, in dem die Wahlvon x erfolgt, bis zu dem Augenblick, in dem ein Ergebnis aaufgezeichnet wird (x und a sind beides klassische Variablenund unterliegen demnach nicht der Quantenunbestimmt-heit); dieses ganze Intervall muss von dem entsprechendenIntervall bei Bob getrennt sein.

Um die technische Schwierigkeit zu illustrieren, stellenwir uns vor, dass Alice und Bob durch eine Entfernungvon ungefähr zehn Metern voneinander getrennt sind, sowie in dem berühmten Experiment von Aspect, das wirweiter unten beschreiben. Das Licht braucht 30 milliard-stel Sekunden, um diese 10 Meter zu überwinden. Es istleicht nachzuvollziehen, wie schwer es ist, innerhalb ei-nes so winzigen Zeitintervalls eine Wahl zu treffen, diedurchzuführende Messung zu justieren (das Äquivalent des„Hebeldrückens“) und das Ergebnis aufzuzeichnen. Es gehtoffensichtlich nicht mehr darum, einer Person freieWahl zulassen; noch weniger geht es darum, einen Hebel umzule-gen – ist doch sogar mit der modernen Optoelektronik eineEntfernung von 10 Metern zu kurz. Man bräuchte Hun-

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derte von Metern oder – noch besser – einige Kilometer.Oder man muss gewitzt sein wie ein Physiker.

Aber bevor wir uns ansehen, wie Alain Aspect und seineMitarbeiter die Schwierigkeiten umgangen haben, weisenwir darauf hin, dass die überwiegende Mehrheit der Bell-Experimente (Physiker sprechen nicht von einemBell-Spiel,„Bell-Experiment“ klingt seriöser) dieses Schlupfloch nichtweiter beachtet. Das liegt einerseits daran, dass es sich um ei-ne schwierige Angelegenheit handelt. Vor allem aber wissendie Professoren, die diese Experimente planen, auch, dasswenn sie verhindern wollen, dass ein Student von einem an-deren abschreibt, um die Prüfungen zu bestehen (so wie dieBoxen von Alice und Bob einander alles nachmachen könn-ten, um das Bell-Spiel zu gewinnen), es nicht notwendig ist,sie in zwei unterschiedlichen Zimmern schreiben zu lassenund sie so durch eine raumartige Entfernung voneinanderzu trennen. Es reicht aus, sich zu vergewissern, dass es ihneneinigermaßen unmöglich ist, sich gegenseitig zu beeinflus-sen.

Um die Schwierigkeiten zu umgehen, die aufgrund derGröße seines Labors entstanden sind (eine höchstmöglicheDistanz von ungefähr zehn Metern), hat sich Alain Aspectetwas einfallen lassen. Nachdem die Photonen die Quelleverlassen haben, werden sie zufällig durch eine Art schwin-genden Spiegel auf jeweils eines von zwei Messgeräten ge-lenkt. Jedes Gerät führt immer die gleiche Messung (diegleiche Wahl) durch, aber da es zwei Geräte gibt, könnendie Photonen in dem Moment, in dem sie die Quelle ver-lassen und sich im Raum trennen, nicht „voraussehen“, aufwelches Gerät sie geleitet werden. Sie können die Fragennicht vorhersehen, auf die sie antworten müssen. Mit die-

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sem Trick reicht es aus, dass die Orientierungen der beidenSpiegel – des Spiegels auf der Seite von Alice und des Spie-gels auf der Seite von Bob – voneinander unabhängig undmit einer hinreichend großen Frequenz schwingen, damitkeine Information über die Position der einen Seite ein Er-gebnis der anderen Seite beeinflussen kann. Eine weiterhinvorhandene Schwierigkeit besteht also darin, sich zu verge-wissern, dass die Spiegel zufällig und unabhängig voneinan-der schwingen.

Dank dieses Tricks haben Aspect und seine Mitarbeiterdas Lokalitätsschlupfloch 1982 schließen können4. Diesesin Orsay im Süden von Paris durchgeführte Experimentwird für immer einen Platz in den Geschichtsbüchern derPhysik haben. Seitdem haben auch einige andere Experi-mente dieses Schlupfloch geschlossen. Abbildungen 10.1und 10.2 zeigen die unglaublichen Fortschritte, die imBereich der Quantentechnologien erzielt worden sind.

Anton Zeilinger, damals an der Universität Innsbruckin Österreich, hat 1998 ein sehr schönes Experiment übereinige hundert Meter Entfernung durchgeführt5. Er undseine Kollegen haben zwei Quantenzufallsgeneratoren ver-wendet, um die Entscheidungen von Alice und Bob zu fäl-len, und sie haben die Ergebnisse mit zwei Computern lokalaufgezeichnet. Jeder Computer registrierte die Uhrzeit derEreignisse, die Entscheidungen und die Ergebnisse: Für dasBell-Spiel registrierten sie im Durchschnitt einen Gewinnin 3,365 von 4 Fällen.

In Genf haben auch wir dieses Schlupfloch geschlossen,und zwar auf einer Entfernung von etwas mehr als 10 Ki-lometern zwischen den beiden Ortschaften Bellevue imNorden und Bernex im Süden von Genf, wobei wir einen

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Abb. 10.1 Ein 1982 aufgenommenes Foto des Labors von AlainAspect, der der Erste war, der im Bell-Spiel gewonnen hat. Wirsehen ein großes, vollgepfropftes Labor. Alle Geräte zusammen-genommen bilden die bei diesem historischen Experiment ver-wendete Quelle von verschränkten Photonen

Lichtwellenleiter des Telekommunikationsnetzes des natio-nalen Betreibers Swisscom benutzt haben6. Dabei haben wireinen Trick angewendet, der sich ein bisschen von dem vonAspect unterscheidet7. Bei Alice sendet ein halbdurchsichti-ger Spiegel die Photonen zufällig auf ein Messgerät („Hebelnach links“) oder auf ein anderes Messgerät („Hebel nachrechts“) und zu jedem Zeitpunkt sind nur die Detektoreneines der beiden Geräte aktiv. Es gibt demnach zu jedemZeitpunkt bei Alice nur ein einziges Gerät, das dazu bereitist, das einfallende Photon zu messen. Offensichtlich gehtdie Hälfte der Photonen verloren und man öffnet das De-

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Abb. 10.2 Foto der Quelle, die wir in Genf beim ersten Ver-schränkungsexperiment verwendet haben, das außerhalb einesLabors, zwischen den Ortschaften Bernex und Bellevue, durchge-führt worden ist. Diese halbleere Box mit einer Seitenlänge vonca. 30 cm enthält eine Quelle von verschränkten Photonen, die so-gar noch effizienter ist als die von Aspect benutzte Quelle. Nurfünfzehn Jahre trennen diese beiden Experimente voneinander

tektionsschlupfloch, aber dieses steht ohnehin bereits weitoffen aufgrund der Verluste in der Glasfaser und wegen derbegrenzten Effizienz der Detektoren. Unser Experiment istim Grunde äquivalent zu den Experimenten von Paris und

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von Innsbruck, lässt sich aber viel einfacher durchführen.Abbildung 10.2 zeigt die von uns verwendete Quelle derverschränkten Photonenpaare. Beachten Sie, dass diese klei-ne Box, die mit Standardglasfasern kompatibel ist, genaudas enthält, das im großen Labor von Aspect vorhandenwar, das auf Abb. 10.1 zu sehen ist. Die Technologie unddie Phantasie der Physiker haben es erlaubt, innerhalb vonfünfzehn Jahren riesige Fortschritte zu machen!

10.4 Eine Kombinationvon Schlupflöchern?

Das 1982 von Aspect durchgeführte Experiment sowie dieExperimente von Innsbruck undGenf haben das Lokalitäts-schlupfloch geschlossen. Freilich ist in diesen drei Experi-menten das Detektionsschlupfloch klaffend offen gebliebenund in den Experimenten, die das letztere geschlossen ha-ben, ist das Lokalitätsschlupfloch offen geblieben. Wir kön-nen uns also logischerweise vorstellen, dass dieNatur je nachdem das eine oder das andere dieser Schlupflöcher benutzt,um uns sozusagen hinters Licht zu führen. Das ist jedochso wenig plausibel, dass kaum ein Physiker daran glaubt.Physiker neigen nämlich dazu, die Natur als verlässlichenPartner anzusehen: Die Natur schummelt nicht. „Raffiniertist der Herrgott, aber boshaft ist er nicht“, hat Einstein ge-schrieben. Es bleibt uns nichts anderes übrig als zwischeneiner nichtlokalen und einer anderen Natur zu wählen, diegewissen komplexen Gesetzen folgt, die sich uns bis heutenicht erschließen – wobei diese Gesetze der Natur gestat-ten, die beiden Schlupflöcher gleichzeitig zu nutzen. Keine

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einfache Wahl. Und da wir es mit einem experimentellenwissenschaftlichen Ansatz zu tun haben, besteht die einzi-ge ehrliche Antwort darin, ein Experiment durchzuführen,das gleichzeitig beide Schlupflöcher testet. Der Grund, wes-halb noch kein solches Experiment durchgeführt wordenist, liegt in der Komplexität der Sache: Um das Detektions-schlupfloch zu schließen, ist es besser, massive Teilchen zuverwenden, die leichter als Photonen zu detektieren sind,aber für das Lokalitätsschlupfloch bevorzugt man Photo-nen, denn sie breiten sich leichter über große Entfernun-gen aus. Man wird also wahrscheinlich warten müssen, bisdie Technologie die Verwendung verschränkter Photonengestattet, um die Verschränkung zunächst über große Ent-fernungen zu verteilen und sie danach auf Atome „telepor-tieren“. Das würde es gestatten, zuerst die Ankunft der Pho-tonen zu verifizieren und diese dann schließlich wirksam zudetektieren. Diese faszinierende Perspektive wird sich wahr-scheinlich in den nächsten zehn Jahren eröffnen.

Nach dem heutigen Stand der Dinge ist eine Kombinati-on der Schlupflöcher logisch möglich. Eine solche Kombi-nation muss entsprechend experimentell geprüft werden.

10.5 Eine verborgene Kommunikationmit Überlichtgeschwindigkeit?

Sind andere Schlupflöcher möglich? Das ist eine schwieri-ge Frage, denn man geht immer das Risiko ein, sich durcheinen Mangel an Phantasie zu versündigen. Es hat jedochden Anschein, dass Physiker, Philosophen, Mathematikerund Spezialisten der Informationstheorie – obwohl sie sich

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seit Jahrzehnten mit der Frage auseinandersetzen – keineglaubwürdige Alternative gefunden haben. Im verbleiben-den Teil dieses Kapitels werden wir dennoch einige Fährtengenauer verfolgen.

Als erste Möglichkeit fällt einem ein, dass sich ein ver-borgener Einfluss – ein Einfluss der uns Physikern, die wirzu Beginn des 21. Jahrhunderts leben, verborgen gebliebenist – mit Überlichtgeschwindigkeit von Alice zu Bob aus-breitet. Überraschenderweise stellen Bücher über nichtre-lativistische Physik die Experimente von Bell genauso dar:Die Messung bei Alice würde über die Entfernung hinwegeinen nichtlokalen „Kollaps“ der Wellenfunktion bei Bobauslösen. DieseGeschichte ist zwar mit der Relativitätstheo-rie nicht vereinbar, wird aber – in Ermangelung von etwasBesserem – unseren Studenten vermittelt!

Die Hypothese eines verborgenen Einflusses entsprichtauch der Intuition von John Bell, der geschrieben hat, dassalles so abläuft, als ob „etwas hinter den Kulissen geschieht,dem es nicht gestattet ist, auf der Bühne zu erscheinen8“.

Eine Überlichtgeschwindigkeit kann nur unter der Vor-aussetzung definiert werden, dass diese Geschwindigkeit ineinem speziellen Bezugssystem festgelegt wird, das man alsprivilegiertes Bezugssystem bezeichnet. Wir erinnern daran,dass ein Bezugssystem dieWahl eines räumlichen Koordina-tensystems bedeutet, dessen Geschwindigkeit konstant ist.

Die Hypothese, gemäß der es ein privilegiertes Be-zugssystem gäbe, würde den Kern der Relativität nichtrespektieren und steht deswegen bei den meisten Physikernin schlechtem Ruf. Diese Hypothese eines privilegiertenBezugssystems steht aber gar nicht imWiderspruch zur Re-lativitätstheorie. Um uns davon zu überzeugen, genügt es,

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sich daran zu erinnern, dass die gegenwärtige Kosmologieein solches Bezugssystem einschließt – nämlich dasjenige,das seit demUrknall alsMassenzentrum des Universums de-finiert ist. Physiker haben dieses sogar auf außerordentlichpräzise Weise gemessen, nämlich als Bezugssystem, in demdas kosmische Hintergrundrauschen, die Mikrowellenhin-tergrundstrahlung – die heute noch vorhandenen Spurendes Urknalls – isotrop ist. In Bezug auf dieses Bezugssys-tem bewegt sich die Erde mit ungefähr 369 Kilometernpro Sekunde9. Die Richtung der Erdbewegung ist ebenfallswohlbekannt.

Die Hypothese eines privilegierten Bezugssystems, indem sich „Einflüsse“ mit Überlichtgeschwindigkeit ausbrei-ten können, ist also nicht auf Anhieb auszuschließen. Wäredas nicht eine Erklärung für den Ursprung der nichtlokalenKorrelationen? Träfe das zu, dann wären diese Korrela-tionen nicht „nichtlokal“, da man eine lokale Erklärungdafür gefunden hätte, das heißt, einen Mechanismus, dersich allmählich ausbreitet. Aber wie testet man eine solcheHypothese, wenn man dieses hypothetische privilegierteBezugssystem eigentlich nicht kennt? Um einen solchenTest durchführen zu können, greift man auf dieselbe Ideezurück, wie beim Lokalitätsschlupfloch: Alice und Bobmüssen gleichzeitig ihre Wahl treffen und ihre Ergebnisseso sammeln, dass der hypothetische Einfluss nicht recht-zeitig ankommen kann. Es reicht, wenn Alice und Bobdurch eine größere Entfernung voneinander getrennt sindoder wenn eine bessere Synchronisation stattfindet. DieSchwierigkeit besteht darin, dass man präzisieren muss, inwelchem Bezugssystem Alice und Bob zu synchronisierensind: Sind sie nämlich in einem Bezugssystem gut synchro-

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nisiert, dann sind sie in anderen Bezugssystemen schlechtsynchronisiert. Dieses Problem existiert nicht, solange dieGeschwindigkeiten niedriger als die Lichtgeschwindigkeitoder gleich der Lichtgeschwindigkeit sind – denn falls dieSynchronisation so beschaffen ist, dass das Licht in einemBezugssystem nicht rechtzeitig ankommt, dann kommt esauch in allen anderen Bezugssystemen nicht rechtzeitig an.Bei Überlichtgeschwindigkeiten muss man jedoch wissen,in welchem Bezugssystem man Alice und Bob synchroni-sieren muss.

Philippe Eberhard, ein Schweizer Physiker, der im Law-rence National Laboratory bei Berkeley arbeitet, hat einenwunderschönen Trick gefunden, der es gestattet, in ei-nem einzigen Experiment alle möglichen hypothetischenBezugssysteme zu testen. Seine Idee ist relativ einfach –der neugierige Leser findet in Kasten 11 eine Zusammen-fassung. Einfach ausgedrückt verwendet die Idee die 24-stündige Erdrotation und schreibt vor, dass sich Alice undBob auf einer Ost-West-Achse befinden.

Kasten 11 – Das Experiment von Satigny-JussyStellen wir uns vor, dass Alice und Bob auf einerOst-West Achse ausgerichtet sind und dass ihre Mes-sungen gemäß ihren Uhren gleichzeitig stattfinden,das heißt, gleichzeitig in Bezug auf das Bezugssys-tem von Genf (da sich die Erde um sich selbstdreht, ändert sich das Bezugssystem von Genf stän-dig, aber diese Änderung erfolgt sehr langsam undkann demnach während der Zeit der Messung ver-

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nachlässigt werden). Gemäß der Relativitätstheorieerfolgen die Messungen von Alice und Bob in die-sem Fall auch in Bezug auf ein beliebiges anderesBezugssystem gleichzeitig, das sich in einer Richtungsenkrecht zur Achse Alice-Bob bewegt, also in Be-zug auf ein beliebiges Bezugssystem, das sich in einerRichtung bewegt, die sich in einer durch denNordpolund Südpol der Erde verlaufenden Ebene befindet.Nach zwölf Stunden, wenn die Erde eine halbe Um-drehung um sich selbst durchgeführt hat, hat auchdiese Ebene eine halbe Drehung vollführt. Damithat sie den gesamten Raum überstrichen. Falls dem-nach Alice und Bob das Bell-Spiel zwölf Stundenlang ununterbrochen spielen und falls ein privilegier-tes Bezugssystem existiert, dann gibt es zwangsläufigeinen Moment, in dem ihre Messungen in Bezugauf dieses privilegierte Bezugssystem exakt gleichzei-tig stattfinden. Falls Alice und Bob ständig in mehrals 3 von 4 Fällen im Bell-Spiel gewinnen, dann istdie Erklärung falsifiziert, dass eine – in einem privi-legierten Bezugssystem definierte – Kommunikationmit Überlichtgeschwindigkeit erfolgt. In der Praxis istdie Synchronizität ebenso wenig perfekt wie die Ost-West-Achse, und auch die zur Durchführung einesBell-Experiments notwendige Zeit kann nicht voll-kommen vernachlässigt werden: Man kann also nureine untere Schranke für die Geschwindigkeit dieseshypothetischen Überlichtgeschwindigkeitseinflussesangeben.

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Ein solches Experiment ist von meiner Gruppe zwi-schen zwei Dörfern in der Nähe von Genf durchgeführtworden, die ungefähr 18 Kilometer voneinander entferntsind: Satigny westlich und Jussy östlich von Genf. DasExperiment hat zwölf Stunden gedauert, also die Zeit ei-ner halben Erddrehung, und es ist vier Mal wiederholtworden10. Ein italienisches Team hat ein ähnliches Experi-ment durchgeführt11. Die Interpretation der Ergebnisse istetwas kompliziert, denn sie hängt von der Geschwindigkeitder Erde in Bezug auf dieses hypothetische privilegierte Be-zugssystem ab – also von einer Geschwindigkeit, die mannatürlich nicht kennt. Falls man jedoch annimmt, dassdiese Geschwindigkeit kleiner ist als die Geschwindigkeitder Erde in Bezug auf das Massenzentrum des Universums,dann kann man auf der Grundlage des Experiments je-den Einfluss bis zu einer Geschwindigkeit ausschließen,die fünfzigtausend Mal größer als die Lichtgeschwindigkeitist. Es handelt sich hier um eine wahrhaft gigantische Ge-schwindigkeit, unvorstellbar für die meisten Physiker, diefolglich auf die Abwesenheit von Einflüssen schließen. Esgäbe also keine „spukhafte Fernwirkung“, wie Einstein esbekanntlich ausdrückte. Um es noch einmal zu sagen: Dienichtlokalen Korrelationen scheinen einfach außerhalb derRaumzeit zu entstehen.

Aber vielleicht reicht das 50.000-fache der Lichtge-schwindigkeit nicht aus? Vielleicht muss man das Ex-periment mit einer größeren Präzision wiederholen undGeschwindigkeiten ausschließen, die das Millionenfacheder Lichtgeschwindigkeit aufweisen? Erinnern wir uns dar-an, dass das Verhältnis zwischen Lichtgeschwindigkeit undSchallgeschwindigkeit (in der Luft) ungefähr eine Million

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beträgt (340m/s im Vergleich zu 300.000 km/s) – warumalso sollte man sich nicht vorstellen, dass die nächste Ge-schwindigkeit wieder eine Million Mal größer ist?

Und wie sähe es aus mit einer unendlich hohen Einfluss-geschwindigkeit (wieder in einem privilegierten Bezugssys-tem definiert)? Das ist mathematisch möglich, wie DavidBohm 1952 (in meinemGeburtsjahr) bewiesen hat12. DieseHypothese impliziert jedoch, dass die Einflüsse augenblick-lich beliebige Gebiete miteinander verbinden können. Waswürdeman also unter Raum verstehen, wenn diese Einflüssebeliebig weit voneinander entfernte Gebiete augenblicklichmiteinander verbinden können? Gewissermaßen bedeu-tet die Anerkennung solcher Einflüsse als Erklärung fürnichtlokale Korrelationen, dass man akzeptiert, dass sichdiese Einflüsse nicht in unserem Raum ausbreiten, sondernaußerhalb unseres Raums eine Abkürzung der Länge nullbenutzen. Die Erklärungskraft einer solchen Hypothesescheint mir demnach gering zu sein13. Wenige Physikerinteressieren sich für diese Alternative, auch wenn manzugeben muss, dass sie die Sympathie ziemlich vieler Philo-sophen genießt.

Experimente, die niemals nur eine obere Schrankefür die Geschwindigkeit dieser hypothetischen Einflüs-se angeben können, sind extrem schwer durchzuführen.Manche Theoretiker versuchen, diese Schwierigkeit wett-zumachen, indem sie Folgendes aufzeigen: Unter gewissenVoraussetzungen muss es jeder verborgene Überlichtge-schwindigkeitseinfluss zwangsläufig gestatten, mit Über-lichtgeschwindigkeit zu kommunizieren14. Da die Rela-tivitätstheorie das jedoch verbietet, könnte man auf dieAbwesenheit eines verborgenen Einflusses schließen, und

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zwar unabhängig von dessen Geschwindigkeit. Es handeltsich um einen sehr interessanten Forschungsansatz, der esermöglichen würde, ein für allemal sämtliche Hypothe-sen eines verborgenen Einflusses auszuschließen, der sichmit Lichtgeschwindigkeit ausbreitet. Eine glückliche Fü-gung: Während ich dieses Buch schrieb, ist einem TeamvonTheoretikern der Kraftakt gelungen, jegliche Erklärungder Nichtlokalität für Einflüsse auszuschließen, die sich miteiner beliebigen endlichen Geschwindigkeit ausbreiten (vgl.Kap. 11).

10.6 Alice und Bob messenjeweils voreinander

Ich stelle jetzt kurz eine andere Idee vor, die sehr schönillustriert, wie viel Phantasie Physiker an den Tag legen,um sich von der Nichtlokalität zu befreien. Die von An-toine Suarez und Valerio Scarani15 stammende Hypothesebesagt Folgendes: Liefert die Box von Alice ein Ergebnis,dann wird der Rest des Universums darüber mit Über-lichtgeschwindigkeit informiert, insbesondere die Box vonBob. Umgekehrt gilt dasselbe, wenn Bobs Box ein Ergeb-nis hervorbringt. Wer also als Erster ein Ergebnis liefert,informiert darüber den anderen, der es berücksichtigt, umdas Bell-Spiel zu gewinnen, wie im vorhergehenden Kapitelbeschrieben. Aber gemäß dieser Hypothese ist die Über-lichtgeschwindigkeit nicht in Bezug auf ein privilegiertesuniverselles Bezugssystem definiert, sondern in Bezug aufein Bezugssystem, in dem die Sender-Box unbeweglich ist(sich also in ihrem Inertialsystem befindet, wie Physiker

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sagen würden). Jede „Box“, insbesondere jedes Messgerät,definiert nämlich ein Bezugssystem; es ist also interessant,die Folgen dessen zu untersuchen, dass diese Bezugssystemedie Geschwindigkeit der Informationen bestimmen, die sieaussenden.

Es scheint schwierig, eine solcheHypothese zu testen. AlsSuarez und Scarani ihre Hypothese 1997 aufstellten, standdiese übrigens in Übereinstimmung mit allen durchgeführ-ten Experimenten. Aber betrachten wir folgende Situation:Alice und Bob entfernen sich mit ihren Boxen mit großerGeschwindigkeit voneinander. Das Bezugssystem der Boxvon Alice unterscheidet sich demnach von Bobs Bezugssys-tem. Wir erinnern daran, dass gemäß Einsteins Relativitäts-theorie die zeitliche Abfolge zweier Ereignisse unterschied-lich sein kann, wenn man sie von zwei Bezugssystemen ausbetrachtet, die sich relativ zueinander bewegen. Man kannalso ein Experiment so organisieren, dass Alice in ihrem Be-zugssystem ihreWahl trifft und ihr Ergebnis vor Bob erfasst,während im gleichen Experiment Bob in seinem Bezugssys-tem ebenfalls seine Wahl trifft und sein Ergebnis vor Aliceregistriert. Die Physiker sprechen von einem „before-befo-re“-Experiment, da jeder der beiden Partner, Alice und Bob,vor dem jeweils anderen handelt! Die Magie der Relativitätermöglicht es, die Quantenmagie zu testen.

Die Hauptschwierigkeit, eines „before-before“-Experi-ments besteht darin, dass man die Boxen von Alice undBob so in Bewegung setzen muss, dass ihre Geschwindig-keiten ausreichen, damit die chronologische Reihenfolgein den beiden Bezugssystemen entgegengesetzt ist. Das istschwierig, aber nicht unmöglich . . . wenn man etwas Phan-tasie hat. Das ganze Labor von Alice in eine Rakete zu

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stecken ist nicht sehr realistisch. Reicht es aber nicht aus,die Schlüsselkomponente in Bewegung zu setzen, in dersich der echte Zufall ereignet? In einem ersten Experimentin Genf16 haben wir eine Art Detektor auf einer Scheibe an-gebracht, die sich mit 10.000 Umdrehungen/Minute dreht,was einer Tangentialgeschwindigkeit (am Rand der Schei-be) von 380 km/h (ungefähr 100m/s)17 entspricht. DieseGeschwindigkeit scheint sehr weit von einer relativistischenGeschwindigkeit entfernt zu sein, denn die Lichtgeschwin-digkeit beträgt ungefähr 300.000 km/s. Sind jedoch Aliceund Bob mehr als 10 Kilometer voneinander entfernt, dannermöglicht eine gute Synchronisation bereits, den relativis-tischen „before-before“-Effekt zu realisieren. Mit diesemExperiment wurde es möglich, die Hypothese von Suarezund Scarani zu widerlegen (mit einem kleinen Dämpfer:auf der Scheibe war kein richtiger Detektor angebracht,sondern nur einen Absorber. Die Information „Photon ab-sorbiert/nicht absorbiert“ – was dem Ergebnis von Aliceentspricht – wurde auf einem anderen Detektor abge-lesen, der sich am anderen Ausgang des Interferometersbefand).

Antoine Suarez, der dieses Experiment ganz genau mit-verfolgt hat, reagierte sofort und sagte, es sei nicht der De-tektor, der in Bewegung gesetzt werden müsse, sondern derletzte halbdurchlässige Spiegel des Interferometers. Für ihnist dieser Spiegel das choice device, die Komponente, in derdie Wahl des Ergebnisses erfolgt (gemäß dem echten Zu-fall, wie Sie inzwischen sicher verstanden haben). Wie ver-setzt man nun einen solchen halbdurchlässigen Spiegel ineinen schnellen Bewegungszustand? Mein Mitarbeiter Hu-go Zbinden hat nicht lange gebraucht, um die Antwort zu

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finden: „Verwenden wir doch eine Schallwelle, die sich ineinem Kristall ausbreitet“, schlug er vor. Da sich eine solcheWelle mit ungefähr 2,5 km/s ausbreitet, kann das Experi-ment im Labor durchgeführt werden. Und ein weiteres Malist die Quantentheorie gestärkt daraus hervorgegangen: So-gar mit Spiegeln in Bewegung gewinnen Alice und Bob dasBell-Spiel in mehr als 3 von 4 Fällen18. Nach einigen schwe-ren Tagen hat Antoine Suarez dieses Ergebnis schließlichakzeptiert. Selbst wenn ihre Theorie falsifiziert worden ist,können sie stolz darauf sein, eine plausible wissenschaftlicheTheorie vorgeschlagen zu haben.

10.7 Hyperdeterminismusund freier Wille

Welches Schlupfloch bleibt? Eine etwas verzweifelt anmu-tende Hypothese besteht darin, Alice und Bob die Mög-lichkeit vorzuenthalten, frei zu wählen, in welche Richtungsie den Hebel ihrer Boxen drücken. Diese Hypothese läuftalso darauf hinaus, die Existenz eines freien Willens zu ne-gieren. Falls also Alice keine freie Wahl hat, sondern in je-dem Moment darauf programmiert ist, ihren Hebel in ei-ne vorbestimmte Richtung zu drücken, dann könnte mansich vorstellen, dass Bob – oder seiner Box – die Wahl vonAlice bekannt ist. In diesem Fall kann man auch anneh-men, dass die Ergebnisse bei Alice vorbestimmt sind unddass Bob, dem alles bekannt ist, das Bell-Spiel mühelos ge-winnen könnte. Er könnte so sogar mit absoluter Sicherheitgewinnen – also öfter, als es die Quantenphysik erlaubt.

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Die Existenz eines freienWillens abstreiten – welch son-derbare Idee! Das Konzept der Nichtlokalität muss einen soziemlich schockiert haben, um das zu verleugnen, was wiram genauesten kennen. Wir können uns bilden, Mathema-tik, Physik, Chemie und sehr viel mehr Dinge lernen, aberniemals werden wir eine Gleichung, eine historische Tatsa-che oder eine chemische Reaktion so gut kennen wie das,was uns unsere ganz persönliche Erfahrung sagt. In meinenAugen handelt es sich bei dieser Haltung um nichts anderesals einen großen epistemologischen Irrtum.

Hätten wir keinen freien Willen, dann könnten wir nie-mals beschließen, eine wissenschaftliche Theorie zu testen.Wir könnten in einer Welt leben, in der Objekte in der Re-gel fliegen, aber darauf programmiert sein, nur um daraufzu achten, wenn sie plötzlich fallen. Ich gebe zu, ich kannIhnen nicht beweisen, dass Sie einen freien Willen haben,aber ich verfüge über einen freien Willen und Sie werdenmir nie das Gegenteil beweisen können. Das ist eine typi-sche Diskussion, die sich im Kreis dreht: Logisch möglich,aber total uninteressant – ein bisschen wie der Solipsismus,der besagt, dass nur ich allein existiere und dass Sie nur Il-lusionen meines Geistes sind.

Die Hypothese vom Hyperdeterminismus soll nur des-wegen erwähnt werden, um hervorzuheben, wie sehr zahl-reiche Physiker – darunter sogar Spezialisten der Quanten-physik – angesichts des echten Zufalls und der Nichtlo-kalität der Physik verzweifeln. Für mich ist die Situationziemlich klar: Der freie Wille existiert nicht nur, sondernkommt logisch gesehen vor der Wissenschaft, der Philo-sophie und vor unserer Fähigkeit, Schlussfolgerungen zuziehen. Ohne freien Willen gibt es kein Urteilsvermögen.

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Demzufolge ist es für die Wissenschaft und die Philoso-phie schlicht unmöglich, die Existenz des freien Willens zuverleugnen. Manche physikalischen Theorien sind deter-ministisch, zum Beispiel die Newton’sche Mechanik odergewisse Interpretationen der Quantenphysik. DieseTheori-en in den Rang einer ultimativen, quasi-religiösenWahrheitzu erheben ist schlicht falsch, denn das widerspricht unsererErfahrung mit dem freien Willen. Man beachte, dass New-ton niemals behauptet hat, dass seine Theorie alles erklärenwürde (und ihm hat es sicher nicht an Ego gemangelt!). ImGegenteil, er hat eindeutig geschrieben, dass seine Theorieder Gravitation mit einer nichtlokalen Fernwirkung zwarabsurd sei, dass man aber diese Theorie – in Ermangelungeiner Besseren – zur Durchführung von Berechnungen ver-wenden könne. Laplace war es, der Newtons Theorie einenquasi-religiösen Status verliehen hat, als er sein berühmtesDiktum („Laplace’scher Dämon“) formulierte19: „Eine In-telligenz, die in einem gegebenen Augenblick alle Kräftekennt, mit denen die Welt begabt ist, und die gegenwärtigeLage der Gebilde, die sie zusammensetzen, und die überdiesumfassend genug wäre, diese Kenntnisse der Analyse zu un-terwerfen, würde in der gleichen Formel die Bewegungender größten Himmelskörper und die des leichtesten Atomseinbegreifen. Nichts wäre für sie ungewiss, Zukunft undVergangenheit lägen klar vor ihren Augen.“

Die Geschichte der Quantenmechanik ist anders: NielsBohr, ihr hauptsächlicher Gründervater, hat immer nach-drücklich auf der Vollständigkeit seiner Theorie bestanden,obwohl keine wissenschaftlicheTheorie wirklich vollständigsein kann.

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Kurz gesagt, sprichtman Alice dieMöglichkeit einer frei-en Wahl ab, dann spricht man jeglicher Wissenschaft ihreRelevanz ab. Wir werden uns also nicht mit dieser verzwei-felten Hypothese befassen. Das wird die Wissenschaft nichtdaran hindern, Fortschritte zu machen und den freien Wil-len besser zu verstehen, aber ich bin überzeugt, dass dieWissenschaft dieses Thema niemals erschöpfend abhandelnwird. Und umdieses Kapitelmit einem etwas leichteren Tonabzuschließen, könnte man Newton paraphrasieren: „Dassder freie Wille eine Illusion sein soll und somit ein Menschdavon überzeugt sein könne, dass nichtlokale Fernwirkun-gen durch den leeren Raum hindurch und ohne die Ver-mittlung von etwas Sonstigem erfolgen, ist für mich eine sogroße Absurdität, dass ich glaube, dass keinMensch der einein philosophischenDingen geschulte Denkfähigkeit besitzt,sich dem jemals anschließen kann.“

10.8 Realismus

Zum Abschluss dieses Kapitels präsentieren wir noch eineandere verzweifelte Hypothese: die Negierung des Realis-mus. Was bedeutet das und wie könnte uns dieser Ansatzden Weg weisen20?

Vor 1990 war es praktisch unmöglich, in einer renom-mierten Zeitschrift einen Artikel zu veröffentlichen, wennman Konzepte wie „nichtlokal“ oder gar „Bell’sche Unglei-chung“ verwendete. Die Gründerväter der Quantenphysikmussten beharrlich kämpfen, um diese neue Physik durch-zusetzen, und die Pächter der Newton’schen Physik habensie viele Jahre lang zappeln lassen. Die nachfolgende Gene-

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ration hat diesen Kampf fortgesetzt, obgleich es nicht mehrsehr viele Gegner gab. Diese hatten sich darin verfangen,die Möglichkeit eines Fortschritts zu negieren und hieltenbis zum Beginn der 1990er Jahre daran fest, als die An-wendungen der Verschränkung und der Nichtlokalität diePhysikergemeinde dazu zwang, diesen Aspekt der Quan-tenphysik mit neuen Augen und – vor allem – vorurteils-los zu betrachen21. Dennoch hatte man sich angewöhnt,von „lokalem Realismus“ anstelle von „lokalen Variablen“zu sprechen. Ich denke, dass es sich dabei mehr um einerhetorische Vorsichtsmaßnahme als um das Ergebnis tief-gründiger Überlegungen handelte.

Es ist heute in gewissen Kreisen Mode geworden, zu sa-gen, dass man dieWahl zwischen Nichtlokalität und Nicht-realismus hat. Als Erstes muss man offensichtlich definie-ren, was man unter Nichtrealismus versteht (und sich da-bei daran erinnern, dass Nichtlokalität bedeutet, „was nichtbeschrieben werden kann, wenn man ausschließlich lokaleEntitäten verwendet“)22. Leider kann ich Ihnen nicht sa-gen, was Nichtrealismus bedeutet. Ich habe das Gefühl, dasses sich dabei vor allem um ein psychologisches Schlupflochhandelt: Diejenigen, welche die Nichtlokalität nicht aner-kennen können, flüchten sich in einen intellektuellen Un-terschlupf – ein bisschen wie jene Schweizer, die sich be-reit halten, im Falle eines Alarms sofort in ihre Atombun-ker abzutauchen. Das ist zwar schön und gut, aber früheroder später wird man den Bunker auch wieder verlassenmüssen.

Kann man wirklich keine Schlussfolgerung ziehen?Doch schon. Kommen wir auf den Ausgangspunkt desBell-Spiels zurück. Die Entscheidungen von Alice und Bob

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sowie ihre Ergebnisse müssen real sein. Physiker und In-formatiker würden sagen, dass die Inputs und Outputs derBoxen von Alice und Bob klassische Variablen sein müssen,das heißt Zahlen (Bits), die man erkennen, kopieren, sicheinprägen und veröffentlichen kann. Kurz gesagt: DieseEntitäten müssen wirklich konkret sein und dürfen keinenQuantenunbestimmtheiten unterliegen. Wir haben im vor-hergehenden Abschnitt bereits die Hypothese diskutiert,dass die Entscheidungen (die Inputs) nur eine Illusion seinkönnten, aber wie steht es mit den Ergebnissen (den Out-puts), die von den Boxen erzeugt werden? Könnte es sein,dass diese Ergebnisse nicht real sind? Wären diese Ergebnis-se nur eine Illusion unseres Geistes, dann hätten wir wiedereine müßige Diskussion ähnlich der um den Solipsismus.Abgesehen davon kann man sich ernsthaft fragen, wanngenau diese Ergebnisse erzielt werden. Um zu vermeiden,dass sich die Boxen gegenseitig beeinflussen, müssen diebesagten Ergebnisse erzielt werden, bevor ein eventuellerEinfluss die Zeit hat, wirksam zu werden. Er reicht im Prin-zip aus, die beiden Boxen hinreichend weit voneinanderzu entfernen, aber in der Praxis ist das nicht ganz so ein-fach. Die Quantenphysik macht nämlich zum Moment, indem ein Messergebnis erzeugt wird, keine genaue Aussage.Für die überwiegende Mehrheit der Experimentatoren istnämlich das Ergebnis bereits vorhanden, sobald ein Photonin die ersten Mikrometer der Oberfläche eines Detektorseingedrungen ist und eine Lawine von Elektronen ausgelösthat. Aber wie kann man sich dessen sicher sein? Vielleichtmuss man doch auf die Endverstärkung warten? Oder sogarauf die Aufzeichnung im Speicher eines Computers? Oderin einem menschlichen Gedächtnis? Was die letztgenannte

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Hypothese angeht, so ist John Bell in Anbetracht dieserVorstellung jeweils in schallendes Gelächter ausgebrochenund hat gefragt, ob es wohl notwendig sei, dass diesesmenschliche Gedächtnis einem promovierten Physikergehöre!

Zwar kann die Quantenphysik nicht genau sagen, abwelchem Moment man sicher sein kann, dass ein Ergebniserzeugt worden ist. Es ist jedoch klar, dass es nach demZeitpunkt erzeugt wird, in dem das Photon auf einen De-tektor trifft, und vor dem Zeitpunkt, an dem wir uns derSache bewusst werden. Das ist also eine kleine Schwach-stelle: Vielleicht werden die Ergebnisse viel später erzeugt,als es sich die Experimentatoren vorstellen, und es entstehtein Zeitfenster, in das sich eine subtile Kommunikationzwischen den Boxen von Alice und Bob einschleicht23.

Die Physiker Lajos Diósi und Roger Penrose habenunabhängig voneinander ein theoretisches Modell entwi-ckelt, das die Dauer einerMessung mit Gravitationseffektenverknüpft24. Ihre Modelle machen praktisch die gleicheVoraussage. Um sie zu testen, muss Bob ein massives Ob-jekt sehr schnell bewegen, sobald sein Photonendetektor„klick“ macht. Unlängst habe ich mit meiner Gruppe ander Universität Genf diese Modelle und ihre Implikationfür das Bell-Spiel getestet. Das Ergebnis stand in perfekterÜbereinstimmung mit der Quantentheorie: Die Modellevon Diósi und Penrose liefern keinerlei Schlupfloch für dieNichtlokalität25. Die Nichtlokalität der Quantentheorie istwirklich äußerst robust!

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10.9 Das Multiversum

Eine letztes Schlupfloch, das bei manchen Quantenphysi-kern inMode ist, besteht in der Annahme, dass es überhauptkeine Messergebnisse gibt. Diese Hypothese besagt, dass je-des Mal, wenn wir die Illusion haben, eine Messung mit Nmöglichen Ergebnissen durchzuführen, sich das UniversuminN Zweige verzweigt, die alle gleichermaßen real sind, wo-bei jeder Zweig einem Ergebnis entspricht. Auch vom Ex-perimentator entstehen N Kopien und jede dieser Kopien„sieht“ eines derN möglichen Ergebnisse. Das ist die Inter-pretation der multiplen Welten – das heißt, des Multiver-sums – im Gegensatz zu unserem Universum. Die Anhängerdieses Ansatzes behaupten, dass ihre „Lösung“ die einfachstesei, denn sie vermeide den echten Zufall und müsse folglichdem Prinzip von Ockhams Rasiermesser entsprechend ak-zeptiert werden. Dieses Prinzip besagt nämlich, dass manvon mehreren möglichen Erklärungen für denselben Sach-verhalt die einfachste wählen muss.

Es ist jedem selbst überlassen, die Einfachheit dieser In-terpretation zu beurteilen. Was mich betrifft, begnüge ichmich damit, zwei Dinge festzuhalten. Einerseits kannman –unabhängig von jeder Theorie und jeglicher experimentel-ler Beweise – die Existenz des echten Zufalls immer leug-nen: Es reicht aus, davon auszugehen, dass sich das Univer-sum jedes Mal verzweigt, wenn ein echter Zufalls auftritt,und dass jedes Ergebnis in einem der Paralleluniversen zu-stande kommt. Für mich sieht das sehr nach einer Ad-hoc-Hypothese aus26. Andererseits impliziert der Interpretati-onsansatz mit einem Multiversum einen totalitären Deter-minismus. Gemäß dieser Interpretation wird nämlich die

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Verschränkung niemals unterbrochen, sondern breitet sichimmer weiter aus. Alles ist folglich mit allem verschränktund für den freien Willen bleibt keinerlei Handlungsspiel-raum. Die Lage ist noch schlimmer als bei Newtons Deter-minismus. Bei Newton sind die Dinge klar lokalisiert undlogisch voneinander getrennt. Newtons Theorie lässt alsoRaum für eine künftige Theorie, die eine offene Welt be-schreibt – eine Welt, in der die Zukunft nicht vollständigvon der Gegenwart bestimmt wird27. Im Übrigen ist dieseHoffnung mit der Quantentheorie Wirklichkeit geworden(selbst wenn sie noch sehr weit davon entfernt ist, den frei-en Willen zu erklären). Dagegen gibt uns die Multiversum-Erklärung keinerlei Hoffnung auf eine offene Welt28.

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11Aktuelle Forschungen zur

NichtlokalitätAber Himmeldonnerwetter nochmal: Woher „wissen“ zweiGebiete der Raumzeit, was im jeweils anderen Gebiet ge-schieht? Für mich handelt es sich hierbei um eine äußersternsthafte Frage. Diese Frage ist sogar der springende Punktder stattfindenden konzeptuellen Revolution. Wie kommtes, dass sich so wenige Physiker damit beschäftigen? Undwarum ist diese Frage zwischen 1935, dem Jahr, in demdas EPR-Paradoxon veröffentlicht wurde, und dem Beginnder 1990er Jahre ignoriert worden, als Artur Ekert gezeigthat, dass die Korrelationen in der Kryptographie nützlichsein können1? Die Gründe dafür sind komplex: Im Jahr1935 hatten die Physiker mit der brandneuen Quanten-theorie besseres zu tun, denn sie ermöglichte es, mit einemSchlag eine Vielzahl von neuen Phänomenen zu beschrei-ben – die Verschränkung und die Nichtlokalität konntenwarten. Danach hat der Einfluss von Bohr und seiner „Ko-penhagener Schule“ die neugierigen Gemüter durch die Be-hauptung verstummen lassen, dass die Quantenmechanikvollständig sei.

Es hat sich nur langsam gezeigt, wie absurd diese Be-hauptung war und die Physikergemeinschaft war durch dieErfolge der neuen Physik lange Zeit wie benommen. Wiekann denn eine wissenschaftliche Theorie vollständig sein?

N. Gisin, Der unbegreifliche Zufall, DOI 10.1007/978-3-662-43958-6_11,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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Das setzt voraus, dass wir uns einer ultimativen Theorie nä-hern, nach der es nichts mehr zu erforschen gäbe, weil esnichts mehr zu finden gibt. Erschreckend! Aber seit jeherund vor allem gegen Ende des letzten Jahrhunderts habenmanche daran geglaubt. Der Traum von der Einheit desUniversums, der Titel eines Buchs des Physiknobelpreisträ-gers Steven Weinberg, illustriert diesen Glauben sehr gut2.Einige sprechen noch heute ernsthaft von der Theorie vonAllem (TOE, Theory of Everything); sie tun das nicht oh-ne Humor, denn das Akronym TOE bedeutet auf Englisch„Zehe“. Es handelt sich also offensichtlich nicht um eineexistierendeTheorie, sondern um eine vielsagende Phantas-terei.

Die Dinge haben sich dank der Beiträge einer neuen Ge-neration von Physikern und wegen der Synergie mit dertheoretischen Informatik zu Beginn der 1990er Jahre geän-dert: Eine merkwürdige und fesselnde Geschichte3.

11.1 Kann man die Nichtlokalität„wiegen“?

Jetzt, da die Nichtlokalität der Quantenphysik fest veran-kert ist, wollen die Physiker auch damit spielen. Sie spie-len sehr gern und darüber ärgern sich manchmal diejeni-gen, die sich allzu ernst nehmen. Aber nur im Spiel kannman sich mit einem neuen Objekt vertraut machen – ganzgleich, ob es sich um ein Kinderspielzeug oder um ein wis-senschaftliches Konzept handelt. Spielen wir also! Die Leserhaben selbstverständlich bereits bemerkt, dass sich das gan-ze Buch um ein Spiel dreht – das Bell-Spiel. Wir verdanken

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es diesem Spiel, dass wir zum Kern der Quantenphysik undzu ihrem bemerkenswertesten Charakteristikum vordringenkonnten: zur Nichtlokalität.

Eine weitere Manie der Physiker ist es, alles quantifizie-ren zu wollen, alles „wiegen“ zu wollen. Die Nichtlokalitäthat selbstverständlich kein Gewicht, aber es ist wichtig, siemessen zu können, das heißt, von zwei Formen der Nicht-lokalität sagen zu können, welche die „größere“ oder die„umfassendere“ ist. Für die Nichtlokalität haben die Physi-ker noch kein gutesMaß gefunden; es scheint, dass – je nachAspekt der Nichtlokalität, den man analysiert – verschiede-ne Messarten möglich sind4. Das ist ein Zeichen dafür, dassman das Konzept noch nicht ganz verstanden hat.

Das Problem, die „Verschränkungsmenge“ zu messen,stellt sich auch selbstverständlich. In diesem Bereich sindseit 1990 riesige Fortschritte gemacht worden, auch wennman erneut zugeben muss, dass noch viele Punkte offensind. Ist das enttäuschend? Ganz im Gegenteil: Das ist einZeichen dafür, dass es noch viel zu entdecken gibt.

11.2 Warum gewinnt man nicht jedesMal im Bell-Spiel?

Die Quantenphysik gestattet es, das Bell-Spiel im Durch-schnitt in 341 von 400 Fällen zu gewinnen, demnach vielöfter als in 3 von 4 Fällen und das heißt entsprechend vielöfter als wenn die Boxen von Alice und Bob ihre Wahl lokalerzeugen würden. Das hat die Physiker so sehr fasziniert,dass sie über Generationen hinweg vergessen haben, sichfolgende Frage zu stellen: Warum ermöglicht es die Phy-

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sik nicht, das Bell-Spiel mit hundertprozentiger Sicherheitzu gewinnen? Aber ja doch, wenn wir schon dabei sind,weshalb ist es eigentlich nicht möglich, mit hundertprozen-tiger Sicherheit zu gewinnen? Wenn die Natur nun schonnichtlokal ist, warum ist sie nicht vollständig nichtlokal?Was hindert eine physikalische Theorie daran, vorherzusa-gen, dass man das Bell-Spiel sicher gewinnen kann?

Interessanterweise ist diese kinderleicht anmutendeFrage erst in den 1990er Jahren zum ersten Mal gestelltworden und hat sich erst in diesem Jahrhundert zu ei-nem Forschungsthema entwickelt. Bis vor kurzem lautetedie Frage „nur“: Wie kann die Natur (oder die Quan-tenphysik, wenn es Ihnen lieber ist) nichtlokal sein? Vielewissenschaftliche Veröffentlichungen untersuchen heute dieFolgen einer Nichtlokalität, die noch umfassender ist als dieNichtlokalität der Quantenphysik. Man fragt sich, was dieQuantenphysik einschränkt, wenn man sie „von außen“untersucht, das heißt, in einem größeren Zusammenhangals es der Quantenformalismus gestattet.

Das erste theoretische Spielzeug, das die Physiker zurUntersuchung dieses Sachverhaltes erfunden haben, sinddie „PR-Boxen“, benannt nach ihren Erfindern Sandu Po-pescu und Daniel Rohrlich5. Uns kommen diese Boxenbekannt vor: Sie ähneln den Boxen, die von unseren Freun-den Alice und Bob verwendet wurden, um das Bell-Spielzu spielen. Mit dem Unterschied aber, dass Alice und Bobmit den PR-Boxen das Spiel sicher gewinnen würden, dasheißt, in 4 von 4 Fällen. Niemand kann solche Boxen her-stellen – man kann sie also auch nicht kaufen (imGegensatzzu den Quantenboxen, mit denen wir das Spiel in mehr als3 von 4 Fällen6 gewinnen können). Das hindert die Phy-

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siker jedoch nicht daran, damit zu spielen: Die PR-Boxensind konzeptuelle Spiel- bzw. Werkzeuge.

Ich werde nur zwei Beispiele für die Verwendung vonPR-Boxen geben. Das erste ist eine Simulation der Quan-tenkorrelationen. Wir haben gesehen, dass es die Quanten-physik gestattet, sehr viel mehr als nur zwei Messungen aneinem System durchzuführen. Für das Bell-Spiel reichenzwei, aber Physiker haben die Wahl zwischen unendlichvielen möglichen Messungen. Braucht man also viel mehrNichtlokalität, um diese unendlich vielen Möglichkeiten zuverstehen? Ohne auf Einzelheiten einzugehen – von denendie meisten ohnehin noch nicht bekannt sind –, halten wirhier nur fest, dass man mit einem einzigen Paar PR-Boxensämtliche Quantenkorrelationen simulieren kann, die zweiverschränkten Qubits entsprechen7. Das ist äußerst über-raschend! Kann man mit Hilfe von PR-Boxen alle Quan-tenkorrelationen simulieren? Oder kann man mit Hilfevon anderen Boxen einfache Korrelationen erzeugen – ge-wissermaßen verschiedene Arten von Basiskorrelationen –,ohne eine übertragungslose Kommunikation zuzulassen?Ein echtes Mysterium.

Ein zweites Beispiel für die Verwendung von PR-Bo-xen gehört zum Gebiet der Kommunikationskomplexität8.Das Ziel besteht darin, die Anzahl der Bits zu beschrän-ken, die zur Durchführung gewisser Aufgaben übermitteltwerden müssen. Man kann beweisen, dass es die Quanten-verschränkung nicht gestattet, die Anzahl der zu übermit-telnden Bits zu verringern. Stünden dagegen PR-Boxen zurVerfügung, dann könnte man diese Zahl für eine großeKlasse von Problemen auf ein einziges Bit reduzieren!Kurz gesagt: Man könnte die Kommunikationskomple-

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xität zu etwas Trivialem machen. Das ist ein bisschenabstrakt ausgedrückt, aber es wäre eine außerordentli-che Sache: Ein einziges Bit anstelle von Milliarden! Aberleider gibt es die PR-Boxen nicht. Und vielleicht exis-tieren sie ja genau deswegen nicht, damit das Problemder Kommunikationskomplexität nicht plötzlich trivialwird? Das ist jedenfalls die Meinung der überwiegendenMehrheit der Informationstheoretiker: Für sie ist die Tri-vialisierung der Kommunikationskomplexität genau sounwahrscheinlich, wie für Physiker die Existenz von Über-lichtgeschwindigkeiten. Hat man damit also eine Erklärunggefunden dafür, dass es die Quantenphysik nicht gestat-tet, das Bell-Spiel sicher zu gewinnen? Vielleicht schon.Aber das Problem ist noch nicht vollständig gelöst. Mankann sich PR-Boxen vorstellen, die hinreichend verrauschtsind und deswegen die Kommunikationskomplexität nichttrivialisieren können, die es aber dennoch gestatten, dasBell-Spiel häufiger zu gewinnen als es die Quantenphysikzulässt9.

Voilà! Auf die Gefahr hin, Sie in der Komplexität dieserErklärungen verloren zu haben, hoffe ich, Ihnen zumindestein wenig von dem Reiz vermittelt zu haben, den ein For-scher wie ich verspürt –, den Reiz der Forschungsarbeit, sowie sie gegenwärtig praktiziert wird. Aus Spaß an der Freudestelle ich Ihnen noch drei überaus aktuelle Forschungsthe-men vor. Es macht nichts, wenn Sie nicht alles verstehen:Unser Ziel ist einfach, dass wir morgen ein bisschen mehrverstehen als was wir gestern verstanden haben.

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11.3 Nichtlokalität mit mehrals zwei Bestandteilen

Der echte Zufall kann an zwei Orten auftreten. Kann erauch an drei Orten oder sogar an eintausend Orten auftre-ten? Die Antwort liegt nicht auf der Hand, denn es könn-te sein, dass sich die Quantenkorrelationen mit drei Be-standteilen alle als nichtlokale zufällige Kombinationen mitzwei Bestandteilen erklären lassen.Manweiß heute, dass dasnicht der Fall ist: Es existieren Quantenkorrelationen, dieeinen Zufall erfordern, der imstande ist, sich an unzähligenOrten zu manifestieren. Aber die Nichtlokalität mit vielenBestandteilen ist noch kaum erforscht10.

Besonders interessant ist der Fall, in dem mehrere Paarevon Systemen verschränkt sind (zum BeispielA�B undC�D), wobei gemeinsame Messungen – wie sie bei der Quan-tenteleportation verwendet werden (Kap. 9) – an Systemendurchgeführt werden, die zu unterschiedlichen Paaren ge-hören (zum Beispiel B und C). Man geht dabei ganzselbstverständlich davon aus, dass die verschiedenen ver-schränkten Paare voneinander unabhängig sind. Hat man nPaare, dann spricht man von n-Lokalität. Damit eröffnetsich ein ganzes Forschungsgebiet, das die beiden Seiten derVerschränkung – die nicht seperablen Zustände und diegemeinsamen Messungen – miteinander kombiniert11.

Wer führt Buch darüber, was womit verschränkt ist? Wowerden die Informationen über die Orte gespeichert, an de-nen ein nichtlokaler Zufall auftreten kann? Gibt es „Engel“,die den riesigen mathematischen Raum beherrschen, derals Hilbertraum bezeichnet wird, in dem man alles berech-

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net? Es hat nicht den Anschein, dass diese Informationenin unserem dreidimensionalen Raum existieren. Trotz derErnsthaftigkeit dieser Fragen hat man ihnen noch fast keineAufmerksamkeit geschenkt.

Ich möchte Ihnen noch kurz ein ganz aktuelles For-schungsgebiet vorstellen: Was kann man mit Hilfe derNichtlokalität vorhersagen, ohne die mathematische Ar-tillerie der Quantenphysik aufzufahren? In Kap. 5 habenwir gesehen, dass das No-Cloning-Theorem vollständigbewiesen werden kann. Genau so wie die Grundlagenvon Anwendungen wie der Zufallszahlengeneratoren undder Quantenkryptographie von Kap. 8. Man kann sogargewisse Aspekte der Heisenberg’schen Unschärferelationwiederfinden12. Dagegen ist es heute nicht möglich, dieQuantenteleportation nurmit Hilfe der Boxen darzustellen,wie sie im Bell-Spiel verwendet werden: Die Schwierigkeitliegt in den gemeinsamen Messungen, deren Quintessenzman nicht außerhalb des mathematischen Rahmens derQuantenphysik erfassen kann. Die Bedeutung dieser For-schungsarbeit ist vor kurzem erkannt worden: Europa hatdas Programm DIQIP gestartet, in dem Forscher aus sechsLändern zusammenarbeiten13.

11.4 Das „Free Will Theorem“

Jetzt, nachdem wir jegliche lokalen Erklärungen ausge-schlossen haben, stellt sich selbstverständlich die Frage, obman keine deterministische nichtlokale Erklärung findenkann. Wenn man schon die Lokalität nicht retten kann,dann doch wenigstens den Determinismus. Wir betrach-

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ten kurz die Hypothese der deterministischen nichtlokalenVariablen, von Variablen also, die die Ergebnisse beliebigerMessungen vollständig determinieren.

Das scheint a priori möglich zu sein: So wie die Quan-tentheorie Wahrscheinlichkeiten vorhersagt, könnte mandenken, dass ein statistisches Gemisch dieser determinis-tischen Wahrscheinlichkeiten ausreicht, um die Quanten-wahrscheinlichkeiten zu reproduzieren. So funktionierenübrigens die im Handel erhältlichen Simulationsprogram-me für Quantenphänomene, die wir unseren Studentenvorführen. Funktioniert das also?

Erinnern wir uns daran, dass im Falle von zwei räum-lich entfernten Ereignissen die zeitliche Abfolge von demBezugssystem abhängen kann, in demman diese beiden Er-eignisse beschreibt. Zusätzliche deterministische nichtlokaleVariablen sind also (abgesehen von ihrer Verwendung zurIllustration von Quantenphänomenen auf einem Compu-terbildschirm) nur dann interessant, wenn sie in allen Be-zugssystemen die gleichen Vorhersagen machen. Solche Va-riablen werden kovariant genannt. Wir werden sehen, dassdas unmöglich ist14, das heißt, dass es keine kovariantendeterministischen nichtlokalen Variablen gibt: Der Deter-minismus ist in der Tat und definitiv tot!

Um zu beweisen, dass diese nichtlokalen deterministi-schen Variablen nicht existieren, müssen wir voraussetzen,dass Alice und Bob einen freien Willen haben. Wenn wiralso als menschliche Wesen über einen freien Willen verfü-gen – so schlussfolgern manche –, dann müssen notwendi-gerweise auch die Quanten, Elektronen, Photonen, Atomeusw. über einen freienWillen verfügen. Dieser verblüffendeGedankengang stammt von zwei Amerikanern (die sich im

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Marketing auskennen!), John Conway und Simon Kochen:Sie sprechen vom „FreeWillTheorem15“, demTheorem desfreien Willens.

Wir führen den Beweis wieder indirekt. Die Beweisfüh-rung ist etwas komplex; sollten Sie sich dabei verirren, dannkönnen Sie sich direkt der Schlussfolgerung zuwenden.

Stellen wir uns also vor, dass Alice und Bob dabei sind,das Bell-Spiel zu spielen, und untersuchen wir diese Situati-on in einem Bezugssystem, in dem Alice ihren Hebel etwaseher als Bob betätigt. Es sei k die nichtlokale Variable, diegemäß Annahme die Ergebnisse bestimmt, die von Alicesund Bobs Boxen erzeugt werden. Demnach hängt das Er-gebnis a von Alice von dieser Variablen k und von AlicesWahl x ab, das heißt, x: a D FAB.k; x/, wobei FAB eineFunktion ist. Im Anschluss daran – vom gewählten Bezugs-system aus gesehen – betätigt Bob seinen Hebel. Sein Er-gebnis b kann demnach von der Variablen k und von sei-ner Wahl x abhängen, aber auch von Alices Wahl x: b DSAB.k; x; y/. Daran erkennt man, dass die Variable k nicht-lokal ist16: Bobs Ergebnis kann von Alices Wahl abhängen.Beachten Sie, dass die Notationen FAB und SAB die Bedeu-tungen First (erstens) und Second (zweitens) in der chrono-logischen Reihenfolge AB haben.

Untersuchen wir jetzt die gleiche Situation in einem an-deren Bezugssystem, in demBob seinenHebel etwas eher alsAlice betätigt. Dieses zweite Bezugssystem ist zum Beispielin einer Rakete installiert, die sich schnell von Alice in Rich-tung Bob bewegt. In diesem Fall hängt Bobs Ergebnis b nurvon der Variablen k und von seiner Wahl y: b D FBA.k; y/ab. Dagegen kann Alices Ergebnis a jetzt von der nichtlo-kalen Variablen k, von ihrer Wahl x und von Bobs Wahl y:

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a D SBA.k; x; y/ abhängen. Die Notationen FBA und SBAbedeuten wieder First und Second in der chronologischenReihenfolge BA.

Alices Ergebnis a kann jedoch nicht von dem Bezugssys-tem abhängen, in dem man das Experiment (das Spiel) be-schreibt. Folglichmuss immer a D FBA.k; x/ D SBA.k; x; y/gelten. Diese letzte Gleichheit kann nur dann gelten, wennSBA tatsächlich nicht von y abhängt, das heißt, wenn dasErgebnis von Alice nicht von Bobs Wahl abhängt. Ebensokann auch Bobs Ergebnis nicht von Alices Wahl abhängen.Das ist aber die Lokalitätsbedingung, wie Bell sie 1964 for-muliert hat: Die Box von Alice erzeugt ihr Ergebnis lokalund das gleiche gilt für die Box von Bob. Wie wir gesehenhaben, können Alice und Bob in diesem Fall im Bell-Spielnicht in mehr als 3 von 4 Fällen gewinnen. Wenn sie also inmehr als 3 von 4 Fällen gewinnen, dann schließt das auchdie Existenz von deterministischen und kovarianten nicht-lokalen Variablen aus.

Kurz gesagt: Es bleibt nur die Möglichkeit von nichtde-terministischen nichtlokalen Variablen übrig. So beschreibtdie Quantentheorie das Bell-Spiel. Man beachte, dass hier„nichtdeterministisch“ wieder ein negatives Attribut ist: Esbesagt weder, was diese Variablen sind, noch wie diese Varia-blen oder diese Modelle das Bell-Spiel beschreiben – es wirdlediglich die Tatsache bekräftigt, dass keine deterministischeBeschreibung möglich ist. Insbesondere ist mit „nichtdeter-ministisch“ nicht „probabilistisch“ im Sinne der üblichenWahrscheinlichkeiten gemeint: Es handelt sich nicht um einstatistisches Gemisch von deterministischen Fällen (die bei-den Artikel17 illustrieren diesen Sachverhalt sehr gut).

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11.5 Ein verborgener Einfluss?

Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, Ihnen ein letz-tes, ganz neues Ergebnis vorzustellen, selbst wenn es wiederein negatives ist. Die Vorstellung von der Lokalität, also dasssich die Dinge und die Einflüsse allmählich und kontinu-ierlich ohne Sprünge und Brüche ausbreiten, ist so stark inunserem Bewusstsein verwurzelt, dass er sehr schwer fällt,sich davon frei zu machen. Um die Lokalität zu retten, ist essehr verlockend, sich vorzustellen, dass Alice (oder ihre Box)Bob auf eine so subtile Weise beeinflusst, dass es den Augenvon uns Physikern des beginnenden 21. Jahrhunderts ver-borgen bleibt. Oder Bob beeinflusst Alice, je nach dem, werseine Wahl zuerst trifft. Da die zeitliche Abfolge von einerwillkürlichen Wahl des Bezugssystems abhängt, ist die Vor-stellung verlockend, dass es ein privilegiertes Bezugssystemgibt, welches ein für allemal die zeitliche Abfolge sämtlicherEreignisse bestimmt. Wir haben gesehen, dass sich experi-mentell eine untere Schranke für die Geschwindigkeit ei-nes solchen Einflusses angeben lässt (Kap. 10). Aber wärees nicht möglich, dass die scheinbare Nichtlokalität einemEinfluss zu verdanken ist, der sich kontinuierlich und all-mählich mit einer gigantischen Geschwindigkeit von Alicezu Bob ausbreitet, die in einem privilegierten Bezugssys-tem definiert ist, wobei die heutige Physik dieses Bezugssys-tem noch nicht identifiziert hat? Gemäß dieser Annahmegilt: Falls der Einfluss rechtzeitig ankommt, dann handeltes sich bei den beobachteten Korrelationen um diejenigen,die von der Quantentheorie vorhergesagt werden; kommtdagegen der Einfluss nicht rechtzeitig an, dann sind die Kor-relationen zwangsläufig lokal, das heißt, sie gestatten nicht,

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das Bell-Spiel zu gewinnen. Eine solche Annahme respek-tiert den Kern der Einstein’schen Relativität nicht, steht aberzu keinem experimentellen Test der Relativität in Wider-spruch. Kurz gesagt: Diese Annahme „lebt“ in friedlicherKoexistenz mit der Relativität – ganz so wie die nichtloka-len Korrelationen, die es möglich machen, im Bell-Spiel zugewinnen.

Er scheint auf den ersten Blick unmöglich, eine solcheErklärung auszuschließen. Bestenfalls kann man Experi-mente durchführen, wie die in Kap. 10 beschriebenen, diees ermöglichen, eine untere Schranke für die Geschwin-digkeit dieses hypothetischen Einflusses zu finden. Aber . . .davon lassen wir uns nicht ins Bockshorn jagen.

Impliziert die Annahme, dass sich irgendwelche Einflüs-se schneller als das Licht ausbreiten, zwangsläufig, dass manmit Überlichtgeschwindigkeit kommunizieren kann? Mankönnte sich vorstellen, dass uns diese Einflüsse für immerverborgen bleiben. Das scheint kein ausgeprägt physikali-scher Standpunkt zu sein, aber solange Physiker diese hy-pothetischen Einflüsse nicht beherrschen, können sie sichihrer auch nicht bedienen, um mit Überlichtgeschwindig-keit zu kommunizieren.

Erstaunlicherweise ist diese einfache Annahme – näm-lich dass man nicht mit Überlichtgeschwindigkeit kom-munizieren kann, wenn man die besagten Einflüsse nichtbeherrscht – ausreichend für den Beweis, dass solche Ein-flüsse nicht existieren können! Dieses Ergebnis habe ich –während der Abfassung des vorliegenden Buches – gemein-sammit meinem Studenten Jean-Daniel Bancal, mit Yeong-Cherng Liang, einem Postdoktoranden aus Malaysia undmit drei meiner früheren Mitarbeiter, Stefano Pironio (zur

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Zeit in Brüssel), Antonia Acin (Barcelona) und Valerio Sca-rani (Singapur) erzielt. Ein herrliches Abenteuer, das vormehr als zehn Jahren seinen Anfang nahm. Wir haben zehnJahre gebraucht, um die Antwort zu finden, wundern Siesich also bitte nicht, wenn Ihnen die Sache kompliziertvorkommt. Ich werde versuchen, Ihnen eine Zusammen-fassung zu geben, aber Sie können das auch überspringenund gleich zu den Schlussfolgerungen im nächsten Kapi-tel übergehen. Erinnern Sie sich aber bitte an Folgendes:Sogar die Annahme von Einflüssen, die sich mit einer be-liebigen endlichen Geschwindigkeit ausbreiten – mit einerGeschwindigkeit, die schneller als das Licht, aber dennochendlich ist – sogar diese extreme Annahme kann ausge-schlossen werden. Die Natur ist definitiv nichtlokal.

Die Annahme von Einflüssen, die sich mit Überlicht-geschwindigkeit ausbreiten, gestattet es, sämtliche experi-mentellen Ergebnisse zwischen zwei Partnern wie unserenFreunden Alice und Bob zu reproduzieren. Keine experi-mentelle Synchronisation ist nämlich je perfekt, und deswe-gen kann man immer annehmen, dass die Geschwindigkeitdieser Einflüsse hinreichend groß ist, um zwei Ereignisse zukorrelieren. Die Frage, wie es mit drei Partnern aussehenwürde, ist noch offen. Aber in Bezug auf vier Partner, diewir A, B, C und D nennen wollen, haben wir folgendes Ar-gument gefunden. Stellen wir uns vor, dass A im privilegier-ten Bezugssystem seine Messung zuerst durchführt, danachkommt D dran und schließlich fast gleichzeitig B und Cund zwar so, dass der Einfluss von A rechtzeitig bei den dreianderen Partnern ankommt und dass der Einfluss von Drechtzeitig bei B und C ankommt, dass sich aber die beidenletzteren nicht gegenseitig beeinflussen können. In einem

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lokaleverborgene

Variablen

verborgene Einflüsse

mit endlicherGeschwindigkeit

Erklärung von Zusammenhängen durch

Wirkung eines ersten Ereignisses auf das

nachfolgende

Erklärung von Zusammenhängen,

die von Gründen einer gemeinsamen

Vergangenheit ausgehen

Kontinuitätsprinzip

Unmöglichkeit, im Bell-Spiel zu gewinnen Argument von Kapitel 11

Widerspruch zu den quantenphysikalischen

Voraussagen

Widerspruch zu den quantenphysikalischen

Voraussagen

Erklärung widerlegtErklärung widerlegt

Die Natur erfüllt das Kontinuitätsprinzip nicht

Die Natur ist nicht lokal

Abb. 11.1 Veranschaulichung des Programms von John Bell. DieSchleife ist heute geschlossen. Es existiert keine lokale Erklärungfür gewisse Korrelationen, deren Erzeugung die Quantenphysikermöglicht. Die Natur ist nichtlokal. Gott würfelt, um eine Formder Nichtlokalität zu gestatten, die jegliche Kommunikation ohneÜbertragung ausschließt

solchen Fall würden die Korrelationen ABD und ACD –entsprechend der Hypothese der verborgenen Einflüsse –von der Quantentheorie vorhergesagt. Die Korrelation BCist dagegen lokal. Nun haben wir aber eine überraschendeUngleichung gefunden18, die von sämtlichen Korrelationenmit vier Partnern erfüllt wird, wobei BC lokal ist und keineKommunikation ohne Übertragung möglich ist. Darüberhinaus treten in dieser Ungleichung nur Terme auf, die Kor-relationen zwischen ABD und ACD implizieren. Jedes dieserTripel von Partnern ist durch einen hypothetischen verbor-genen Einfluss verbunden, zum Beispiel: A beeinflusst D

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und D beeinflusst wiederum B. In der oben angegebenenKonfiguration sagt jedes Modell, das sich auf verborgeneEinflüsse stützt, die sich mit einer endlichen Geschwindig-keit ausbreiten, für die besagte Ungleichung den gleichenWert vorher wie die quantentheoretische Vorhersage. Nunverhält es sich aber so, dass die quantentheoretische Vor-hersage unsere Ungleichung verletzt. Hieraus folgern wir,dass jedes Modell mit Einflüssen, die sich mit einer endli-chen Geschwindigkeit ausbreiten, notwendigerweise Korre-lationen erzeugt, die eine Kommunikationmit Überlichtge-schwindigkeit gestatten.

Das oben skizzierte Ergebnis schließt die Schleife desvon John Bell initiierten Programms: Man erklärt diequantentheoretischen Korrelationen gemäß einem Kon-tinuitätsprinzip, das heißt, auf der Basis eines Grundsatzes,bei dem sich alles kontinuierlich nach und nach ausbrei-tet. Abbildung 11.1 illustriert diese Schleife. Um es nocheinmal zu sagen: Die Schlussfolgerung, die sich aufdrängt,besagt, dass voneinander entfernte Ereignisse auf eine dis-kontinuierliche Weise miteinander verbunden sind – dieNatur ist demnach nichtlokal.

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12Schlussfolgerung

Wir sind jetzt am Ende des Buches angekommen. Ich hat-te Sie gewarnt: Sie haben nicht alles verstanden. Niemandweiß, warum die Quantenphysik nichtlokal ist. Dagegenhaben Sie verstanden, dass die Natur nicht deterministischist und dass sie tatsächlich zu einem reinen Schöpfungsaktfähig ist: Sie kann echte Zufälle hervorbringen. Haben wirerst einmal verarbeitet, dass es sich um einen echten Zu-fall und nicht nur um eine bereits existierende, uns aberverborgene Sache handelt, dann verstehen wir außerdemauch, dass nichts diesenZufall daran hindert, sich anmehre-renOrten zumanifestieren, ohne dass eine Kommunikationzwischen diesen Orten erfolgen muss.

Diese Orte sind nicht beliebig, sondern müssen vorherverschränkt werden. Die Verschränkung wird von Quan-tenobjekten getragen, zum Beispiel von Photonen oderElektronen. Diese Objekte breiten sich nur mit endlichenGeschwindigkeiten aus, die höchstens die Lichtgeschwin-digkeit erreichen. In diesem Sinn bleiben die Konzepte derEntfernung und des Raumes relevant, obwohl der nicht-lokale Zufall an Orten auftreten kann, die beliebig weitvoneinander entfernt sind.

Ich habe in diesem Buch geschrieben, dass die nicht-lokalen Korrelationen scheinbar außerhalb von Raum und

N. Gisin, Der unbegreifliche Zufall, DOI 10.1007/978-3-662-43958-6_12,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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Zeit entstehen, was folgendermaßen zu verstehen ist: Kei-ne Geschichte, die sich im Raum und im Verlauf der Zeitabspielt, kann beschreiben, wie die Natur derartige Korre-lationen hervorbringt. Mehr noch, keine gewöhnliche Ge-schichte – das heißt, keine Geschichte, die beschreibt, wiedieDinge und die Ereignisse sich beeinflussen, sich bewegenund sich kontinuierlich ausbreiten – kann beschreiben, wiesich nichtlokale Korrelationen ereignen. Verzichten dannaber die Physiker nicht auf das große Vorhaben, „die Na-tur zu verstehen“? Ich habe mich immer gewundert, dassdiese Frage vielen Physikern offensichtlich nicht nahe geht;sie scheinen sich mit der Möglichkeit zu begnügen, Berech-nungen durchzuführen. Vielleicht meinen diese Physiker,dass die Computer die Natur verstehen?

Seit jeher zeichnet sich die Wissenschaft jedoch durchdie Suche nach guten Erklärungen aus.

Bis zum Aufkommen der Quantenphysik hat man sämt-liche in der Wissenschaft vorhergesagten und beobachtetenKorrelationen durch Kausalketten erklärt, die sich allmäh-lich ausbreiten, also durch lokale Erklärungen. Alle dieseErklärungen aus dem „Prä-Quantium“ zeichnen sich au-ßerdem durch ihren deterministischen Charakter aus. ImPrinzip ist alles durch die Anfangsbedingungen bestimmt.Obgleich es in der Praxis oft unmöglich ist, diese deter-ministischen Kausalketten im Detail zu verfolgen, zweifel-ten die Physiker nicht an deren Existenz. Die Quantenphy-sik zwingt uns nun aber, für die nichtlokalen Korrelationenneue gute Erklärungen zu formulieren.

Wie erklären bzw. beschreiben wir also die Nichtlokali-tät? Mit unseren konzeptuellen Werkzeugen aus dem Prä-Quantium ist das unmöglich. Wir müssen demnach unse-

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12 Schlussfolgerung 193

ren Werkzeugkasten erweitern, indem wir zum Beispiel dieMöglichkeit hinzunehmen, über einen durch verschränkteObjekte erzeugten nichtlokalen Zufall zu sprechen.

Wir wollen uns eine Art konzeptuellenWürfel vorstellen(etwa so wie die in Kap. 11 behandelten PR-Boxen), der so-wohl von Alice als auch von Bob „geworfen“ werden kann,wobei das zufällige Ergebnis der Würfe jeweils beiden vor-liegt.DerWurf dieses nichtlokalenWürfels erfolgt durch dieEntscheidung von Alice oder von Bob, eineMessung durch-zuführen, also durch die Betätigung des Hebels an der Boxvon Alice oder an der Box von Bob. Etwas formaler ausge-drückt: Der Zufallsprozess kann entweder von Alice initi-iert werden, indem sie den Input x eingibt, oder von Bob,der ein y wählt. Die Ergebnisse a und b sind zufällig, abermit dem Versprechen, dass sie „sich anziehen“ und dadurchdie Korrelation a C b D x � y begünstigen, die dem Bell-Spiel zugrunde liegt. Lässt man diesen Erklärungsansatz zu,dann kann man die Nichtlokalität verstehen – ähnlich wieman die universelle Anziehungskraft versteht, wennman dieBeschreibung akzeptiert, dass jede Masse und insbesonderejeder Mensch von der Erde angezogen wird. Für die uni-verselle Anziehungskraft haben wir natürlich das vertrauteBeispiel der Magneten, die an unseren Kühlschränken kle-ben. Wenn wir mit der Quantenkryptographie eines Tagesvertraut sein werden, können wir unseren Kindern sagen:„Aber ja, mit der Nichtlokalität ist es wie mit der Quan-tenkryptographie – es ist weder Alice, die einen geheimenSchlüssel an Bob schickt, noch schickt Bob einen solchenSchlüssel an Alice, sondern Alice und Bob erzeugen überdie Entfernung hinweg zusammen einen geheimen Schlüs-sel, der sich gleichzeitig bei beiden materialisiert.“

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Ist das die einzige Art undWeise, den nichtlokalen Zufallzu beschreiben? Manche ziehen es vor, von „Retrokausali-tät“ zu sprechen, das heißt, die Wahl von Alice „retroagiert“auf die Verschränkungsquelle, die ihrerseits auf das Quan-tensystem von Bob einwirkt. Die Retrokausalität wirkt inRichtung Vergangenheit – sie breitet sich allmählich aus,aber in Richtung Vergangenheit. Ich habe keinen Zweifel,dass die Nichtlokalität – ebenso wie die Relativität – un-seren vertrauten Zeitbegriff aushöhlt, aber sich eine inverseKausalität vorzustellen, die zeitlich rückwärts gerichtet ist,das geht ziemlich weit!

Ich erwähne diesen Ansatz, um die heutige Forschungzu illustrieren. Sie werden sicher verstehen, dass ich mei-nen Erklärungsansatz bevorzuge, der auf dem Konzept desnichtlokalen Zufalls beruht, der sich an mehreren Ortenunabhängig von deren Entfernung manifestieren kann. Esist jedoch sehr wohl möglich, dass mich die Zukunft über-rascht und dass künftige Generationen eine ganz andere Er-klärung liefern werden. Sicher ist jedoch eines: Man wirddie Geschichte der Nichtlokalität erzählen – die Physikerwerden das große Vorhaben niemals aufgeben und eine Er-klärung ersinnen.

Der nichtlokale Zufall ist demnach eine neue Erklä-rungsweise, die wir unserem konzeptuellenWerkzeugkastenhinzufügen müssen – wir brauchen diese Werkzeuge, umdie Welt zu verstehen. Es handelt sich um eine echte kon-zeptuelle Revolution! Da die Quantentheorie die Existenznichtlokaler Korrelationen vorhersagt, muss man sich dar-anmachen, diesen neuen Erklärungsansatz einzubeziehen.

DieQuantennichtlokalität hat sehr lange gebraucht, sichin der Physik als zentrales Konzept durchzusetzen. Noch

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12 Schlussfolgerung 195

heute lehnen viele Physiker den Begriff „nichtlokal“ ab1.Dabei haben beispielsweise Einstein und Schrödinger be-reits ab 1935 mit voller Überzeugung dieMeinung verfoch-ten, dass dieser Aspekt der Quantentheorie das Hauptmerk-mal der Quantenwelt ist. Es scheint, dass der Aspekt, denalle diese argwöhnischen Physiker nicht begriffen haben,der ist, dass die Quantennichtlokalität keine Kommunika-tion gestattet: Nichts wird von Alice an Bob übermitteltund nichts von Bob an Alice. Man kann es einfach so aus-drücken, dass sich ein zufälliges Ereignis anmehrerenOrtenauf eine Weise manifestiert, die sich nicht lokal beschrei-ben lässt, also auf nichtlokale Weise entsteht. Einstein hatteUnrecht, als er von „nichtlokaler Wirkung“ (D Fernwir-kung) sprach: Es findet weder eine Wirkung von Alice aufBob statt, noch von Bob auf Alice. Aber Einstein hatte voll-kommen Recht, auf diesem Aspekt der Quantentheorie zubestehen, denn genau das unterscheidet die Quantenphy-sik am klarsten von der klassischen Physik. Will man heu-te sicher sein, dass es sich bei einem System wirklich umein Quantensystem handelt, dann muss man beweisen, dassman es zur Erzeugung von nichtlokalen Korrelationen ver-wenden kann, das heißt, dass man es benutzen könnte, umim Bell-Spiel zu gewinnen: Heutzutage gilt die Verletzungeiner Bell-Ungleichung als Kennzeichen eines Quantensys-tems.

Trotz alledemwird unsere Intuition ziemlich hart getrof-fen. Werden uns die Quantentechnologien, die jetzt in vol-ler Entwicklung sind, eines Tages die Quantenphysik undihre Nichtlokalität intuitiv zugänglich machen? Ich wette,ja. Fangen wir als erstes damit an, den alten Begriff „Quan-tenmechanik“ aufzugeben und stattdessen die Bezeichnung

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„Quantenphysik“ zu verwenden: Diese Physik hat schließ-lich nichts mit der Mechanik zu tun!

Fassen wir dasWesentliche noch einmal zusammen. Wirhaben gesehen, dass die nichtlokalen Korrelationen und dieExistenz eines echten Zufalls eng miteinander zusammen-hängen. Ohne echten Zufall würden die nichtlokalen Kor-relationen zwangsläufig eine Kommunikation ohne Über-tragung ermöglichen, also eine Kommunikation mit einerbeliebig großenGeschwindigkeit. Das zentrale Konzept die-ses Buches impliziert demnach zwangsläufig die Existenz ei-nes echten Zufalls und damit das Ende des Determinismus.Hat man umgekehrt die Existenz eines echten Zufalls ak-zeptiert, dann erscheint die Existenz von nichtlokalen Kor-relationen nicht mehr so sinnlos, wie es uns die klassischePhysik mit ihrem Determinismus glauben machen will. Istnämlich die Natur in der Lage, einen echten Zufall hervor-zubringen, warum sollten dann die in der Natur beobachte-ten Korrelationen auf lokale Korrelationen beschränkt sein?

Man kann schwerlich den Einfluss der Nichtlokalitätauf die Metaphysik überschätzen, das heißt, auf das Welt-bild, das von der modernen Physik verfochten wird. Eshat Jahrhunderte gedauert, bis sich in Europa der Atomis-mus durchgesetzt hat: Die Vorstellung von einer Welt, dieaus unzähligen Atomen besteht – aus kleinen unsichtbarenKugeln, aus denen sich alle Objekte zusammensetzen undderen erratische Bewegungen das Gefühl von Wärme her-vorrufen und die Energie für Dampfmaschinen liefern: dasFundament der industriellen Revolution. Diese Vorstellungscheint damals in China unter den Intellektuellen keineZustimmung gefunden zu haben, denn sie meinten, dasswir in einer Welt, die zwischen den Atomen voller Leere ist,

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12 Schlussfolgerung 197

„nichts sehen und hören könnten, denn die Sinneswahr-nehmungen wären durch die leeren Räume behindert2“.Es scheint sogar, dass in der alten chinesischen Metaphysikdie Fernwirkung ein ganz natürliches Konzept gewesen istund Teil einer universellen Harmonie war, die alle Dingemiteinander verbindet. Die Quantenphysik vertritt keinsolch ganzheitliches Weltbild. In der Quantenphysik istnicht alles mit allem verschränkt und Ereignisse, die aufnichtlokale Weise korreliert sind, treten nur selten auf. Undum es noch einmal zu sagen: Vor allem gibt es keine Ur-sache „hier“, die „dort“ etwas bewirkt. Die Verschränkungist eine „probabilistische Ursache“, deren Auswirkungenan mehreren Orten auftreten können, ohne eine „Fern-kommunikation“ zu gestatten. Die Verschränkung legt dienatürliche Tendenz der Objekte fest, auf Fragen diese oderjene korrelierten Antworten zu geben. Diese Antwortensind nicht vorbestimmt, sie sind nicht im Zustand des Ob-jekts „eingetragen“ – eingetragen ist vielmehr die Neigung,dieses oder jenes Ergebnis zu erzeugen.

Persönlich finde ich es nicht erstaunlich, dass ein Quan-tenobjekt nicht sämtliche Antworten auf alle Fragen in sichträgt, die ihm Physiker stellen können: Das Objekt besitztlediglich eine Neigung, diese Antworten zu geben. Ich tuemich nicht schwer damit, zu akzeptieren, dass dieWelt nichtdeterministisch ist. DieseWelt voller Neigungen und Zufäl-le, die wohldefiniertenGesetzen folgen, ist meinerMeinungviel interessanter als eineWelt, in der alles seit grauer Vorzeitvollständig vorbestimmt ist.

Wetten, dass es hierüber noch viel zu lernen gibt? Insbe-sondere verstehen wir immer noch nicht, wie man das allesmit Einsteins Relativität vereinbaren kann. Wir verstehen

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auch weder die ganze betreffende mathematische Struktur,noch die ganze Tragweite der Anwendungen in der Informa-tionsverarbeitung, noch – und das ist vielleicht das Überra-schendste – derenGrenzen:Warum lässt dieQuantenphysiknicht noch mehr Nichtlokalität zu?

Diese letzte Frage zeigt ziemlich gut den Weg auf, dendie Physik seit Einstein, Schrödinger und Bell zurückgelegthat. Damals lautete die Frage: „Existieren die von der Quan-tentheorie vorhergesagten nichtlokalen Korrelationen wirk-lich?“ Heute bezweifelt das kein Physiker mehr. Das Pro-blem besteht jetzt darin, diese Tatsache in eine relativistischeTheorie zu integrieren und die Grenzen der Nichtlokalitätzu verstehen. Es geht also darum, die Quantennichtlokali-tät von einem Standpunkt außerhalb der Quantentheoriezu untersuchen. Wir arbeiten daran.

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Anmerkungen

Geleitwort

1 Eine etwas ausführlichere Beschreibung findet man zum Beispiel in: E. Bré-zin et al., „Une nouvelle revolution quantique“, Demain la physique, Kap. 5,Odile Jacob, 2005.2 In: E. Schrödinger, „Are there quantum jumps?“ (Gibt es Quantensprün-ge?),The British Journal for the Philosophy of Sciences, vol. III, S. 240. „[. . . ] itis fair to state that we are not experimenting with single particles, any morethan we can raise Ichthyosauria in the zoo.“3 Vergessen wir die verzweifelt anmutende Lösung, den freien Willen abzu-lehnen: Das würde den Menschen zur Marionetten machen, die von irgend-einem unbekannten Laplace’schen Determinismus gesteuert würden.4 Nicolas Gisin war 2009 der erste Preisträger des renommierten John-Ste-wart-Bell-Preises, der für Forschungen über Grundlagenprobleme derQuan-tenmechanik und deren Anwendungen verliehen wird.

Kapitel 1 – Einleitung

1 Als Alain Aspect, ein junger angehender Forscher, zu John Bell ging, umihm vorzuschlagen, sein Experiment durchzuführen, hat ihm Bell geantwor-tet: „Haben Sie eine feste Stelle?“ Der erfahrene John Bell wusste nur allzu

N. Gisin, Der unbegreifliche Zufall, DOI 10.1007/978-3-662-43958-6,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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gut, wie gefährlich es für einen jungen Wissenschaftler war, an diesem vomwissenschaftlichen Establishment verachteten Thema zu arbeiten.

Kapitel 2 – Aperitifs

1 Cohen B. und Schofield R. E. (Hg.), Isaac Newton Papers & Letters onNatural Philosophy and related documents, Harvard University Press, 1958.2 Gilder L., The Age of Entanglement: When Quantum Physics Was Reborn,Alfred A. Knopf, 2008.

Kapitel 3 – Lokaleund nichtlokale Korrelationen

1 Bell J. S., Speakable and Unspeakable in Quantum Mechanics, CambridgeUniversity Press, 1987, S. 152.2 Man weiß, dass wenn in einer Gruppe von Personen jemand gähnt, diesdann unwillkürlich bei den anderen ebenfalls ein Gähnen auslöst. Das ist einBeispiel für einen unbewussten Einfluss in der Gruppe. Aber offensichtlichmuss die zweite Person die erste Person gähnen gesehen haben. Somit kannsich dieser Einfluss nicht schneller ausbreiten als das Licht.3 Beachten Sie, dass die gleiche Überlegung auch in dem Fall gilt, wenn einervon beiden gewissenhaft ist, während der andere einfach irgendetwas macht.Auch in diesem Fall liegen die Erfolgsquoten bei 1/2 und der Endstand bei 2.4 Wie oft hat der gute, aber ziemlich lebhafte Student, der ich war, währenddes Studiums seine „Quantenprofessoren“ um Erklärungen gebeten? Undwie oft musste ich hören, dass man die Quantenphysik nicht verstehen kann,weil die dabei verwendete Mathematik zu kompliziert ist!5 Hier ist „Programm“ im abstrakten Sinn zu verstehen, das heißt, wel-che Ergebnisse werden durch welche Daten erzeugt? Ein abstraktes Programmkann offensichtlich auf verschiedene Arten in unterschiedlichen Program-

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Anmerkungen 201

miersprachen geschrieben werden, eventuell mit zahlreichen überflüssigenZeilen. Folglich kann es schwierig sein, festzustellen, ob zwei unterschied-lich geschriebene Programme tatsächlich ein und demselben abstrakten Pro-gramm entsprechen.6 Genauer gesagt ist das die einfachste einer ganzen Familie von Bell-Un-gleichungen (diese ist äquivalent zur CHSH-Ungleichung, deren Bezeich-nung sich von den Anfangsbuchstaben ihrer Entdecker ableitet [J. F. Clauser,M. A. Horne, A. Shimony und R. A. Holt, „Proposed experiment to test lo-cal hidden-variable theories“, Phys. Rev. Lett., 1969, 23, 880]). Die anderenUngleichungen entsprechen den Fällen, in denen es mehr Auswahlmöglich-keiten oder mehr mögliche Ergebnisse oder mehr Spieler gibt.7 Eine ähnliche Leistung ist einige Jahre vorher dem Amerikaner John Clau-ser gelungen, aber die verwendeten Boxen schlossen die Möglichkeit nichtaus, untereinander Informationen auszutauschen. Darüber hinaus konntensie nur ein Ergebnis liefern (zum Beispiel 0), während das andere Ergebnis(1) durch indirekte Messungen erzielt wurde.8 Man darf die Annahme einer „subtilen Kommunikation“ zwischen denbeiden Boxen, um im Bell-Spiel zu gewinnen, nicht mit der Möglichkeitverwechseln, dass Alice und Bob die von ihren Boxen erzeugten Korrela-tionen dazu benutzen, miteinander zu kommunizieren. Die erste Form derKommunikation wäre eine Art verborgene Kommunikation, die wir „Ein-fluss“ nennen werden. Die zweite würde Alice und Bob gestatten, zu kom-munizieren, ohne die interne Funktionsweise der Boxen verstehen oder garbeherrschen zu müssen.9 Formal gestattet eine Korrelation p.a; bjx; y/ keine Kommunikation,wenn die Randbedingungen nicht vom Input der anderen Partei abhängen:P

bp.a; bjx; y/ D p.ajx/ und P

ap.a; bjx; y/ D p.bjy/.

10 Wenn man auf ein Piezoelement drückt, tritt eine elektrische Spannungauf; legt man eine elektrische Spannung an das Element an, dann wird eszusammengedrückt. Die beiden Effekte sind untrennbar miteinander ver-bunden. Eine der bekannteren Anwendungen ist der Gasanzünder: Der aus-geübte Druck erzeugt eine elektrische Spannung, die sich plötzlich in Formvon Funken entlädt. Der „Saphir“ von Plattenspielern ist ein anderes An-wendungsbeispiel.

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11 Für die Spezialisten präzisieren wir, dass nicht der ganze Kristall von Alicemit dem von Bob verschränkt ist, sondern dass diese Kristalle einige Milli-arden Ionen seltener Erden enthalten. Einige kollektive Anregungen dieserIonen im Kristall von Alice sind mit ähnlichen Anregungen der Ionen desKristalls von Bob verschränkt (Christoph Clausen, ImamUsmani, Félix Bus-sières, Nicolas Sangouard, Mikael Afzelius, Hugues von Riedmatten undNicolas Gisin, „Quantum storage of photonic entanglement in a crystal“,Nature, Januar 2011, 469, S. 508–511).

Kapitel 4 – Nichtlokalitätund echter Zufall

1 In diesem Sinn ist das oft verwendete Bild von Photonenzwillingen für Paa-re von verschränkten Photonen, die es erlauben, im Bell-Spiel zu gewinnen,ziemlich unangebracht.2 Ich behaupte nicht, dass die Erklärung durch einen nichtlokalen Zufallvollständig und endgültig ist. Dagegen behaupte ich ohne zu zögern, dassdie Wissenschaftler nie aufhören, weiter nach einer Erklärung zu suchen unddass jede Erklärung zwangsläufig nichtlokal ist. Die Erklärung, die es in dieAnnalen schaffen wird, wird jene sein, die es erlaubt, über die Grenzen derheutigen Physik hinauszugehen und eine neue Physik zu entdecken, welchedie Quantentheorie als eine Annäherung enthalten wird. Diese neue Physikwird es ermöglichen, im Bell-Spiel zu gewinnen, denn andernfalls stünde sienicht in Übereinstimmung mit den experimentellen Ergebnissen. Demnachwird diese Physik ebenfalls nichtlokal sein.3 In der klassischen Physik ist jedes Messergebnis vorbestimmt: es ist ge-wissermaßen im physikalischen Zustand des gemessenen Systems eingetra-gen. Die Wahrscheinlichkeiten treten nur dann auf, wenn man den exaktenphysikalischen Zustand nicht kennt. Diese Unwissenheit zwingt den Wis-senschaftler, sich mit statistischen Mittelwerten und mit Wahrscheinlich-keitsberechnungen zufrieden zu geben, die den Axiomen von Kolmogorowgenügen. In der Quantenphysik ist ein Messergebnis nicht vorbestimmt,selbst wenn der Zustand des Systems vollständig bekannt ist. Lediglich die

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Anmerkungen 203

Neigung, dass dieses oder jenes Ergebnis auftritt, ist im physikalischen Zu-stand des gemessenen Systems eingetragen. Diese Neigungen befolgen nichtdie gleichen Regeln und genügen den Axiomen von Kolmogorow nicht.Beachten Sie, dass gewisse Ergebnisse der Quantenphysik trotzdem vorbe-stimmt sind. Die Struktur der mathematischen Theorie der Quantenphysik(Hilbertraum) ist so beschaffen, dass für diejenigen Zustände, die keinerleiUngewissheit zulassen (die so genannten „reinen“ Zustände), die Gesamt-heit der vorherbestimmten Ergebnisse eindeutig die Neigung aller anderenmöglichen Ergebnisse kennzeichnet. In diesem Sinn sind die Neigungen derQuantenphysik eine logische Verallgemeinerung des klassischen Determi-nismus (N. Gisin, „Propensities in a non-deterministic physics“, Synthesis,1991, 89, S. 287–297; und arXiv:1404.0419).4 Ferrenberg A. M., Landau D. P. und Wong Y. J., „Monte Carlo simulati-ons: Hidden errors from„good“ random number generators“, Phys. Rev. Lett.,1992, 69, 3382. Ossola G., Sokal A. D., „Systematic errors due to linear con-gruential random-number generators with the Swendsen-Wang algorithm:A warning“, Phys. Rev. E , 2004, 70, 027701.5 Popescu S. und Rohrlich D., „Nonlocality as an Axiom“, Found. Phys.,1994, 24, S. 379.

Kapitel 5 – Quantenklonenist unmöglich

1 Aus historischen Gründen sprechen Physiker oft von der „Quantenun-schärfe“. Da sich aber „(Un)Schärfe“ eher auf einen Beobachter als auf einphysikalisches System bezieht, bevorzugt man heute den Ausdruck „Quan-tenunbestimmtheit“ (vgl. Kasten 8).2 Man kann beweisen, dass Bob Alices Wahl in mehr als einem von zweiFällen richtig errät, wenn Alice und Bob im Bell-Spiel in mehr als 3 von4 Fällen gewinnen.3 Wigner E. P., „The probability of the existence of a selfreproducing unit“,in:The Logic of Personal Knowledge: Essays Presented to Michael Polanyi on hisSeventieth Birthday, Routledge & Kegan Paul, 1961. Nachdruck in: Wig-

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ner E. P., Symmetries and Reflections, Indiana University Press, 1967, und in:The Collected Works of Eugene Paul Wigner, Springer-Verlag, 1997, part. A,vol. III.4 Das ist so, als ob man eine Information in der Position eines Elektronscodieren würde, ohne sichmit dessen Geschwindigkeit zu befassen. In einemsolchen Fall kann die Position kopiert werden, was zwar die Geschwindigkeitdes Elektrons stört, was aber unwichtig ist, wenn die Geschwindigkeit keineInformation trägt.5 Gisin N., „Quantum cloning without signalling“, Physics Letters A, 1998,242, S. 1–3.6 Simon C., Weihs G. und Zeilinger A., „Quantum cloning and signaling“,Acta Phys. Slov., 1999, 49, S. 755–760.7 Terhal B. M., Doherty A. C. und Schwab D., „Local hidden variable theo-ries for quantum states“, Phys. Rev. Lett., 2003, 90, S. 157903.

Kapitel 6 – Quantenverschränkung

1 Schrödinger E., „Discussion of probability relations between separated sys-tems“, Proceedings of the Cambridge Philosophical Society, 1935, 31, S. 55.2 Eine ausführlichere Darstellung findet man in: Scarani V., Quantum Phy-sics, A First Encounter, Oxford Univ. Press 2006.3 Rae A., Quantum Physics: Illusion or Reality?, Cambridge University Press,1986. Ortoli S. und Pharabod J.-P., Le Cantique des quantiques, La Décou-verte, 1985. Gilder L., The Age of Entanglement, op. cit.4 Wenn wir uns wiegen würden. Aber nicht unsere Masse würde beeinflusst,sondern nur die Anziehungskraft, die die Erde und der Mond auf uns aus-üben.5 Die Polarisation wird von der Schwingung des elektrischen Feldes be-stimmt, das zu jedem Photon gehört. Ist das Photon klar polarisiert, dannwird diese Schwingung auf eine exakte Richtung beschränkt. Diese Richtungbestimmt den Polarisationszustand des Photons. Sie hängt mit der Richtung

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Anmerkungen 205

der möglichen Messungen mit einem Winkelfaktor 2 zusammen. DieserFaktor wäre für sich allein schon eine schöne Geschichte wert.6 Es existieren unendlich viele verschränkte Zustände. Ich betrachte hier denZustand, den Physiker mit �+ bezeichnen, sowie Messungen in der xz-Ebe-ne.7 Manche ziehen es vor, von verborgenen lokalen Variablen zu sprechen, aberob nun verborgen oder nicht, an der Sache ändert sich nichts.8 Shimony A., in: Kamefuchi S. et al. (Hg.), Foundations of Quantum Me-chanics in the Light of New Technology, Physical Society of Japan, Tokyo,1983.

Kapitel 7 – Ein Experiment

1 Um ein grünes Photon zu erzeugen, müssen sich zwei infrarote Photonenzufällig gleichzeitig an derselben Stelle imKristall befinden. DieWahrschein-lichkeit dieses Ereignisses variiert mit dem Quadrat der Stärke des Infrarot-lichtes.2 Je nach verwendetem nichtlinearen Kristall haben diese zwei Photonennicht zwangsläufig genau die gleiche durchschnittliche Farbe. Zum Beispielkann das eine Photon hellinfrarot sein, also ein bisschen Rot enthalten, wäh-rend das andere dunkelinfrarot sein kann und demnach für unsere Augenvollständig unsichtbar wäre. Dieser Farbunterschied und somit der Energie-unterschied kann ziemlich groß sein – insbesondere kann er größer sein alsdie Unbestimmtheit der Energie eines jeden dieser Photonen, die wir den-noch weiterhin als infrarot bezeichnen werden. Dank dieses Unterschiedskann man die beiden Photonen trennen und beispielsweise das hellinfraro-te Photon an Alice und das dunkelinfrarote Photon an Bob senden. Dazuinjiziert man diese Photonen in Glasfasern – die gleichen Glasfasern, die Sietäglich benutzen, wenn Sie im Internet surfen, fernsehen oder telefonieren.Im realen Experiment werden die infraroten Photonen an die Merkmale derGlasfasern angepasst: Man spricht von Telecom-Photonen, um Photonen ei-ner Farbe zu beschreiben, bei deren Verwendung die Transparenz der in derTelekommunikation benutzten Glasfasern maximal ist.

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3 Akzeptiert man die Unschärferelationen von Heisenberg und damit auchden Umstand, dass die Messungen in der Quantenphysik echt zufällige Er-gebnisse liefern, dann braucht man nicht zwei physikalische Größen wiedie Energie und das Alter der Photonen: Eine allein würde ausreichen, umdie Nichtlokalität der Quantenphysik zu beweisen. Gäbe es aber keine zweiGrößen, dann würde niemand an einen echten Zufall glauben: Man wür-de zum Beispiel vermuten, dass die Energie eines jeden Photons vollständigbestimmt ist, man aber deren Wert nicht kennt. Nur dank des Bell-Spiels –welches verlangt, dass Alice und Bob eine Wahl zwischen (mindestens) zweiOptionen treffen können – kann man sich von der Existenz des echtenZufalls und von der Gültigkeit der Heisenberg’schen Unschärferelationenüberzeugen.4 Das Interferometer ermöglicht es, den „rechtzeitigen“ Teil des Photonsaufzuhalten, um ihn mit dem „verspäteten“ Teil desselben Photons zusam-menfallen zu lassen. Auf diese Weise treffen sich die beiden Teile des infra-roten Photons von Bob auf einem Glasfaserkoppler (dem Äquivalent eineshalbdurchlässigen Spiegels). Das Photon hat die Wahl zwischen den bei-den Interferometerausgängen, von denen jeder mit einem Photonendetek-tor ausgestattet ist. Man erhält demnach wieder ein binäres Ergebnis. Jedesder beiden Interferometer ist mit einem „Phasenmodulator“ ausgerüstet. Inder Praxis handelt es sich um ein Element, das es ermöglicht, die Glasfa-ser ein wenig zu verlängern, wodurch der „rechtzeitige“ Teil der infrarotenPhotonen verzögert wird. Diese Verlängerung ist winzig – kleiner als dieWellenlänge der Photonen – und stellt demnach nicht infrage, dass sich diebeiden Teile jedes Photons zur gleichenZeit auf dem letztenKoppler eines je-den Interferometers wiederfinden. Hierzu verwendet man zum Beispiel einPiezoelement, um die Glasfaser ein bisschen zu strecken. Das Wesentlicheist, dass die Photonen stets in einem von zwei Fällen von jedem der bei-den Detektoren erfasst werden. Dagegen hängt die Wahrscheinlichkeit, dassdie beiden infraroten Photonen eines Paars alle beide vom oberen Detek-tor erfasst werden (dass also a D b D 0) davon ab, wie man die optischenWege bei Alice und bei Bob verlängert (sie hängt von der Phasensumme ab,würden Physiker sagen). Somit hängen die Korrelationen zwischen den Er-gebnissen bei Alice und bei Bob von den Verlängerungen bei Alice und beiBob ab. Formal ist diese Form der Verschränkung, die als „two time-bin“ be-zeichnet wird, äquivalent zur Polarisationsverschränkung (W. Tittel und G.

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Anmerkungen 207

Weihs, „Photonic entanglement for fundamental tests and quantum com-munication“, Quantum Inform. & Computation, 2001, 1, S. 3–56). DieseVerschränkung hat den Vorteil, dass sie sich gut für die Glasfasern eignetund dass es leicht ist, die Anzahl der time-bins zu erhöhen und somit Fällezu untersuchen, die weit mehr als zwei mögliche Ergebnisse hervorbringenkönnen.5 Tittel W., Brendel J., Zbinden H. und Gisin N., „Violation of Bell in-equalities by photons more than 10 km apart“, Phys. Rev. Lett., 1998, 81,S. 3563.

Kapitel 8 – Anwendungen

1 www.idquantique.com2 Pironio S. et al., „Random numbers certified by Bell’s theorem“, Nature,2010, 464, S. 1021–1024.3 Intuitiv funktioniert das wie folgt. Wir stellen uns 2 Bits b1 und b2 undeinen Gegner vor, der mit einer Wahrscheinlichkeit von 3/4 jedes dieser Bitskorrekt errät. Wir ersetzen diese 2 Bits durch ihre Summe (modulo 2, damitdas Ergebnis immer ein Bit ist): b D b1C b2. Der Gegner errät b nur dannkorrekt, wenn er die 2 Bits korrekt errät oder wenn er sich beide Male irrt.Somit errät er b mit der Wahrscheinlichkeit .3=4/2 C .1=4/2 D 5=8, diekleiner als 3/4 ist. Folglich haben Alice und Bob die Vertraulichkeit ihresSchlüssels erhöht, mussten dafür aber in Kauf nehmen, die Hälfte davon zuverlieren. Ausgefeiltere Algorithmen ermöglichen eine klarere Verbesserung,während sie es gleichzeitig erlauben, einen deutlich geringeren Teil des ur-sprünglichen Schlüssels zu verlieren.4 Die ursprüngliche Unsicherheit darf nicht sehr groß sein. Deswegen müs-sen die Pulse, die Alice an Bob sendet, ziemlich schwach sein, um die Fre-quenz der Multiphotonenpulse zu beschränken.5 Weitere Einzelheiten findet man in: N. Gisin, G. Ribordy, W. Tittelund H. Zbinden, „Quantum cryptography“, Rev. Modern Phys., 2002, 74,S. 145–195; V. Scarani, H. Bechmann-Pasquinucci, N. Cerf, M. Dusek, N.

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Lutkenhaus, M. Peev, „The security of practical quantum key distribution“,Rev. Mod. Phys., 2009, 81, S. 1301.

Kapitel 9 – Quantenteleportation

1 Die folgende kleine Geschichte illustriert den Weg, der seit dem Beginnder zweiten Quantenrevolution in den 1990er Jahren zurückgelegt wurde.Im Jahr 1983, als ich ein junger Postdoc in den Vereinigten Staaten war, istein bedeutender Professor mit einem breiten Lächeln auf mich zugekommenund behauptete, mir das Leben gerettet zu haben. Er gestand mir, der Gut-achter für eine meiner ersten wissenschaftlichen Veröffentlichungen gewesenzu sein, in der ich den unverzeihlichen Fehltritt begangen hatte, zu sagen,dass es in der Quantenphysik möglich zu sein scheint, „dass ein System hierverschwindet, um dort wieder zu erscheinen“. Heute denkt man dabei anTeleportation, aber ich war weit davon entfernt: Es handelte sich lediglichum eine Intuition. Mein „Retter“ hat meine Arbeit unter der unumgängli-chen Bedingung zur Publikation angenommen, dass der frevelhafte Absatzgestrichen wird. Damals hätte mir meine Behauptung nur allseitige Miss-billigung eingebracht! Wie viele Gelegenheiten sind wegen dieser großenProfessoren versäumt worden, die unermüdlich wiederholten, dass Bohr al-les gelöst habe? Wie viele junge Talente haben die Physik aufgegeben? Undwie viele bedeutende Professoren wiederholen auch heute noch, dass Bohrdie Antwort auf alles gefunden habe?2 Bennett C. H., Brassard G., Crepeau C., Jozsa R., Peres A. und WoottersW. K., „Teleporting an unknown quantum state via dual classical and Ein-stein-Podolsky-Rosen channels“, Physical Review Letters, 1993, 70, S. 1895–1899.3 So lautete die Einleitung unserer Veröffentlichung zur Langstreckentele-portation. Aber die Herausgeber der berühmten Zeitschrift Nature lehntenein Zitat ab, das auf die Zeiten des Aristoteles zurückgeht! Ich habe mei-nen Studenten zwar vorgeschlagen, auf eine Veröffentlichung in Nature zuverzichten, aber der Druck war sehr stark und wir haben uns dem Diktatder Herausgeber unterworfen. I. Marcikic, H. de Riedmatten, W. Tittel,H. Zbinden et N. Gisin, „Long-distance teleportation of qubits at telecom-

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Anmerkungen 209

munication wavelengths, I“, Nature, 2003, 421, S. 509–513 (Einreichung:arXiv:quant-ph/0301178).4 Für ein Photon mit einer exakten Polarisation gibt es einen Polarisator,den das Photon mit Sicherheit durchläuft. Dagegen passiert ein vollständigdepolarisiertes Photon einen Polarisator nur in einem von zwei Fällen, undzwar unabhängig von dessen Richtung. Im ersten Fall trägt das Photon eineStruktur, die ein Polarisator bestätigen kann, aber im zweiten Fall ist die Ant-wort „verläuft oder verläuft nicht“ durch einen beliebigen Polarisator immer50–50 und demnach trägt das Photon keine Struktur.5 Wie wir in Kap. 7 gesehen haben, kann die Energie eines Photons unbe-stimmt sein. Das gleiche gilt beispielsweise für die Masse eines Bose-Ein-stein-Kondensats. Wichtig ist, dass die Substanz, die Masse oder die Energiezumindest bereits potenziell beim Empfänger vorhanden ist.6 Eine Präzisierung für Physiker: Das ist wahr, falls man alle Merkmale einesPhotons teleportiert. Teleportiert man nur seine Polarisation, dann sind diePhotonen nur dann identisch, wenn ihre anderen Merkmale – wie etwa ihrSpektren – bereits von vornherein identisch waren.7 Ich muss hier dem Leser gestehen, dass es viele Verschränkungszuständegibt. ZurVereinfachung habe ich bislang immer von jener Verschränkung ge-sprochen, die für die gleichenMessungen das gleiche Ergebnis liefert. Aber esgibt auch andere Verschränkungszustände. Zum Beispiel gibt es Verschrän-kungszustände, die für die gleichenMessungen stets unterschiedliche Ergeb-nisse liefern. Es gibt sogar noch viele weitere Verschränkungszustände, diewir aber nicht brauchen werden. Für Physiker: Es gibt vier maximale ortho-gonale Verschränkungszustände der Polarisation zweier Photonen; für jedenvon ihnen kann Bob eine Rotation (eine unitäre Transformation) auf diePolarisation seines Photons so anwenden, dass er exakt den ursprünglichenZustand des Photons von Alice wiederfindet (immer ohne diesen Zustandzu kennen).8 Hierzu muss man den Zustand des Photons drehen. Ist zum Beispiel dasQubit polarisationscodiert, dann muss man den Polarisationszustand mitHilfe von doppelbrechenden Lamellen drehen.

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210 Der unbegreifliche Zufall

Kapitel 10 – Ist die Natur wirklichnichtlokal?

1 Dass ein Photon verloren geht, ist im Prinzip nicht schlimm, solange manes weiß, bevor man ihm eine Frage stellt (bevor man den Hebel nach linksoder nach rechts drückt). Sonst könnte das Photon beschließen, „verlorenzu gehen“, wenn ihm die Frage nicht passt.2 Rowe M. A. et al., „Experimental violation of Bell’s inequalities with ef-ficient detection“, Nature, 2001, 149, 791–794. Matsukevich D. N. et al.,„Bell inequality violation with two remote atomic qubits“, Physical ReviewLetters, 2008, 100, S. 150404.3 Eine kleine Präzisierung drängt sich für all diejenigen auf, die sich Sorgenum die Relativität machen: Schafft es das Licht in einem Bezugssystemennicht, zwei Ereignisse zu verbinden, dann verhält es sich auch in allen andernmöglichen Bezugssystemen so.4 Aspect A., Dalibard J. und Roger G., „Experimental test of Bell’s inequali-ties using time-varying analyzers“, Phys. Rev. Lett., 1982, 49, S. 91–94.5 Weihs G., Jenneswein T., Simon C.,Weinfurter H. und Zeilinger A., „Vio-lation of Bell’s inequality under strict Einstein locality conditions“, PhysicalReview Letters, 1998, 81, S. 5039.6 Tittel W., Brendel J., Zbinden H. und Gisin N., „Violation of Bell ine-qualities by photons more than 10 km apart“, art. cit. Tittel W., Brendel J.,Gisin N. und Zbinden H., „Long-distance Bell-type tests using energy-timeentangled photons“, Physical Review A, 1999, 59, S. 4150.7 Gisin N. und ZbindenH., „Bell inequality and the locality loophole: Activeversus passive switches“, Physics Letters A, 1999, 264, S. 103–107.8 „It is as if there is some kind of conspiracy, that something is going on be-hind the scenes which is not allowed to appear on the scenes.“ P. C.W.Daviesund J. R. Brown (Hg.), The Ghost in the Atom, Cambridge University Press,1986, 48–50.9 Lineweaver C. et al., „The dipole observed in theCOBEDMR 4 year data“,Astrophys. J., 1996, 38, S. 470. http://pdg.lbl.gov.

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Anmerkungen 211

10 Salart Subils D., Baas A., Branciard C., Gisin N. undZbindenH., „Testingthe speed of„spooky action at a distance““, Nature, 2008, 454, S. 861–864.11 Cocciaro B., Faetti S. und Fronzoni L., „A lower bound for the velocity ofquantum communications in the preferred frame“, Phys. Lett. A, 2011, 375,S. 379–384.12 Bohm D., „A suggested interpretation of the quantum theory in terms of„hidden“ variable“, Physical Review, 1952, 85, S. 2.13 Um eine Kommunikation ohne Übertragung zu vermeiden, nimmt dasModell von Bohm an, dass für uns gewisse Variablen für immer unzugänglichsind.14 Scarani V. undGisin N., „Superluminal hidden communication as the un-derlying mechanism for quantum correlations: Constraining models“, Bra-zilian Journal of Physics, 2005, 35, S. 328–332.15 Suarez A. und Scarani V., „Does entanglement depend on the timing ofthe impacts at the beam-splitters?“, Phys. Lett. A, 1997, 232, S. 9.16 Dieses Experiment ist von der Fondation Marcel et Monique Odier dePsycho-Physique finanziert worden. Nach dem Staatsexamen in Physik undeinem Doktorat in Mathematik führte Marcel Odier die große Privatbankin der fünften Generation weiter.17 Stefanov A., Zbinden H., Gisin N. und Suarez A., „Quantum correlationwith moving beamsplitters in relativistic configuration“, Pramana (Journalof physics), 1999, 53, S. 1–8. Gisin N., Scarani V., Tittel W. und ZbindenH., „Quantum nonlocality: From EPR-Bell tests towards experiments withmoving observers“, Annalen der Physik, 2000, 9, S. 831–842.18 Als Suarez von unserem Ergebnis erfuhr, kam er sofort nach Genf undstellte fest, dass der Student das Experiment verkehrt aufgebaut hat: DieSpiegel näherten sich, anstatt sich zu entfernen! Und niemand von uns hattees bemerkt (worauf wir nicht stolz sind!). Wir haben das Experiment korri-giert und wiederholt, aber das Ergebnis ist dasselbe geblieben.19 Laplace P.-S., Essai philosophique sur les probabilités, Bachelier, 1814.20 Für manche Physiker impliziert der Realismus den Determinismus. Wirhaben nun aber gesehen, dass die Nichtlokalität den echten Zufall impli-ziert. Man braucht folglich ein Realismuskonzept, das den echten Zufalleinschließt.

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21 In diesem Zusammenhang ist die Feststellung interessant, dass die ersteVeröffentlichung zur Quantenkryptographie von sämtlichen Physikzeit-schriften abgelehnt worden ist! So ist sie auf einer in Indien organisiertenInformatikkonferenz erschienen. Das mag einem Außenstehenden sehrüberraschend vorkommen, aber alle erfahrenen Physiker wissen, dass esimmer schwer ist, eine besonders originelle Idee zu veröffentlichen. Manmuss die Mauer der Skepsis der Kollegen überwinden – eine Mauer, die not-wendig ist, um jene Ideen auszusieben, die mit bereits etablierten Tatsachenunvereinbar sind.22 Gisin N., „Non-realism: Deep thought or a soft option?“, Foundations ofPhysics, 2012, 42, S. 80–85.23 Franson J. D., „Bell’s theorem and delayed determinism“, Physical ReviewD, 1985, 31, S. 2529–2532.24 Penrose R., „On gravity’s role in quantum state reduction“, General Rela-tivity and Gravitation, 1996, 28, S. 581–600. Diósi L., „A universal masterequation for the gravitational violation of the quantum mechanics“, Phys.Lett. A, 1987, 120, S. 377. Adler S., „Comments on proposed gravitationalmodifications of Schrödinger dynamics and their experimental implicati-ons“, J. Phys. A, 2007, 40, S. 755–763.25 Salart D., Baas A., Van Houwelingen J. A. W., Gisin N. und Zbinden H.,„Spacelike separation in a Bell test assuming gravitationally induced collap-ses“, Physical Review Letters, 2008, 100, S. 220404.26 Die Anhänger des Multiversums behaupten, dass ihre Theorie lokal sei,aber es ist nicht klar, in welchem Sinn sie lokal sein soll. Wenn Alice ihrenHebel drückt, dann teilen sich ihre Box, sie selbst und ihre ganze Umgebungin zwei superponierte Zweige auf, von denen der eine genauso real ist wie derandere. Das Gleiche gilt für Bob. Wenn sich die Umgebungen von Alice undvon Bob begegnen, dann überschneiden sie sich sinnvollerweise so, dass injedem Zweig die Regeln des Bell-Spiels begünstigt werden. Diese Geschichtebeschreibt die Schrödinger-Gleichung, aber bedeutet das wirklich mehr, alseine schöne Gleichung mit ziemlich unklaren Worten zu versehen? Ist daseine Erklärung? Und vor allem: Ist es eine lokale Erklärung?27 Für eine Theorie, die Quantenvariablen und klassische Variablen ein-schließt (zum Beispiel Messergebnisse), lässt sich das durch die Forderungformalisieren, dass es möglich sein muss, die Evolution der Quantenvaria-

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Anmerkungen 213

blen durch die klassischen Variablen zu konditionieren (der Experimentatormuss in der Lage sein, ein Potential in Abhängigkeit von den früheren Mes-sungen zu aktivieren oder nicht). L. Diósi, Classical-Quantum Coexistence: A„Free Will“ test, J.Phys.Conf.ser. 361, 012028 (2012); arXiv:1202.2472.28 Gisin N., „L’épidemie du multivers“, in: Dars J.-F. und Papillaut A. (Hg.),Le Plus Grand des hasards. Surprises quantiques, Belin, 2010.

Kapitel 11 – Aktuelle Forschungenzur Nichtlokalität

1 Ekert A., „Quantum cryptography based on Bell’s theorem“, Phys. Rev.Lett., 1991, 67, S. 661–663.2 Weinberg S., Dream of a Final Theory: The Scientist’s Search for the Ultima-te Laws of Nature, Vintage (1994); deutsch: Der Traum von der Einheit desUniversums, Goldmann (1995).3 Rothen F., Le Monde quantique, si proche et si étrange, Presses polytechni-ques et universitaires romandes, 2012. Gilder L., The Age of Entanglement,op. cit.4 Méthot A. und Scarani V., „An anomaly of non-locality“, Quantum Infor-mation and Computation, 2007, 7, S. 157–170.5 Popescu S. und Rohrlich D., „Nonlocality as an axiom“, art. cit.6 http://www.qutools.com7 Cerf N. J., Gisin N.,Massar S. und Popescu S., „Simulatingmaximal quan-tum entanglement without communication“, Physical Review Letters, 2005,94, S. 220403.8 Brassard G., „QuantumCommunication Complexity“, Foundations of Phy-sics, 2003, 33, S. 1593–1616.9 Brassard G., Buhrman H. et al., „Limit on nonlocality in any world inwhich communication complexity is not trivial“, Physical Review Letters,2006, 96, S. 250401.10 SvetlichnyG., „Distinguishing three-body from two-body nonseparabilityby a Bell-type inequality“, Phys. Rev. D, 1987, 35, S. 3066. Collins D., Gisin

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N., Popescu S., Roberts D. und Scarani V., „Bell-type inequalities to detecttrue n-body nonseparability“, Physical Review Letters, 2002, 88, S. 170405.11 Branciard C., Gisin N. und Pironio S., „Characterizing the nonlocal cor-relations created via entanglement swapping“, Physical Review Letters, 2010,104, S. 170401. Branciard C., Rosset D., Gisin N. und Pironio S., „Bilo-cal versus non-bilocal correlations in entanglement swapping experiments“,Physical Review A, 2012, 85, 032119.12 Scarani V., Gisin N., Brunner N., Masanes L., Pino S. und Acín A., „Se-crecy extraction from no-signaling correlations“, Physical Review A, 2006,74, 042339.13 Device Independent Quantum Information Processing, http://www.chistera.eu/projects/diqip.14 Gisin N., „Impossibility of covariant deterministic nonlocal hidden-varia-ble extensions of quantum theory“, Physical Review A, 2011, 83, 020102.15 Conway J. H. und Kochen S., „The free will theorem“, Found. Phys., 2006,36, S. 1441–1473.16 Genauer gesagt: Eine Variable ist nicht an sich lokal oder nichtlokal. Imvorliegenden Fall ist es die Verwendung der Funktion , die Physiker dazuveranlasst, die Variable k als nichtlokal zu bezeichnen.17 Colbeck R. und Renner R., „No extension of quantum theory can haveimproved predictive power“,Nature Communications, 2011, 2, S. 411. PuseyM. F., Barrett J. und Rudolph T., „The quantum state cannot be interpretedstatistically“, Nature Physics, 2012, 8, S. 476–479.18 Bancal J. D., Pironio S., Acin A., Liang Y. C., Sacarni V. und Gisin N.,„Quantum nonlocality based on finite-speed causal influences leads to su-perluminal signalling“, Nature Physics 8, 867 (2012); arXiv:1210.7308.

Kapitel 12 – Schlussfolgerung

1 In den letzten zwanzig Jahren hat sich so einiges verändert. Das Aufkom-men der Quanteninformation und die Bekehrung der riesigen Gemeinschaftder Festkörperphysiker haben dazu geführt, dass sich Begriffe explosionsartig

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Anmerkungen 215

verbreitet haben, die vor zwei Jahrzehnten praktisch noch verboten waren,wie zum Beispiel „Nichtlokalität“, „nichtlokale Korrelationen“, „echter Zu-fall“ und „Bell’sche Ungleichung“. Aber eine große Gruppe bleibt immernoch widerspenstig, nämlich die der Hochenergiephysiker. Es scheint, dassdiese Physiker eifersüchtig die Meinung vertreten, dass nur ihre Physik fun-damentale Fragen aufgreift und dass die übrige Physik lediglich ein weitentwickeltes Ingenieurwesen darstellt. Das 20. Jahrhundert war Zeuge einesdrastischen zahlenmäßigen Anstiegs der Berufsphysiker und die Soziologiedieser Gemeinschaft muss noch geschrieben werden.2 Needham J., La Tradition scientifique chinoise, Hermann, 1974.

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Sachverzeichnis

AAbsurdität 7, 9, 142, 168,

175Acin, Antonia 188allgemeine Relativitäts-

theorie 90amplification of confidentiality

(Vertrauensverstärkung) 121approximatives Klonen 79Aristoteles 124, 125Aspect, Alain XIII, 45,

150–154Atomismus 196

BBancal, Jean-Daniel 187before-before

Experiment 163Bell, John V, VI, XI, 17,

44–46, 50, 89, 144, 156,171, 189, 190, 198

Bell, Mary 111Bell-Spiel 41Bell-Experiment 101, 150,

156

Bell-Spiel 4, 17, 18, 24, 25,27, 29–32, 36, 39, 41–43,45, 46, 49–51, 55, 56, 59,60, 62, 64, 65, 67, 70,76–78, 81, 83, 84, 89, 91,94, 102, 104–107, 109,115, 117, 120, 138, 141,143–145, 147–152, 162,165, 169, 171, 176–180,182, 184, 185, 187, 193,195

Bell-Ungleichung V, VI, 36,38–40, 168, 195

Bell’sche Ungleichung, s. Bell-Ungleichung V

Bennett, Charles Henry 122Bohm, David 161Bohr, Niels V, 89, 90, 143,

167, 175Brassard, Gilles 122

CCodierungsschlüssel 117,

118

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218 Der unbegreifliche Zufall

correlations cry out forexplanations 17

DDarwin’sche Revolution 3de Broglie, Louis 89Der Quantenzufall ist

nichtlokal 87d’Espagnat, Bernard VIDetektionsschlupfloch 138,

144, 147, 153–155Determinismus 63, 91, 142,

172, 182, 183, 196Diósi, Lajos 171DIQIP 182DNA 78, 79Doppelspaltexperiment 86

EEberhard, Philippe 158echte Zufallszahl 114echter Zufall 2, 4, 13, 14,

17, 33, 34, 66, 67, 70, 84,86, 89, 104, 114, 129, 134,164, 166, 172, 181, 191,196

eineiige Zwillinge 58eingefangenes Ion XIEinstein, Albert V–VII, XIII,

8–10, 14, 61, 65, 70, 80,89, 90, 143, 144, 154, 160,163, 195, 198

Ekert, Artur 122, 175

elektronisches Geld 119elektronisches Kasino 114Energieerhaltungssatz 103,

106EPR-Artikel V, X, 90EPR-Paradoxon V, 90, 175Erde-Mond 7erste Quantenrevolution IXErzeugung von verschränkten

Photonen 101Erzeugung von Zufalls-

zahlen 15Experiment von Aspect 154Experiment von Bernex-

Bellevue 109Experiment von Satigny-

Jussy 158

FFernwirkung 8Fluoreszenz 102Free Will Theorem 182, 184freier Wille 2, 81, 165–168,

173, 183friedliche Koexistenz 96

Ggemeinsame lokale

Ursache 21gemeinsame Messung 127,

131, 132, 135gesunder Menschen-

verstand XVI, 48, 65

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Sachverzeichnis 219

Gisin, Nicolas V, VIII, XI,188

Gravitation 7–9, 60, 142Gravitationstheorie 90Gravitationswelle 90Graviton 8grüner Laserpointer 103

HHeisenberg, Werner 74, 89Heisenberg’sche

Unschärferelation 74, 80,89, 91, 105, 182

Hilbertraum 181hinters Licht führen 154Hoehlengleichnis

(Platon) 98Hyperdeterminismus 165,

166

IIchthyosaurier 199Imbert, Christian VIIndeterminismus 75, 85Informationsgesellschaft IXinstantane Kommuni-

kation 60integrierter Schaltkreis IXintrinsische Unbestimmt-

heit 104

KKann man die DNA

klonen? 78

Klon 74Kochen, Simon 184Kollaps der Wellen-

funktion 156Kommunikation mit

Überlichtgeschwindig-keit? 155

Kommunikationskom-plexität 179,180

Kommunikationsverbot 120Komplexitätstheorie 118Konfigurationsraum 97koordinieren vs.

kommunizieren 60Kopenhagener Schule 175Kopf oder Zahl 32, 68Korrelation 2, 17, 18, 95,

186Kryptographie 137, 175Kryptographie mit

öffentlichemSchlüssel 118, 119

LLaplace, Pierre-Simon 142,

167Laplace’scher Dämon 167Laser IXLaserpointer 103lokale Erklärung 95lokale Korrelation 21, 38,

41, 59

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220 Der unbegreifliche Zufall

lokale Strategie 31, 41lokale verborgene

Variablen 39, 88, 89lokaler Realismus VI, XIIILokalität VI, 65, 70, 91, 186Lokalitätsschlupfloch 148,

149, 151, 154, 155, 157

MMaterie und physikalischer

Zustand 124Maxwell, James Clerk 113Metaphysik 196Mikrowellenhintergrund-

strahlung 157modulo 2 rechnen 30Multiversum 172, 173

NNewton, Isaac 7–9, 48, 60,

66, 90, 142–144, 167, 168,173

Newton’sche Revolution 3nichtdeterministisch 185nichtlinearer Kristall 102,

105, 108nichtlokale Einheit 56, 57,

60nichtlokale Korrelation 2, 5,

17, 42, 53, 95, 114, 115,128, 141, 157, 160, 161,191, 195, 196

nichtlokale Quanten-korrelationen 113

nichtlokaleWechselwirkungen VII

nichtlokaler Kalkül 28, 58nichtlokaler Würfel 67, 193nichtlokaler Zufall 32, 63,

65, 66, 70, 194nichtlokales Korrelations-

experiment 102nichtlokales Telefon 10Nichtlokalität VII, XIII, 2,

6, 10, 28, 30, 43, 60, 66,70, 78, 80, 81, 91, 105,122, 123, 127, 141–144,162, 166, 169, 171,175–179, 181, 182, 186,192–194, 196, 198

Nichtlokalitätsschlupf-loch 145

Nichtrealismus 169n-Lokalität 181No-Cloning-Theorem 77,

78, 80, 119, 125, 135, 137,182

OOckhams Rasiermesser 172offene Welt 173Onlinehandel 119Onlinespiel 114

PPenrose, Roger 171photoelektrischer Effekt 9

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Sachverzeichnis 221

physikalische Realität VIPironio, Stefano 187Platon

Höhlengleichnis 98Podolsky, Boris V, 90Popescu, Sandu 178Popper, Karl 22Präquantium 43, 52, 192Primzahl 118Primzahlzerlegung 118PR-Box 178, 179, 193Pseudozufallszahl 68, 69,

114

QQRNG (Quantum random

number generator), s.Quantenzufalls-generator 115

Quantenbit, s. Qubit 91Quantenbitverschränkung 107Quantencomputer 58Quantenfax 136Quantenholismus 83Quantenindeterminismus VIIQuantenklonen 73, 75, 79Quantenkommunikations-

netze 136Quantenkorrelation 106,

179, 181Quantenkryptographie XII,

6, 15, 73, 75, 80, 117, 120,182, 193

Quantenkryptographie-protokoll 137

Quantennichtlokalität XII,6, 94, 142, 143

Quantennichtlokalität vs.Newton’scheNichtlokalität 91

Quantenrepeater 137Quantenspeicher 106, 107Quantensprung XIQuantenteleportation 2, 10,

75, 80, 123–125, 131–133,135–137, 181, 182

Quantenteleportations-netzwerk 137

Quantenteleportations-protokoll XII

Quantenunbestimmtheit 85Quantenzufall VIII, XII,

XIII, 13, 104, 114Quantenzufallsgenerator 116,

151Quantenzustand 39Qubit 91–93, 109, 120,

128, 131, 135–137, 179

RRaumzeit VI, 160Rauschen 10–13, 71, 84,

117Realismus 168reiner Schöpfungsakt 13, 33,

70, 191

Page 236: Der unbegreifliche Zufall ||

222 Der unbegreifliche Zufall

relativistischeKausalität VI–VIII, XIII

Relativität 14, 120, 187Relativitätstheorie 3Retrokausalität 194Rohrlich, Daniel 178Rosen, Nathan V, 90

SScarani, Valerio 162–164,

188scheinbarer Zufall vs. echter

Zufall 69Schrödinger, Erwin 83, 89,

90, 195, 198schwerverdauliche

Schlussfolgerung 57Shimony, Abner VISolipsismus 166spukhafte Fernwirkung 10,

61, 160statistisches Gemisch 39,

183, 185Suarez, Antoine 162–165Substanz und Form 124Superposition 85, 108Superpositionsprinzip 87

TTelepathie 48, 58, 59Teleportationsnetz 133the inequality 50Theorie von Allem (Theory of

Everything, TOE) 176

time-bin 109Tittel, Wolfgang 210TOE, Theory of Everything

(Theorie von Allem) 176Toschek, Peter XITransistor IX

UUniversum 172

Vverborgene Variablen 89verschränkte Paare von

Quantenobjekten Xverschränkte Qubits 93verschränkter Zustand 87Verschränkung XI–XIII, 4,

6, 42, 52, 53, 74, 83, 84,86–89, 91, 92, 97, 103,115, 119, 127, 129, 130,133, 135, 138, 175, 177,179, 181, 191, 197

Verschränkungsexperi-ment 153

WWarum würfelt Gott? 70Weinberg, Steven 176Welle-Teilchen-

Dualismus IXWerfen eines Würfels 68Wigner, Eugene 79Wolke von potenziellen

Ergebnissen 93

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Sachverzeichnis 223

YYeong Cherng Liang 187Young, Thomas 86Young’scher Spalt 86

ZZbinden, Hugo 164Zeilinger, Anton 151

Zufallechter 104

Zufallszahlengenerator 6,182

zweite Quantenrevolution(neue Quanten-revolution) IX