Der Unsichtbare Apfel_ Roman - Robert Gwisdek

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Transcript of Der Unsichtbare Apfel_ Roman - Robert Gwisdek

  • Inhal tTitel

    Motto

    Vorgeschichte

    1. Kapitel

    2. Kapitel

    3. Kapitel

    4. Kapitel

    5. Kapitel

    6. Kapitel

    7. Kapitel

    8. Kapitel

    9. Kapitel

    Nachwort

    Buch

    Autor

    Impressum

  • Dieser Satz ist eine Lge.

  • Dieser Satz ist wahr.

  • Vorgeschichte

    Igor war ein unkonzentriertes Kind.Konzentration schien ihm ermdend und eng. Alles, was eine gewisse

    Gre unterschritt, wie beispielsweise Schrift in einem Buch, warmhsam fr ihn anzusehen. Manchmal zwang er sich, auf eineneinzelnen Punkt zu starren, auf einen Fleck oder einen kleinen Riss inder Tapete, und so lange wie mglich nicht von ihm abzuweichen. Aberes dauerte meist nur ein paar Sekunden, bis das Bild vor ihmverschwamm und seine Augen eine unwillkrliche Bewegung zur Seitemachen mussten.

    Immer wieder rutschte seine Konzentration an der Welt und ihrenEreignissen ab wie an einem nassen Felsen und auch die Menschennahm er meist nur verschwommen wahr. Sein Geist war wie einSchwarm Fische, dachte er oft, und weder hatte er ein Netz, um ihn zufangen, noch einen Kder, um ihn zu locken, er bewegte sich nacheigenen Gesetzen und Igor blieb nichts weiter brig, als ihm zu folgen.

    Nur wenn es ihm gelang, nicht nach ihm zu greifen, zog der Schwarmihn an Orte, die schn waren und ihn entspannten. Dann stieg oft einebebende Freude in ihm auf und sein Krper geriet in eine derartigeHitze, dass es fr seine Eltern fast ein wenig beunruhigend war. Ohneersichtlichen Grund lachte er in den unpassendsten Momenten auf undkonnte meist fr eine Weile nicht mehr damit aufhren.

    Igor rannte v iel umher, um Dinge anzufassen. Bume, Tiere,Menschen, Grser, Autos, Tische, Sthle alles musste er berhren, umzu berprfen, ob es tatschlich da war. Er war misstrauisch gegenberder Welt und oft glaubte er erst an die Dinge, wenn seine Hnde aufihnen lagen. Seine Finger waren sensibler als seine Augen und erkonnte den Krper und die Beschaffenheit eines Objektes, einer Pflanzeoder eines Menschen nur dann ganz erfassen, wenn er sie berhrte.

  • Wenn er die Welt anfassen durfte, wurde sie k lar, und wenn er geradenichts in den Hnden hielt, war er oft in Gedanken versunken, alswrde er nach der Lsung eines unsichtbaren Problems suchen. SeineAugen wurden glasig und man musste laut seinen Namen rufen, um ihnzurckzuholen.

    Eines Nachts rieb er sein Gesicht mit Erde ein und stellte sich still in dasSchlafzimmer seiner Eltern. Als sie erwachten, erschraken sie, und aufdie Frage, warum er das tat, wusste er keine Antwort.

    Mit fnf stellte er zum ersten Mal fest, dass er stattfand. Es erstaunteihn. Gar nicht so sehr die Erkenntnis an sich, sondern dass es ihmvorher anscheinend nicht aufgefallen war. An der Feststellung warnichts, was man in aufwendigere Worte fassen konnte. Er sa auf demTeppich und stellte voller Erschtterung fest, dass er passierte.

    Wenn die Dmmerung hereinbrach, lief er oft durch die Straen underfreute sich an den Laternen und an den schreienden Schwalben.

    Igor konnte sich nicht entscheiden, was er vom Leben halten sollte.Manchmal empfand er die Welt als Unsinn. Manchmal liebte er sie undihre Bewohner so sehr, dass es ihn schmerzte. In solchen Momentenglaubte er schier zerplatzen zu mssen vor Freude darber, dass es dieWelt gab.

    Und doch kam es ihm unlogisch vor, dass sie da war. Logischerschien ihm, sie wre nicht vorhanden. Irgendwo musste etwas sehrSeltsames vorgegangen sein und er freute sich heimlich darber. Erfragte sich, ob die Erwachsenen von dem Vorhandensein der Weltebenso irritiert waren wie er. Ihre Selbstverstndlichkeit erstaunte ihn.Allein die Sprache, die sie benutzten, war ihm ein Rtsel. Alle nannten siedie Dinge beim selben Namen. Ein Ball war fr alle ein Ball.Irgendjemand hatte eines Tages damit angefangen, einen Ball Ball zunennen, und alle waren damit einverstanden. Hatten sie sich dazuentschieden? Es waren so v iele Menschen und so v iele Objekte, wie

  • hatten sie alle bereinkommen knnen? Gab es verfeindete Lager?Menschen, die Ball See nennen wollten und See Ball? Oder hatte sichder Ball seinen Namen am Ende selbst gegeben? Das wre immerhinmglich. Die meisten Dinge schienen eine eigene Intelligenz zu besitzenund manchmal in einer guten und manchmal in einer schlechtenStimmung zu sein. Um darauf eingehen zu knnen, baute sich Igoreinen Neutralisierungskasten aus einer Keksdose. Damit konnte erschlecht gelaunte Objekte wie die Haarbrste seiner Mutter oder dieBrieftasche seines Vaters emotional entladen.

    Das Gute daran war, dass die Objekte es ihm dankten und erdadurch in jedem Raum der Wohnung Freunde fand. Den Schrank, dieLampe, den Heizkrper, die Einwegglser. Das Schlechte war, dass nunVerantwortung auf ihm lag und die Objekte nicht in ihrer gutenStimmung blieben. Bald musste er tglich fr gute Laune unter denObjekten sorgen und es berforderte ihn.

    Manchmal lag er auf dem Boden des Wohnzimmers in einemSonnenfleck und wurde von einer tiefen Rhrung erfasst. Der Teppich,die Bcher, die Heizung, Gerusche aus der Kche, Blumenvasen, derKaffeerand auf der Tischdecke, Vogelleichen auf der Strae,Kindergeburtstage, der Geruch von Schrnken und Gromttern,Turnschuhe, Teekan nen, alles bewegte ihn und er fhlte eine groeZrtlichkeit zu den Erscheinungsformen.

    Lange glaubte er, die Welt sei eine unglaublich raffinierteKonstruktion, die vergessen hatte, wofr sie da war. Sie schienverlassen, wie ein Vergngungspark, dessen Besitzer verschwundenwaren, dessen Attraktionen aber noch blinkten und der angefllt warmit Besuchern. Nur diejenigen, die den Park gebaut hatten, warennirgendwo zu finden.

    Als er sechs wurde, biss er ein Nachbarskind in die Hand. Die beidenspielten Verstecken und das Nachbarskind sagte im Scherz, er solle die

  • Augen schlieen und bis unendlich zhlen. Igor war der Ansicht, dassUnendlichkeit nichts war, womit man Scherze trieb. Das Nachbarskindweinte bitterlich und Igor wurde schwer gescholten. Er schmte sich frseine Reaktion und biss sich nachts, whrend er im Bett lag, heimlichselbst.

    An vielen Nachmittagen schlenderte er ber Hinterhfe und Wiesen undhatte groes Heimweh nach dem Ort, an dem er sich bereits befand.

    Oft sprach er leise zum Universum und bot ihm seine Hilfe an. Er warder berzeugung, dass eine Zusammenarbeit fr beide von Vorteil seinmsste. Doch das Universum schwieg und schickte ihm Zuflle, die ernicht verstand, und Aufgaben, die er nicht mochte. Es schien ihn testenzu wollen, bevor es seine Mitarbeit akzeptierte.

    In diesen Momenten war es ihm, als fnde er nirgendwo Eingang.Dann wurden die Dinge um ihn herum gespenstisch und grotesk. Siebeunruhigten ihn mit ihrer penetranten Anwesenheit, die keineRcksicht darauf nahm, ob er selbst gerade vorhanden war oder nicht.

    Gern stieg er in heruntergekommene Huser ein und suchte nachunsichtbaren Tren. Mit Kreide malte er ovale Formen auf die Wndeund versuchte, durch sie hindurchzugehen.

    Igor empfand Freude daran, Dinge zu sortieren. Haargummis, Ngel,Kronkorken, Kastanien.

    Er meinte, eine Ordnung herstellen zu mssen. Wenn es nur einrichtiges System gbe, in das er die Dinge in ihrer vorbestimmtenReihenfolge einfgen knnte, wrde alles wie von selbst in seineFunktion fallen. Aber seine Konzentration war zu schwach.

    Er legte eine Schachtelsammlung an, die ihm sehr half. Allerdings

  • sammelte er ab dem Moment, in dem er begriff, dass Schachteln ihmhalfen, die Dinge zu sortieren, fortan nichts weiter als Schachteln undsortierte die k leineren in die greren.

    Mit sieben wurde Igor eingeschult. Er entwickelte ngste vorReptilien und vor ungeraden Zahlen. Auch mochte er bestimmtegeometrische Formen nicht. In Treppenhusern musste er immer dieungeraden Stufen benutzen, gerade weil er Angst vor ihnen hatte. Erglaubte damit verhindern zu knnen, dass sie ihm entgegensprangen,um sich an ihm dafr zu rchen, dass sie ungerade waren. Wenn er dieKante eines Glases oder einer Tasse berhrt hatte, musste er ihrengesamten Rand abstreichen.

    Er mochte es nicht, wenn etwas nicht in sich geschlossen war. Vorallem nicht Kreise. Sie bten eine fast dunkle Anziehung auf ihn aus. Erempfand sie als mchtig und frchtete sie ein wenig. Um sich mit ihnenanzufreunden, malte er so v iele k leine Kreise auf ein Blatt Papier, wiedarauf Platz fanden, und verbrannte es im Hof.

    In der Schule verstand er kaum etwas.Er begriff einfach nicht, worum es ging.

    Manchmal stritten seine Eltern und er baute sich k leine Rume aus Kistenoder Wschekrben, in die er sich hineinfalten konnte. Er meinte sichselbst einsortieren zu mssen. Igor sa lange darin, lauschte in die Stilleund hoffte, dass das Leben ihm die Auflsung seines Scherzes zuflsternwrde. Er verpasste das Mittag- und das Abendessen und manchmalwachte er irgendwo auf und wunderte sich, wie er dorthin gekommenwar.

    Auch sein Krper war ihm ein Rtsel. Er schien ihm wie ein Tier, das

  • er bewohnte. Ein Tier, welches er zhmen und dressieren musste, umihm Tricks und Spiele beizubringen. Doch sein Krper war ngstlich,unbeholfen und vergesslich. Er begleitete ihn misstrauisch undwunderte sich oft, wie beschrnkt er war. Ungeschickt und lautstolperte er durch die Welt, er verwechselte v ieles miteinander und lieDinge fallen. Sein Krper war ein Idiot und er schmte sich oft fr ihn.

    Er versuchte beruhigend zu ihm zu sprechen, um ihm nicht dasGefhl zu geben, dass er ihn nicht mochte, und manches Mal htte erihn gern in den Arm genommen. Aber sein Krper lie sich nicht vonihm berhren.

    Igor begann streng mit ihm zu werden. Einmal a er einen kleinenStein, um zu beobachten, wie er durch seinen Organismus wieder zumVorschein getrieben wurde. Er hielt seine Hand ber die Flamme einerKerze und kmpfte gegen den Schmerz, bis er sie zurckziehen musste.Es war ihm unangenehm, von ihm abhngig zu sein.

    Weder durfte Igor seinen Krper ganz betreten noch durfte er ihnganz verlassen. Er musste ihn fttern und zu Bett bringen, wenn erselbst gern noch gespielt htte, und wo immer er hinwollte, hielt seinKrper ihn fest umklammert wie ein ngstliches Kind.

    Wenn er nur in ihn hineingleiten knnte, um ihn von innen ein wenigauszudehnen, ihn aufzurichten und gro werden zu lassen! Igor wollteabschweifen und in die unendlichen Formen tauchen, die er sah undber die er oft versunken nachdachte. Aber sein Krper schien ihmnicht folgen zu wollen.

    In der Schule war Igor meist still.Er war bedacht, sich nicht berfhren zu lassen, auch wenn ihm nicht

  • ganz klar war, wobei. Vorsichtig versuchte er, die Scherze und Spieleder anderen Schler mitzuspielen und zu erraten, was die Lehrer vonihm hren wollten, wenn sie ihm Fragen stellten, die er nicht verstand.Je lnger er in die Schule ging, desto wtender wurde er auf dieZeitverschwendung, die sie darstellte.

    Auswendiglernen abstrakter Inhalte, Befolgen seltsamerVerhaltensregeln, nie enden wollendes Wiederholen unwesentlicherThemen. Nicht nur dass die Schule nichts trainierte, was er brauchte,auch war sie verkrmmend und sparte das Wesentliche aus.

    Einmal bat er um eine Unterredung mit dem Direktor seinerGrundschule. Igor betrat sein Bro und schlug ihm vor, dass es einFach geben sollte, welches mit verbundenen Augen abgehalten wrde.Er sagte, dass er nun schon zwei Jahre zum Unterricht komme, abernichts finden knne, was den Tastsinn oder das Gehr trainiere. Auchsein Geruchssinn werde nicht gebt, geschweige denn die Fhigkeit, mitTieren zu sprechen. Darber hinaus msse das lange Sitzen aufhren,da es hochgradig ungesund sei, und er verlangte zu wissen, ob sich dasab der dritten Klasse ndern wrde. Der Direktor lachte und schenkteihm eine Sigkeit.

    Mit zehn war er berzeugt, dass er von einem anderen Ort auf dieErde gekommen und dabei ein Unfall passiert war, infolgedessen er sichnicht mehr an seine Herkunft erinnern konnte. Er unterrichtete seineUmwelt davon, aber diese konnte sich auch nicht daran erinnern.

    Igor malte sich einen Kreis auf die Stirn, brach abends in dasSchulgebude ein und schrieb Vorsicht! auf alle Tafeln.

    Einmal schrie er einen Lehrer an, entschuldigte sich aber sogleichwieder, denn er mochte es nicht, Menschen anzuschreien. Die meistenseiner Mitschler ignorierten ihn oder machten sich ber ihn lustig under wusste nicht, ob er ihnen zu viel oder zu wenig war.

    Er konnte Menschen schwer einschtzen und nahm sie manchmal

  • nicht und manchmal v iel zu ernst.An einem Wintertag schraubte er das Kchenradio seiner Eltern

    auseinander, sah sich die Einzelteile an und berlegte, was sie wohl zubedeuten hatten. Er war fasziniert von der Tatsache, dass es ein Gertwar, welches man auf unterschiedliche Frequenzen einstellen konnte,die, wie seine Eltern sagten, unsichtbar durch die Luft v ibrierten, umdann klar verstndlich Sprache und Musik wiederzugeben. GanzeOrchester schwebten unhrbar durch den Raum. Und dann auch nochmehrere gleichzeitig. Wie v iel Platz in der Luft sein musste!

    Er fragte sich, wie die anderen Menschen es schafften, so unbeteiligtzu wirken. Die wenigsten schienen zu genieen, dass sie am Lebenwaren. Jedes Reh, jeder Vogel strahlte Gelassenheit aus. Der Menschjedoch hatte oft eine merkwrdige Verzerrtheit und Trauer in seinemBlick.

    Er mochte das Leben und er mochte auch seine Unwegsamkeiten,aber je lter er wurde, desto weniger konnte er sich erklren, warumalles war. Zu diesem Zeitpunkt dachte er noch, dass man so etwas wohlerklrt bekme, wenn man lter wrde, aber als er herausfand, dass dieErwachsenen, die ihm sagten, wann er zu essen und zu schlafen habe,wann er aufhren msse zu spielen und wann er sich waschen solle,dies ebenfalls nicht wussten, wurde er verwirrt. Wie konnte das sein? Esstrte ihn und trieb ihn in eine tiefe Verstimmung. Er mochte die meistenErwachsenen, aber es kam ihm lcherlich vor, dass sie existierten, ohnezu verstehen, warum. Dass das Leben berhaupt existierte, war schonmerkwrdig genug, aber dass dieses Leben Menschen hervorbrachte,die zwar aus ihm erwuchsen, aber keinerlei Anhaltspunkte fr dieBegrndung dieser Sachlage zu haben schienen, war grotesk undinakzeptabel. ber die k leinlichsten Fragen unterhielten sie sich ganzeWochen. Knstliche Landschaften aus Missverstndnissen undEiferschteleien, Hin- und Herschieben abstrakter Zahlengebilde und

  • Kmpfe um unsichtbare Positionen. Wie jemand aussah, was er trugoder wie er sprach, schien von immenser Wichtigkeit. Er fand esbefremdlich, aber doch gab es etwas in ihm, was die Leidenschaftbewunderte, mit der die Menschen ihre Kmpfe austrugen. Sie wirktenso berzeugt von der Wichtigkeit ihres Tuns, dass es fast ansteckendwar.

    Igor kam in die Pubertt und mit ihr fing er an, bestimmte Dinge nichtmehr zu mgen. Bisher mochte er sehr v iel, doch nun berkam ihn einepltzliche Abneigung gegenber Dingen, die von zu vielen anderenMenschen gemocht wurden. Ihr Mgen kam ihm wahllos vor und vieleschienen bestimmte Dinge nur zu mgen, weil v iele andere sie mochten.Dann lernte er andere Menschen kennen, die ebenfalls Dinge nichtmochten, weil sie von vielen anderen gemocht wurden, und fing an, esnicht zu mgen, wenn Leute etwas nicht mochten, nur weil es vonvielen anderen gemocht wurde. Er war verwirrt und mochte eine Zeitlang das Mgen nicht mehr.

    Bald mochte er es aber nicht mehr, das Mgen nicht zu mgen.Mgen war schn, nur seine Pubertt empfand es als albern und so finger an, eine Mischform aus Neutralitt und Gutwilligkeit zu entwickeln, diesich ein wenig wie Mgen anfhlte.

    Als auch das nicht gelang, gab er auf, ber das Mgennachzudenken. Nachdenken schien ihm kindisch und seine Puberttentwickelte eine Abneigung dagegen. Allerdings mochte er nicht, dasser etwas nicht mochte, und mochte dann auch wieder das Nachdenken.

    Er schwieg eine Weile und bekam Ausschlag.Manchmal geriet er in Angstzustnde, in denen er seinen Unterkrper

  • nicht mehr sprte. Seine Muskeln waren gespannt, seine Haut fhltesich taub an und das lange Sitzen in der Schule machte ihn aggressiv.

    Immer mehr qulten ihn Fragen, die ihm niemand beantwortenwollte, und er begann zu verstehen, dass sich das nicht so schnellndern wrde. Sein erstes, wahrhaft zermrbendes Rtsel war die Fragenach der Unendlichkeit. Er konnte sie sich einfach nicht vorstellen. Aberer konnte sich auch nicht vorstellen, dass es sie nicht gab. Diesverrgerte ihn. Wieso konnte er sich etwas nicht vorstellen, dessenGegenteil er sich ebenfalls nicht vorstellen konnte?

    Unendlichkeit von Raum und Zeit, dass schon immer etwas war, wareinfach nicht mglich. Das Gegenteil jedoch, dass irgendwann nichtswar und aus dem Nichts dann pltzlich etwas geboren wurde, warebenfalls nicht vorstellbar. Wie sollte denn aus dem Nichts etwasentstanden sein? Dann msste dieses Nichts ja etwas sein, das etwashervorbringen konnte, und somit konnte es nicht nichts sein.

    Er stellte sich die Unendlichkeit mithilfe einer niemals endenden rotenLinie vor, die er aus seiner Hand in den Himmel dachte. Wenn dasUniversum unendlich war, musste diese Linie es auch sein. Das Lebenhatte keinen Rand. Es ging immer weiter.

    Immer immer immer immer immer immer immerimmer immer immer immer immer immer immerimmer immer immer immer immer immer immerimmer immer immer immer immer immer immerimmer immer immer immer immer immer immerimmer immer immer immer immer immer immerimmer immer immer immer immer immer immerimmer immer immer immer immer immer immerimmer immer immer immer immer immer immerimmer immer immer immer immer immer immerimmer immer immer immer immer immer immer

  • immer immer immer immer immer immer immerimmer immer immer immer immer immer immerimmer immer immer immer immer immer immerimmer immer immer immer immer immer immerimmer immer immer immer immer immer immerimmer immer immer immer immer immer immerimmer immer immer immer immer immer immerimmer immer immer immer immer immer immerimmer immer immer immer immer immer immerimmer immer immer immer immer immer immerimmer immer immer immer immer immer immerimmer immer immer immer immer immer immerimmer immer immer.Dann hrte er eines Tages, dass das Universum sehr wohl einen Rand

    hatte und sich sogar ausdehnte. Er war perplex. Dies musste wohl falschsein, dachte er, denn in nichts knnte sich ja auch nichtshineinbewegen. Dass der Raum leer war, in den das Universumhineinwuchs, war zwar vorstellbar, aber der war ja dann nicht nichts,sondern lediglich leer, und er musste dann auch immerhin unendlichund randlos sein.

    Es ergab keinen Sinn, aus welchem Winkel er es auch betrachtete.Lange wlzte er sich in dieser Frage hin und her und kam zu dem

    Schluss, dass das ganze Leben unlogisch war und er es nicht lnger alsexistent akzeptieren wollte. Er fiel in eine finstere Verneinung der Welt.Irgendetwas lief furchtbar falsch und keiner wollte es zugeben. Vielesagten lachend, dass man keine Antworten auf diese Fragen findenknne oder msse, was ihn malos wtend machte. Wie sinnlos, stumpfund idiotisch kam ihm alles vor, unmutig ihrem Rtsel ergeben warendie Menschen, unmndig, wenn sie meinten, sie seien selbst nicht dazuin der Lage, die Antwort zu finden. Warum sollte man nicht dazu in der

  • Lage sein, die Antwort auf eine Frage zu finden, die man in der Lagewar zu stellen? Dies wre im hchsten Mae unfunktional und erschtzte die Natur nicht so unpraktisch ein. Sie schien schon zu wissen,worauf sie hinauswollte.

    Und so kam er zu dem Schluss, dass er und alle anderen etwasbersehen mussten. Nur was? Er konnte sich noch immer schlechtkonzentrieren und seine Gedanken und Vorstellungen warengegenber seinem Fokus wie gleichpolige Magnete: Je nher er sieheranzuziehen versuchte, desto grer wurde die Kraft, die sie abstie.

    Viele schne Theorien waren in seinem Kopf, aber jeder Griff nachihnen fhrte zu einem Wegschnellen und einer Verwirbelung. Und dochkamen sie immer wieder wie Rehe an die Lichtung seines Verstandes undgrasten scheu und still. Er konnte sie aus den Augenwinkelnbeobachten und ihre Gre und Gestalt erahnen. Gern htte er mitihnen gespielt, sie gefttert, sich mit ihnen unterhalten und wrevielleicht sogar, dies war sein grter Wunsch, auf ihnen geritten. Abersobald er sie direkt ansah oder sich ihnen nherte, schnellten sie wegund verschwanden tief im Wald seines Geistes.

    Er verstand nicht, warum seine Gedanken von so schner Gestaltwaren, aber anscheinend nicht von ihm ergriffen werden wollten. Sieschienen ihn zu rgern. Weder konnte er ihnen befehlen noch siefangen. Zu spitz waren seine Gedanken. Alles nahm er in einzelnenPunkten wahr, aus denen er ein greres Bild zu formen versuchte,aber immer wieder fiel es in sich zusammen.

    Das Rtsel der Unendlichkeit war zu komplex, um es mit einemsolchen Geist umgreifen zu knnen, und wenn er es lsen wollte,

  • musste er ihn wohl verndern. Mein Geist muss eine Flche werden,dachte er. Eine groe Flche, in die ich das Rtsel hineinlegen kann wieeinen Salzstein in ein Wasserbad, sodass es sich von selbst darin auflst.

    Und so bte er, eine Flche zu werden.Immer fter starrte er seine Zimmerdecke an und versuchte, nicht nur

    einzelne Details zu erhaschen, sondern breit zu sehen, indem er leicht mitden Augen nach auen schielte. Er wollte die Zimmerdecke als Ganzessehen. Noch immer sprang seine Pupille von Detail zu Detail, von Fleckzu Fleck, und wenn er die Augen schloss, um sich an das Bild zuerinnern, war da ebenfalls nur eine Ansammlung verschleierterFragmente und Farbtupfer. Er musste einsehen, dass es tief in seinemWesen verankert war abzuschweifen.

    Aus Frustration darber versuchte er eines Nachmittags, als er aufdem Bett lag, nicht mehr eine Flche, sondern das Abschweifen von ihranzustarren. Es gelang ihm nicht recht und so versuchte er, denVersuch, das Abschweifen anzustarren, anzustarren. Als er des Starrensmde wurde, versuchte er es mit Schauen. Schauen kam ihm weichervor, fhrte aber dazu, dass er schnell verga, was er gerade tat, undanfing abzuschweifen.

    Als er jedoch begann zuzuschauen, wie er verga, den Versuch desAnstarrens des Abschweifens anzustarren, passierte pltzlich etwas. Ergelangte zu einer Mischform aus schauen und schweifen, was fr kurzeMomente ein starkes Zucken in seinem Krper auslste. Das Zucken warso abrupt und krftig, dass Igor glaubte, etwas Bedeutsames entdecktzu haben, und er begann, sich fortan tglich darin zu ben.

    Mit 16 nahm Igor einen Zug und fuhr in eine fremde Stadt. Dort ging er

  • in ein teures Hotel, tat so, als wrde er jemanden besuchen, und schliefim Treppenhaus. Er glaubte, dass in teuren Hotels niemand die Treppenbenutzen wrde und selbst wenn ihn jemand entdeckte, konnte ihmnichts weiter passieren, als rausgeworfen zu werden. Rausgeworfenwerden ist nicht schlimm, dachte er und versuchte, die Vorstellung,rausgeworfen zu werden, von dem damit eng verbundenen Gefhl,ausgestoen zu werden, zu trennen. Er hatte festgestellt, dass sich seinenegativen Gefhle auf erstaunliche Weise erleichterten undverflchtigten, wenn er sie unbeweglich anstarrte. So tat er es auch mitseiner Angst, entdeckt zu werden, und schlief entspannt in einemSchlafsack im obersten Stock des warmen Treppenhauses.

    Tagsber ging er in ein Museum, um Kaffee zu trinken und Menschenzu beobachten. Er mochte es, Menschen zu beobachten, die geradeetwas beobachteten. Menschen, die nur durch die Straen liefen, warenmeist nicht so schn anzusehen wie Menschen, die sich etwasanschauten, wofr sie sich interessierten oder zumindest bezahlt hatten.

    Manche waren dabei, denen er ein hnliches Schauen und Schweifenansah, wie er es gebt hatte. Sie blickten nicht nur auf ein Gemlde undsammelten mit ihren Augen die Details, sondern sie schauten es alsGanzes und lieen das Bild zurckblicken.

    Er mochte die Bilder anschauen, aber noch mehr mochte er es, dieMenschen anzusehen, die sie betrachteten. Sie bereiteten ihm eineFreude, die er nicht ganz verstand.

    Als er nach vier Tagen wieder zurck war, war seine Familie sehrverrgert. Sie hatte sich Sorgen um ihn gemacht und er entschuldigtesich.

    Zurck in der Schule, wurde er immer verstrter. Er versuchte, sichauf ihren Inhalt wie auf ein Kunstwerk zu konzentrieren, aber es gelangihm nicht. Ihr Inhalt verschwamm vor seinen Augen und oft berkamihn eine unbezwingbare Mdigkeit und Wut, wenn er in den grauen

  • Rumen sa, um Worten zu folgen, die ihm leblos vorkamen. Igor hattedas Gefhl, ihm fehle ein gewisses Talent, das die anderen Schlerbesaen. Die meisten schienen keine Probleme mit den komplexenInhalten zu haben und er suchte die Schuld bei sich selbst. SeineZensuren wurden schlechter und er musste sich entscheiden, eine Klassezu wiederholen oder abzubrechen, und er beschloss in der Mitte derelften Klasse, die Schule zu beenden.

    Seine Eltern drngten ihn, eine Lehre anzufangen oder etwas zustudieren, wofr man kein Abitur brauchte, aber er wusste nicht, was.Er lief durch die Straen, k letterte in verlassene Grten, wanderte durchHinterhfe, badete in dem Fluss, der durch seine Stadt zog, und suchtenach einer Khlung fr seinen berhitzten Geist.

    Nach einer Weile des Nichtstuns versuchte er sich in einem Beruf, anden er durch Verwandte gelangt war, aber es ging ihm meist schlechtdabei. Zu viele Masken zwang er ihm auf und er fhlte sich ungeschicktdarin, sie zu tragen. Er verdiente gutes Geld, aber immer wieder riss ihneine dunkel pochende Sehnsucht aus jeglicher Konzentration.

    Ihm wurde klar, dass sein Abschweifen ein Ende haben musste, under entschloss sich, ein Experiment zu unternehmen. Eine Woche langwollte er nichts weiter tun, als sich dem Zhlen zu widmen. Er war derAnsicht, dass sich jemand, der gut zhlen konnte, auch gut in deralltglichen Welt zurechtfinden msste.

    Er tuschte vor, erkltet zu sein, und blieb eine Woche lang in seinemZimmer.

    Igor kaufte sich ein leeres Heft, in das er k leine Striche zeichnete, um mitderen Hilfe die Flecken des Dachfensters zu zhlen. Ihm war egal, was

  • er zhlte. Es ging ihm ausschlielich darum, seinen Fokus lange genugauf einer praktischen Ttigkeit zu halten.

    Nachdem er fr das Dachfenster nur einen halben Tag bentigt und312 Flecken gezhlt hatte, sah er sich um und berlegte, wie erfortfahren sollte. Der Boden war ebenfalls sehr fleckig, aber es warschwer auszumachen, was ein Fleck und was lediglich eine Frbungwar. Er stellte ein System auf, nach dem er drei Fleckentypen einordnenkonnte, schob die Mbel zur Seite und begann den Boden abzuzhlen.

    Schnell musste er feststellen, dass sein Geist bei dieser Arbeitermdete, und er begann parallel zu den Flecken auch seine Atemzgezu notieren. Alle zwei Minuten hielt er die Luft an und schrieb dasZwischenergebnis auf. Er beschloss, dass es sinnvoll sein msste, wenner schon seinen Atem zhlte, auch wirk lich alle Zge zu zhlen, die er inder Woche, die er sich freigenommen hatte, tat.

    Beim Zubettgehen klebte er sich mit Klebeband eine k leine Pfeife inden Mund und eine in jedes Nasenloch und schaltete ein Tonbandgertein. Als er am nchsten Morgen erwachte, hielt er die Luft an, spultezurck und zhlte, whrend er die Vorspul- und die Abspieltastegleichzeitig gedrckt hielt, die Pfeiftne, die er auf dem Band hrte. EineWoche lang musste er nachts alle halbe Stunde aufstehen, um dasTonband zu wechseln. Parallel dazu zhlte er Flecken an den vierWnden, an der Decke, an der Tr, auf dem Bett, auf dem Tisch, aufder Klinke, auf den Leisten des Bettes, auf der Unterseite des Tisches, aufbeiden Lakenseiten, wobei er darauf achtgab, die Flecken derOberseite, die dunkel genug waren, um auf der anderen Seitedurchzuscheinen, nicht noch einmal mitzuzhlen, auf demLampenschirm, wofr er das Bett hochkant stellen musste, um von obensehen zu knnen, auf seiner Kleidung, auen und innen separat, undauf seinem Krper. Als Fleck definierte er sowohl Fremdpartikel wieDreck und Farbe und materialeigene Hervortretungen, zum Beispiel auf

  • seinem groben Flanellhemd oder seiner Haut. Als er nach einer Wochefertig war, hatte er 140 747 Atemzge und 8653 Flecken in dreiunterschiedlichen Kategorien gezhlt.

    Igor war erschpft und meinte nun gebt genug zu sein, um sich dennormalen Dingen des Alltags widmen zu knnen. Er verlie sein Zimmerund warf das Heft, das er zum Zhlen benutzt hatte, in den Papierkorb.Erleichterung erfasste ihn.

    Die beiden Ergebnisse, die er errechnet hatte, schrieb er ohne weitereBezeichnung auf einen kleinen Zettel, legte ihn auf den Kchentisch undtrat aus dem Haus, um einen Spaziergang zu machen, etwas zu essenund sich dem Zhlen zu entwhnen. Auf seinem Weg fing erunwillkrlich an, seine Schritte zu zhlen, aber er verbot sich, damitfortzufahren.

    Er berlegte, dass es spannend sein msste, einmal 100 Tage in einemdunklen Raum ohne Licht und Gerusch zu verbringen. Es mssteetwas Sinnvolles dabei herauskommen, dachte er.

    Am selben Tag traf Igor das erste Mal auf Alma.

    Er betrat einen Imbiss und sah sie an einem der vorderen Tische sitzen.Alma trug einen braunen Anorak, eine schwarze Hose und schwarzeStiefel und schien gerade erst gekommen zu sein. Sie war noch auerAtem und ihre Kleidung nass vom Regen. Still wartete sie auf ihreBestellung und strich sich mit einer Hand das nasse Haar aus demGesicht. Igor bekam einen Schock, drehte sich auf dem Absatz um undverlie den Imbiss augenblick lich, um sich auf der Strae zu bergeben.

    Er fand heraus, wo sie wohnte, kaufte eine eingetopfte Pflanze undstellte sich vor ihre Haustr. Als sie heraustrat, sprach er zu ihr.

  • Sie verbrachten drei Monate miteinander. Tagsber, wenn siearbeitete, ging er mit ihrem drei Jahre alten Sohn spazieren. Nachtsunterhielten sie sich lange. Etwas in ihrem Wesen vermochte Igor aufeine ihm fast unheimliche Art und Weise einzunehmen. Er sah ihrunendlich gern zu, wie sie die Dinge tat, die sie tat. Wie sie ihre Schuheband, wie sie die Gabel zum Mund fhrte, wie sie etwaszusammenknllte und wegwarf, wie sie zusammenzuckte, wenn sieerschrak, wie sie sich die Zhne putzte, die Haare kmmte, wie sie sichdas T-Shirt ber den Kopf auszog, wie sie schlief, wie sie ber Musiksprach, wie sie leise fluchte, wie sie ihre Zeichnungen zerriss und ihreStifte zerbrach, wie sie gegen Litfasulen trat und Ereignisse aus ihremLeben nachspielte, wie sie schaute, wenn sie sich nicht beobachtetfhlte, wie sie schaute, wenn sie wusste, dass sie beobachtet wurde,aber so tat, als wrde sie es nicht wissen, wie sie den Kopf in ihrenHnden vergrub und leise weinte, wie sie den Mund am rmelabwischte, wie sie ihren Sohn zum Essen berredete, wie sie vorlas, wiesie lachte, wie sie wtend wurde und wie sie lchelte, wie sie emprt warund wie sie angab, wie sie still war und wie sie aus Freude um sichschlug.

    Es war Igor nicht mglich zu verstehen, was es war, das ihn sofesselte, und fast machte es ihm Angst.

    Weder war Alma sonderlich elegant noch im klassischen Sinne schn.Sie war durchschnittlich intelligent, aber von einem groen Instinkt undeiner tiefen Neugier.

    Nachdem er sie eine Weile besucht und ihr dabei zugesehen hatte, wiesie lebte, ihr bei alltglichen Dingen geholfen, ihre Einkufe getragen,

  • ihr Fahrrad repariert, sich mit ihrem Sohn angefreundet hatte undimmer mehr Zeuge ihres Lebens geworden war, berkam Igor, der bisdahin sehr still geblieben war, das Bedrfnis, ihr von sich zu erzhlen.Das erste Mal gab es einen Menschen, dem er berichten musste, und fastwar es ihm unangenehm. Er sprach von sich und seinen Gedanken,seinen Ideen und seinen Problemen mit der Unendlichkeit, berichtete,was er sah, wenn er durch die Straen lief, was er hrte, wenn dieMenschen sprachen, und was er fhlte, wenn sie ihm die Hand gaben.Eines Tages fing Igor an, auch Alma zu beschreiben. Er erzhlte ihr, waser sah, wenn er sie betrachtete. Vorsichtig versuchte er ihr Details ausseinen Beobachtungen zu berreichen, doch meist schien es ihrunangenehm zu sein und sie wich aus.

    Alma war eine widersprchliche Person. Oft war sie scheu, wirktebescheiden und frhlich, sie verabscheute Eitelkeit und meinte, es seinur natrlich, sich selbst nicht allzu wichtig zu nehmen. Doch gleichzeitigwar sie von einem groen Stolz und einem fast unerschtterlichenSelbstvertrauen.

    Sie bernahm schnell Verantwortung fr ihre Umgebung. Sie sorgtesich um ihre Familie und ihre Freunde, sie war eine geduldige Hilfe frviele und eine zrtliche Mutter, doch in ihrem Kern gab es einendunklen Hunger, den sie sich weigerte zu stillen. Sie schien ihm nicht mitderselben Frsorge begegnen zu wollen, mit der sie der Weltbegegnete. Ihr Hunger war ihr fremd, als wrde er nicht zu ihrgehren, als wre er zerstrerisch und zu wild fr die Welt. Sie mochteihn nicht und htte es lieber gehabt, er wre still. Oft merkte sie kaum,wie sehr es sie entkrftete, ihn zu bekmpfen.

    Sie wurde von vielen gemocht und etwas an ihr ermutigte dieMenschen dazu, sie selbst zu sein. Man verlor in ihrem Beisein dasInteresse daran zu lgen. Sie verstrmte eine Akzeptanz, ein Verstndnisfr die Niederungen der menschlichen Seele, doch sich selbst tatschlich

  • zu lieben schien ihr verboten. Es war ihr verhasst, ein Problem odereine Brde fr andere zu sein, sei es auch nur im Gesprch, und sieempfand es als ihre immerwhrende Pflicht, sich zu verurteilen, bevor esjemand anderes tun konnte.

    Sie trug eine verborgene Schuld mit sich herum und fast war es, alsmsste Igor sie selbst tilgen. Er entwickelte den tiefen Wunsch, etwasfr sie zu tragen. Die Last, die er auf ihr liegen sah, kam ihm gro vor,und oft zerbrach er fast bei dem Versuch, sie ihr abzunehmen. Sie warder eine Mensch, den Igor niemals alleinlassen wollte.

    Es war ihm nicht wichtig, ob sie fr immer zusammenbleiben wrden,fast war es nicht wichtig, ob sie ihn liebte und verstand, aber etwas inihm wusste, dass er immer da sein wollte, wenn sie etwas brauchte.

    Igor vernderte sich durch das Erscheinen Almas.Er wurde geduldiger mit der Welt und empfand eine neue

    Begrndung, sich dem sinnlosen Alltag des Berufslebens zu stellen. Eswar ihm mglich, neue Betrachtungswinkel einzunehmen, und vieles,was er nicht getan htte, wenn Alma nicht in sein Leben getreten wre,tat er nun und er war froh dabei. So mietete er eine k leine Wohnungam Rande der Stadt, in die er einen Tisch stellte und eine Matratze legte.

    Alma, die in so v ielen Verpflichtungen stand und Freundschaftenpflegte, inspirierte ihn dazu, selbst welche einzugehen und dasgesellschaftliche Leben zu erforschen. Er ging aus und sprachmerkwrdige Gestalten auf der Strae an, begann Musik zu mgen,kleine Gedichte zu schreiben, zu zeichnen und sich Muster ausgeometrischen Formen auszudenken. Oft sa er auf einer Bank,whrend er wartete, dass Alma von ihrer Arbeit heimkehren wrde,

  • und beobachtete die vorbeilaufenden Menschen. Er konnte sich nichthelfen, Gefallen an ihnen und ihren leidenschaftlichen Verzettelungen zufinden. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit war es ihm wieder mglich,beim Betrachten der Welt Rhrung zu empfinden. Eine Kraft wuchs inihm, die er nhren wollte.

    Niemand aus seiner Familie wusste von seinem Verhltnis zu Alma undals nach drei Monaten ein Unfall geschah, welcher seine Verbindung zuihr abrupt beendete, war niemand da, dem sich Igor offenbarenkonnte.

  • 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9

    In den folgenden Jahren kam Igor der Welt abhanden. Oft blickte erversunken ins Leere und verga, in Gesprchen zu antworten. Dannlchelte er, entschuldigte sich und versuchte herauszubekommen,worum es ging.

    Ihn umgab eine Taubheit, die er immer wieder versuchteabzuschtteln, und er arbeitete nur so v iel es ntig war, um die Mietefr seine Wohnung zu bezahlen.

    Igor gab sich Mhe, den Dingen meinungslos gegenberzustehen.Solange er nicht wusste, woraus sie gemacht waren, solange er nichtbegriff, weshalb sie entstanden und wieder vergingen, glaubte er, keinRecht zu besitzen, eine Meinung zu haben.

    Auch gegenber den Menschen versuchte er neutral zu bleiben. Erwollte sie nicht verurteilen, auch wenn er oft nicht anders konnte, als sieein wenig missbilligend zu betrachten. Wie rcksichtslos v iele von ihnenwaren, wie schnell sie ber andere urteilten und wie dumm sie mit sichund ihrer Umgebung umgingen, lie ihn oft finster werden. Er mochtedas Finstere nicht. Igor glaubte, wenn er die Welt und ihre Bewohnernur gut genug verstnde, wrde er niemanden mehr verurteilen.

    Immer wieder dachte er darber nach, einmal eine gewisse Zeit ineinem Raum ohne Licht und Gerusch zu verbringen. Er war nochimmer der Ansicht, dass etwas Sinnvolles dabei herauskommen msste,aber noch hatte er nicht die Kraft, v iele Experimente mit sich zu wagen.

    Hufig war er unruhig und zerstreut und ging seinen tglichenVerrichtungen mit einer fr seine Umwelt schwer ertrglichen Fahrigkeitnach.

    Immer wieder fhlte er sich zur Stille hingezogen. Wenn es ihmgelnge, vollkommen still zu sein, wrde die Welt ihre Schnheitoffenbaren, vermutete er.

  • Er schlief meist zu kurz in der Nacht und an den Nachmittagen zulang.

    In dieser Zeit hatte Igor einen hufig wiederkehrenden Traum, in demer durch ein Abflussrohr lief. Alles wirkte giftig und feindselig und erhatte das Gefhl, von Dingen beobachtet zu werden. Sie rochen seineAngst und je fter er den Gedanken zulie, sich verlaufen zu haben,desto grer wurde ihre Anzahl und desto unvermeidlicher wurde es,dass sie ihn in einem nervsen Moment anfallen wrden, um ihnniederzureien. Sie schienen sich von seiner Furcht zu ernhren, und erwar nicht in der Lage, sie zu neutralisieren, wie er es als Kind mit seinerKeksdose getan hatte. Das Rohr wurde verstelt und stellte ihn immerwieder vor Abzweigungen, von denen er jedes Mal meinte, die falscheauszuwhlen.

    Nachdem er sich eingestanden hatte, sich vollkommen verirrt zuhaben, hrte er in der Ferne seltsam helle Tne. Er folgte ihnen, bis ermitten in der Kanalisation auf ein Wesen traf, welches zart undversunken ein riesiges oktogonales Saiteninstrument spielte. Die Fingerdes Wesens hatten einen matten Schein, whrend sie ber die Saitenflogen, sein Haar schien magnetisch geladen und schwebte meterlang imRaum.

    Die Musik war so herzzerreiend und von solch versunkenerGewissheit, Weltumarmung und gleichzeitiger Ungebundenheit, dass ersofort sicher war, dass dieses Wesen wissen musste, wie es ein Herausgab. Es konnte nicht von diesem dunklen Ort stammen, sondern musstefreiwillig hergekommen sein.

    Jedes Mal wurde ihm in diesem Moment k lar, dass er gerettet war. Die

  • Musik machte ihn ruhig und er wartete andchtig schweigend. Diefeindseligen Dinge lauerten noch immer in der Dunkelheit, aber dieAngstlosigkeit des Wesens lie auch ihn angstlos werden.

    Lange stand er so und lauschte, als ihm pltzlich k lar wurde, dass dasWesen berhaupt nicht die Absicht hatte, diesen Ort zu verlassen. Igorwurde wieder bang. Was wollte es dann hier? Warum war esausgerechnet in diesem unwirtlichen Kanal, um zu singen? Hier, woniemand auer ihm es hrte und wertschtzte, was es tat. Es musste eineVerbindung zwischen ihnen geben. Dieses Wesen war seinetwegen hier,es war eindeutig; aber was musste passieren, damit sie fortkonnten? DasWesen schien ohne Ziel und Zeitgefhl zu musizieren. Doch diesesAbflussrohr war kein Ort zum Bleiben, etwas musste geschehen.

    Wahrscheinlich verlangte das Wesen etwas von ihm, ein Austauschsollte stattfinden. Als Igor dies erkannte, fiel ihm ein Ton auf, derinmitten der Vielzahl der Tne, die das Wesen gleichzeitig erk lingen lie,herausstach. Ein einzelner dissonanter Ton, der in mal mehr, malweniger regelmigen Abstnden erklang. Je genauer er sich in dieMusik versenkte, umso deutlicher hrte er, dass er nicht passte. Er warverzogen und stemmte sich gegen den harmonischen Strom der sanftund mchtig flieenden Musik. Igor verstand intuitiv, dass dieser Tondas Wesen daran hinderte, die dunkle Kanalwelt mit seinem Lied zuffnen, er hatte buchstblich die Vorstellung, dass das Lied, wenn es dievollkommene Macht seiner Harmonie entfalten knnte, den gesamtenUntergrundkomplex auseinanderheben wrde. Die Decke und Wndewrden zerschmelzen und sie beide knnten leicht und ungehinderthinausgleiten.

    Das Wesen musste diesen Missklang mit Absicht in sein Instrumentgestimmt haben, es wrde sich sonst keine zwei Minuten in dieserdunklen Welt halten knnen.

    Igor durchfuhr die erschreckende Erkenntnis, dass das Wesen sein

  • Lied seinetwegen in einer Disharmonie hielt und nun schien es an Igor,diese zu erlsen. Er war gerhrt und suchte mit den Augen die Saite,die den Missklang verursachte. Vorsichtig ging er nher heran, um dasWesen nicht in seiner erhabenen Versenkung zu stren. Er starrtelange, bis er die verstimmte Saite fand. Sie war vergleichsweise kurz undan der linken Kante des oktogonalen Instruments eingespannt. DasInstrument bestand aus weiem Holz, welches so aussah, als wre esdirekt in seine Form hineingewachsen. Was fr eine Art Baum wohl sowuchs, fragte er sich. Bald sah er an der hauchdnnen Saite einenkleinen Stab, der sie an dem zarten Holz befestigte und der drehbar zusein schien. Igor zgerte er wusste, er musste vorsichtig sein, um dasWesen nicht zu erschrecken oder aus seinem Fluss zu reien. Auchwiegte es sich leicht zu den Seiten, whrend es spielte, was es umsoschwerer machte, die Saite zu stimmen, ohne das Spiel zu stren. Ersuchte Besttigung im Blick des Wesens, aber es schaute nur versunkenan ihm vorbei und wiegte sich im Fluss der Musik. Igor fasste sich einHerz und griff mit zwei Fingern vorsichtig den Stab, um ihn leicht zudrehen. In dem Moment, in dem er ihn berhrte, wuchs seine Handschlagartig auf die doppelte Gre an. Igor erschrak und zog sie abruptzurck. Beim Wegschnellen seiner nun sehr groen Hand knickte einweiterer Stab um und verstimmte eine zweite Saite. Igor unterdrckteeinen Schrei und versuchte sofort, den umgeknickten Stab zu richten.Sobald er jedoch die Saiten berhrte, schwollen seine Hnde schlagartigwieder auf ein Vielfaches an und besaen nun die Gre zweier Sthle.Er zuckte zusammen, sodass mehrere Stbe umknickten und vier Saitengnzlich rissen. Das Wesen hrte auf zu spielen und schaute ihn an.Einer von Igors Fingern hatte sich mit einer Saite verknotet und hrtenicht auf zu wachsen. Igor versuchte panisch, die Saite abzuziehen,aber es gelang ihm nicht. Er sprang zurck, um nicht noch mehr kaputtzu machen, und riss das ganze Instrument mit sich zu Boden. Igor

  • schrie auf und versuchte es mit seinen riesigen Hnden aufzuheben, umes dem Wesen zu berreichen, aber seine Hnde wuchsen undwuchsen und fllten unablssig den Raum. Die pltzliche Angst, die ihnberkam, brachte die beobachtenden Dinge, die bis jetzt auf Distanzgeblieben waren, dazu, sich in Igors Rcken zu werfen und sich inseinem Fleisch zu verbeien. Kurz bevor Igor im Sturm seiner eigenenPanik zu versinken drohte, erhaschte er noch einen Blick des Wesens,welches ihn still und neugierig betrachtete. Dann wachte er auf.

    Der Traum hinterlie jedes Mal einen bitteren Geschmack in Igors Mundund er versprte das dringliche Bedrfnis, sich die Hnde zu waschen.Er vergrub sich in Bchern ber Physik und Religion, und wohin erauch blickte, sah er Symbole und versteckte Zeichen.

    Es war, als wrde das Leben hinter jedes Ereignis, jede Begegnungund jeden Gedanken ein Fragezeichen setzen. Nichts schien mehr miteinem Punkt zu enden oder gar einem Ausrufezeichen. Alles war einHinweis auf ein unsichtbares Rtsel, welches ihn wie ein Zyklonspiralenfrmig immer nher zu einer unsichtbaren Mitte zog.

    Weshalb gab es das Leben, woraus entwickelte es sich und warumstarb es wieder, was stand hinter all seinen Formenspielen undgrotesken Gebilden, worin lag die Begrndung fr seine Existenz undw o wollte es hin? Ein normales Leben zu fhren schien ihm immerbizarrer und verschwenderisch. Man hatte nicht genug Zeit fr all dieverqueren Verpflichtungen, die die Menschen erfanden. Igor fing an,seinen eigentlichen Namen abzulegen und sich Igor zu nennen. Er hattees schon immer gehasst, einen Namen zu tragen, und nun dachte er,dass er ihn sich wenigstens selbst geben sollte. Ihm gefiel, dass er ein I

  • und ein O in sich trug. Es erinnerte ihn an eine Null und eine Eins.Nach Almas Tod kmpfte er lange dagegen an, in eine Dunkelheit

    abzurutschen, er hatte das Gefhl, kein Recht dazu zu haben. Er fhltesich verpflichtet, eine Lsung zu finden; als msste er etwas tiefVerschlossenes wecken, was in der Mitte der Spirale schlief.

    Sein Krper begann eine immer wichtigere Rolle beim Lsen desRtsels zu spielen. Igor sprte, dass er eine Verkrmmung in sich trug.Kaum war es ihm mglich, seine Fe zu fhlen, whrend er ging. SeineWirbelsule war eigenartig verzogen und in seinem Hals lag ein Klo,der ihn stetig begleitete und ihm den Atem abschnitt. Er ging fterlaufen und betrieb verschiedene Sportarten. Auch gewhnte er sich an,auf dem Rcken einzuschlafen und vorher jedes seiner Krperteileabsinken zu lassen. Immer wieder versuchte er den Druck, der sich inseinem Kopf zusammengezogen hatte, gleichmig in den Rest seinesKrpers zu verteilen. Oft lag er so und es waren die interessantestenStunden des Tages. Seine muskulren Verknotungen begannen sich zulsen und ab und an fhlte er Freiheit in sich aufblitzen. Es waren nurSekunden, aber sie waren ihm lieb und teuer und bald war ihm nichtswichtiger als das stetige innere Subern von Verzerrungen, die sichber die Jahre in ihm angestaut hatten.

    Igor hatte nun einen Beruf ergriffen, der ihm finanzielleUnabhngigkeit bescherte und ihm erlaubte, v iel Zeit mit sich zuverbringen. Er verrichtete ihn oft halbherzig und ungeduldig undkonnte es meist kaum erwarten, nach Hause zu kommen, um mit derErkundung seines Nervensystems fortzufahren.

    So ungelenk er frher war und so weit von seinem Krper entfernt,so leidenschaftlich widmete er sich nun seiner Erforschung. Bald gelanges ihm, sich im aufrechten Sitz zu entspannen, und er entdeckteZusammenhnge zwischen Hnden und Fen, Hals und Becken,Bauch und Schultern. Sein Nervensystem schien auf die

  • unterschiedlichsten inneren Bilder zu reagieren und wurde immer engermit seinen geistigen Vorstellungen verbunden. Mit seinem Geist trieb erLicht durch den Magen, durch die Muskeln und Venen, und es gelangihm immer besser, die unterschiedlichen Reaktionen zu beobachten, diees verursachte. Auch verband er sich fter mit Vorstellungen, dieauerhalb seines Krpers lagen.

    Wenn die Welt unendlich wre, msste auch jede Information in ihrenthalten sein, dachte er und versuchte die Informationenherbeizurufen, die er fr seine eigene Reparatur bentigte. Wie er es alsk leiner Junge bei dem Kchenradio seiner Eltern beobachtet hatte,msste er sich nur auf die Frequenz einstellen, in der die Informationverschlsselt lag, und die Lsung wrde wie Musik in seinem Krpererklingen.

    Eines Nachts hatte er einen weiteren Traum, der einen groen Einflussauf sein Leben nehmen sollte. Igor fand sich in einem vornehmen Flurwieder und sah auf einem Schild die Nummer zwlf stehen. Als er aufseine Hnde blickte, entdeckte er, dass er zwlf Finger besa. Er gingdurch die Tr und betrat ein Wartezimmer. In ihm standen Sthle undein k leiner Tisch, unpersnliche Bilder hingen an den Wnden, einWasserspender surrte leise und eine unntig laut tickende Uhr zeigte dieZeit. Es wre ein normales Wartezimmer gewesen, wenn es nicht soniedrig gewesen wre. Kein Mensch konnte darin bequem warten. Nichtmal im Sitzen konnte man sich ganz aufrichten.

    Nachdem er ungefhr eine Viertelstunde vornbergebeugt gesessenhatte, ging ihm auf, dass niemand auf ihn wartete. Er konnte einfachdurch die Tr gehen, wann immer er wollte. Dies amsierte ihn sehr

  • und er lachte laut ber seine offensichtliche Dummheit. Mit einem Malewar alles um ihn herum freundlicher, selbst die Decke schien nicht mehrso niedrig. Er erhob sich und konnte zu seiner berraschung aufrechtstehen.

    Nun bekam er groe Lust, einen Blick hinter die Tr zu werfen, vonder er bis eben noch gedacht hatte, dass sie ihn zu einemZahnarzttermin oder einer hnlich unangenehmen Verabredung fhrenwrde. Er ffnete sie und war in keiner Weise auf das unsglichVerwirrende gefasst, was ihn hinter ihr erwartete.

    Vorsichtig trat Igor durch die Tr.Er warf sich auf den Rcken und es gelang ihm, den Ball, der

    mittlerweile ein bedrohliches Brllen von sich gab, abzustreifen und ausdem Raum zu rennen.

    Der Raum war hell erleuchtet und seine Wnde waren von einerseltsam schimmernden Oberflchenstruktur.

    Igor schrie auf und sttzte sich panisch mit seinem freien Arm an derOberflche ab, die ebenfalls nachgab, sodass er fr kurze Zeit mitbeiden Armen im Ball versunken war.

    Er blickte in die Weite und konnte nur ganz hinten in einem weienDunst eine Gestalt erkennen.

    Noch ehe er diesen Gedanken ganz zu Ende denken konnte, wurdesein Arm bis zur Schulter in den Ball gerissen.

    Er ging nher, um sie zu betrachten, und stellte fest, dass die Gestaltkeine Gestalt, sondern ein sich um sich selbst drehender Kreis war, dersich in einer derart schnellen Rotation befand, dass er wie ein glatterKreis im Raum schwebte.

  • Seine Oberflche vibrierte unter seinen Fingern und sofort stellte sichein warmes Gefhl in seinem Krper ein, als wrde seine Hand sanftangesogen werden.

    Er gab ein tiefes Brummen von sich und seine Geschwindigkeit war sohoch, dass Igor sich in seiner Oberflche spiegeln konnte.

    Zu anziehend war seine Form.Der Ball hatte eine berwltigend harmonische Ausstrahlung und Igor

    konnte sich nicht beherrschen, ihn zu berhren.Der Ball hatte eine berwltigend harmonische Ausstrahlung und Igor

    konnte sich nicht beherrschen, ihn zu berhren.Zu anziehend war seine Form.Er gab ein tiefes Brummen von sich und seine Geschwindigkeit war so

    hoch, dass Igor sich in seiner Oberflche spiegeln konnte.Seine Oberflche vibrierte unter seinen Fingern und sofort stellte sich

    ein warmes Gefhl in seinem Krper ein, als wrde seine Hand sanftangesogen werden.

    Er ging nher, um sie zu betrachten, und stellte fest, dass die Gestaltkeine Gestalt, sondern ein sich um sich selbst drehender Kreis war, dersich in einer derart schnellen Rotation befand, dass er wie ein glatter Ballim Raum schwebte.

    Noch ehe er diesen Gedanken ganz zu Ende denken konnte, wurdesein Arm bis zur Schulter in den Ball gerissen.

    Er blickte in die Weite und konnte nur ganz hinten in einem weienDunst eine Gestalt erkennen.

    Igor schrie auf und sttzte sich panisch mit seinem freien Arm an derOberflche ab, die ebenfalls nachgab, sodass er fr kurze Zeit mitbeiden Armen im Ball versunken war.

    Der Raum war hell erleuchtet und seine Wnde waren von einerseltsam schimmernden Oberflchenstruktur.

    Er warf sich auf den Rcken und es gelang ihm, den Ball, der

  • mittlerweile ein bedrohliches Brllen von sich gab, abzustreifen und ausdem Raum zu rennen.

    Vorsichtig trat Igor durch die Tr.

    Jedes Mal erwachte er schweigebadet. Dieser Traum ergab von vornbis hinten keinen Sinn. Zwar waren einige Bilder sehr eindrcklich, aberihrer Reihenfolge war keinerlei Logik abzuringen. Es war nahezuwiderlich unverstndlich. Die Bilder wiederholten sich sogar, als wrdensie versuchen, Igor dazu zu bringen, sie zu ordnen, als wrden siedanach schreien, von ihm wie Kronkorken in ihrer unsichtbaren, abervorbestimmten Reihenfolge sortiert zu werden. Aber Igor weigerte sich,lnger ber den Traum nachzudenken, zu wild war er und zuanstrengend war es, ihn zu trumen.

    Seine Hnde brannten, nachdem er aufgewacht war, und wiederversprte er den Wunsch, sie zu waschen. Noch Stunden spter konnteIgor das absurde Gefhl, das der Traum hinterlassen hatte, nicht vonsich abschtteln. Bald bemerkte er, dass sich sein Verhltnis zu Zeitverschob. Sie war nicht mehr linear, sondern merkwrdig verschachteltund relativ.

    Auch seine v isuelle Wahrnehmung vernderte sich. Erst war es nureine leichte Krmmung an den Rndern, doch immer fter spielten seineAugen ihm regelrecht Streiche. Er griff neben die Tasse, wenn ertrinken wollte, er erkannte alte Bekannte nicht mehr, Farbfleckentauchten auf und gingen erst nach Stunden wieder weg und immerwieder sah er geometrische Muster aus Kreisen und Dreiecken, wenn erdie Augen schloss.

    Er hoffte, dass es eine Phase war, vorbergehend wie eine Erkltung,

  • aber als es nach einer Woche noch immer nicht besser wurde, erschraker. Whrend er seinem Tagewerk nachging, lchelte und scherzte er,aber innerlich war er bedrckt. Als er bemerkte, dass er sogar Schriftnicht mehr lesen konnte, wurde er aggressiv. Igor wnschte sich, dassjemand kommen wrde, um ihm eine Ohrfeige zu geben, aber es kamniemand und er musste zusehen, wie er sich selbst verloren ging.

    Etwas hatte angefangen, sich unaufhaltsam zu verschieben, und alsIgor 23 wurde, kam ihm der Bezug zu seiner bisherigen Realittabhanden.

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    Noc deus fluidum fonc

  • Die Beine gewetzt, durch Holz und Gestrpp,ber Hgel und Wiese und Bach.Durch Nsse und Klte und Wind musst du gehen,wenn die Stdte zerfallen, wenn die Stdte verwehen, denn nichtsgehrt uns und uns gehrt nichts,drum tanze und singe und lach.

  • Es ist ein guter Ort. Der Raum ist k lar und warm. Seine Wnde sind weiund auf dem Boden liegt Teppich. Die Fenster sind doppelt verglast unddas schwere schwarze Tuch, das ber ihnen hngt, lsst kein Lichthindurch.

    Eine Matratze. Mehrere Laken und Decken. 150 Liter Wasser.Zwieback und Dosen voller Obst. Eingelegte pfel. Eingelegte Gurken.Eingelegte Bohnen. Glser mit Tomaten. Eine Toilette, eine Klimaanlage.

    Ich gehe auf den Hinterhof. Die Sonne scheint angenehm. Der Windfhrt durch die Bume und das Rascheln der Bltter k lingt schn.

    Ich zeichne mit Kreide einen Kreis auf den Boden. Dann lege ich einDreieck aus Streichhlzern hinein und znde sie an. Ein zischendesGerusch entsteht und ich sehe zu, wie sie langsam herunterbrennen.100 Tage.

    Ich stelle mich ein paar Minuten mit geschlossenen Augen in dieSonne und atme die milde Luft, dann gehe ich hinein und schliee dieTr hinter mir ab.

    Alles ist sauber. Die Dusche ist repariert. Ich hnge das letzte Tuchber die Tr, damit kein Licht durch die Spalten dringen kann.

  • TAG 1

    Bin anscheinend eingeschlafen. Ob es mitten in der Nacht ist oder nochabends, vermag ich nicht mehr genau zu sagen. Alles ist dunkel undstill. Noch ist es sehr schn.

    Habe gegessen. Das Gerusch, das entsteht, wenn ich eine Dose ffne,ist schneidend. Es ist gut, dass keine Strae in der Nhe ist.

    Die Gurken waren eine hervorragende Wahl.

    Mein Krper zuckt wieder sehr, wenn ich liege. Ich bin genervt. Warumliegt er nicht einfach und fliet? Das Schreiben ist merkwrdig und ichwerde wohl bald damit aufhren. Wer wei, ob man es spterberhaupt lesen kann? Ich gebe mir Mhe, den Stift langsam zu fhrenund mit der freien Hand zu fhlen, wie v iel Abstand ich zur nchstenZeile brauche. Aber ob das hilft, wei ich nicht.

    Es msste nun Morgen sein.Zum ersten Mal bin ich wirk lich glcklich gewesen, hier zu sein. Es

    waren zwar nur ein paar Momente, aber sie glhen noch nach. DieGedanken werden lauter und es strt mich, dass sie sich so oftwiederholen. Das Gehirn ist wirk lich seltsam. Es speit mir wahllos Bildervor die Fe. Sogar Werbemelodien hat es schon gesungen. Ich werdemich noch einmal hinlegen.

    Nach dem Schlaf habe ich mich viel bewegt. Meine Wahrnehmung wirdbereits genauer. Es ist gut, den Augen eine so lange Pause zu gnnen.Der Kopf ist noch laut, aber die Muskeln sind sehr fein sprbar. Ichhabe innerlich v iel mit der Farbe Violett gearbeitet.

    Drei Wirbel sind es, die mir Sorgen bereiten. Der unterste und auchder darber lassen sich kaum ansteuern. Auch der oberste, mein

  • Atlaswirbel, scheint verschoben zu sein. Einmal war ich kurz davor, ihnzu bewegen, aber ich lasse mir besser Zeit. Der letzte ist in der Mitte,kurz unter den ersten Rippen. Werde da genauer drauf eingehenmssen.

    Bin das erste Mal nervs geworden. Meinem Gehirn scheint nunlangsam klar zu werden, was ich mit ihm vorhabe, und es wehrt sich mitHnden und Fen. Habe ein paarmal gegen die Wand schlagenmssen, was guttat. Wenn ich mich viel bewege, ist es meist schnellvorbei. Trotzdem erfordert es v iel Kraft, meinen Krper zu beruhigen.Mein Gehirn und mein Krper haben noch Angst, aber ich rede ihnengut zu. Ich denke, sie werden sich bald daran gewhnen.

    In mir ist es ein paar Mal sehr still geworden.

    Die Dunkelheit fngt an sich zu bewegen. Meine Augen wollen sichoffenbar auch entleeren und spucken Farben aus. Vielleicht ein Zeichenihrer Heilung. Wie lange ich jetzt schon hier bin, wei ich tatschlichnicht mehr zu schtzen. Es mssten vier oder fnf Tage sein. Durch dashufige Liegen vergisst man die Zeit. Wahrscheinlich brauche ich nocheine Weile, um mich daran zu gewhnen, dass nichts passiert. Ich fhlemich komisch verteilt in meinen Krper. Die Dunkelheit schluckt ihn fast.Manchmal ist er auch eng. 100 Tage sind lang, aber ich denke, dass eseine gute Entscheidung war. Ich bin mir sicher, es wird etwasverndern, ich spre es schon. Wenn die erste Woche geschafft ist,wird es leichter werden.

  • TAG 2

    Heute habe ich sehr erstaunliche Entdeckungen gemacht: MeinZwerchfell beginnt offenbar, mit mir in Kontakt zu treten. Es zuckte undverlangte meine Aufmerksamkeit. Ich habe es angesehen und nach undnach beruhigt und ein paarmal konnte ich sehr tief atmen. Leider ginges schnell vorbei und ich lag wieder steif wie ein Erwrgter.

    Meine Matratze ist mir zu weich und ich lege mich hufig auf denTeppichboden. Es ist schn, dass es so warm ist.

    Ich denke, bald mit dem Schreiben aufzuhren. Es reit mich ausmeiner Konzentration.

    Mein Gehirn scheint es noch als eine Art Anker benutzen zu wollen,aber ich schtze, dass es bald Ruhe geben wird.

    Mein Zeitgefhl hat sich endgltig verabschiedet.Niemals knnte ich schtzen, wie lange ich schon hier in meiner

    kleinen Forschungsstation bin. Die Dunkelheit und die Stille nehmeneinem alles. Es ist schn.

  • TAG 3

    Ich glaube, ein Tier im Raum gehrt zu haben. Wahrscheinlich ist es einInsekt. Es kratzt irgendwo leise und ich habe versucht, es mit meinenHnden zu finden. Die ersten paar Stunden habe ich mich gefreut. Dannhat es begonnen, mich wahnsinnig zu machen. Nichts ist dominierenderals ein k leines Kratzen, wenn es ansonsten vollkommen still ist.

    Ich glaube, ich habe aus Versehen eine bereits beschriebene Seiteberschrieben. Wenn ich mit den Fingern darberfahre, fhlt es sichmerkwrdig voll an. Ich muss daran denken, immer vorher mit derHand nachzufhlen, ob die Seite leer ist.

    Ich habe viel geweint. Es hat sehr gutgetan.

    Kurz habe ich darber nachdenken mssen, ob der Wecker, den ichauf den 16. April gestellt habe, wirk lich an ist. Ich kann jetzt nicht mehrnachsehen und kurz hatte ich Angst, ihn nicht gestellt zu haben.

    Habe gerade eine sehr groe Kraft gesprt. Sie ist schon wieder weg,aber sie hat etwas in meinen Augen geglttet.

    Ich habe mich an einer Dose mit eingelegten Pfirsichen geschnitten.Sehr dumm. Aber ich denke, es heilt schnell, wenn ich etwasAufmerksamkeit darauf lege. Auch eine schne Aufgabe.

    Ich werde jetzt ein paar Tage nicht mehr schreiben. Es bringt mich zusehr durcheinander.

  • TAG 4

    Habe das Tier gefunden. Es ist ein Kfer. Er ist so gro wie meinDaumennagel. Lange war ich hin- und hergerissen, was ich tun soll.Tten werde ich ihn nicht knnen, aber sein Kratzen macht michwahnsinnig. Ich habe ihn in ein leeres Tomatenglas eingesperrt, abernun muss ich stndig darber nachdenken, ob er sich wohlfhlt. Es istzum Aus-der-Haut-Fahren. Warum musste er sich in diesen Raumverirren? Warum habe ich nicht vorher alles Zentimeter fr Zentimeterabgesucht? Er wird so oder so hier drinnen sterben. Was soll ein Kferohne Sonnenlicht 100 Tage in einem Raum machen? Er istwahrscheinlich bereits vollkommen verwirrt. Ich habe groes Mitleidund gleichzeitig bin ich sehr wtend auf ihn. Warum muss das jetztpassieren!

    Ich habe ihm etwas Essbares ins Glas geworfen und ein k leines Luftlochmit dem Stift in den Deckel gestoen. Hoffentlich macht er keineGerusche im Glas.

    Der Kfer ist still. Konnte mich endlich wieder auf mich selbst fokussierenund bin gut vorangekommen.

    Es ist aussichtslos. Stndig meine ich, den Kfer zu hren, und meineGedanken kreisen immer wieder darum, wie es ihm geht. Ich werdeseinetwegen noch wahnsinnig.

  • TAG 5

    Ich habe es geschafft, eine Weile nicht an den Kfer zu denken.Vielleicht werden wir noch Freunde. Eine ganze Weile habe ich ihnverflucht, aber seit anderthalb Tagen geht es. Ich mag ihn, glaube ich.Wenn ich mich mit ihm verbinde, werde ich ruhig. Er scheint sich auchauf das Experiment einzulassen und vielleicht ist es gut, einen stillenGefhrten zu haben.

  • TAG 6

    Etwas Furchtbares ist geschehen! Ich befrchte, dass der Kfergestorben ist. Habe ihn eine ganze Weile nicht mehr gehrt und wolltenachsehen, aber meine Finger haben ihn nicht gefunden. Vielleicht habeich zu v iel Essen hineingeworfen und ihn damit erstickt? Das wreschrecklich.

    Ich glaube, ihn gefunden zu haben. Er lag auf dem Teppich. Wie erdahingekommen ist, ist mir schleierhaft.

    Es knnte natrlich sein, dass es ein zweiter, bereits toter Kfer warund der echte Kfer noch im Glas ist.

    Ich traue mich aber nicht, das Glas auszuschtten, denn wenn erwieder frei ist, macht er unter Umstnden wieder dieses kratzendeGerusch und beim ersten Mal war es Glck, dass ich ihn fangenkonnte. Es kann gut sein, dass es mir kein zweites Mal gelingt.

    Ich hre jetzt auf, ber das Schicksal des Kfers nachzudenken.Wahrscheinlich war der tote Kfer auf dem Teppich der echte.

  • TAG 7

    Habe das Glas doch auf dem Boden ausgeschttet und nach dem Kfergetastet. Ich habe ihn gefunden. Er ist auch tot. Ich bin sehr traurig.

  • TAG 11

    Waschen ist merkwrdig. Das Gerusch des Wassers tut ein wenig weh.

  • TAG 16

    Ich denke, nun eine Lsung gefunden zu haben. Endlich.

  • TAG 17

    Habe mich schwer gestoen. Die Schmerzen holen mich ein wenigzurck. Ich denke seit langer Zeit wieder ber die Auenwelt nach undgeniee es ein bisschen.

    Mittlerweile bin ich mir sicher, dass der Wecker kaputt ist oder ichvergessen habe, ihn zu stellen. Aber das ist egal, ich werde noch eineWeile hierbleiben. Ich komme immer besser voran.

  • TAG 21

    Mir fehlen die Worte. Es ist unbeschreiblich.Unfassbar.

  • TAG 23

    Symmetrie wird berschtzt.Alles ist sanft, k lar und warm, alles steht an seinem Platz, nichts

    braucht gefangen zu werden, alles ist schn und fllt von allein in dierichtige Reihenfolge.

  • TAG 25

    Wenn man sein Hemd auszieht, hat man kein Hemd mehr an, habe ichheute gedacht. Ich musste sehr lachen.

  • TAG 41

    Es ist v ielleicht mglich, Trauerweiden aus der Erde zu graben undrckwrts wieder einzupflanzen, sodass aus den Wurzeln Bltterwachsen und aus den sten Wurzeln werden. Aber warum sollte manso etwas als Baum knnen sollen? Wahrscheinlich weil es immerMenschen geben wird, die so etwas mit einem machen.

    Die Meditationen gehen sehr gut. Im Sitzen ist es besser. Im Liegen binich schnell abgelenkt von komischen Formen und Bildern, die auf micheinstrmen.

  • TAG 45

    Das Atmen wird endlich leichter.

  • TAG 46

    Lass mich los. Ich warne dich!

  • TAG 47

    Du bist es, worin es stattfindet. Du bist es, worin es stattfindet. Du bistes, worin es stattfindet. Du bist es, worin es stattfindet.

  • TAG 48

    Ein fr alle Mal: Lass von mir ab! Es ist genug. MeinAbstraktionsvermgen zerteilt dich in gleichmige Wrfel aus Farbeund Klang, bevor du Struktur sagen kannst! Dies ist einFriedensangebot!

  • TAG 49

    Ich bin schuld. Das wei ich jetzt.

  • TAG 52

    Die Sonne wirft scheinbar gar keinen Schatten.

  • TAG 53

    Warum fllt es mir so schwer zu atmen? Man sollte meinen, es wre einenatrliche Funktion. Aber der Mensch kann vieles nicht, was man alsTier eigentlich knnen msste, und kann vieles, was man als Tiereigentlich nicht zu knnen braucht.

  • TAG 54

    Nun gut, es hat endlich sein Ende gefunden, die Formen sind weg.Warum ist das passiert? Ich habe dir vorher gesagt, du sollst es nicht mitden Hnden berhren.

  • TAG 56

    Ich habe gestern die Lsung fr den Traum in dem Wartezimmergesehen.

    Vorhin wusste ich kurz nicht, ob ich falle oder liege.

    Ansonsten ist es gut.

  • TAG 61

    Ich schwre, ich habe ein Klopfen gehrt.Aber ich kann nicht beurteilen, ob das etwas bedeuten soll. Gesetzt

    den Fall, es htte tatschlich etwas zu bedeuten, htte es seinenSachverhalt sicherlich offenbart. Es gibt nichts zu tun, auer zu warten.

    Anscheinend darf ich nichts mitfhren.

    AUGE! MEIN WORT IST GESETZ UND MEINE HAND IST DAS LICHT.DU GEHRST MIR, SO ZEIGE AN, WAS ICH SEHEN WILL, UNDSTELLE DAR, WIE ES IST. DU BIST AUS MIR HERAUSGEWACHSEN,SO SEI GEHORSAM UND VERLSSLICH

  • TAG 62

    Es hat schon wieder an der Tr geklopft.Warum? Ich verstehe es nicht.

  • TAG 66

    Alles Zgern ist unntz, alles Zweifeln ist k indisch. Beginne, wenn dernchste Atemzug beendet ist. Du lsst los. Ich schlage auf. Nein, ichstehe und schreibe. Gerade fiel ich. Du hast losgelassen. Aberanscheinend hab ich Probleme mit dem Aufschlagen. Es passiert einfachnicht. Ich stehe immer noch. Geradezu amsant. Dabei falle icheindeutig. Versuchen wir es erneut, nur dass diesmal ich loslasse und duaufschlgst. Wir mssen uns beeilen. Ich lasse jetzt los. Ich lasse alles los,was vorher unter meinem Griff stand und bergebe es nun dem Fall.Meine Hand ist offen. Ich muss nichts tragen und ich muss nichts halten.

  • TAG 67

    Ich habe mich schon wieder beim ffnen an einer Dose geschnitten. Soetwas Dummes.

  • TAG 68

    Mit der Knochenseite voran! Ein k laffendes, ein brennendes, ein nachGerechtigkeit schreiendes Loch in den Kopf stechen!

  • TAG 69

    Ich werde wieder fter schreiben. Die vergangenen Wochen habe ichwohl unter leichten Wahnvorstellungen gelitten.

    Sehr merkwrdig und ein wenig beunruhigend. Ich habeanscheinend meine Matratze ins Bad getragen und sie abgeduscht. Siebraucht mindestens eine Woche zum Trocknen. Warum? Ich kann michnur verschwommen daran erinnern, wie es abgelaufen ist.

    Jetzt bin ich zum Glck wieder k lar im Kopf und fhle mich sehrausgeruht. Trotzdem glaube ich, dass es besser wre, ein wenig mehr zuschreiben und meine Gedanken zu ordnen. Es beruhigt mich merklich.

    Ich denke, ich habe das Grbste hinter mir.Immer fter fhle ich Weite und die meiste Zeit des Tages bin ich in

    einer angenehmen Ruhe. Ich nhere mich dem Inneren der Spirale.

  • TAG 70

    Diesmal bin ich mir wirk lich sicher, dass es geklopft hat.Es besteht kein Zweifel. Ich wei berhaupt nicht, was es soll und es

    erschreckt mich sehr. Zum Glck ist der Raum von innenabgeschlossen.

  • TAG 71

    Mein altes Leben scheint mir so fern. Wie konnte ich es nur leben? Allesergibt v iel mehr Sinn, wie es jetzt ist. Wie es wohl Almas Sohn geht? Ichwerde ihn fter besuchen, wenn ich wieder drauen bin.

  • TAG 72

    Heute war es wirk lich schwer. Ich muss mich ordnen und habe vierFragen:

    1: Ob?2: Wenn ja, warum?3: Wie ist darauf zu reagieren?4: Warst es am Ende du selbst, der geklopft hat?

  • TAG 73

    Du musst dich mehr bewegen. Dein Rcken fhlt sich gut an, aberdeine Gelenke brauchen mehr Aufmerksamkeit.

  • TAG 74

    Diesmal haben sie mich wirk lich zum Lachen gebracht. Sie haben mirvon einer Verhandlung erzhlt. Das Gericht sei auf Enthauptung aus.Immer wenn man denkt, man kennt ihre Spiele, berraschen sie einen.

  • TAG 75

    Ich habe so v iel gelacht wie schon lange nicht mehr.Als ich heute eine Dose mit Pfirsichen geffnet habe und hineinbeien

    wollte, hatte ich eine saure Gurke im Mund. Wahrscheinlich habe ich dieDosen falsch sortiert. Ich habe mich sehr erschrocken und musste dannso lange lachen, dass ich schon fast Angst bekam, nicht mehr aufhrenzu knnen.

  • TAG 76

    Ich glaube, ich habe heute meinen Atlaswirbel eingerenkt. Es hat einlautes Knacken gegeben. Jetzt fhlt sich mein Kopf sehr leicht an. Einunglaubliches Gefhl. Aber es tut noch ein wenig weh.

    Habe viel Sport getrieben die vergangenen Tage. Immer wiederLiegesttze und Sprnge. Auch habe ich heute mehrere Stundengetanzt. Ich kann mich mittlerweile sehr lange auf einem Fleck um meineMitte drehen und komme mit meinen Fingern dabei nicht an die Wnde.Es ist schn. Mein Krper erlangt teilweise bermenschliche Krfte. Erglht frmlich von innen. Auch das Atmen wird immer tiefer.

  • TAG 78

    Ich habe mich gerade bergeben mssen. Vermutlich war eine derDosen nicht mehr gut. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass die 100 Tageschon lngst vorbei sind, aber ich mchte noch nicht hinaus.Irgendetwas hlt mich und ich habe auch noch nicht alles gefunden,was ich gesucht habe.

  • TAG 79

    Sie haben nun allen Ernstes gesagt, dass die Verhandlung morgenbeginnen wrde und ich mich vorbereiten solle. Ich wei nicht, was siemeinen. Immer wieder kommen sie auf dieses Thema und langsamrgert es mich.

  • TAG 80

    Bin in eine sehr tiefe Erfahrung gegangen. Ich bin tatschlich das, worines stattfindet. Es ist wunderschn. Ich bin berwltigt. Die Mitte derSpirale ist nicht mehr weit. Wie frei man sich fhlen kann, wenn mansich nicht bewegt.

  • TAG 81

    Nahezu lcherlich: Mir ist bereits der dritte Stift abgebrochen. Ichdrcke manchmal zu fest auf.

    Sie haben schon wieder von der Verhandlung gesprochen. Heute seider Tag, an dem sie stattfinde. Ich habe ihnen gesagt, dass ich das nichtmehr lnger komisch fnde, und sie gebeten, damit aufzuhren, aber siehaben mich regelrecht bedrngt. Sie waren sogar an der Tr.Mittlerweile glaube ich auch, dass sie es waren, die die ganze Zeitgeklopft haben, aber das haben sie immer wieder verneint. Nun ja. Aufjeden Fall hatte ich heute einen guten Tag. Ich komme jetzt auch in dieuntersten Wirbel und meine Atmung wird sehr geschmeidig.

    Das Bewegen lief gut und ich habe viel getanzt.

    Jetzt bin ich verwirrt. Gerade eben hat es ganz deutlich an der Trgeklopft. Diesmal gibt es wirk lich keinen Zweifel, ich habe sogarStimmen gehrt. Es ist vollkommen absurd. Ich verstehe nicht, was siewollen. Sie reden noch immer von der Verhandlung und werfen mitBegriffen wie Enthauptung um sich. Es ist wirk lich zum Wtendwerden.Fast htte ich zurckgeklopft.

    Lag gerade sehr lange auf dem Boden und konnte mich nicht bewegen.Merkwrdig.

    Jetzt sind sie schon wieder da! Ich hre sie eindeutig hinter der Trreden! Da, jetzt hat es gerade geklopft, whrend ich geschrieben habe.Das ist der Beweis, dass ich es mir nicht ausdenke. Wahrscheinlichwollen sie mich zwingen zu reagieren. Ich wrde es vorziehen, nicht zu

  • Am 81. Tag wurde die Tr aufgebrochen und drei Mnner betraten denRaum.

    Sie fassten Igor unter die Arme und zogen ihn hinaus. Igor, derschrie und um sich trat, wurde mit Gurten fixiert und die Mnner setztenihn in einen fahrbaren Stuhl.

    Ihn durchfuhr eine schockierende Erkenntnis: All dies war keineEinbildung, sie hatten keine Scherze getrieben.

    Die Verhandlung sollte tatschlich beginnen.

  • 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9

    drum tanze und singe und lach

  • Die Gerusche klangen unertrglich scharf in Igors Ohren. Er nahm dieHnde vor das Gesicht, um sich vor dem grellen Licht zu schtzen, dassich ihm schmerzhaft in die Augen bohrte.

    Sein Krper bumte sich gegen die Gurte, die um ihn geschnalltwaren, und die Mnner hatten es schwer, ihn aus dem Rollstuhl auf eineBahre zu heben.

    Immer wieder schrie er auf und trat heftig um sich. Jemand stellte sichneben Igor, schob seine Hnde beiseite und zog mit zwei Fingern einesseiner Augen auf, um mit einer Taschenlampe hineinzuleuchten. DerMann begann in einer unertrglichen Lautstrke auf Igor einzureden,aber er schien in einer Fantasiesprache zu sprechen, denn keins seinerWorte war Igor verstndlich.

    Igor schrie ihn an, er solle ihn losbinden. Sein ganzer Krper zitterteunter den pltzlich auf ihn einstrmenden Sinneseindrcken.

    Schlielich drangen ein paar Wortfetzen der fremdartigen Sprache zuIgor hindurch, die er verstehen konnte. Offenbar fragten sie ihn, ob eretwas mitfhre. Igor konnte nicht begreifen, was er damit meinte, aberder Mann redete unnachgiebig auf ihn ein und bedrngte ihn immerwieder, alles abzulegen, was zu schwer sei, um es mitzufhren. Igorschttelte unglubig den Kopf und schrie immer, dass er nicht verstehe.

    Nach einer Weile verschwand der Mann neben ihm. Igor riss seinenKopf hin und her, konnte aber niemanden mehr sehen oder hren.Zitternd lag er in den Gurten und berlegte, warum es so war, wie eswar. Hatte er etwas Falsches getan? Hatte er sich schuldig gemacht?Irgendeine Begrndung musste ihr Verhalten ja haben. Vielleicht warensie im Recht? Vielleicht war eine Verhandlung tatschlich ntig? Nein,dies musste ein Traum sein. Wie htten sie ihn finden sollen? Unterkeinen Umstnden war dies eine reale Situation. Zwei Mnner traten insein Blickfeld. Freundlich stellten sie vorsichtige Fragen, die er allesamtnicht verstand. Sie tupften mit einem kalten Lappen ber Igors

  • berhitztes Gesicht und boten ihm etwas zu trinken an. Igor schloss denMund. Er wusste, dass er nichts zu sich nehmen durfte, was sie ihmanboten. Es knnte vergiftet sein oder Schlafmittel beinhalten. Er musstewach bleiben, um einen Moment abzupassen, in dem er fliehen konnte.So freundlich sie waren, so sicher war er sich, dass sie nichts Gutes imSchilde fhrten. Igor zuckte zusammen, als zwei Mnner unter einemlauten metallischen Klacken eine schwere schwarze Tr vor ihmffneten. In der Ferne hrte er Menschen schreien.

    Die Bahre, auf der er lag, wurde in Bewegung gesetzt und Igorwurde in einen riesigen berfllten Gerichtssaal geschoben.

    Sie fuhren ihn an den Rand eines Balkons und Igor sah hinab auf einemit dem Auge kaum mehr erfassbare Menge von Menschen. Der Saalwar fast vollkommen dunkel, lediglich ein paar k leine Lichter an denAusgngen lieen erahnen, von welchem gigantischen Ausma er war.

    Seine Bahre wurde von den Mnnern, die ihn herausgeschobenhatten, so aufgerichtet, dass er, von den Gurten gehalten, aufrecht vorder Brstung des Balkons stand.

    Die Menge war eine einzige rasende Welle, die sich im Wind ihrereigenen Schreie aufbumte und zurck in sich zusammenfiel, nur umimmer wieder haushoch hinauszuschieen, sich selbst berschlagend,niederbrechend, die Zungen zerreiend, die Fuste ballend, spuckend,tretend und fremdartige Worte schreiend. Ein schumendes Meer ausunbegreiflicher Wut.

    Igor blickte fassungslos hinab auf das Schauspiel, das sich ihm bot,und schttelte immer wieder unglubig den Kopf. Dies konnte nichtsein, dachte er. Wie sehr mussten sie ihn hassen!

  • Enthauptung!, riefen sie. Wie war das alles mglich? War es wegendes Kfers?

    Er wollte zurck in seinen dunklen Raum. Kaum verstand man, wassie riefen, aber sie schrien immer weiter auf ihn ein, sie schrien undschrien und schrien ihn an und brllten ihn nieder mit ihrenkrchzenden Stimmen.

    Auch auf der anderen Seite war ein Balkon, auch dort standenMnner und auch sie blickten zu ihm. Einer war auf einer Empore.Wahrscheinlich war das sein Richter.

    Igor schloss die Augen. Ein langer, ohrenbetubender Ton aus einemHorn erschallte durch den Gerichtssaal, und die Menge verstummte. Ersah ihre Augen nicht, aber sprte ihre Blicke. Es wurde still.

    Er blinzelte und sah in den Augenwinkeln, wie ein Mann neben ihmetwas schrie, was er nicht verstand; und als der Mann ruckartig seinenArm hob, setzte ein entsetzlicher Chor aus Menschenstimmen ein:

    ERSCHAFFER DES DREIECKS, ERGRNDER DER STABILITT UNDSIEGER BER DIE FORMEN,

    SCHTZE UND SEGNE DEN MANN, DER UNS SEINEN WILLEN UNDSEINE HAND FR UNSER HEIL ZU LEIHEN WEISS!

    MGE SEIN ARM STARK UND SEIN AUGE SCHARF SEIN!MGE SEIN GEIST DAS GESCHWR UNSERER GESELLSCHAFT

    FINDEN UND HERAUSSCHNEIDEN, UM ES DEM FEUER SEINERSTRAFE ZU BERGEBEN.

    NIEDER MIT DEM NEID, DER LGE, DEM VERRAT!NIEDER MIT SEINEN FRCHTEN, TOD SEINEN VERTRETERN!TOD DEM MANN, DER UNSEREN FRIEDEN FRISST UND AUF

    UNSERE FREIHEIT SPUCKT, DER UNSERE GESETZE BRICHT UND MITDEN WERTEN UNSERES VOLKES SPIELT!

    TOD DEM FEIND DES DREIECKS!

  • Es wurde wieder still, ein Murmeln ging durch die Menge und allestarrten gebannt auf Igor.

    Lange geschah nichts. Er ffnete die Augen und starrte in dendunklen Raum. Still stand das Volk und wartete. Auch die Mnner aufdem anderen Balkon blickten gespannt zu Igor. Die Mnner neben ihmwurden nervs. Sie blickten ihn an, als wrden sie eine Antworterwarten.

    Igor erblasste unter der erschreckenden Erkenntnis, die sich in ihmausbreitete.

    Zitternd hob er den Kopf und schaute zu den Mnnern auf demanderen Podest. Einer von ihnen war eingewickelt in Mullbinden undlag in einer Konstruktion, ber der eine groe Klinge montiert war.

    Du lagst falsch, Igor. Du bist nicht hier, um zu sterben.Du bist nicht hier, um gerichtet zu werden.Du bist hier, um zu richten.

    Der Mann, der den Arm gehoben hatte, stellte sich nun dicht neben ihnund stie ihn an.

    Das Volk von K erwartet Ihr Urteil.Die Menge war still und schaute hinauf.Zwei Helfer hatten eine Art Trichter vor Igors Gesicht geschoben, in

    den er wohl hineinsprechen sollte.Igors Geist drohte unter dem Gewicht der Ereignisse

    zusammenzubrechen. Er konnte keinen logischen Schluss mehr ziehen.Weder vermochte er seine Augen zu ffnen noch seine Stimme zuerheben. Mit aller Macht versuchte er sich zu sammeln und durch das

  • Geschehen hindurchzublicken.Dies musste ein Trugbild sein. Es gab keine andere Erklrung. Er

    dachte an den Raum, in dem er bis eben noch gesessen hatte, undzeichnete ihn in seiner Erinnerung nach. Er beschloss, dass der Raumsein wahrer Aufenthaltsort war und alles andere nur Schein. EinFarbenspiel, welches aus einer tiefen berreiztheit aufgestiegen war, umihn zu testen. Er musste es auflsen wie einen Salzstein in einemWasserbad. Der wirk liche Sachverhalt musste sein, dass er noch immerin einem warmen dunklen Raum sa und einem Fiebertraum erlegenwar. Igor wurde still und sprte die khle Luft auf seinem Gesicht. Allseine Konzentration wrde er aufwenden mssen, um dieses Trugbild zuzerschlagen. Er besann sich auf seinen Krper und fhlte, dass er nochimmer auf der Matratze lag. Vielleicht war er krank? Oft war esvorgekommen, dass sein Geist in der langen Dunkelheit Spiele mit ihmtrieb. Jedes von ihnen ging irgendwann vorbei. Er lachte. Es wirdwohl Zeit, den Raum zu verlassen, Igor, sagte er zu sich selbst. Einschnes Experiment war das und viele Erkenntnisse hat es dirverschafft. Doch nun ist der richtige Moment, um aufzustehen, zuduschen, noch etwas zu essen und dann langsam ein paarSonnenstrahlen in dein dunkles Versteck zu lassen. Deine Augenwerden schmerzen, aber es wird gut sein. Es ist genug. Du bist mde.Wach auf!

    Igor ffnete die Augen und blickte in den dunklen Raum. Er blinzelteund erkannte ein paar schwache Lichter. Nach und nach wurde seineSicht wieder scharf und er sah vor sich das nervse Volk von K stehen.Igor musste den Blick abwenden und sah hinber zu dem Mann, der

  • auf dem anderen Podest stand und dessen Kopf in einer Vorrichtungsteckte, die mit einer hochgezogenen Klinge versehen war. Igor wolltedie Augen schlieen, doch es gelang ihm nicht mehr. Das Haupt desMannes, der in der Vorrichtung steckte, war nichts weiter als einkopfgroer Augapfel.

    Der Mann, der neben Igor stand, war noch immer nervs undflsterte ihm eindringlich zu, dass er doch endlich beginnen solle. Gernhtte Igor die Hnde vor das Gesicht genommen, doch die Arme warenzu schwer.

    Nach Minuten der Verzweiflung erhob er die Stimme und sprach leisein den Trichter: Ich habe keinen Richtspruch.

    Das Auge: Der optische Apparat des Auges entwirft ein seitenverkehrtesund umgedrehtes Bild, das in der Netzhaut von den Zpfchen und denStbchen wahrgenommen wird. Die hier entstandenen Impulse werdenvon den Sehnerven zum Gehirn geleitet, und erst dort erscheint das Bildaufrecht und seitenrichtig.

    Das Volk brllte aufgebracht. Die Mnner zogen Igor hektisch vomBalkon und schoben ihn laut fluchend in einen Gang. Sie rollten ihnber den grellen Flur und stieen ihn in einen Raum, in dem sie einVerhr begannen. Viele Fragen schrien sie ihm aufgeregt entgegen, vondenen Igor keine einzige verstand. Immer wieder schttelte er den Kopfund gab sich keine Mhe mehr, eine angemessene Reaktion zu finden.Er konzentrierte sich darauf, bewusstlos zu werden. Nach einer fr ihn

  • unermesslich langen Zeit hievten sie ihn von seiner Bahre auf eineandere fahrbare Konstruktion und zogen ihn durch einen schmalenTunnel. Er bekam nur noch Bruchstcke des Geschehens mit undwurde erst wieder k lar, als sie ihn durch eine Luke ins Freie hoben. DasSonnenlicht blendete ihn noch strker als das Licht der Lampen. DieMnner legten ihn gefesselt in ein Boot und stieen ihn einen Flusshinab.

    Igor beschloss, nicht mehr zu reagieren, bis er irgendwann in seinemRaum aufwachen wrde. Er lie sich treiben und blickte starr nach obenin den vorberziehenden Himmel. Zitternd betrachtete er diespiralenfrmigen Wolken, bis die Nacht hereinbrach und er einschlief.

    Ein lauter Knall lie ihn hochfahren.Igor sah sich um und erblickte sein Boot, das an einem steinigen Ufer

    zerschellt war. Wasser drang in das Innere und Igor sprang auf, umsich ans Ufer zu retten. Er stolperte und fiel buchlings auf die Steine.Die Gurte, die ihn gefesselt hielten, rissen auf und er wand sich ausihnen hervor.

    Benommen und ein wenig auer Atem, setzte er sich auf den Bodenund strich vorsichtig mit den Fingern durch die Splitter des Bootes.Nirgendwo sah man Anzeichen fr Ziv ilisation. Fliegen landeten aufseinem Rcken, ein paar Windben zogen ber das hohe Schilf. Sonstwar es still.

    Igor schttelte ein paarmal den Kopf und versuchte, die Augengeschlossen zu halten. Er dachte, wenn er das Ganze nur lange genugnicht akzeptierte, msste es sich auflsen. Nachdem er eine Weilegeschwiegen hatte, hielt er es nicht mehr aus und sagte leise: So.

  • Mehr fiel ihm nicht ein und er beschloss, dass es sinnvoll wre, nochein wenig genauer ber alles nachzudenken. Worum knnte es sichhandeln?, rief er laut aus. Der Fluss glitt still vor sich hin und Igorhrte ein paar Bienen summen. Hat es eine Veranlassung?, rief ernoch einmal laut. Nervs strich er mit den Fingern ber das hohe Schilf,das an der Bschung wuchs. Kurz entschlossen stand er auf und setztesich wieder hin. Er brach einen Stock ab und malte k leine Kreise in denSand. Er wusste, dass er irgendetwas vergessen haben musste. Abersosehr er sich bemhte, er konnte sich nicht daran erinnern, was eswar. Er flsterte ein zitterndes Tja.

    Im Sand vor ihm stand:

    1 + 1 = 1

    Igor starrte die Gleichung an.Anscheinend hatte er sie geschrieben.Er dachte darber nach und tastete abwesend nach den Splittern des

    Bootes.

    1 + 1 = 1

    Verwirrt scheuchte er Fliegen beiseite und stierte auf den Fluss. Still ist eshier, dachte er. Wie tief das Wasser wohl ist, was es wohl alles unter sichbegrbt? Er verwischte die Gleichung, ohne hinzusehen, mit dem Fu.

    1 + 1 = 1

    Sie lie sich nicht entfernen. Wieder etwas, dem einfach keineVeranlassung abzuringen war.

    Ich stehe auf und laufe umher, sagte er laut, als wollte er es

  • jemandem mitteilen. Bevor er ging, verwischte er die in den Sandgeschriebene Gleichung abermals mit dem Fu. Sie machte ihm Angst.

    1 + 1 = 1

    Nach ein paar Schritten kehrte er zurck.

    Bevor er denken konnte, musste er sich diesem Problem widmen. Esmacht ihn nervs. Fgen wir der Eins also etwas hinzu, dachte er. Siekonnte, wenn sie zu sich selbst addiert wurde, unmglich eine Einsbleiben. Besser, er schrieb es in den Sand. Igor verwischte die Eins undschrieb eine Zwei an ihre Stelle. Zu seinem groen Erschrecken malteseine Hand aber wiederum nur eine Eins.

    Er glaubte, sich vertan zu haben, und zog immer wieder Linien in denSand, von denen er meinte, dass sie eine Zwei darstellen mssten,wurde jedoch immer unsicherer, wie man sie schrieb. Schlielich warf erfahrig den Stock weg und versuchte aufzustehen.

    Er stolperte und bergab sich in einen Strauch.

    1 + 1 = 1

    Igor schlug mit der Faust auf den Waldboden.Welt! Genug! Bitte, nimm mich in dir auf! Ich kann nicht mehr!Ein Fink setzte sich in die Nhe und pfiff: Du kannst nicht von der

    Welt erwarten, dass sie dich aufnimmt. Du bist es, der die Weltaufnehmen muss.

    Igor reagierte nicht und malte immer wieder Striche, die er fr Zweienhielt. Der Fink setzte sich auf einen Ast direkt neben ihm und spracheindringlich: Lade sie zu dir ein, bewirte sie! Erst dann wird die Weltauch dich in sich aufnehmen. Du musst deine Tore ffnen und die Weltfestlich empfangen. Tu es. Tu es jetzt.

  • Ein zweiter Fink setzte sich dazu. Er hat recht! Schau! So tue ich es!Sei willkommen, Welt!, pfiff er mit geschwellter Brust. Nimm Platz inmir. Lange habe ich mich vor dir verschlossen, lange wollte ich dichnicht in mir, doch nun wei ich um deinen Wert. Verzeihe den Hochmutmeiner frhen Jahre. Verzeih, dass ich dachte, ich brauche dich nicht.Ich wei, ich wollte dir meinen Willen aufzwingen. Doch nun sehe ich,dass ich nur mit dir und nicht gegen dich sein kann. Mein Finkgefiederverdanke ich dir und auch meine Stimme, um darber zu berichten, wiesehr ich es wertschtze, ein Fink zu sein. Verzeihe auch, dass ich erst inmeiner schlimmsten Stunde zu dir sprach, um dich einzuladen und umFreundschaft zu bitten. Nicht im Angesicht deiner Schnheit habe ichmich entschlossen, dich zu bewirten, sondern im Angesicht meinerHsslichkeit. Verzeihe meine Blindheit, meine Dummheit und meineSelbstgerechtigkeit. Verzeihe all die Jahre meiner Verschlossenheit. Ichwar ein schlechter Fink. Doch nun bitte ich dich zu Tisch. Spucke nichtauf meine Teller, denn sie sind aus grobem Holz. Verschmhe nicht meinMahl, sei es auch fad und kalt. Mein Zimmer ist k lein und der Wind unddie Ratten teilen es mit mir. Wenn die Zeit reif ist, wirst du mich lehren,die Ratten zu fangen und die Fenster zu k itten. Doch bevor es so weitist, empfange meine Gastfreundschaft und verschmhe sie nicht, dennmir ist kalt und ich lobpreise dich mit der letzten Wrme, die noch in mirsteckt.

    Drei Kerzen rollten vorbei und schmolzen in den Sand hinein.Igor, der nie gelernt hatte, mit Tieren zu sprechen, verstand kein

    Wort des Finks und rieb nur abwesend seine trockenen Lippenaneinander.

    Fieberhaft war er darin vertieft, sich zu erinnern, wie man eine Zweizeichnete. Es konnte nicht sein, dass er es vergessen hatte; mit allerGewalt versuchte er, das Bild der Zwei in seinem zerrtteten Geisterscheinen zu lassen, und mit einem Mal tauchte sie vor ihm auf.

  • Eindeutig. Ihr stabiler Fu und ihr schwanengleicher Hals strahlten inergreifender Schnheit vor seinem inneren Auge. Was fr eineehrwrdige Zahl! Wie stabil und gleichzeitig zart! Was fr ein kargerGeselle die Eins dagegen war. Die Zwei war die stille und bescheideneKnigin der Ziffern. Es war eindeutig. Igor war es zuvor nichtaufgefallen, doch nun, wo er sie in seinem Geist erscheinen sah,verblassten alle anderen Zahlen zu einfachen Zeichen. Euphorischmachte er sich daran, die Gleichung zu bereinigen. Wenigstens diesesRtsel wrde nicht ungelst bleiben. Zu viel Chaos war schon durch ihnhindurchgeflossen. Diesmal wrde er nicht eher aufstehen, bis er es zurKorrektur gezwungen hatte. Mit bebenden Fingern schrieb er in denSand.

    2 + 1 = 1

    Igor stand auf und setzte sich wieder hin. Er erhob sich erneut, ging einpaar Schritte in den Wald hinein und lie sich auf den Boden fallen.Dann drehte er sich um, blickte zu der Bschung, an der er eben nochgesessen hatte, stand auf, setzte sich, stand wieder auf und rannte inden Wald.

    Die Vgel schauten besorgt und flogen ihm nach.Lade sie ein, lade sie ein!, sangen sie dabei.

    Igor war tief in den Wald gerannt, stumm und ohne Ziel. Zwei, sagteer immer wieder zu sich selbst.

    Er hielt inne und betrachtete eine hohe und schmale Birke, die sichsanft im Wind bog. Ja!, sagte er leise zur Krone des Baumes hinauf.

  • Dann ging er weiter und drehte sich nicht mehr um. Vgel und Getierkreuzten seinen Weg. Nein, sagte er im Vorbeigehen zu ihnen undschttelte unablssig den Kopf.

    Als die Nacht hereinbrach, wurde es kalt und er fror. Er rieb dieHnde aneinander und suchte nach einem Unterschlupf. Dabei folgte erden Dingen, von denen er dachte, dass sie Wege darstellen sollten, undahnte lngst, dass es keine Wege mehr gab.

    Igor verbrachte die Nacht in einer Erdwlbung. Es gab keinenpraktischen Grund, diesen Ort dem brigen Gelnde vorzuziehen, auerdem Gefhl einer unsichtbaren Abgrenzung.

    Nachdem er erwacht war, verbrachte er v iel Zeit mit Herumlaufen,Laut-zu-sich-Sprechen, Meditieren und dem Hin- und Herwlzen aufLichtungen.

    Am nchsten Morgen ergriff Igor eine zermrbende Ungeduld. Erschrie, schlug um sich,