Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

23
Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“ M 1: Hausaufgaben oder Spaß? Aus: Amend, Bill: Foxtrot © 1996, www.members.aol.com/lshauser/foxtrot.html. Andrews Mc Meel Publishing, Cansas City. Übersetzt von Jörg Peters. Koloriert von Dagina Burger. Aufgaben: 1. Welche Ihnen bekannten ethischen Modelle werden in dem Comic-Strip durch Peter, den Jungen mit dem Baseball-Cap, dargestellt? 2. Der klassische Utilitarismus erstrebt das größte Glück der größten Zahl. Inwieweit findet sich dieses Prinzip im Comic-Strip wieder? 3. Welche ethischen Prinzipien stehen sich in den beiden Figuren Paige, dem Mädchen am Schreibtisch, und Peter gegenüber?

Transcript of Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

Page 1: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

M 1: Hausaufgaben oder Spaß?

Aus: Amend, Bill: Foxtrot © 1996, www.members.aol.com/lshauser/foxtrot.html. Andrews Mc Meel Publishing, Cansas City. Übersetzt von Jörg Peters. Koloriert von Dagina Burger.

Aufgaben:

1. Welche Ihnen bekannten ethischen Modelle werden in dem Comic-Strip durch Peter, den Jungen mit dem Baseball-Cap, dargestellt?

2. Der klassische Utilitarismus erstrebt das größte Glück der größten Zahl. Inwieweit findet sich dieses

Prinzip im Comic-Strip wieder?

3. Welche ethischen Prinzipien stehen sich in den beiden Figuren Paige, dem Mädchen am

Schreibtisch, und Peter gegenüber?

Page 2: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

M 2: Das größte Glück für die größte Zahl – eine sinnvolle Maxime?

Der Begriff Utilitarismus leitet sich her vom lateinischen Wort „utilis“, nützlich. Mit ihm bezeichnet man das Nützlichkeitsstreben. Der Erste, der allein den allgemeinen Nutzen als Maßstab des Handelns betrachtete, war der schottische Philosoph Francis Hutcheson. In seinem Hauptwerk „A System of Moral Philosophy“ (1755) formuliert Hutcheson jenes Prinzip, das ihn als Wegbereiter für den Utilitarismus berühmt gemacht hat: „Diejenige Handlung ist die beste, die das größte Glück für die größte Zahl herbeiführt.“

Aufgabe:

Können Sie sich Bedingungen vorstellen, unter denen Hutchesons Prinzip zutrifft? Suchen Sie nach Beispielen, die die Richtigkeit dieser These belegen.

a) Beispiel 1: Ist es erlaubt, einen Tyrannen zu ermorden?

Stellen Sie sich vor, Sie leben in einem totalitären Staat. Der Herrscher dieses Staates diskriminiert und

vernichtet Menschen nach seinem Gutdünken. Sie selbst gehören einer Minderheit an. Es ist nur eine Frage

der Zeit, bis sein Augenmerk auf diese Zielgruppe fällt.

Sie werden von einem Bürger Ihres Landes angesprochen, der plant, den Tyrannen zu ermorden. Allein kann

er seinen Plan jedoch nicht umsetzen. Deshalb fragt er sie um Hilfe.

Text: Bernd Rolf und Jörg Peters.

Aufgaben (M 2a)

1. Wie würden Sie sich in der gegebenen Situation entscheiden? 2. Diskutieren Sie in einer zweiten Runde, welche ihrer Vorschläge realistisch durchzuführen wären

und das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl von Menschen mit sich brächten.

b) Beispiel 2: Leben retten – aus Prinzip?

Man stelle sich einen Mann vor, der jemanden ertrinken sieht. Er springt ins Wasser und rettet ihn. Zeit, die

Angelegenheit zu durchdenken, besteht nicht. [...] Wäre [es] [...] 1938 [...] und [der Ertrinkende] hätte die

wohlbekannte schwarze Stirnlocke, [...] dann würde ein Utilitarist, wenn er Zeit hätte, errechnen, mit welcher

Wahrscheinlichkeit es sich um Adolf Hitler handelte. [...] Der Retter hat freilich keine Zeit. Er traut seinen

Gefühlen, taucht ins Wasser und rettet den Mann. [...]

Aus: Smart, J.J.C.: „Handlungsutilitarismus und Regelutilitarismus“. In: Birnbacher, Dieter; Hoerster, Norbert (Hrsg.): Texte zur Ethik. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1997, S. 208–222, S. 212–213.

Aufgaben (M 2b)

1. Welche Gründe sprechen Ihrer Ansicht nach dafür, den Ertrinkenden zu retten? 2. Wie wird dem Retter zumute sein, wenn er erfährt, wem er das Leben gerettet hat? 3. Mit welchen Reaktionen aus der Bevölkerung muss er rechnen, sollte er wirklich Adolf Hitler das

Leben gerettet haben? 4. Wie könnte er seine Handlung dann (vor sich) rechtfertigen?

Page 3: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

c) Beispiel 3: Was ist wichtiger, die Sorge um den Nächsten oder die Gemeinschaft?

Ein junger Mann ist zerrissen zwischen der Sorge um seine kranke Mutter, die dringend seiner Pflege

bedarf, und seiner Pflicht als französischer Patriot, sich dem Widerstand gegen die deutsche Besatzung anzuschließen.

Aus: Freese, Hans-Ludwig: Abenteuer im Kopf. Philosophische Gedankenexperimente. Beltz Verlag, Weinheim/Basel 1996. S. 268.

Aufgabe (M 2c)

Wie würden sie in dieser Situation handeln?

d) Beispiel 4: Darf der Mensch Schicksal spielen?

Versetzen Sie sich in die Lage eines Bergbahnfahrers, der sich auf Talfahrt befindet. Plötzlich tauchen

vor ihm fünf Gestalten im Nebel auf. Eine Vollbremsung ist zwecklos. Er kann allenfalls auf ein

Nebengleis ausweichen, wodurch aber ein Arbeiter sicher zu Tode käme.

Aus: Freese, Hans-Ludwig: Abenteuer im Kopf. Philosophische Gedankenexperimente. Beltz Quadriga, Weinheim/Berlin 1996, S. 268. Das Gedankenexperiment wurde entnommen: Sorensen, Roy A.: Thought Experiments. Oxford University Press, Oxford 1998.

Aufgabe (M 2d)

1. Wie würden Sie in dieser Situation handeln?

2. Hat der Fahrer Ihrer Meinung nach das Recht, die Gleise zu wechseln?

e) Beispiel 5: Einen Menschen opfern, um fünfen das Leben zu retten?

In einer Klinik befinden sich fünf Patienten, die alle dringend auf eine Organtransplantation warten. Außerdem gibt es im Hospital einen Patienten, der zum Checkup da ist. Er hat alle erforderlichen

Organe. Da es dem behandelnden Arzt unmöglich ist, die notwendigen Organe zu beschaffen, denkt

er darüber nach, den gesunden Patienten zugunsten der übrigen zu opfern.

Aus: Tugendhat, Ernst: Vorlesungen über Ethik. Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 1997, S. 171–172.

Aufgabe (M 2e)

1. Darf der Chirurg den gesunden Patienten töten, um den fünf anderen Menschen das Leben zu retten?

2. Soll die Frage, ob der Gesunde zugunsten der fünf anderen geopfert werden soll, mit den sechs

Betroffenen beraten werden? Wie denken Sie über eine Abstimmung?

a) Begeben Sie sich einmal in die Rolle des gesunden und b) einmal in die Rolle eines kranken Patienten.

Page 4: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

M 3: Wie begründet Jeremy Bentham das Prinzip der Nützlichkeit?

1. Die Natur hat die Menschheit unter die Herrschaft zweier souveräner Gebieter – Leid und Freude – gestellt. Es ist an ihnen allein aufzuzeigen, was wir tun sollen, wie auch zu bestimmen, was wir tun werden.

Sowohl der Maßstab für „richtig“ und „falsch“ als auch die Kette der Ursachen und Wirkungen sind an ihrem Thron festgemacht. Sie beherrschen uns in allem, was wir tun, was wir sagen, was wir denken: jegliche Anstrengung, die wir auf uns nehmen können, um unser Joch von uns zu schütteln, wird lediglich dazu dienen, es zu beweisen und zu bestätigen. [...]

Das Prinzip der Nützlichkeit erkennt dieses Joch an und übernimmt es für die Grundlegung jenes Systems, dessen Ziel es ist, das Gebäude der Glückseligkeit durch Vernunft und Recht zu errichten. [...]

2. Unter dem Prinzip der Nützlichkeit ist ein Prinzip zu verstehen, das schlechthin jede Handlung in dem Maß

billigt oder missbilligt, wie ihr die Tendenz innezuwohnen scheint, das Glück der Gruppe, deren Interesse

infrage steht, zu vermehren oder zu vermindern [...]. Ich sagte: schlechthin jede Handlung, also nicht nur

jede Handlung einer Privatperson, sondern auch jede Maßnahme der Regierung.

3. Unter Nützlichkeit ist jene Eigenschaft an einem Objekt zu verstehen, durch die es dazu neigt, Gewinn,

Vorteil, Freude, Gutes oder Glück hervorzubringen [...] oder [...] die Gruppe, deren Interesse erwogen wird,

vor Unheil, Neid, Bösem oder Unglück zu bewahren; sofern es sich bei dieser Gruppe um die Gemeinschaft

im Allgemeinen handelt, geht es um das Glück der Gemeinschaft; sofern es sich um ein bestimmtes

Individuum handelt, geht es um das Glück dieses Individuums.

4. „Das Interesse der Gemeinschaft“ ist einer der allgemeinsten Ausdrücke, die in den Redeweisen der Moral

vorkommen können. [...] Die Gemeinschaft ist ein fiktiver Körper, der sich aus den Einzelpersonen

zusammensetzt. [...] Was also ist das Interesse der Gemeinschaft? – Die Summe der Interessen der

verschiedenen Glieder, aus denen sie sich zusammensetzt.

5. Es hat keinen Sinn, vom Interesse der Gemeinschaft zu sprechen, ohne zu wissen, was das Interesse des

Individuums ist. Man sagt von einer Sache, sie sei dem Interesse förderlich [...] wenn sie dazu neigt, zur

Gesamtsumme seiner Freuden beizutragen: oder, was auf das Gleiche hinausläuft, die Gesamtsumme

seiner Leiden zu vermindern.

6. Man kann also von einer Handlung sagen, sie entspreche dem Prinzip der Nützlichkeit [...], wenn die ihr

innewohnende Tendenz, das Glück der Gemeinschaft zu vermehren, größer ist als irgendeine andere ihr

innewohnende Tendenz, es zu vermindern.

7. Von einer Maßnahme der Regierung [...] kann man sagen, sie entspreche dem Prinzip der Nützlichkeit oder

sei von diesem geboten, wenn in analoger Weise die ihr innewohnende Tendenz, das Glück der

Gemeinschaft zu vermehren, größer ist als irgendeine andere ihr innewohnende Tendenz, es zu

vermindern.

Bild: Jeremy Bentham. dpa/picture-alliance.

Page 5: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

8. Wenn jemand [...] von einer Maßnahme der Regierung annimmt, sie entspräche dem Prinzip der

Nützlichkeit, dürfte es [...] zweckmäßig sein, sich eine Art Gesetz oder Gebot vorzustellen, das man als ein

Gesetz oder Gebot der Nützlichkeit bezeichnet, und von der fraglichen Handlung zu sagen, sie entspreche

einem solchen Gesetz oder Gebot.

9. Man kann von jemandem sagen, er sei ein Anhänger des Prinzips der Nützlichkeit, wenn die Billigung oder

Missbilligung, die er mit einer Handlung oder einer Maßnahme verbindet, durch die Tendenz bestimmt ist

und der Tendenz entspricht, die ihr nach seiner Ansicht innewohnt, um das Glück der Gemeinschaft zu

vermehren oder zu vermindern. [...]

10. Von einer Handlung, die mit dem Prinzip der Nützlichkeit übereinstimmt, kann man stets entweder sagen,

sie sei eine Handlung, die getan werden soll, oder zum Mindesten, sie sei keine Handlung, die nicht getan

werden soll. [...]

Aus: Bentham, Jeremy: „Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzesgebung“. In: Höffe, Otfried (Hrsg.): Einführung in die utilitaristische Ethik. Klassische und zeitgenössische Texte, UTB 1683, A. Francke Verlag, Tübingen 1992, S. 55–83, S. 55–58.

Aufgaben:

1) „Die Natur hat die Menschheit unter die Herrschaft zweier souveräner Gebieter – Leid und

Freude – gestellt.“ Formulieren Sie, was Bentham damit gemeint hat. (Abschnitt 1)

2) Was versteht Bentham unter dem „Prinzip der Nützlichkeit“? (Abschnitt 2)

3) Erläutern Sie den Bentham’schen Gebrauch des Wortes „Nützlichkeit“. (Abschnitte 3 bis 5)

4) Welche Schlussfolgerungen leitet Bentham aus dem Gesagten ab? (Abschnitte 6 bis 8)

5) Wann ist Bentham zufolge jemand ein Anhänger des Utilitarismus? (Abschnitte 9 und 10)

Page 6: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

M 4: Welche Ziele werden mit Freude und Leid in der Gesellschaft angestrebt?

1. Es wurde gezeigt, dass das Glück der Individuen, aus denen

eine Gemeinschaft besteht – [...] das einzige Ziel ist, das der

Gesetzgeber vor Augen haben sollte; der einzige Maßstab,

dem gemäß der Gesetzgeber [...] – jedes Individuum dazu

bringen soll, sein Verhalten an ihm auszurichten. Doch ob

nun dieses oder etwas anderes zu tun ist – es gibt nichts,

wodurch jemand letzten Endes dazu gebracht werden

kann, es zu tun, außer Leid oder Freude.

Nachdem wir einen allgemeinen Überblick [...] über Freude

und [...] Freisein von Leid in ihrer Eigenschaft als

Zielursache gewonnen haben, wird es nötig sein, einen

Überblick über Freude und Leid in ihrer Eigenschaft als

Wirkursachen oder Mittel zu gewinnen.

2. Es lassen sich vier Ursprünge unterscheiden, aus denen sich Freude und Leid gewöhnlich herleiten; wenn

man sie getrennt erörtert, kann man vom physischen, vom politischen vom moralischen und vom

religiösen Ursprung sprechen; und insofern die zu jedem Ursprung gehörenden Freuden und Leiden

jedem Gesetz bzw. jeder Verhaltensregel eine verbindende Kraft zu geben vermögen, kann man sie

insgesamt als Sanktionen bezeichnen.

3. Wenn Freude oder Leid im gegenwärtigen Leben und aus dem gewöhnlichen Naturablauf vorhanden

sind oder erwartet werden, also weder durch den willentlichen Eingriff eines menschlichen Wesens noch

durch einen außergewöhnlichen Eingriff eines höheren unsichtbaren Wesens absichtlich verändert sind,

kann man sagen, sie gingen aus der physischen Sanktion hervor oder gehörten zu ihr.

4. Wenn vonseiten einer einzelnen Person oder einer Gruppe von Personen in der Gemeinschaft, die unter

solchen Namen, die dem des Richters entsprechen, zu dem besonderen Zweck gewählt worden sind,

Freude und Leid gemäß dem Willen des Herrschers oder der höchsten Herrschaftsmacht im Staat zu

verteilen, kann man sagen, sie gingen aus der politischen Sanktion hervor.

5. Wenn vonseiten solcher Zufallspersonen in der Gemeinschaft, mit denen die infrage stehende Partei im

Verlauf ihres Lebens zufällig zu tun hat, Freude und Leid gemäß der unmittelbaren Neigung, nicht aber

gemäß einer feststehenden oder gemeinsamen Regel verteilt werden, kann man sagen, sie gingen aus

der moralischen oder vom Volk gut geheißenen Sanktion hervor.

6. Wenn direkt vonseiten eines höheren unsichtbaren Wesens Sanktionen ausgehen, kann man sagen,

Freude und Leid gingen aus der religiösen Sanktion hervor.

7. Bei Freuden und Leiden, von denen man annehmen kann, dass sie aus physischen, politischen oder

moralischen Sanktionen hervorgehen, muss man [...] erwarten, dass sie [...] im gegenwärtigen Leben

erfahrbar sind; bei Freuden oder Leiden dagegen, von denen man annehmen kann, dass sie aus der

religiösen Sanktion hervorgehen, kann man erwarten, dass sie im gegenwärtigen oder in einem

zukünftigen Leben erfahren werden.

Bild: Jeremy Bentham. dpa/picture-alliance.

Page 7: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

8. Die im gegenwärtigen Leben erfahrbaren Freuden und Leiden können natürlich nur von der Art sein, für

die die menschliche Natur im Verlauf des gegenwärtigen Lebens empfänglich ist. [...] Was also diese

anbelangt, [...] so unterscheiden sich diejenigen, die zu einer dieser Sanktionen gehören, der Art nach

letztlich nicht von denen, die zu einer der anderen drei gehören; der einzige Unterschied zwischen ihnen

liegt in den Umständen, die ihr Hervorbringen begleiten.

Ein Leid, das jemandem im natürlichen und spontan erfolgenden Ablauf der Dinge zustößt, wird zum

Beispiel als ein Unglück bezeichnet; sofern man annehmen muss, dass es ihm durch eigene Unklugheit

zustößt, kann es als Strafe bezeichnet werden, die sich aus der physischen Sanktion ergibt.

Nun ist dieses gleiche Leid, wenn es durch Gesetz zugefügt wird, das, was man gewöhnlich Strafe nennt.

Wenn sich jemand eine solche Strafe aus Mangel an jeder freundschaftlichen Hilfe zuzieht, durch die

das Fehlverhalten [...] unterblieben wäre, so handelt es sich um eine Strafe, die sich aus der moralischen

Sanktion ergibt; wenn durch den unmittelbaren Eingriff einer besonderen Fügung, so handelt es sich um

eine Strafe, die sich aus der religiösen Sanktion ergibt.

9. Die Güter von jemandem oder er selbst werden durch Feuer vernichtet. Wenn ihm dies aufgrund dessen

zugestoßen ist, was man einen Unfall nennt, so war es ein Unglück; wenn aufgrund seiner eigenen

Unklugheit, [...] kann man es als Strafe der physischen Sanktion bezeichnen; wenn es ihm aufgrund des

Urteils von Staatsbeamten zugestoßen ist, so handelt es sich um eine Strafe, die zur politischen Sanktion

gehört, [...] wenn in Ermangelung jeder Hilfe, die ihm sein Nachbar aus Abneigung gegenüber seinem

moralischen Charakter verweigert, handelt es sich um eine Strafe der moralischen Sanktion; wenn durch

einen unmittelbaren Akt des Unwillens Gottes, der durch eine von ihm begangene Sünde [...]

hervorgerufen wurde, wie sie von der Furcht vor solchem Unwillen bewirkt werden, handelt es sich um

eine Strafe der religiösen Sanktion.

10. Was die zur religiösen Sanktion gehörenden Freuden und Leiden im Hinblick auf ein zukünftiges Leben

betrifft, so können wir nicht wissen, von welcher Art sie sein mögen. Sie sind unserer Beobachtung nicht

zugänglich. Während des gegenwärtigen Lebens sind sie nur ein Gegenstand der Erwartung, und ob

diese Erwartung sich nun von einer natürlichen oder einer geoffenbarten Religion herleitet: von der

besonderen Art Freude oder Leid können wir uns keine Vorstellung machen, sofern sie von der

verschieden ist, die unserer Beobachtung zugänglich ist. [...]

11. Von diesen vier Sanktionen ist die physische [...] im Ganzen genommen die Grundlage der politischen

und der moralischen Sanktion, und ebenso der religiösen [...]. Sie ist in jeder der drei anderen

eingeschlossen. [...] Keine von diesen kann ohne sie wirksam werden. Kurz, die Kräfte der Natur

vermögen durch sich selbst wirksam zu sein; doch sowohl die Staatsbeamten als auch die Menschen

[und auch Gott] [...] können nur durch die Kräfte der Natur wirksam werden.

Aus: Bentham, Jeremy: „Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzesgebung“. In: Höffe, Otfried (Hrsg.): Einführung in die utilitaristische Ethik. Klassische und zeitgenössische Texte. UTB 1683, A. Francke Verlag, Tübingen 1992, S. 55–83, S. 74–79.

Aufgaben (M 4):

1) Welche Ziele werden mit Freude und Leid in der Gesellschaft angestrebt? (Abschnitt 1)

2) Welche Sanktionen unterscheidet Bentham? (Abschnitte 2, 3, 4, 5, 6, 7 und 11)

3) Führen Sie Beispiele für die unterschiedlichen Formen der Sanktionen an (Abschnitte 8, 9, und

10).

Page 8: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

M 5: Wie misst man den Wert an Freude oder Leid?

1. Freuden und das Vermeiden von Leiden sind also die Ziele,

die der Gesetzgeber im Auge hat. [...] Freuden und Leiden

sind die Instrumente, mit denen er umzugehen hat. [...]

2. Wenn man einen Menschen für sich betrachtet, so ist für ihn

der Wert einer Freude oder eines Leids [...] gemäß den vier

folgenden Umständen größer oder geringer. [...]

a) der Intensität,

b) der Dauer,

c) der Gewissheit oder Ungewissheit,

d) der Nähe oder Ferne einer Freude oder eines Leids.

3. Diese Umstände müssen in Betracht gezogen werden, wenn man eine Freude oder ein Leid jeweils

für sich beurteilt. Wenn man aber den Wert einer Freude oder eines Leids betrachtet, um die Tendenz

einer Handlung zu beurteilen, durch die Freude oder Leid hervorgebracht wird, müssen zwei weitere

Umstände berücksichtigt werden, nämlich

e) die Folgenträchtigkeit der Freude oder des Leids oder die Wahrscheinlichkeit, dass auf sie

Empfindungen von derselben Art folgen […];

f) die Reinheit der Freude oder des Leids oder die Wahrscheinlichkeit, dass auf sie nicht

Empfindungen von entgegengesetzter Art folgen. [...]

Diese beiden letzten Umstände kann man jedoch streng genommen kaum für Eigenschaften von

Freude oder Leid selbst halten; streng genommen dürfen sie daher nicht zur Bestimmung des Werts

dieser Freude oder jenes Leids herangezogen werden. Man darf sie [...] nur für Eigenschaften der

Handlung oder eines sonstigen Ereignisses halten, durch die solche Freud oder solches Leid

hervorgebracht worden ist, und entsprechend dürfen sie nur zur Bestimmung der Tendenz einer

solchen Handlung oder eines solchen Ereignisses herangezogen werden.

4. Für eine Anzahl von Personen wird der Wert einer Freude oder eines Leids [...], gemäß sieben

Umständen größer oder kleiner sein: das sind die sechs vorigen, nämlich

a) die Intensität,

b) die Dauer,

c) die Gewissheit oder Ungewissheit,

d) die Nähe oder Ferne,

e) die Folgenträchtigkeit,

f) die Reinheit einer Freude oder eines Leids. Hinzu kommt ein weiterer Umstand, nämlich

g) das Ausmaß, das heißt die Anzahl der Personen, auf die Freude oder Leid sich erstrecken oder (mit

anderen Worten) die davon betroffen sind.

5. Wenn man also die allgemeine Tendenz einer Handlung, durch die die Interessen einer Gemeinschaft

betroffen sind, genau bestimmen will, verfahre man folgendermaßen. Man beginne mit einer der

Personen [...] und bestimme:

a) den Wert jeder erkennbaren Freude, die von der Handlung in erster Linie hervorgebracht zu sein

scheint;

b) den Wert jeden Leids, das von ihr in erster Linie hervorgebracht zu sein scheint;

c) den Wert jeder Freude, die von ihr in zweiter Linie hervorgebracht zu sein scheint. Dies begründet

die Folgenträchtigkeit der ersten Freude und die Unreinheit des ersten Leids;

Bild: Jeremy Bentham. dpa/picture-alliance.

Page 9: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

d) den Wert jeden Leids, das von ihr in zweiter Linie anscheinend hervorgebracht wird. Dies

begründet die Folgenträchtigkeit des ersten Leids und die Unreinheit der ersten Freude.

e) Man addiere die Werte aller Freuden auf der einen und die aller Leiden auf der anderen Seite.

Wenn die Seite der Freude überwiegt, ist die Tendenz der Handlung im Hinblick auf die Interessen

dieser einzelnen Person insgesamt gut; überwiegt die Seite des Leids, ist ihre Tendenz insgesamt

schlecht.

f) Man bestimme die Anzahl der Personen, deren Interessen anscheinend betroffen sind, und

wiederhole das oben genannte Verfahren im Hinblick auf jede von ihnen. Man addiere die Zahlen,

die den Grad der guten Tendenz ausdrücken, die die Handlung hat – und zwar in Bezug auf jedes

Individuum, für das die Tendenz insgesamt gut ist; das gleiche tue man in Bezug auf jedes

Individuum, für das die Tendenz insgesamt schlecht ist.

Man ziehe die Bilanz. Befindet sich das Übergewicht auf der Seite der Freude, so ergibt sich daraus

für die betroffene Gesamtzahl oder Gemeinschaft von Individuen eine allgemein gute Tendenz der

Handlung; befindet es sich auf der Seite des Leids, ergibt sich daraus für die gleiche Gemeinschaft

eine allgemein schlechte Tendenz.

6. Es kann nicht erwartet werden, dass dieses Verfahren vor jedem moralischen Urteil und vor jeder

gesetzgebenden oder richterlichen Tätigkeit streng durchgeführt werden sollte. Es mag jedoch immer

im Blick sein, [...] desto mehr wird sich ein solches Verfahren dem Rang eines exakten Verfahrens

annähern.

7. Das gleiche Verfahren lässt sich ebenso auf Freude und Leid anwenden [...]: auf Freude, ob sie nun

Gutes genannt wird (das eigentlich die Ursache oder das Instrument der Freude ist), Gewinn (der

entfernte Freude oder die Ursache oder das Instrument entfernter Freude ist), Annehmlichkeit oder

Vorteil, Wohltat, Vergütung, Glück und so fort; auf Leid, ob es nun Schlechtes genannt wird (was dem

Guten entspricht), Unheil, Unannehmlichkeit, Nachteil, Verlust oder Unglück und so fort.

8. Auch ist dies keine neue und ungerechtfertigte oder gar nutzlose Theorie. In all dem ist nichts anderes

enthalten als das, dem die Handlungsweise der Menschen, wo immer sie sich über ihr Interesse im

Klaren sind, vollkommen entspricht. Wodurch ist ein Stück Eigentum, zum Beispiel der Besitz eines

Grundstücks wertvoll? Durch die Freuden aller Art, die es bei einem Menschen bewirkt, und [...] durch

die Leiden aller Art, vor denen es ihn bewahrt.

Aus: Bentham, Jeremy: „Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzesgebung“. In: Höffe, Otfried (Hrsg.): Einführung in die utilitaristische Ethik. Klassische und zeitgenössische Texte. UTB 1683, A. Francke Verlag, Tübingen 1992, S. 55–83, S. 79–82.

Aufgaben (M 5):

1) Welche Ziele hat der Gesetzgeber im Auge, und worin bestehen sie? (Abschnitt 1) 2) Wie wird der Wert einer Freude ermittelt? (Abschnitte 2 bis 6)

a. ... für eine einzelne Person (Abschnitte 2 und 3) b. ... für eine Anzahl von Personen (Abschnitt 4) c. ... für eine Gemeinschaft (Abschnitt 5)

3) Wenden Sie das Bentham’schen Kalkül auf die Gedankenexperimente in M 2 an. Diskutieren

Sie, ob die untersuchte Handlung im Sinne Benthams moralisch als richtig oder falsch

bezeichnet werden kann oder muss.

4) In welchen Gewändern können Freude und Leid auftreten? (Abschnitt 7) 5) Wodurch wird Eigentum wertvoll? (Abschnitt 8)

Page 10: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

M 6: Otfried Höffe: Kritik am Bentham'schen Kalkül

Entwickelt wird der hedonistische Kalkül im spätfeudalen und frühkapitalistischen England. Angesichts der damals bestehenden Konzentration von Macht und Reichtum in den Händen einer dünnen Schicht Privilegierter enthält die in das Kalkül übersetzte demokratische Maxime, jeden ohne Unterschied gleich zu berücksichtigen, Benthams Diktum „everybody to count for one, and nobody to count for more than one“, eine geradezu revolutionäre Gesellschaftskritik. 5

Bentham und die sich an ihn anschließende politische Gruppe, die „Philosophical Radicals“, können auch stolz darauf sein, eine Reihe von bemerkenswerten sozialen und politischen Reformen mitverantwortet zu haben. Der nur allzu berechtigte gesellschaftskritische Impuls verbindet sich im Kalkül allerdings mit der denn doch naiven Vorstellung, die nötigen sozialen und politischen Reformen quantitativ exakt bestimmen zu können. 10

Bei einer kritischen Betrachtung des Kalküls fällt auf, dass schon eine präzise Bestimmung des Begriffs „Betroffener“ fehlt: Wie soll man die direkt Betroffenen im Verhältnis zu den indirekt Betroffenen, wie die nachfolgenden Generationen im Vergleich zur gegenwärtigen Generation bewerten?

Eine grundlegende Schwierigkeit besteht in dem stillschweigend angesetzten Postulat der Messbarkeit und Vergleichbarkeit aller Gratifikationen. Das von Bentham vorgeschlagene Verfahren der Addition und 15

Subtraktion von Gratifikationswerten setzt nämlich eine gemeinsame Maßeinheit von Freude und Schmerz voraus. Ohne ihre Hilfe lassen sich die Gratifikationswerte nicht numerisch angeben und ohne eine numerische Angabe überhaupt nicht addieren oder subtrahieren. Die Annahme einer solchen Maßeinheit muss aber selbst in dem einfachsten, dem wirtschaftlichen Bereich als hoffnungslos realitätsfremd gelten.

Ferner setzt der Kalkül voraus, dass die Basis der Kalkulation, die Bedürfnisse und Interessen der 20

Betroffenen, schon jeweils hinreichend genau bekannt ist. Wie die Basis bestimmt werden soll, wird im Verlauf der Darstellung des Kalküls nicht deutlich. In dem wirtschaftswissenschaftlichen Essay In Defense of Usury (1787) glaubt Bentham, jeder könne seine eigenen Interessen am besten selbst beurteilen. Tatsächlich können die eigenen Urteile über die Interessen durch kognitive, emotionale und soziale Täuschungen vielfach gebrochen und verzerrt sein. 25

Ohne komplizierte Prozesse des Verstehens, Beurteilens und auch der Kritik der eigenen Interessen – eine Aufgabe, die für Bentham gar nicht in den Blick kommt – lässt sich die Basis der Kalkulation nicht angemessen bestimmen.

Überdies ist es kaum sinnvoll, auf alle Interessen in gleicher Weise einzugehen. Denn dann müsste man unsoziale Interessen: die exzentrischen und fanatischen Intentionen sowie die verschiedenen Formen von 30

Neid, Eitelkeit und Herrschsucht, von Aggression, Destruktion und Sadismus, mit gleichem Gewicht berücksichtigen wie die sozial indifferenten; und die sozial engagierten Interessen, Notleidenden zu helfen oder Andersdenkende zu tolerieren, bekämen auch nur dasselbe Gewicht.

Aus: Höffe, Otfried: „Einleitung“. In: Höffe, Otfried (Hrg.): Einführung in die utilitaristische Ethik. Klassische und zeitgenössische Texte, UTB 1683, A. Francke Verlag, Tübingen 1992, S. 7–51, S. 19–21.

Aufgaben (M 6):

1) Fertigen Sie eine Mind-Map an, durch die die Kritikpunkte an Bentham deutlich werden.

2) Diskutieren Sie, ob die Kritikpunkte, die Höffe äußert, gerechtfertigt sind.

Page 11: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

M 7: John Stuart Mill: Qualität ist der Quantität vorzuziehen

Die Auffassung, für die die Nützlichkeit oder das Prinzip des größten Glücks die Grundlage der Moral ist, besagt, dass Handlungen [...] in dem Maße moralisch richtig sind, als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken. Unter Glück (happiness) ist dabei Lust (pleasure) und das Freisein von Unlust (pain), unter Unglück (unhappiness) Unlust und das Fehlen von Lust zu verstehen. 5

Damit die von dieser Theorie aufgestellte Norm deutlich wird, muss freilich noch einiges mehr gesagt werden, insbesondere darüber, was die Begriffe Lust und Unlust einschließen sollen und inwieweit dies von der Theorie offengelassen wird. Aber solche zusätzlichen Erklärungen ändern nichts an der Lebensauffassung, auf der diese Theorie der Moral wesentlich beruht: dass Lust und das Freisein von Unlust die einzigen Dinge sind, die als Endzwecke wünschenswert sind, und dass alle anderen 10

wünschenswerten Dinge [...] entweder deshalb wünschenswert sind, weil sie selbst lustvoll sind oder weil sie Mittel sind zur Beförderung von Lust und zur Vermeidung von Unlust.

Eine solche Lebensauffassung stößt bei vielen Menschen [...] auf eingewurzelte Abneigung. Der Gedanke, dass das Leben [...] keinen höheren Zweck habe als die Lust, [...] erscheint ihnen im äußersten Grade niedrig und gemein; als eine Ansicht, die nur der Schweine würdig wäre, mit denen die Anhänger Epikurs 15

ja schon sehr früh verächtlich gleichgesetzt wurden. [...]

Auf Angriffe dieser Art haben die Epikureer stets geantwortet, dass nicht sie, sondern ihre Ankläger es sind, die die menschliche Natur in entwürdigendem Lichte erscheinen lassen, da die Anklage ja unterstellt, dass Menschen keiner anderen Lust fähig sind als der, deren auch Schweine fähig sind. [...]

Die Anerkennung der Tatsache, dass einige Arten der Freude wünschenswerter und wertvoller sind als 20

andere, ist mit dem Nützlichkeitsprinzip durchaus vereinbar. Es wäre unsinnig anzunehmen, dass der Wert einer Freude ausschließlich von der Quantität abhängen sollte, wo doch in der Wertbestimmung aller anderen Dinge neben der Quantität auch die Qualität Berücksichtigung findet.

Fragt man mich nun, was ich meine, wenn ich von der unterschiedlichen Qualität von Freuden spreche, und was eine Freude [...] wertvoller als eine andere macht, so gibt es nur eine mögliche Antwort: von 25

zwei Freuden ist diejenige wünschenswerter, die von allen oder nahezu allen, die beide erfahren haben [...], entschieden bevorzugt wird.

Wird die eine von zwei Freuden von denen, die beide kennen und beurteilen können, so weit über die andere gestellt, dass sie sie auch dann noch vorziehen, wenn sie wissen, dass sie größere Unzufriedenheit verursacht, und sie gegen noch so viele andere Freuden, die sie erfahren könnten, nicht eintauschen 30

möchten, sind wir berechtigt, jener Freude eine höhere Qualität zuzuschreiben, die die Quantität so weit übertrifft, dass diese im Vergleich nur gering ins Gewicht fällt.

Es ist nun aber eine unbestreitbare Tatsache, dass diejenigen, die mit beiden gleichermaßen bekannt und für beide gleichermaßen empfänglich sind, der Lebensweise entschieden den Vorzug geben, an der auch ihre höheren Fähigkeiten beteiligt sind. Nur wenige Menschen würden darein einwilligen, sich in eines 35

der niederen Tiere verwandeln zu lassen, wenn man ihnen verspräche, dass sie die Befriedigungen des Tiers im vollen Umfange auskosten dürften. [...]

[...] Ein höher begabtes Wesen verlangt mehr zu seinem Glück, ist wohl auch größeren Leidens fähig und ihm sicherlich in höherem Maße ausgesetzt als ein niederes Wesen; aber trotz dieser Gefährdungen wird es niemals in jene Daseinsweise absinken wollen, die es als niedriger empfindet. 40

Wir mögen dieses Widerstreben erklären, wie wir wollen: wir mögen es dem Stolz zuschreiben [...] ; wir mögen es der Freiheitsliebe und dem Streben nach Unabhängigkeit zuschreiben, [...]; der Liebe zur Macht und zur begeisterten Erregtheit, die beide darin enthalten sind. Aber am zutreffendsten wird es als ein Gefühl der Würde beschrieben, das allen Menschen in der einen oder anderen Weise [...] eigen ist und das für die, bei denen es besonders stark ausgeprägt ist, einen so entscheidenden Teil ihres Glücks 45

Page 12: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

ausmacht, dass sie nichts, was mit ihm unvereinbar ist, länger als nur einen Augenblick lang zu begehren imstande sind. […]

Es ist unbestreitbar, dass ein Wesen mit geringerer Fähigkeit zum Genuss die besten Aussichten hat, voll zufriedengestellt zu werden; während ein Wesen von höheren Fähigkeiten stets das Gefühl haben wird, dass alles Glück, das es von der Welt, so wie sie beschaffen ist, erwarten kann, unvollkommen ist. 50

Aber wem diese Unvollkommenheiten überhaupt nur erträglich sind, kann es lernen, mit ihnen zu leben, statt die anderen zu beneiden, denen diese Unvollkommenheiten nur deshalb nicht bewusst sind, weil sie sich von den Vollkommenheiten keine Vorstellung machen können, mit denen diese verglichen werden. Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein, als ein zufriedengestelltes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr, und wenn der Narr oder das Schwein anderer Ansicht 55

sind, dann deshalb, weil sie nur die eine Seite der Angelegenheit kennen. Die andere Partei hingegen kennt beide Seiten. [...]

Darüber, welche von zwei Befriedigungen es sich zu verschaffen am meisten lohnt oder welche von zwei Lebensweisen ungeachtet ihrer moralischen Eigenschaften und ihrer Folgen dem menschlichen Empfinden am meisten zusagt, kann nur das Urteil derer, die beide erfahren haben, oder, wenn sie 60

auseinandergehen sollten, das der Mehrheit unter ihnen als endgültig gelten.

Und wir dürfen umso weniger zögern, ihr Urteil über die Qualität einer Befriedigung zu akzeptieren, als wir uns selbst hinsichtlich der Quantität auf keinen anderen Richtspruch berufen können. Was anders sollte darüber entscheiden, welche von zwei Schmerzempfindungen die heftigste oder welche von zwei lustvollen Empfindungen die intensivste ist, als das Mehrheitsvotum derer, denen beide vertraut sind? 65

Angenehme und unangenehme Empfindungen sind unter sich sehr ungleichartig, und Unlust ist stets von anderer Art als Lust. Welche andere Instanz als das Empfindungs- und Urteilsvermögen der Erfahrenen sollte uns sagen können, ob es sich auszahlt, für eine bestimmte angenehme Empfindung eine bestimmte unangenehme Empfindung in Kauf zu nehmen? Wenn diese aber nun erklären, dass die aus den höheren Fähigkeiten erwachsenden Freuden der Art nach – ungeachtet ihrer Intensität – 70

denen vorzuziehen sind, deren die tierische Natur ohne die höheren Fähigkeiten fähig ist, dann verdienen sie auch in dieser Frage unsere volle Beachtung. [...]

Ich muss noch einmal auf das zurückkommen, was die Gegner des Utilitarismus nur selten zur Kenntnis nehmen wollen: dass das Glück, das den utilitaristischen Maßstab des moralisch richtigen Handelns darstellt, nicht das Glück des Handelnden selbst, sondern das Glück aller Betroffenen ist. Der Utilitarismus 75

fordert von jedem Handelnden, zwischen seinem eigenen Glück und dem der anderen mit ebenso strenger Unparteilichkeit zu entscheiden wie ein unbeteiligter und wohlwollender Zuschauer.

In der goldenen Regel, die Jesus von Nazareth aufgestellt hat, finden wir den Geist der Nützlichkeitsethik vollendet ausgesprochen. Die Forderungen, sich dem andern gegenüber so zu verhalten, wie man möchte, dass er sich einem selbst gegenüber verhält, und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, stellen 80

die utilitaristische Moral in ihrer höchsten Vollkommenheit dar.

Um sich diesem Ideal so weit wie möglich anzunähern, fordert das Nützlichkeitsprinzip erstens, dass Gesetze und gesellschaftliche Verhältnisse das Glück oder [...] die Interessen jedes Einzelnen so weit wie möglich mit dem Interesse des Ganzen in Übereinstimmung bringen; und zweitens, dass Erziehung und öffentliche Meinung, [...], [ihren] Einfluss dazu verwenden, in der Seele jedes Einzelnen eine 85

unauflösliche gedankliche Verknüpfung herzustellen zwischen dem eigenen Glück und dem Wohl des Ganzen und insbesondere zwischen dem eigenen Glück und der Gewohnheit, so zu handeln, wie es die Rücksicht auf das allgemeine Glück gebietet.

Aus: Mill, John Stuart: Der Utilitarismus. Übersetzt, mit Anmerkungen versehen und Nachwort von Dieter Birnbacher. UB 9821, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1985, S. 13/14; S. 15–18; S. 19/20; S. 30/31.

Page 13: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

Aufgaben (M 7)

1) Bestimmen Sie „das Prinzip des größten Glücks“ nach Mill. (Z. 1 bis 13)

2) Wie rechtfertigt Mill den Utilitarismus? (Z. 14 bis 36)

3) Wieso kommt Mill zu der Überzeugung, dass es besser ist, ein unzufriedener Mensch als ein

zufriedengestelltes Schwein zu sein? (Z. 37 bis 80)

4) Zeigen Sie, dass Mill zufolge das Glück der utilitaristische Maßstab des moralisch richtigen

Handelns ist. (Z. 82 bis 98)

Page 14: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

M 8: Ernst Tugendhat: Die drei größten Probleme des Utilitarismus

Bei [...] [Hutcheson] findet sich das Prinzip des Utilitarismus zum ersten Mal ausgesprochen: „diejenige Handlung ist die beste, die das größte Glück für die größte Zahl herbeiführt.“ [...]

Hutcheson stellt an der zitierten Stelle eine gewichtige Frage [...]: wie verhalten wir uns moralisch am besten, wenn wir vor mehreren Handlungsalternativen stehen, von denen mehrere Personen positiv oder negativ betroffen sind? [...] Wenn wir [...] darauf reflektieren, was aus ihrem Beurteilungsprinzip – der 5

unparteilichen Berücksichtigung aller Interessen – für sie folgt, so kann man mindestens dieses allgemeine Prinzip nennen: Die Interessen aller sind gleichmäßig zu berücksichtigen, darauf haben sie ein „Recht“. [...]

[Aber] dass alle aus der Perspektive des unparteiischen Beobachters ein gleiches Recht auf prinzipielle Berücksichtigung haben, heißt nicht, dass ich bei einer konkreten Frage, wie ich mit Bezug auf mehrere zu handeln habe, sie gleich behandeln muss, vielmehr ergeben sich hier auch Unterscheidungsperspektiven, 10

die jedoch solche sind, die sich auf das Prinzip der Unparteilichkeit aufbauen und sich im Ergebnis wiederum vom Prinzip der größten Glücksmenge unterscheiden.

Ich will besonders auf drei Fallgruppen aufmerksam machen, die den Utilitaristen notorisch Schwierigkeiten bereiten. Die erste ist die der sogenannten speziellen verliehenen Rechte, wenn z. B. ein Vertrag besteht oder ein Versprechen gegeben wurde. Dieser Anspruch kann natürlich durch andere Rücksichten 15

aufgehoben werden, aber er besteht zunächst, während der konsequente Utilitarismus immer bereit sein müsste, ein Versprechen zu brechen, wenn das insgesamt zu mehr Glück führt.

Die zweite Fallgruppe ist die der Beziehungen von Nähe und Ferne, in denen wir zueinander stehen. Auch hier können wir von Rechten sprechen. Mein Kind hat ein Recht auf meine Fürsorge, die andere nicht haben. Wir sind daher, durchaus aus der Perspektive des unparteiischen Beobachters, den Nahestehenden zu 20

anderen Handlungen verpflichtet als den Fernstehenden, und diese Verpflichtung besteht wieder unabhängig von dem Gesamtnutzen, der sich daraus ergibt.

Drittens scheinen die negativen Pflichten [...] einen größeren Stellenwert zu haben als die positiven [...]. Auch das kann man in der Terminologie von Rechten zum Ausdruck bringen. Der Arzt, der fünf seiner Patienten mit Organschäden retten will, hat nicht das Recht, einen sechsten gesunden Insassen seines 25

Spitals auseinanderzuschneiden, obwohl er es nach dem utilitaristischen Prinzip müsste, denn der Gesamtschaden wäre geringer, wenn fünf am Leben blieben und nur einer umkäme.

Aus: Tugendhat, Ernst: Vorlesungen über Ethik, stw 1100, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1997, S. 323–325.

Aufgaben (M 8):

1) Welches Beurteilungskriterium leitet Tugendhat aus dem von Hutcheson formulierten

utilitaristischen Prinzip ab? (Z. 1 bis 14)

2) Welche Fallgruppen machen den Utilitaristen besondere Schwierigkeiten? (Z. 15 bis 32)

3) Erläutern Sie die einzelnen Fallgruppen und prüfen Sie sie auf ihre Plausibilität.

Page 15: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

M 9: Richard Osborne: In der Praxis funktioniert der Utilitarismus nicht

Aus: Osborne, Richard: Philosophie. Eine Bildergeschichte für Einsteiger. Illustrationen von Edney Ralph, übersetzt von Brinkmeier, Birger. Wilhelm Fink Verlag, München 1996, S. 139.

Aufgaben (M 9):

1) Warum funktioniert der Utilitarismus nach Osborne in der Praxis nicht? Formulieren Sie seine

Kritikpunkte in eigenen Worten.

2) Haben Sie eine Idee, wie man feststellen könnte, wer glücklich ist und wer nicht?

3) Nehmen Sie Stellung zu der Behauptung: Wenn man Teil einer Minderheit ist, die unterdrückt werden muss, um die Mehrheit glücklich zu machen, so kann das ganz schön lästig werden.

4) Vergleichen Sie Osbornes Kritik am Utilitarismus mit derjenigen von Tugendhat.

Page 16: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

M 10: Monika Sänger: Was leistet die utilitaristische Argumentationsweise?

Der Utilitarismus bietet besonders für pluralistische Gesellschaften elementare Regeln oder Grundnormen an, die allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen und die weder rein rational noch rein empirisch sind:

1. Er versucht, durch rationale Reflexion und mit wissenschaftlichen Mitteln allgemein verbindliche

Normen zu begründen, ohne sich auf politische oder religiöse Traditionen zu berufen (normative Ethik).

2. Er betont die Notwendigkeit empirischer Kenntnisse für die Normenbegründung, d. h. Kenntnisse über

die Folgen für das Wohlergehen der Betroffenen; als Maßstab dient ihm das außermoralisch Gute, das

Nützliche (Utilität).

3. Das universalistische Prinzip, das das Wohlergehen aller Betroffenen fordert, impliziert die Forderung

nach einem minimalen sozialen Engagement (Sozialpragmatik).

4. Die einheitliche Grundformel weist den Utilitarismus als teleologische Argumentationsweise aus:

Diejenigen Handlungen bzw. Handlungsregeln sind moralisch richtig, deren Folgen

(konsequentialistisches Prinzip) für das Wohlergehen (hedonistisches Prinzip) aller Betroffenen

(universalistisches Prinzip) optimal sind (Utilitätsprinzip).

Seine Anwendung bereitet aber unvorhergesehene Schwierigkeiten: A verspricht seinem kleinen Sohn ein Fahrrad zu Weihnachten, wenn er sich in der Schule in Zukunft besonders anstrenge. Das Fahrrad ist aber bereits gekauft. Der Sohn zeigt gemäß seinem Versprechen eine geringfügige Besserung seiner Schulleistungen. – Rechtfertigt diese Folge aber die Lüge des Vaters?

Deontologisch argumentiert, dürfte er nicht lügen. Die direkte Folge der Leistungsverbesserung würde die Lüge rechtfertigen. Die indirekten Folgen für die Erziehung würden sie wiederum verbieten, während der konsequente Utilitarist durchaus nützliche Lügen kennt. Deshalb hat schon J. S. Mill zur Orientierung an allgemeinen Regeln geraten.

Dabei unterschied er konkrete Regeln, die für eine Einzelhandlung unmittelbare Nützlichkeit fordern, und allgemeine Regeln, die mittelbare Nützlichkeit für ganze Klassen von Handlungen fordern. Die allgemeine Regel der Wahrheitsliebe hat zwar das größere gesellschaftliche Wohlergehen zur Folge, kann aber im Einzelfall Ausnahmen zulassen.

Der moderne Utilitarismus setzt sich vor allem mit dem Problem auseinander, dass wir die Folgen unseres Handelns nicht mit Gewissheit voraussagen können. Diese Problematik führte zur zentralen Unterscheidung des extremen oder eingeschränkten bzw. Handlungs- oder Regelutilitarismus.

Nach dem Handlungsutilitarismus hängt die Richtigkeit einer Handlung nur von dem vollständigen Gutsein ihrer Konsequenzen ab. Schon Mill hatte erkannt, dass für eine gründliche Abschätzung in aller Regel nicht genügend Zeit bleibt. [...]

Faustregeln sind verletzbare Regeln, sie sollen die Abschätzung der Gesamtfolgen der jeweiligen Handlung in bestimmten Fällen ersparen. In ihnen schlägt sich aufgrund der Ähnlichkeit vieler Handlungssituationen und deren utilitaristischer Beurteilung eine kumulative Erfahrung nieder. Eine Handlung bleibt aber moralisch richtig, weil sie das Wohlergehen aller Betroffenen fördert, und nicht, weil sie einer Faustregel entspricht.

Das Universalisierungsprinzip (was wäre, wenn jeder so handelte?) wird von den Utilitaristen denn auch in unterschiedlicher Weise ausgelegt [...]. Der Handlungsutilitarismus interpretiert kausal, denn es sind die tatsächlich zu erwartenden Folgen zu berücksichtigen. Der Regelutilitarismus liefert dagegen eine hypothetische Interpretation, bei der es um die Folgen geht, die sich gemäß einer – meist nicht zutreffenden – Annahme einstellen.

Auch für den Regelutilitarismus bleibt das höchste Kriterium das allgemeine Wohlergehen; der Ableitungsprozess ist aber im Gegensatz zum Handlungsutilitarismus zweistufig: Um die Richtigkeit einer konkreten Handlung zu bestimmen, muss man erstens die Übereinstimmung dieser Handlung mit einer

Page 17: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

Regel und zweitens die Übereinstimmung dieser Regel mit dem Prinzip der Nützlichkeit feststellen, so dass sich zwei Formen des verallgemeinernden Regelutilitarismus ergeben:

1. Eine Handlung, die im Allgemeinen schlechte Folgen hat, ist verboten [...] [z. B. müssen entliehene

Gegenstände wieder zurückgegeben werden und dürfen nicht an Dritte weiterverschenkt werden, auch

wenn der Eigentümer den entliehenen Gegenstand nie vermissen würde].

2. Eine Handlung, deren allgemeine Ausführung schlechte Folgen hat, ist verboten [...] [z. B. wenn alle

Menschen Steuern hinterziehen würden].

Aus: Sänger, Monika: „Was leistet die utilitaristische Argumentationsweise?“. In: Ethik & Unterricht 1/1993: Utilitarismus, S. –13.

Aufgabe (M 10)

Entwerfen Sie ein Strukturbild aus dem hervorgeht, welche Kriterien für den Handlungs- und welche für den Regelutilitarismus ausschlaggebend sind.

Page 18: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

M 11: Handlungs- oder Regelutilitarismus – wo liegt da der Unterschied?

Illustration by Chris Garratt, in: Dave Robinson/Chris Garratt: Introducing Ethics, übersetzt von Jörg Peters, Icon Books: London 2008, S. 76, © mit Erlaubnis von Icon Books.

Aufgabe (M 11)

Welche der abgebildeten Personen (Person A = die Dame, mit den Ohrringen; Person B = der Pfeife rauchende Herr; Person C = der lesende Herr und Person D = die Dame, deren Rücken man sieht) befürworten einen Handlungs- und welche einen Regelutilitarismus? Belegen Sie Ihre These.

Page 19: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

M 12: Handlungs- und Regelutilitarismus – Was ist zu tun?

Stellen Sie sich folgendes Szenario vor:

Ein prominenter und beliebter Staatsmann wird in ein Krankenhaus gebracht, weil er durch die Kugel eines Mörders schwer verwundet wurde. Um überleben zu können, müssten sowohl eine Herz- als auch eine Lungentransplantation durchgeführt werden. Es stehen zurzeit jedoch keine passenden Organe zur Verfügung. 5

Auf der Intensivstation liegt ein Obdachloser, der an einer Herz-Lungen-Maschine angeschlossen ist. Er hat nur noch ein paar Tage zu leben. Er wäre ein perfekter Spender.

Die Sicherheitsmaßnahmen im Krankenhaus sind optimal. Das Transplantationsteam könnte den Tod des Obdachlosen fördern und die Transplantation vornehmen, ohne dass die Öffentlichkeit erfahren würde, dass ein Obdachloser sein Leben hat hingeben müssen. 10

Aus: Lawrence M. Hinman: Utilitarianism, Power Point Presentation. In:

http://ethics.sandiego.edu/Presentations/AppliedEthics/Theory/index.asp, S. 24. Mit freundlicher Genehmigung von Lawrence M. Hinman

Aufgaben (M 12):

1) Wie würde das Transplantationsteam handeln, wenn alle Mitglieder des Teams

Regelutilitaristen wären?

2) Was würden Handlungsutilitaristen tun?

Page 20: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

M 13: Macht sich schuldig, wer nicht handelt?

Der englische Philosoph Bernard Williams kritisiert am Utilitarismus als Konsequentialismus unter anderem, dass er keinen Unterschied macht zwischen Zuständen, die durch das, was ich tue, herbeigeführt werden, und Zuständen, die ich geschehen lasse oder nicht verhindere. Auf letztere wendet er den Begriff der negativen Verantwortlichkeit an. Zur Illustration dient ihm folgendes moralisches Dilemma:

Jim befindet sich auf dem Marktplatz einer kleinen südamerikanischen Stadt. Dort sieht er eine Reihe von 5

zwanzig Indianern, die meisten eingeschüchtert, einige trotzig, an die Wand gestellt, davor einige Bewaffnete in Uniform.

Ein vierschrötiger Mann, mit einem verschwitzten Khaki-Hemd bekleidet, ist offenbar der befehlshabende Offizier. Er erklärt Jim, dass die Indianer eine beliebig ausgewählte Gruppe von Einwohnern sind, die nach Protestaktionen gegen die Regierung erschossen werden sollen, um mögliche andere Protestierer 10

abzuschrecken.

Da Jim jedoch ein Ehrengast aus einem anderen Land ist, bietet ihm der Offizier die Tötung eines der Indianer an. Wenn Jim akzeptiert, würde er im Gegenzug die übrigen Indianer zu Ehren des Gastes freilassen. Würde Jim ablehnen, täte er das, wozu er sich gerade anschickte, als Jim eintraf, er würde alle Gefangenen töten. 15

Jim fragt sich, ob er, im Besitz einer Waffe, den Offizier und die übrigen Soldaten in Schach halten könnte. Aber die Aussichtslosigkeit dieser Überlegungen ist offensichtlich. Er liefe Gefahr, selbst den Tod zu finden – mitsamt allen Indianern.

Die Männer an der Wand ebenso wie die übrigen Dorfbewohner flehen ihn an, das Angebot zu akzeptieren.

Aus: Williams, Bernard: Kritik des Utilitarismus. Übersetzt von Wolfgang R. Köhler. Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt a. M. 1979, S. 62.

Aufgabe (M 13):

Was soll Jim Ihrer Meinung nach tun?

Page 21: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

Wenn Jim das Angebot

annimmt, dann ... Lehnt er das

Angebot ab, ...

Gäbe es Alternativen?

Macht er sich des Mordes schuldig ...

... oder ist verantwortlich für

den Tod aller!

Page 22: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“

M 14: Peter Singer: Wie bewirkt man die besten Konsequenzen für alle Beteiligten?

Der universale Aspekt der Ethik [...] versieht uns mit einem überzeugenden wiewohl nicht endgültigen Grund dafür, eine utilitaristische Position im weiteren Sinne einzunehmen.

Mein Grund für diese Behauptung ist folgender: Indem ich akzeptiere, dass moralische Urteile von einem universalen Standpunkt aus getroffen werden müssen, akzeptiere ich, dass meine eigenen Interessen nicht einfach deshalb, weil sie meine Interessen sind, mehr zählen als die Interessen von irgendjemand anders. 5

Daher muss [...] mein ganz natürliches Bestreben, dass für meine Interessen gesorgt wird, ausgedehnt werden auf die Interessen anderer. [...]

Angenommen, ich beginne so weit moralisch zu denken, dass ich erkenne, dass meine eigenen Interessen nicht einfach aus dem Grund, weil sie meine eigenen sind, mehr zählen als die Interessen anderer. Anstelle meiner eigenen Interessen habe ich nun die Interessen aller zu berücksichtigen, die von meiner 10

Entscheidung betroffen sind. Dies erfordert von mir, dass ich alle diese Interessen abwäge und jenen Handlungsverlauf wähle, von dem es am wahrscheinlichsten ist, dass er die Interessen der Betroffenen maximiert. Also muss ich den Handlungsverlauf wählen, der per saldo für alle Betroffenen die besten Konsequenzen hat.

Diese [...] Version des Utilitarismus beurteilt Handlungen nicht nach ihrer Tendenz zur Maximierung von 15

Lust und Minimierung von Leid, sondern nach dem Grad, in dem sie mit den Präferenzen der von den Handlungen oder ihren Konsequenzen betroffenen Wesen übereinstimmt. Diese Version des Utilitarismus wird manchmal als „ökonomischer Utilitarismus“ bezeichnet, [...] doch wäre „Präferenz-Utilitarismus“ eine exaktere Bezeichnung. [...]

Nach dem Präferenz-Utilitarismus ist eine Handlung, die der Präferenz irgendeines Wesens entgegensteht, 20

ohne dass diese Präferenz durch entgegengesetzte Präferenzen ausgeglichen wird, moralisch falsch. Eine Person zu töten, die es vorzieht, weiterzuleben, ist daher, gleiche Umstände vorausgesetzt, unrecht. [...]

Für Präferenz-Utilitaristen ist das Töten einer Person in der Regel schlimmer als das Töten eines anderen Wesens, weil ein Wesen, das sich nicht selbst als eine Wesenheit mit einer Zukunft sehen kann, keine Präferenz hinsichtlich seiner eigenen zukünftigen Existenz haben kann. 25

Damit wird nicht bestritten, dass ein solches Wesen gegen eine Situation ankämpfen kann, in der sein Leben in Gefahr ist, so wie ein Fisch kämpft, um sich von dem Angelhaken in seinem Maul zu befreien; aber dies bezeichnet lediglich eine Präferenz für das Aufhören eines Zustandes, der als schmerzlich oder bedrohend empfunden wird.

Kampf gegen Gefahr und Schmerz bedeutet nicht, dass der Fisch fähig ist, seine eigene künftige Existenz 30

der Nicht-Existenz vorzuziehen. Das Verhalten eines Fisches am Haken legt es nahe, Fische nicht mit dieser Methode zu töten, aber es liefert keinen präferenz-utilitaristischen Grund dagegen, Fische mit einer humanen Methode zu töten.

Aus: Singer, Peter: Praktische Ethik. Übersetzt von Wolf, Jean-Claude. UB 8033, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1984, S. 23/24, S. 112/113.

Aufgaben (M 14):

1) Wie definiert Singer Präferenzutilitarismus?

2) Erläutern Sie den Präferenzutilitarismus anhand der von Singer gegebenen Beispiele.

Page 23: Der Utilitarismus – oder: „Ist alles Nützliche auch gut?“