Der Zweite Weltkrieg - DER SPIEGEL

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der spiegel 4/1999 115 BPK AKG AKG SÜDD. VERLAG Das Jahrhundert der Kriege Der Zweite Weltkrieg Adolf Hitler wollte Europa erobern und löste einen Weltbrand aus, mit Japan als Verbündetem und Amerika als Gegner. In den sechs Kriegsjahren starben mehr Zivilisten als Soldaten. Am Ende war Deutschland zerstört und Europa geteilt – und zwei Supermächte beherrschten die Welt. Hitler mit Generälen Jodl und Keitel (1942); zerstörtes Dresden (1945); Panzer-Angriff in Rußland (1941); Roosevelt und Stalin in Jalta (1945) III. Das Jahrhundert der Kriege: 1. Der Erste Weltkrieg (3/1999); 2. Der Zweite Weltkrieg (4/1999); 3. Der Wahn der Atomrüstung (5/1999); 4. Vietnam und der Kalte Krieg (6/1999); 5. Die Kriege um Israel (7/1999); 6. Geheimdienst und Spionage (8/1999)

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III. Das Jahrhundert der Kriege: 1. Der Erste Weltkrieg (3/1999); 2. Der ZweiteWeltkrieg (4/1999); 3. Der Wahn der Atomrüstung (5/1999); 4. Vietnam und der Kalte Krieg

(6/1999); 5. Die Kriege um Israel (7/1999); 6. Geheimdienst und Spionage (8/1999)

BPK

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Hitler mit Generälen Jodl und Keitel (1942); zerstörtes Dresden (1945); Panzer-Angriff in Rußland (1941); Roosevelt und Stalin in Jalta (1945)

Das Jahrhundert der Kriege

Der Zweite WeltkriegAdolf Hitler wollte Europa erobern und löste einen Weltbrand aus,

mit Japan als Verbündetem und Amerika als Gegner.In den sechs Kriegsjahren starben mehr Zivilisten als Soldaten.

Am Ende war Deutschland zerstört undEuropa geteilt – und zwei Supermächte beherrschten die Welt.

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Das Jahrhundert der Kriege: Der Zweite WeltkriegSpie

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In Schutt und AscheVon John Lukacs

Feldherr Hitler, Vormarsch der deutschen

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War der Zweite Weltkrieg eineFortsetzung des Ersten? Ja undnein. Beide Weltkriege waren

letzte Versuche eines europäischen Staates,die Vormachtstellung auf dem Kontinent zuerringen und damit zu einer Weltmachtaufzusteigen.

Spanien hatte es im 16. Jahrhundert ver-sucht, Frankreich in der zweiten Hälfte des17. und im 18. Jahrhundert, Napoleon ver-suchte es weiter bis 1815. Im 19. Jahrhun-dert war England die stärkste Weltmacht,es trug in Europa von 1815 bis 1914 zumGleichgewicht der Kräfte bei, mit hun-dert weltkriegsfreien Jahren. Dann tratDeutschland zweimal an, 1914 und 1939.

Das heißt nicht, daß Deutschland 1914allein für den Kriegsausbruch verantwort-lich gewesen wäre. 1939 strebte Hitler zu-allererst die Vorherrschaft über Europa unddas europäische Rußland an – weniger ausBescheidenheit als aus Berechnung. Es istfraglich, ob Hitler noch an die Eroberunganderer Erdteile dachte, etwa an ein deut-sches Kolonialreich, und letztlich an eineAuseinandersetzung mit den VereinigtenStaaten.

Gewiß ist, daß eine deutsche Vorherr-schaft über ein Europa mit dem europäi-schen Rußland und in der Folge eine Dul-dung dieser Vorherrschaft durch Großbri-tannien und die USA das Dritte Reich zumWeltreich gemacht hätten, allen anderenmehr als ebenbürtig.

Hätte es ohne Adolf Hitler einen Zwei-ten Weltkrieg gegeben? Höchstwahrschein-lich nicht, gewiß nicht 1939.

Wie dem auch sei: Deutschland hatte –trotz seiner Verluste im Ersten Weltkrieg,trotz der darauffolgenden Erniedrigung

er totale Krieg Politik und Diplomatie 1

19409. April Deutsche Trubesetzen die neutraleder Norwegen und Dä

10. Mai Beginn der dschen Westoffensive

14. Juni Die Wehrmabesetzt Paris, das diezosen zur „offenen Sterklärt hatten

22. Juni Frankreich uzeichnet WaffenstillstWald von Compiègneselben Ort hatten 19Deutschen den von ihbetenen Waffenstillstabschließen müssen

1. September Um 4.45 Uhrbeginnt der deutsche Angriffauf Polen

1939

3. September Frankreichund Großbritannien erklärenDeutschland den Krieg

17. September SowjetischeTruppen marschieren in Ost-polen ein

27. September Warschaukapituliert

25. Oktober Rest-Polenwird deutsches „General-gouvernement“

23. August Deutsch-sowjetischer Nichtangriffspakt

und Gebietsverluste durch den VersaillerVertrag, trotz der Auswirkungen der Welt-wirtschaftskrise von 1929 bis 1933 – einebemerkenswerte Kraft bewiesen, schon be-vor Hitler 1933 die Macht ergriff und die-se Vitalität dann natürlich verstärkte.

Es ist anzunehmen, daß Deutschland1939 auch ohne Hitler die wichtigste MachtKontinentaleuropas geworden wäre undFrankreich in seiner dominanten Rolle er-setzt hätte. Ob daraus ein Krieg entstandenwäre, können wir nicht wissen.Wir könnennur für unwahrscheinlich halten, daß einsolcher Europakrieg zu einem Weltkriegausgeartet wäre. Weder Großbritanniennoch Amerika wären bereit gewesen, dieEinhaltung des Vertrags von Versailles miteinem neuen Krieg durchzusetzen.

Ob Deutschland für eine Vorherrschaftin Europa prädestiniert war, können wirnicht sagen. Hitler jedenfalls glaubte es.Und er konnte die Mehrheit seines Volkesüberzeugen. Dies erklärt die außerordent-lichen Erfolge der deutschen Wehrmachtund Industrie im Krieg, die sechs Jahre langdem ungeheuren Kräfteaufgebot der welt-größten Mächte widerstanden.

Ohne das deutsche Volk hätte Hitler dasnicht erreichen können. Doch diese sechsJahre eines gewissen nationalen Zusam-menhalts und der Disziplin – zwar lücken-haft und zum Teil brutal erzwungen, dochim Rückblick sehr beachtlich – waren un-denkbar ohne Hitler.

Hier liegt Hitlers besondere Verantwor-tung für den Zweiten Weltkrieg. Und hiererklärt sich auch, warum der Zweite Welt-krieg – nicht nur in seinen Ausmaßen –doch etwas anderes war als eine Fortset-zung des Ersten.

939 bis 1945

1943

24. Mai Abbschlacht im hoher U-Boo

14. bis 26. JRoosevelt unden ihre Fordgungsloser K

11. Januar Dgreifen Schifkanischen A

1942

22. Novembewird die 6. Aselt. 17000ten werden enur 5000 ke

194112. Februar Rommel über-nimmt den Befehl über diedeutschen Truppen in Nordafrika

6. April Die Wehrmacht greiftJugoslawien und Griechen-land an; der Balkanfeldzug en-det am 1. Juni mit der Beset-zung Kretas

22. Juni Deutscher Überfallauf die Sowjetunion („Unter-nehmen Barbarossa“)

7. Dezember JapanischerÜberfall auf den US-Flotten-stützpunkt Pearl Harbor

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Vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herrscht (auch unter Hi-storikern) die Tendenz zu einer Betrach-tungsweise historischer Entwicklungen, diewirtschaftliche und soziale Kräfte für vor-rangig, ja für entscheidend gegenüber derRolle von Persönlichkeiten und politischenFührern hält. Das läßt sich sicher nicht aufHitler oder den Zweiten Weltkrieg anwen-den, auch nicht, wenn man an Churchill,Roosevelt oder Stalin denkt.

Hier liegt der erste große Unterschiedzwischen 1914 und 1939. Selbst ein ent-schiedener Gegner Wilhelms II. wird nichtbehaupten, der Kaiser allein sei für den

24. Juli Alliierte Luftoffensive ge-gen deutsche Großstädte beginnt

28. November bis 1. DezemberTeheran: Roosevelt, Churchill und Sta-lin stimmen das militärische Vorgehenund die territorialen Neuregelungennach dem Ende des Krieges ab

19446. Juni Alliierte landen in derNormandie

20. Juli Attentat des deutschen Wi-derstandes gegen Hitler scheitert

8. September Erster Einsatz einerV2-Rakete gegen London

16. Dezember Beginn der letzten deut-schen Offensive. Der Vorstoß durch dieArdennen bleibt nach vier Wochen liegen

25. August Paris wird befreit

ruch der Geleitzug-Nordatlantik wegent-Verluste

anuar Casablanca:d Churchill verkün-erung nach bedin-apitulation

eutsche U-Bootefe vor der ameri-tlantikküste an

r Bei Stalingradrmee eingekes-0 deutsche Solda-ingeschlossen,hren zurück

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4. bisRooseStalinFranktigte Bnes vland wGründVereinrufen

13./1wird bgriffen

19412. JaBrücksel beOffen

H. HOEFFKE / BPK

Infanterie in Rußland (1941): Vor Moskau durch den russischen Gegenangriff gestoppt

Krieg von 1914 verantwortlich gewesen.1939 aber war es Hitler allein. Seinetwegensind die Ursachen des Zweiten Weltkriegseinfacher erklärbar als die des Ersten.

Hitlers Leistungen in den sechs Jahrenvor 1939 waren doppelter Art. Es gelangihm, die große Mehrheit des deutschenVolkes hinter sich zu bringen. Seine inlän-dischen Gegner unterschätzten seine poli-tischen Fähigkeiten, die ausländischen un-terschätzten die – oft brutalen – Ergebnis-se seiner Staatskunst.

Die Jahre 1933 bis 1939 brachten ihmfast nichts als Erfolge: Deutschland verließden Völkerbund, die mehrheitlich katholi-

11. Februar Jalta:velt, Churchill und vereinbaren, daßreich gleichberech-esatzungsmacht ei-

iergeteilten Deutsch-ird und eineungskonferenz derten Nationen einbe-

werden soll

4. Februar Dresdenei schweren Luftan- zerstört

5nuar Vom Baranow-enkopf an der Weich-ginnt eine große

sive der Roten Armee

16. April Großangriff derSowjets auf Berlin

25. April Bei Torgau/Elbetreffen sowjetische undamerikanische Truppenzusammen

7. Mai In Reims wird diedeutsche Gesamtkapi-tulation unterzeichnet

17. Juli bis 2. AugustPotsdam: Truman, Stalin undChurchill bzw. sein Nachfol-ger Attlee regeln die Nach-kriegspolitik der Alliierten fürDeutschland; Frankreichstimmt am 4. August zu

2. September Japankapituliert

schen Saarländer stimmten mit überwälti-gender Mehrheit für die Vereinigung mitdem Dritten Reich. Hitler verkündeteDeutschlands Wiederaufrüstung und dasEnde der Versailler Beschränkungen. Erfegte den Locarno-Pakt beiseite und be-setzte die entmilitarisierte Rheinlandzone.

Er verbündete sich mit Mussolinis Ita-lien, er annektierte Österreich sowie Teileder Tschechoslowakei, besetzte schließlichden Rest der Tschechischen Republik unddann das Memelland. All das mit der er-zwungenen stillschweigenden Einwilligungder anderen Großmächte: Frankreichs,Großbritanniens, sogar Sowjetrußlandsund der Vereinigten Staaten.

1939 war Deutschland die stärkste MachtEuropas, mächtiger und größer als Bis-marcks zweites Deutsches Reich.Anders alsjener hatte Hitler dies sogar ohne Krieg er-reicht. Sein offener territorialer Ansprucherstreckte sich auf Danzig und den soge-nannten polnischen Korridor, und auch die-se Ziele hätten vielleicht noch durch Ver-handlungen erreicht werden können. DochHitlers Absichten gingen weiter: Er wolltedie Unabhängigkeit Polens beseitigen, wennnicht gar Polen zum Satelliten Deutschlandsmachen; die Polen widersetzten sich – unddas Ergebnis war der Zweite Weltkrieg.

Die Entscheidung für einen Krieg ist oftdie Frage nach dem Wann. 1914 hatten dieSpitzen vieler europäischer Staaten, wennauch ungern, geglaubt, falls es Krieg ge-ben müsse, dann lieber gleich als später,

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ihre verhängnisvollste Fehlkalkulation.1939 verrechnete sich Hitler in ähnlicherWeise: Er glaubte, die Zeit arbeite gegenihn, Franzosen und Briten hätten mit derverstärkten Aufrüstung begonnen, und inwenigen Jahren sei Deutschlands militäri-scher Vorsprung dahin. (Diese Einschät-zung deckte sich mit seiner innersten Über-zeugung, nicht lange zu leben.)

Ein weiterer schwerer Fehler war dieBesetzung der tschechischen Restrepublikim März 1939, sechs Monate nachdem Bri-ten und Franzosen der Einverleibung desSudetenlandes und der Reduzierung derTschechoslowakei zu einer Art deutschemSatellitenstaat zugestimmt hatten, und dassechs Monate nach seiner Erklärung, keineweiteren territorialen Ansprüche in Euro-pa zu stellen.

Sein Einmarsch in Prag im März 1939 ließdie öffentliche Meinung in Großbritanniendrastisch umschlagen. Die Appeasement-Politik des damaligen britischen PremiersNeville Chamberlain war gescheitert.Chamberlain glaubte nun, der einzige Weg,Hitler abzuschrecken, sei, ihm klarzuma-chen, daß ein deutscher Angriff auf PolenKrieg mit Großbritannien (und Frankreich)bedeute. Damit bot die britische Regierungzum erstenmal in der Geschichte des Lan-des einem Staat in Osteuropa eine Garan-tie und ein Bündnis an. Doch die Hoffnung,Hitler so abzuschrecken, war vergeblich.

Denn Hitler errang einen neuen Über-raschungserfolg: seinen Pakt mit Stalin,

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D Ä N E -M A R K

N I E D E R -L A N D E

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G R O S S -B R I T A N N I E N

S L O W A K E I

S O W J E T U N I O N

P O L E N

N O R W E G E N

S C H W E D E N

T U N E S I E NFranzösischesProtektorat

L I B Y E N Ä G Y P T E N

M i t t e l m e e r

Sizilien

Eroberungen Hitlers undseiner Verbündeten bisNovember 1942

V I C H Y -F R A N K R E I C H(1940 bis 1942)

N o r d s e e

U N G A R NR U M Ä N I E N

J U G O S L A W I E N

A L B A -N I E N

G R I E C H E N -L A N D

Rom

Prag

London Berlin

Tunis

El AlameinTobruk

Tripolis

Belgrad

Budapest

Wien

B U L G A R I E N

500 Kilometer

S c h w a r z e s M e e r

T Ü R K E I

Paris

Moskau

Kiew

Reims

Sarajevo

Warschau

O s t s e e

1. Sept. 1939Angriff aufPolen

1941 bis 1944Belagerung, ca.eine Million Tote

22. Nov. 1942bis 2. Feb. 1943Kessel vonStalingrad

10. Mai 1940Beginn desWestfeldzugs

13. Aug. 1940„Luftschlacht“ umEngland beginnt

22. Juni 1941Deutscher Über-fall auf dieSowjetunion

16. Sept. 1940Von Italien erobert

SidiBarrani

22. Jan. 1941Von britischen Truppenbesetzt21. Juni 1942Von deutsch-italienischenTruppen zurückerobert

Kreta

Bukarest

Kursk

Staatsgrenzen 1939

19. Sept. 1941Von der Wehr-macht erobert

F R A N K R E I C H

Stalingrad

Sardinien

Korsika

Vorstoß der Achsenmächte

weitester Vormarsch der Achsen-mächte November 1942

Leningrad

sowjetisch besetztes Gebiet1939 bis 41

von den Achsenmächten besetzt

Verbündete der Achsenmächte 1941

Protektorat Böhmen und Mähren

Achsenmächte am 1. Sept. 1939

neutrale Staaten

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dem Führer der Sowjetunion (mit demberüchtigten Geheimen Zusatzprotokoll,in dem beide Vertragspartner Nordost-europa und Polen unter sich aufteilten) –obwohl der Antikommunismus 20 Jahrelang das Hauptargument in Hitlers Propa-ganda gewesen war. Er hoffte vergebens,dieser Pakt werde die Briten abhalten.

Am 1. September 1939 griff DeutschlandPolen an. Zwei Tage später erklärten Groß-britannien und Frankreich Deutschlandden Krieg.

Einerseits zerstoben Hitlers Hoffnungen,denn Briten und Franzosen hielten Wort.Andererseits behielt er recht: Briten undFranzosen hatten zwar den Krieg erklärt,nicht aber angegriffen.

Acht Monate hindurch fanden keinerichtigen Kämpfe statt, außer auf See.Amerikanische Journalisten tauften dieseseltsamen acht Monate „the phony war“ –in Frankreich hießen sie „drôle de guerre“.Ein passenderer Name wäre wohl „Krieg

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wider Willen“ gewesen, denn die VölkerEuropas, die sich noch an das schrecklicheBlutbad des Ersten Weltkriegs erinnerten,brachten wenig bis gar nichts von der Be-geisterung auf, mit der sie oder ihre Väter1914 in den Krieg gezogen waren.

Kurz: Im Jahre 1939 fürchteten die mei-sten Völker Europas den Krieg; Hitlerfürchtete ihn nicht.

Mit neuen Strategien und Taktiken derKriegsführung eroberte die deutsche Wehr-macht Polen. Darauf stieß der neue Ver-bündete Rußland nach und holte sich –gemäß der geheimen Abmachung mitDeutschland über den Verlauf der Tren-nungslinie – ein großes Stück Ostpolens.

Briten und Franzosen versuchten, weit-ab von zu Hause eine Front zu errichten,in Skandinavien. Hitler kam ihnen zuvor.In einer gewagten Operation besetzten dieDeutschen Dänemark und eroberten Nor-wegen. Noch bevor das erledigt war, befahlHitler der Wehrmacht, am 10. Mai 1940 in

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Westeuropa anzugreifen. Holland ergabsich nach fünf Tagen, Belgien nach etwazwei Wochen, Frankreich in knapp sechs.Nur Großbritannien unter der neuenFührung Winston Churchills hielt stand.

Damals kam Hitler seinem Ziel, denKrieg zu gewinnen, am nächsten. Er hoff-te, nicht ganz unbegründet, die Briten sei-en bereit, mit ihm zu einem Abkommen zugelangen. Soweit kam es jedoch nicht.Wie-derum spielte eine einzelne Persönlichkeiteine entscheidende Rolle – Churchill.

Zugleich kroch der riesige SchattenAmerikas – und der Rußlands – langsamüber den Rand Europas. Der Schatten ei-nes Weltkriegs fiel auf den europäischenKrieg.

Zwanzig Jahre zuvor hatten sich Ameri-ka und Rußland – aus ganz unterschiedli-chen Gründen – aus Europa zurückgezo-gen. Das sollte sich jetzt ändern.

Schon 1939 war deutlich geworden, daßdie Sympathien des Präsidenten Franklin

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S P A N I E N

I T A L I E N

SCHWEIZ

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D Ä N E -M A R K

N I E D E R -L A N D E

G R O S S -B R I T A N N I E N

S L O W A K E I

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N O R W E G E N

S C H W E D E N

L I B Y E N Ä G Y P T E N

M i t t e l m e e r

Sizilien

Die Befreiung Europas

Kur-land

N o r d s e e

U N G A R N

R U M Ä N I E N

K R O A T I E N

A L B A -N I E N

G R I E C H E N -L A N D

Rom

Prag

London Berlin

Tunis

Stalingrad

El AlameinTobruk

Tripolis

Dresden

Belgrad

Budapest

Danzig

Wien

B U L G A R I E N

500 Kilometer

S c h w a r z e s M e e r

T Ü R K E I

Paris

Moskau

Leningrad

Kiew

Reims

Warschau

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Kreta

Rhodos

Bukarest

Kursk

S E R -B I E N

Staatsgrenzen 1942

T U N E S I E NFranzösischesProtektorat

TorgauB E L -G I E N

3. Juli 1942Deutsch-italienischerVormarsch gestopptab 23. Okt. 1942Rückzug der von Rommelgeführten Truppen

13./14. Mai 1943Deutsch-italienischeTruppen kapitulieren

25. Juli 1943EntmachtungMussolinis

6. Juni 1944Alliierte Landungin der Normandie

25. Aug. 1944Von deutscherBesatzung befreit

13. Juli 1943Einstellung derdeutschen Offensive„Operation Zitadelle“

12. Feb. 1945Von Sowjets erobert

17. Jan. 1945Von Sowjetserobert

2. Mai 1945Kapitulation vorder Roten Armee

M O N T E -N E G R O

Korsika

bei Kriegsende von deutschenTruppen gehaltene Gebiete

Vorstoß der Alliierten

Vordringen der Alliierten:

bis zum Kriegsende Mai 1945

bis Mitte Dezember 1944

bis Anfang Oktober 1943

maximaler Machtbereich derAchsenmächte November 1942

neutrale Staaten

alliiertes Gebiet 1942

Sardinien

Deutsche Sturmgeschütze an der Ostfront Anfangs ein sensationeller Blitzkrieg

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D. Roosevelt, seiner Regierung und derMehrheit des amerikanischen VolkesGroßbritannien gehörten.

Ungeachtet aller isolationistischenund pazifistischen Tendenzen ließ dieUS-Regierung 1940 Schritt für Schrittvon ihrer Neutralität ab und stellte sichan die Seite Großbritanniens. Die Ame-rikaner meinten, dies tun zu können,ohne sich in einen wirklichen Krieg ver-stricken zu müssen. Sie täuschten sich.

Stalin setzte sich über die internatio-nale kommunistische Ideologie hinwegund verfolgte eine nationalistische rus-sische Expansionspolitik, ähnlich dermancher Zaren. Er glaubte, dies durchgute Beziehungen zu Hitler erreichenzu können. Auch er täuschte sich.

Im Juli 1940 mußte Hitler widerstre-bend erkennen, daß die Briten weiter-kämpften. Er bemerkte Generälen ge-genüber, daß Großbritannien nur zweiHoffnungen habe: Amerika und Ruß-

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land. Gegen Amerika konnte er nichtsunternehmen. Doch würde Rußland ersteliminiert sein, dann wäre Großbritan-niens letzte Hoffnung auf dem eura-sischen Festland dahin und Deutschlandpraktisch unschlagbar.

Dies war Hitlers Hauptgrund für dieVorbereitung einer Invasion Rußlands,wichtiger als seine „Lebensraum“-Phi-losophie, die gelegentlich zur Rechtfer-tigung für seine Anhänger diente. Dochsollte fast ein Jahr bis zum deutschenÜberfall auf Rußland vergehen.

In der Zwischenzeit überrollte Hitlerden Balkan, weil er seinem VerbündetenMussolini helfen mußte, und gewann ei-nen neuen Verbündeten, Japan, mit demausdrücklichen Ziel, die VereinigtenStaaten dadurch aus dem europäischenKrieg heraushalten zu können.

Hier kommen wir nun zum entschei-denden Wendepunkt des Zweiten Welt-kriegs – auch das ein Unterschied zwi-

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Alliierte Churchill, Stalin, Roosevelt: Hitler mußte vernichtet und Deutschland besetzt werden

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„Es handelt sich nicht darum, für Danzig oder für Polen zu kämpfen.Wir kämpfen, um die ganze Welt vor der Pest der Nazi-Tyrannei zu retten.“

Winston S. Churchill am 3. September 1939

schen beiden Kriegen. Im Ersten gab eskeine solche Zäsur, jedenfalls nicht bis August 1918, kurz vor Kriegsende.

Im Zweiten Weltkrieg aber fielen dieEntscheidungen schon Jahre vor Kriegsen-de, nur um zwei Tage getrennt, jedoch anzwei entgegengesetzten Enden der Welt.

Am 22. Juni 1941 überfiel Hitlers Wehr-macht Rußland, in der Hoffnung auf einenSieg vor Jahresende. Am Tag zuvor befahlHitler den deutschen Seestreitkräften imAtlantik, keinesfalls auf amerikanischeSchiffe zu schießen. Beides nützte ihmnichts.

Anfangs schien der deutsche Blitzkriegin Rußland noch sensationell: Über dreiMillionen Russen wurden gefangenge-nommen, die Deutschen gelangten bis kurzvor Moskau. Am 5. Dezember 1941 jedochereilte sie der russische Gegenangriff: VorMoskau wurden sie gestoppt. Es war dererste große erzwungene Rückzug der deut-schen Wehrmacht in mehr als zwei Jahren.

48 Stunden später, im subtropischen Pa-zifik, riß der japanische Angriff auf PearlHarbor Amerika in den Krieg – zwei wahr-lich entscheidende Ereignisse: Erstens waraus dem europäischen Krieg ein Weltkrieggeworden, zweitens konnte Hitler ihn nichtmehr auf seine Weise gewinnen.

Von dem Moment an änderte sich seineStrategie. Hitler hatte eine Reihe kurzerFeldzüge geplant. Jetzt stand ihm ein lan-ger Krieg bevor. Er hatte einen europäisch-russischen Krieg beabsichtigt. Jetzt war erin einen echten Weltkrieg verwickelt, mit

Japan als Verbündetem und Amerika alsGegner. Eine Folge davon war sein ver-späteter Befehl, die deutsche Industrie undWirtschaft völlig in den Dienst der Kriegs-produktion zu stellen.

Weiterhin machte Hitler es sich zur Auf-gabe, die gewaltige, in seinen Augen un-natürliche Koalition seiner Feinde zu spren-gen – die der Russen und der Anglo-Ame-rikaner, der Kommunisten und der Kapita-listen. Er mußte einen von ihnen endgültigbesiegen (zu dem Zeitpunkt vorzugsweiseRußland), wodurch Deutschland auf demeuropäischen Kontinent unschlagbar ge-worden wäre und seine Feinde (vorzugs-weise die Amerikaner) früher oder spätermit ihm hätten verhandeln müssen.

Diese Überzeugung beherrschte seineStrategie und Denkweise bis zu seinemletzten Tag. Sie wurde stillschweigend vonvielen seiner Heerführer und seinem Volkakzeptiert oder geteilt. Anders als 1918kämpften die Deutschen bis zum bitterenEnde.

Natürlich bröckelte der Bund seinerFeinde, aber erst 1945, zu spät für ihn.Denn wenn seine so unterschiedlichenGegner Churchill, Roosevelt und Stalin jeein gemeinsames Ziel hatten, dann war esdieses: Hitler mußte vernichtet undDeutschland besetzt werden.

(Verglichen damit herrschte unter Hit-lers autoritären Verbündeten weniger Ei-nigkeit: Nach 1941 war Deutschlands größ-ter Feind Rußland, der Hauptfeind ItaliensGroßbritannien, der Japans Amerika.)

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Hier ist zu bedenken, daß trotz Koperni-kus und Magellan die Welt politisch gesehenerst um 1900 rund wurde. Bis 1900 warenalle Weltmächte europäische Mächte gewe-sen. Anders als diese, Großbritannien ein-geschlossen, besaßen die USA keine Terri-torien jenseits ihrer eigenen Grenzen.

Kurz vor 1900 änderte sich das. Die Ver-einigten Staaten und Japan legten sich weitentfernte Besitzungen zu, wobei Japannach dem asiatischen Kontinent griff.

Sechs Jahre vor der russischen Revo-lution von 1917 setzte eine Revolution inChina der 4000jährigen Monarchie einEnde – es war der Beginn der stückweisenAuflösung Chinas. Es lag ganz im SinneJapans, diesen Prozeß zu fördern, unddiente ihm geradezu als Hauptgrund, aufder Seite der Alliierten am Ersten Welt-krieg teilzunehmen.

Als einzige unter den Großmächten wi-dersetzten sich die USA einer Verstüm-melung Chinas. Sie vermochten immerhin20 Jahre hindurch, Japan ohne große mi-litärische Interventionen zu dämpfen.Doch 1931 beschlossen die japanischen Mi-litärs, die chinesische Mandschurei zu be-setzen. Damit war dort nicht nur die mi-litärische Präsenz Japans, sondern ein ja-panischer Satellitenstaat etabliert.

Entsprechend läßt sich aus fernöstlicherSicht argumentieren, daß der Zweite Welt-krieg schon 1931 begonnen hatte, währender aus der europäischen Perspektive 1939,aus der russischen und amerikanischen erst1941 anfing.

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Japanischer Angriff auf Pearl Harbor 1941: Tokios gröbster Fehler

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Rußland vermochte Japans schrittwei-sen Vormarsch in China nicht zu bremsen.Das war einer der Hauptgründe für denrussisch-amerikanischen Vertrag von 1933,der auch die Anerkennung der UdSSRdurch Amerika enthielt – vielleicht eineArt Vorläufer ihrer militärischen Allianzim Zweiten Weltkrieg.

1938 hatte Japan fast die gesamte chine-sische Küste von der sibirischen bis zur in-dochinesischen Grenze erobert und be-setzt, mitsamt den größten Städten Chinas.Zugleich mit der Militarisierung der japa-nischen Regierung traten prodeutsche undextrem nationalistische Elemente auf, vorallem in der Armee.

Die deutschen Siege von 1940, der Zu-sammenbruch der Kolonialmächte Frank-reich und Holland, der tödliche Kampf,in dem Großbritannien lag, ermutigten die Japaner, ihr Reich nach Französisch-Indochina, später nach Niederländisch-Ostindien und bis nach Burma auszu-dehnen.

Rußland war militärisch imstande, ei-nen Versuch Japans, in die Mongolei ein-zurücken, zurückzuschlagen; doch die einzige Großmacht, die Japan effektiv Ein-halt gebieten konnte, waren die Vereinig-ten Staaten.

In dieser Erkenntnis bot Hitler im Sep-tember 1940 den Japanern ein Drei-Mäch-te-Abkommen an, das sie sofort annah-men. Japan glaubte, die eigene Situationweiter zu stärken, indem es im April 1941einen Neutralitätsvertrag mit Stalin unter-zeichnete.

AUSTRALIEN

UdSSR

MONGOLEI

Sac

KOREA

MAN-DSCHU-KUO

Formosa

CHINA

Französisch-Indochina

eylon

ritisch-dien

THAILAND

Neuguinea

Java

Phi l ip -p inen

NankingSchanghai

Hongkong

Karo

Tokio

TIBET

8. Dez. 1941Japaner landden Philippin

JAPA

japanischer Vorstoß 1941 bis 42

alliierter Vorstoß 1943 bis 45

japanischer Machtbereich 1942

alliiertes Gebiet 1942

von Japan besetzt

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O z e a n

Der Krieg in Ostasien

HiroschimaNagasaki

Niederländisch-Indien

Als Deutschland die Sowjetunion über-fiel, hatten die Japaner drei Optionen, überdie im Kronrat entschieden wurde: Ruß-land anzugreifen, gegen die USA undGroßbritannien vorzugehen oder sich füreinige Zeit aus dem Krieg herauszuhalten.

Japan kam zu dem Schluß, daß Kriegmit den Vereinigten Staaten am wenigstenzu vermeiden sei. Tatsächlich hatten dieAmerikaner Japan zunehmend unter wirt-schaftlichen Druck gesetzt. Der Kaiser unddie Konservativen hofften immer noch, ir-gendein Abkommen mit den USA schlie-ßen zu können. Doch Washington forder-te unter anderem den Rückzug der Japaneraus China. Das war unannehmbar für Tokio.

Also begannen die Japaner ihren Kriegam 7. Dezember 1941 mit einem Überra-schungsangriff auf die amerikanischen Be-

Alaska

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PearlHarbor

Hawaii

Marshall-Inseln

linen-Inseln

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7. Dez. 1941Japanischer Über-fall auf den US-Flottenstützpunkt

7. Aug. 1942Landung derAmerikaner

Guadalcanal

6. Aug. 1945Atombombenabwurfauf Hiroschima9. Aug. 1945Atombombenabwurfauf Nagasaki

1000 kmPa z i f i s c h e r O

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Midway-Inseln

3. bis 7. Juni 1942Schwere NiederlageJapans, Wende imPazifik-Krieg

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sitzungen im Pazifik. Dieser Angriff warerschreckend erfolgreich, aber gleichzeitigder gröbste Fehler im gesamten Krieg: Ja-pan überfiel die Vereinigten Staaten, nach-dem die Briten und nachdem die RussenDeutschland standgehalten hatten.

Als Folge von Pearl Harbor erklärte Hit-ler einige Tage später den Vereinigten Staa-ten den Krieg. Viele halten dies für seinengrößten Fehler. In Wahrheit hatte er keineWahl: Im Atlantik herrschte seit Monatenein unerklärter Krieg zwischen amerika-nischen und deutschen Seestreitkräften,und zu dem Zeitpunkt konnte Hitler seinenVertrag mit Japan nicht einfach verletzen.

Inzwischen erwies sich eine Entschei-dung Roosevelts und der amerikanischenStabschefs, die schon Monate früher gefal-len war („Rainbow 5“), als folgenschwer

für den gesamten weiteren Verlauf desKrieges. Die amerikanische Führung, mitder Möglichkeit eines Zweifrontenkriegeskonfrontiert, beschloß, daß im Falle einesKrieges gegen Deutschland und Japan dieZerschlagung Deutschlands den Vorranghabe und danach Japan an der Reihe sei.

Es war eine kluge Entscheidung, wennsie auch nicht unbedingt im Einklang mitdem amerikanischen Volk stand, das da-mals lieber gegen die Japaner als gegenalle anderen kämpfte.

So schien also der Zweite Weltkrieg nach1941 im großen und ganzen aus drei Krie-gen zu bestehen: π dem anglo-amerikanischen Krieg gegen

Deutschland und Italien im Westen undSüden Europas,

π dem deutschen gegen Rußland in Ost-europa und

π dem japanischen gegen Amerikaner, Bri-ten und Chinesen in Ostasien und imPazifik.Daß diese drei Kriege miteinander zu-

sammenhingen, erklärt sich aus bestimm-ten chronologischen Übereinstimmungen.

Ganz gleich, wie entscheidend der mehr-fache Wendepunkt im Dezember 1941 war,die rein militärischen Zäsuren dieser dreiKriege folgten erst Monate später:

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Sow

„Amerika zu beseitigen besitzen wir keine Möglichkeit.Rußland auszuschalten aber liegt in unserer Macht … Das Zusammengehen

mit der Sowjetunion hat mich … doch oft schwer belastet.“Adolf Hitler an Mussolini am 21. Juni 1941 vor dem Einmarsch in Russland

In den ersten sechs Monaten des pazifi-schen Krieges errangen die Japaner einenüberwältigenden Sieg nach dem anderen.Auch die deutsche Wehrmacht überstanddie ersten Zwangsrückzüge des Winters1941/42; im Sommer zog sie in die TiefeRußlands bis zum Kaukasus und belagerteStalingrad an der Wolga. Die Engländer er-litten Niederlagen in Libyen und Ägypten.

Doch im Laufe des Jahres 1942 ändertenvier Ereignisse die Lage: Im November er-rangen die Briten in der ägyptischen West-sahara bei El Alamain einen entscheiden-den Sieg über die deutsch-italienischenTruppen und zwangen sie endgültig zumRückzug. Einige Tage später landeten ame-rikanisch-britische Verbände in Marokkound Algerien, was schließlich zur vollstän-digen Vertreibung der Achsenmächte ausNordafrika führte und ein Sprungbrettnach Italien errichten half.Weitere 13 Tagespäter war die deutsche 6. Armee nacheiner gutgeplanten russischen Gegenof-fensive vor und in Stalingrad eingekesselt.Zur gleichen Zeit wurden die Japaner aufGuadalcanal zurückgeworfen.

Bis auf wenige Gegenoffensiven befan-den sich die deutschen, italienischen undjapanischen Armeen seitdem ständig in derDefensive; doch ihre Kraft und Entschlos-senheit blieben noch eine Weile ungebro-chen, nur Italien ergab sich im Septem-ber 1943.

jetische Soldaten bei Straßenkampf im

Churchill verstand das, vielleicht warn-te er deshalb sein Volk, daß der November1942 nicht der Anfang vom Ende, sondernerst das Ende vom Anfang sei. Er verstandauch, daß die größten Schlachten dieserKriege in Rußland stattfanden.

Die Briten konnten Italien weitgehendallein besiegen, die Amerikaner konntenJapan weitgehend allein besiegen, doch we-der die Anglo-Amerikaner noch die Russenallein konnten Deutschland besiegen.

Als die Anglo-Amerikaner schließlichim Juni 1944 in Frankreich landeten, kamauf drei deutsche Divisionen an der Ost-front eine Division im Westen. Diese Ab-hängigkeit von der Stärke Rußlands solltegegen Kriegsende schwerwiegende Konse-quenzen haben.

Die anglo-amerikanischen Rüstungsgü-ter, die seit Ende 1941 nach Rußland ver-schifft wurden, waren gewaltig – 8,5 Mil-lionen Tonnen –, selbst wenn das meiste da-von erst 1943/44 ankam. Ohne sie wärenTempo und Umfang des Sturms der Russenvon Stalingrad und Kursk nach Berlin un-möglich gewesen. Die Anglo-Amerikanererkannten den Beitrag Rußlands zum ge-meinsamen Sieg dankbar an, die Sowjet-regierung die Hilfe aus dem Westen dage-gen nicht.

Eine der Ähnlichkeiten zwischen demErsten und Zweiten Weltkrieg war dieRückkehr zum Landkrieg, nach Jahrhun-

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zerstörten Stalingrad (1943): 8,5 Millionen

derten, in denen Seestreitkräfte Kriege ent-schieden hatten. Dadurch wurde unter an-derem die Vormachtstellung Großbritan-niens begründet, ein Resultat seiner Fähig-keit, Güter und Truppen schneller auf demSee- als auf dem Landweg transportierenzu können.

Roosevelt (anders als Churchill) er-kannte den Wandel nicht: Noch 1941 sagteer, Seemacht sei der Schlüssel zur Ge-schichte. In gewisser Hinsicht – und für ei-nen bestimmten Kriegsschauplatz, nämlichden Pazifik – mochte dies noch gelten, fürEuropa jedoch nicht.

Die Motorisierung der Armeen änder-te alles. Hitler wußte, daß es den stati-schen Krieg der Schützengräben des Er-sten Weltkriegs nicht mehr geben würde.Nicht nur der reine Truppentransport, son-dern der schnelle Vormarsch ganzer be-waffneter Verbände war entscheidend ge-worden.

Der U-Boot-Krieg war sehr wichtig , imAtlantik wie im Pazifik (deutsche U-Boo-te überwogen hier, amerikanische dort), ervermochte dem Feind schweren Schadenzuzufügen, doch der Kriegsausgang hingimmer noch von der Eroberung und derBesetzung ganzer Länder durch Massen-heere ab.

Nun kam der Luftkrieg hinzu. Panzer,Flugzeuge und Luftschiffe waren zuerst aufund über den Schlachtfeldern des Ersten

Tonnen anglo-amerikanische Rüstungsgüter

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mber über Berlin*: Ganze Städte zerstört

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Weltkriegs erschienen, wenn auch ehersporadisch; ihre Auswirkungen auf denKrieg blieben unbedeutend.

Vor dem Zweiten Weltkrieg glaubte manallgemein, daß große Luftangriffe das We-sen des Krieges insgesamt verändern wür-den, daß, wenn ganze Städte plötzlich inSchutt und Asche sänken, eine feindlicheNation gezwungen sei, sich rasch zu erge-ben. Das trat so nicht ein. Die enormenEinsätze der Luftwaffen erbrachten nichtdie erwarteten Ergebnisse, außer ganz zumSchluß, im Krieg gegen Japan.

Die ersten Bombenangriffe auf spezifi-sche industrielle oder militärische Zielewirkten sich weniger aus. Als 1940 derdeutsche Plan fehlschlug, einen Großteilder britischen Jagdflugzeuge und Luft-stützpunkte zu zerstören, ordnete Hitlerdie Bombardierung Londons und andererbritischer Städte an. Das führte zu großenZerstörungen, war jedoch nicht kriegsent-scheidend.

Briten und Amerikaner glaubten erst,daß massive Bombenangriffe Deutschlandzum Aufgeben zwingen könnten, so daßeine großangelegte Invasion in Westeuro-pa vielleicht gar nicht nötig sei. So mach-ten ihre Bomber oft keinen Unterschiedmehr zwischen zivilen und militärischenZielen, sondern zerstörten ganze Städte.Doch selbst das war nicht entscheidend;die Rüstungsproduktion in Deutschlandstieg weiter an bis Herbst 1944.

Dennoch konnte eine starke Luftwaffe indoppelter Hinsicht wichtig sein: einmal imgezielten Einsatz von Fallschirmtruppenund, taktisch gesehen noch wichtiger, imEinsatz von Flugzeugen als eine Art flie-gender Artillerie.

Rußland

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Das war relevant zu Landeund zu Wasser. Auf See konntenvon Flugzeugen abgeworfeneBomben und Torpedos Schlacht-schiffe zerstören (die Japanermachten es 1941 vor), das neue,wichtige Kriegsgerät war derFlugzeugträger, eine mobilePlattform, die scharenweise dieFlugartillerie entsenden konnte.

Entscheidend war die Rolleder Luftwaffe bei der wesentli-chen Zäsur im pazifischen Krieg,der Schlacht von Midway imJuni 1942. Sie wurde von Hun-derten amerikanischen und ja-panischen Flugzeugen geschla-gen, deren Basen, die Flugzeug-träger, oft weit voneinander ent-fernt außer Sichtweite lagen.Manche von diesen wurdennicht durch feindliche Kriegs-schiffe, sondern durch Flugzeugeversenkt, die von ihren Trägerngestartet waren.

Auch zu Lande erwies sich dieLuftwaffe als effektiv, wenn siemilitärische Ziele zerstörte undganze Kampfverbände an der Front dezi-mierte.

Damit kommen wir zum wesentlichstenund furchtbarsten Unterschied zwischenden beiden Weltkriegen. Im Ersten Welt-krieg blieb die damals traditionelle Unter-scheidung von Militär und Zivilisten nochallgemein gewahrt; außer in unmittelba-ren Kampfgebieten und durch die Folgender schlechten Ernährung erlitt die Zivil-bevölkerung wenig Verluste.

Für den Zweiten Weltkrieg galt diesnicht mehr. Die Zahl der Zivilisten, derFrauen, Kinder und Alten, die in manchenStädten durch Luftangriffe oder Artillerieumkamen, überstieg oftmals die militä-rischen Verluste an der Front. Ganze Städ-te wurden weitgehend zerstört, erst inHolland und Großbritannien, dann in Ruß-land und schließlich in Deutschland. Beiden Luftoffensiven gegen Dresden, Ham-burg, Berlin und Tokio starben mehr Men-schen als beim Abwurf der Atombombenauf Hiroschima und Nagasaki.

Dies war jedoch nur ein besonders grau-enhaftes Detail in einem Krieg, den einefrüher unvorstellbare Barbarei kenn-zeichnet. Das Dritte Reich und Stalins So-wjetunion vertrieben ganze Menschen-gruppen, die als feindlich oder auch nurunzuverlässig eingestuft worden waren.Millionen anderer Menschen wurden zuSklavenarbeit in Arbeitslager deportiert,vor allem von den Deutschen. 1941 gingensie dazu über, die meisten Juden nichtmehr auszuweisen, sondern massenhaft zu vernichten. Wenn wir die Anzahl derermordeten Juden einbeziehen, wenig-stens 5,3 Millionen, ergibt sich: Im Zwei-ten Weltkrieg starben mehr Zivilisten alsSoldaten.

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Doch auch in der Kriegsführung selbstverschwand der alte Unterschied zwischenSoldaten und Zivilisten. In Polen, auf demBalkan, in Rußland und später in jedemvon den Deutschen besetzten Land kämpf-ten viele mit Handfeuerwaffen als Partisa-nen gegen die Besatzer. Manchmal war ihrEinsatz bemerkenswert, mit oft schreckli-chen Folgen. Die Brutalität dieser Art zukämpfen (und ihrer Vergeltung) erinnertean vergangene Jahrhunderte – Homo ho-mini lupus, Männer (und Frauen) verhiel-ten sich wie wilde Tiere.

Dies zeigte sich ebenfalls in der un-glaublichen Mißhandlung von Kriegsge-fangenen, vornehmlich an der deutschenOstfront: Von über 3 Millionen sowjeti-schen Soldaten, die 1941 in deutsche Ge-fangenschaft gerieten, starben bereits bisDezember 1,4 Millionen, da die Deutschensie nicht versorgten. Wenig später brachteder Bedarf der Kriegsindustrie die Deut-schen auf die Idee, diese Gefangenen alsnützliche Arbeitssklaven einzusetzen – un-ter schlimmsten Bedingungen.

Eine weitere Neuerung des ZweitenWeltkriegs betrifft die Waffen. Ein Krieg er-zeugt fast immer neue Technologien.

Wie im Ersten Weltkrieg taten sich dieDeutschen abermals hervor – lange wardie Qualität ihrer Flugzeuge und Panzerbesser als die ihrer Gegner. Sie profitiertenvon der Erfindung und Produktion syn-thetischen Benzins und künstlichen Kau-tschuks. Gegen Kriegsende entwickeltensie das Schnorchel-U-Boot, das für dieFrischluftzufuhr nicht mehr auftauchenmußte, und den Düsenjäger – doch all daskam zu spät, um das Resultat des Krieges

* Im Februar 1945.

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der Alliierten in der Normandie 1944*: Rückkehr zum Landkrieg

Die Toten der Weltkriegein Millionen

Erster Weltkrieg rund 10 Millionen

Zweiter Weltkrieg rund 55 Millionen

Soldaten Zivilistendavon in:

Sowjetunion 13,6 7,0

Deutschland 4,8 0,5

Japan 1,2 0,6

Jugoslawien 0,4 1,3

Polen 0,3 4,2Quelle: Der Große Ploetz

noch zu beeinflussen. Radar-,Sonar- und Radiotechniken fürdie Nachrichtendienste wurdenmit wechselnden Ergebnissenauf beiden Seiten erfundenund entwickelt.

Auch die Entscheidung derDeutschen von 1944, weitrei-chende V2-Raketen zu bauen,trug ihnen wenig ein. Meist aufLondon gerichtet, zerstörtensie Ziele nichtmilitärischer Art,sie sollten die Moral der Be-völkerung brechen.

Mutatis mutandis – das glei-che galt für die Atombomben,die Amerika mit Hilfe ausge-wanderter Wissenschaftler ent-wickelt hatte. Im August 1945über Hiroschima und Nagasakiabgeworfen, töteten sie etwa150 000 Menschen. Sie zwan-gen – neben der russischen Kriegserklärungan Japan am 8. August – den japanischenKaiser zur Kapitulation.

Die Atombombe war etwas völlig Neu-es in der Geschichte der Kriegsführung.Ihr Einsatz quält die Menschheit noch heu-te. Andererseits ließe sich einwenden, daßsie dem Krieg schließlich ein Ende zu set-zen half, der sonst womöglich noch vielmehr Menschenleben gekostet hätte, unddaß, so gesehen, die Atombombe eigentlichnur eine sehr große Bombe war.

Wir kommen zum letzten wichtigenUnterschied zwischen den beiden Welt-kriegen. Wie der Erste war auch derZweite Weltkrieg immer noch hauptsäch-lich ein Krieg zwischen Staaten: zwischenDeutschland, Polen, Frankreich, Groß-britannien, den Vereinigten Staaten, Ruß-land et cetera. Doch nun kam ein neues,vorher kaum vorhandenes ideologischesElement hinzu.

Im Ersten Weltkrieg hatte es Menschengegeben, die gegen ihre eigenen Regierun-gen auftraten und gelegentlich auch alsAgenten oder Spione des Feindes handel-ten. Das war nicht neu, aber selten.

Im Zweiten Weltkrieg wünschten schonHunderttausende der eigenen Regierungden Untergang und bekämpften sie – undengagierten sich so mehr oder weniger in-direkt für den Sieg des äußeren Feindes.Auch in Deutschland gab es solche Männerund Frauen, und einige von ihnen erklom-men tragische Höhen, wie die Hitler-Attentäter des 20. Juli 1944.

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Es gab Millionen Menschen in Rußlandund der Ukraine, bereit, sich mit den Deut-schen zu verbünden und an deren Seite zukämpfen. Es gab Tausende von Franzosenund anderen Europäern, die glaubten, daßihre Hoffnung in einem deutschen Sieg liegen müsse.

Doch dies war nur ein Abbild der histo-rischen Ereignisse, die sich schon 20 Jahrevor dem Krieg zu entwickeln begonnenhatten. Wir haben gesehen, daß der Siegüber das Dritte Reich nur durch die Allianzder kapitalistischen westlichen Demokra-tien mit der kommunistischen Sowjetunionmöglich wurde – eine unnatürliche, dochdamals unvermeidliche Koalition.

Dieses große Dreieck der Weltmächte –westliche Demokratien, russischer Kom-munismus und die autoritären Mächte Ja-pan, Italien und besonders Deutschland –

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bildete das Aufgebot für den Zweiten Welt-krieg. Dieses große Dreieck wiederholtesich weltweit. Es gab Menschen, oft sehrviele, die mit dem sympathisierten, wasDeutschland (oder im Osten Japan) dar-stellte, oder mit dem, was das kommuni-stische Rußland wollte. In jeder Nation leb-ten Menschen, die mit den Ideen der west-lichen Demokratien sympathisierten – undviele von ihnen waren irgendwann bereit,entsprechend zu handeln.

Einige Länder waren geradezu ein In-begriff dieser Dreieckskräfte – China etwa,wo im Zweiten Weltkrieg drei Regierungenfür verschiedene Landesteile existierten:die Regierung Tschiang Kai-schek, die sichmit den Vereinigten Staaten und Großbri-tannien verbündete, die kommunistischeRegierung unter Mao Tse-tung im Nordenund die pro-japanische Wang-Jingwei-Re-gierung mit Sitz in Nanking.

Andernorts – in Griechenland, Jugosla-wien, Italien, selbst in Frankreich – wurdeder Zweite Weltkrieg zu einer Art Bürger-krieg, der in China und Griechenland nochlange nach Kriegsende andauerte.

Als der Zweite Weltkrieg 1945 endete,endete das europäische Zeitalter. Nach 500Jahren endete auch der Versuch einer eu-ropäischen Macht, Weltmachtstatus zu er-ringen. Nach 800 Jahren endete mit denMassenvertreibungen die Präsenz großer,

* Farbfoto aus einem 1998 aufgefundenen Film des Re-gisseurs John Ford, der die Aufnahmen für den US-Geheimdienst OSS drehte.

L I T E R A T U RWinston S. Churchill: „Der Zweite Weltkrieg“.

Scherz Verlag, München 1995; 1135 Seiten – Meister-werk des Zeitzeugen und Literatur-Nobelpreisträgers.

Peter Calvocoressi, Guy Wint, R. John Pritchard:„Total War. The Causes and Courses of the SecondWorld War“.Viking, New York 1989; 1315 Seiten – DerHauptautor, ein ehemaliger britischer Anwalt undLuftabwehroffizier, recherchierte für die Anklage imNürnberger Prozeß gegen das Oberkommando derWehrmacht.

Martin Gilbert: „Der Zweite Weltkrieg: Eine chrono-logische Gesamtdarstellung“. List Verlag, München1991; 806 Seiten – Überblick des Churchill-Biographen.

John Keegan: „The Second World War“. Arrow, Lon-don 1990; 608 Seiten – Gut lesbare Darstellung desbritischen Militärhistorikers.

Klaus Latzel: „Deutsche Soldaten – nationalsozia-listischer Krieg? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung1939–1945“. Schöningh Verlag, Paderborn 1998; 430Seiten – Militärgeschichte von unten: Studie nachFeldpostbriefen von deutschen Frontsoldaten.

Manfred Rauh: „Geschichte des Zweiten Weltkrie-ges“. Duncker & Humblot, Berlin 1991–1998 – Um-fassendes Werk auf aktuellem Wissensstand in dreiBänden.

Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): „Hitlers militärische Eli-te“. 2 Bände. Primus-Verlag, Darmstadt 1998 – Por-träts der Kaste, die für Hitler den Krieg führte.

Ian Dear, M. R. D. Foot (Hrsg.): „The Oxford Compa-nion to the Second World War“. Oxford UniversityPress 1998; 1366 Seiten – Die beste Enzyklopädiezum Thema Zweiter Weltkrieg.

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einflußreicher deutscher Bevölkerungs-gruppen östlich der Oder.

Es war der Beginn der Teilung Europas,der Teilung Deutschlands und, innerhalbDeutschlands, der Teilung Berlins. Dies waren die unmittelbaren Folgen des soge-nannten Kalten Krieges, der kurz nach1945 begann und 1989 endete.

In diesen 44 Jahren argumentierten man-che Politiker und Historiker, die russischeRevolution von 1917 sei der bedeutendsteund folgenreichste Wendepunkt in der Ge-schichte des 20. Jahrhunderts. Das ist Un-sinn. Vor 1945 existierte kein kommunisti-scher Staat außer der Sowjetunion. Nach1945 entstanden kommunistische Staaten inEuropa weniger durch Volkes Wille als durchdie Präsenz der sowjetischen Macht in Tei-len Osteuropas und im Osten Deutschlands.

1945 waren es allein die VereinigtenStaaten, die einen gewaltigen Zwei-Fron-ten-Krieg mit relativ geringen Verlusten ge-winnen konnten, das einzige Land außer-dem, das nicht bombardiert wurde.

Seit 1917 überzieht nicht der Kommu-nismus den Erdball, sondern die Amerika-nisierung. In Westeuropa, auch in Deutsch-land, führte das Ende des Zweiten Welt-kriegs zu einer Wiederherstellung demo-kratischer Regierungen mit US-Hilfe.

Die beiden Gebirgsketten, die die Land-schaft des 20. Jahrhunderts bestimmen, hi-storisch gesehen ein kurzes Jahrhundertvon 1914 bis 1989, sind die beiden Welt-kriege, in deren Schatten wir bis 1989 ge-lebt haben.

1945 begannen das atomare Zeitalterund die Präsenz zweier Supermächte – derVereinigten Staaten und der Sowjetunion.

Viele Deutsche, auch Hitler, glaubten,daß die beiden Sieger einst zwangsläufigzusammenstoßen würden. So kam es, dochder Konflikt führte zu keinem neuen Welt-krieg, vor allem nicht, weil nach 1945 we-der Amerikaner noch Sowjets riskierten,die Trennungslinien in Berlin, in Deutsch-land und in Europa zu überschreiten.

Darüber hinaus ist immerhin denkbar,daß der Zweite Weltkrieg nicht nur derletzte große europäische Krieg, sondernauch der letzte Weltkrieg zwischen einzel-nen Staaten gewesen sein könnte.

T. E

VER

KE

Der AutorJohn Lukacs, 74, ausUngarn stammenderHistoriker, kam 1946in die USA und wur-de Anfang der fünf-ziger Jahre Ordina-rius für moderne Ge-

schichte am Chestnut Hill College inPennsylvania. Zu seinen bekannte-sten Werken gehören „Churchill undHitler. Der Zweikampf“ (1992) sowie„Hitler – Geschichte und Geschichts-schreibung“ (1997).

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