Derichs Japans Neue Linke Soziale Bewegung Und Ausserparlamentarische Opposition

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60 JAPANS NEUE LINKE und herausgegeben119 und gelten als kompetente Autoren auf diesem Gebiet. Ergänzende Erläuterungen aus anderen Quellen als der oben genannten werden jeweils in den Anmerkungen aufgeführt. 1.2.2 EntstehungsprozeH der Neuen Linken Zur Neuen Linken zählen im Nachkriegsjapan zunächst all diejenigen politischen Gruppen und Strömungen, welche die Auflösung der eige- nen kapitalistischen und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft anstreben. Ihre Methode zur Erreichung dieses Ziels ist eine genuine, von der etablierten Linken (SPJ, KPJ etc.) unabhängige sozialistische Revolution; ihre Funktion als politisches Subjekt besteht in der p r a k- t i s c h e n Durchführung dieser Revolution. Die Genealogie der Neuen Linken setzt bei dem Jahre 1958 an, doch erste Anzeichen sind bereits zur Zeit der 6. Nationalen Konferenz der KPJ (rokuzenky6) sichtbar. Träger der neuen Bewegung sollte die Stu- dentenbewegung sein. Auf theoretischer Ebene gab es zwei wichtige Vorläufer, deren Beiträge quasi als Vorgeschichte zur Geschichte der Neuen Linken anzusehen sind: Der Keim für die Entstehung der Studentenbewegung der Nach- -- kriegszeit lag in der Gründung des Zengakuren · (Zennihon J·ichikai o · .. - "'·'\Je..\. 119 Neben dem oben angegebenen Werk publizierte Kurata zur Neuen Linken: Ampo Zengakuren. 60-nen Ampo toso no sokatsu to 70-nendai toso 110 shoten. [Der Am- po-Zengakuren. Auswertung des Ampo-Kampfes 1960 und Brennpunkte des Kampfes der 70er Jahre]. San'ichi shobo, 1970 (1969). Shinsayoku undo zenshi [Vollständige Geschichte der Neuen Linken]. RyGdo shuppansha, 1978. Zusam- men mit Takazawa Koji (Hg.): Shinsayoku riron zenshi 1957-1975 [Vollständige Theoriegeschichte der Neuen Linken]. Tokyo: Shinsensha, 1984 (künftig: Shin- sayoku riron zenshi). An Monographien Takagi Masayukis zur Neuen Linken sind erschienen: Zengaku- ren to Zenkyoto [Zengakuren und Zenkyoto]. Kodansha, 1985. Shinsayoku sanju- nen-shi [30 Jahre Neue Linke]. Doyo bijutsusha, 1990 (künftig: Shinsayoku sanju- nen-shi). Takazawa gab zur Neuen Linken neben den aufgeführten Werken folgende heraus: Furemu-appu: Tsuchida, Nisseki, Pfsukan jiken 110 shinso [Frame up: Die Wahrheit über Tsuchida, Nisseki und die Peace-can-Vorfälle]. Shinsensha, 1983. Sengo ka- kumei undo jiten [Lexikon der Nachkriegs-Revolutionsbewegung]. Shinsensha, 1985. Bunto (Kyosanshugisha domei) no shiso [Die Philosophie des BUNTO]. Hi - hyosha, 1990- ; bislang 4 der 10 geplanten Bde. erschienen; vgl. Anm.118. Auch als Autor und Herausgeber verschiedener Arbeiten zur Sekigun wurde Taka- zawa bekannt; s. Literaturverzeichnis. DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER NEUEN LINKEN IN JAPAN 61 s6reng6 = Alljapanischer Verband der studentischen Selbstverwaltun- gen)120 im September 1948. Den ideologischen Hintergrund des Zenga- kuren in der Anfangsphase bildete Takei Akios "Theorie von der Stu- dentenbewegung als Stratum", auch die "Takei-Theorie" genannt. Takei war, chronologisch der erste Vorsitzende des Zengakuren ge- wesen, der bis zur Ubernahme der Führerschaft durch die shokan-ha121 im Juni 1952 auch führender Ideologe des Verbandes blieb. Seine Theo- rie ging von der Prämisse aus, daß die japanische Gesellschaftsstruktur das imperialistische Stadium erreicht habe, sich jedoch gegenüber ei- nem ausländischen, das heißt amerikanischen Imperialismus in einer untergeordneten, abhängigen Stellung befinde. In dieser Subordination liege die Quelle für eine der sozialen Schicht der Studenten innewoh- nende Energie, mittels derer sie den Kampf für Frieden und Demokratie organisieren könne. Die Studentenbewegung nehme eine Vorreiterrolle ein und könne als e i n Flügel in dem von allen Gesellschaftsschichten 120 Zengakuren ist die nationale Organisation der linken japanischen Studentenbewe- gung. Alle Studierenden sind qua Eintritt in eine Universität Mitglied des jichikai (Selbstverwaltungskomitee) ihrer jeweiligen Fakultät an dieser Hochschule. Die Studiengebühren enthalten einen Pflichtbeitrag, der den jichikai als einer Interes- senvertretung der Studentenschaft zugeleitet wird. Die aktiven Komiteemitglieder werden gewählt (ähnlich wie "Fachschaften" an deutschen Universitäten). Zum Aufgabenbereich der Selbstverwaltungskomitees zählt beispielsweise die Koordi- nation von studentischen Aktivitäten oder die Verwaltung von Wohnheimen und Mensen. Die jichikai sind zunächst auf regionaler Ebene (chiho gakuren) zusam- mengeschlossen, dann auf Präfekturebene (kakken gakuren) und in Tokyo auf Stadtebene (to-gakuren). Der Dachverband Zengakuren ist nach dem Prinzip des »Demokratischen Zentralismus« organisiert, oberstes Organ ist die Nationale Voll- versammlung. Bis zur Entstehung der Neuen Linken stand der Zengakuren unter Kontrolle der KPJ. Als die Anhänger der Neuen Linken in den meisten jichikai die Mehrheit stellten, verlor die Partei die Führungsrolle. - Zengakuren sollte im Ide- alfall als landesweiter Zusammenschluß a 11 er jichikai bestehen, doch seit Mitte der sechziger Jahre beanspruchen Vertreter der Neuen Linken ebenso wie der KPJ- geführten Komitees den Titel gleichermaßen, ohne wirklich zusammenzuarbeiten. Seitdem existieren verschiedene, durch jeweils die KPJ oder Gruppen der Neuen Linken kontrollierte Zengakuren nebeneinander. Zu Organisation und Programm des Zengakuren vgl. Voß: Studentische Linke in Japan, S. 67f., 72f.; ferner Whee- ler, Donald Frederick: The Japanese Student Movement: Value Politics, Student Politics and the Tokyo University Struggle. Columbia Univ., unpubl. Ph. D. Diss., 1974, S.158f. 121 Der Name shokan-ha rührt daher, daß die Vertreter der Hauptstromgruppe in der KPJ als Antwort auf die Kominform-Kritik zunächst ihre "Ansichten" (shokan) geäußert hatten. Die Internationalisten lehnten diese Ansichten ab und akzeptierten die Kritik vorbehaltlos. Die parteiinterne Spaltung spiegelte sich auf der Ebene ih- rer studentischen Mitglieder wider.

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und herausgegeben119 und gelten als kompetente Autoren auf diesem Gebiet. Ergänzende Erläuterungen aus anderen Quellen als der oben genannten werden jeweils in den Anmerkungen aufgeführt.

1.2.2 EntstehungsprozeH der Neuen Linken

Zur Neuen Linken zählen im Nachkriegsjapan zunächst all diejenigen politischen Gruppen und Strömungen, welche die Auflösung der eige­nen kapitalistischen und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft anstreben. Ihre Methode zur Erreichung dieses Ziels ist eine genuine, von der etablierten Linken (SPJ, KPJ etc.) unabhängige sozialistische Revolution; ihre Funktion als politisches Subjekt besteht in der p r a k­t i s c h e n Durchführung dieser Revolution.

Die Genealogie der Neuen Linken setzt bei dem Jahre 1958 an, doch erste Anzeichen sind bereits zur Zeit der 6. Nationalen Konferenz der KPJ (rokuzenky6) sichtbar. Träger der neuen Bewegung sollte die Stu­dentenbewegung sein. Auf theoretischer Ebene gab es zwei wichtige Vorläufer, deren Beiträge quasi als Vorgeschichte zur Geschichte der Neuen Linken anzusehen sind:

Der Keim für die Entstehung der Studentenbewegung der Nach-

--

kriegszeit lag in der Gründung des Zengakuren · (Zennihon J·ichikai o · .. -"'·'\Je..\.

119 Neben dem oben angegebenen Werk publizierte Kurata zur Neuen Linken: Ampo Zengakuren. 60-nen Ampo toso no sokatsu to 70-nendai toso 110 shoten. [Der Am­po-Zengakuren. Auswertung des Ampo-Kampfes 1960 und Brennpunkte des Kampfes der 70er Jahre]. San'ichi shobo, 1970 (1969). Shinsayoku undo zenshi [Vollständige Geschichte der Neuen Linken]. RyGdo shuppansha, 1978. Zusam­men mit Takazawa Koji (Hg.): Shinsayoku riron zenshi 1957-1975 [Vollständige Theoriegeschichte der Neuen Linken]. Tokyo: Shinsensha, 1984 (künftig: Shin­sayoku riron zenshi). An Monographien Takagi Masayukis zur Neuen Linken sind erschienen: Zengaku­ren to Zenkyoto [Zengakuren und Zenkyoto]. Kodansha, 1985. Shinsayoku sanju­nen-shi [30 Jahre Neue Linke]. Doyo bijutsusha, 1990 (künftig: Shinsayoku sanju-nen-shi). Takazawa gab zur Neuen Linken neben den aufgeführten Werken folgende heraus: Furemu-appu: Tsuchida, Nisseki, Pfsukan jiken 110 shinso [Frame up: Die Wahrheit über Tsuchida, Nisseki und die Peace-can-Vorfälle]. Shinsensha, 1983. Sengo ka­kumei undo jiten [Lexikon der Nachkriegs-Revolutionsbewegung]. Shinsensha, 1985. Bunto (Kyosanshugisha domei) no shiso [Die Philosophie des BUNTO]. Hi­hyosha, 1990- ; bislang 4 der 10 geplanten Bde. erschienen; vgl. Anm.118.

Auch als Autor und Herausgeber verschiedener Arbeiten zur Sekigun wurde Taka­zawa bekannt; s. Literaturverzeichnis.

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s6reng6 = Alljapanischer Verband der studentischen Selbstverwaltun­gen)120 im September 1948. Den ideologischen Hintergrund des Zenga­kuren in der Anfangsphase bildete Takei Akios "Theorie von der Stu­dentenbewegung als Stratum", auch die "Takei-Theorie" genannt. Takei war, chronologisch . ~esehen, der erste Vorsitzende des Zengakuren ge­wesen, der bis zur Ubernahme der Führerschaft durch die shokan-ha121 im Juni 1952 auch führender Ideologe des Verbandes blieb. Seine Theo­rie ging von der Prämisse aus, daß die japanische Gesellschaftsstruktur das imperialistische Stadium erreicht habe, sich jedoch gegenüber ei­nem ausländischen, das heißt amerikanischen Imperialismus in einer untergeordneten, abhängigen Stellung befinde. In dieser Subordination liege die Quelle für eine der sozialen Schicht der Studenten innewoh­nende Energie, mittels derer sie den Kampf für Frieden und Demokratie organisieren könne. Die Studentenbewegung nehme eine Vorreiterrolle ein und könne als e i n Flügel in dem von allen Gesellschaftsschichten

120 Zengakuren ist die nationale Organisation der linken japanischen Studentenbewe­gung. Alle Studierenden sind qua Eintritt in eine Universität Mitglied des jichikai (Selbstverwaltungskomitee) ihrer jeweiligen Fakultät an dieser Hochschule. Die Studiengebühren enthalten einen Pflichtbeitrag, der den jichikai als einer Interes­senvertretung der Studentenschaft zugeleitet wird. Die aktiven Komiteemitglieder werden gewählt (ähnlich wie "Fachschaften" an deutschen Universitäten). Zum Aufgabenbereich der Selbstverwaltungskomitees zählt beispielsweise die Koordi­nation von studentischen Aktivitäten oder die Verwaltung von Wohnheimen und Mensen. Die jichikai sind zunächst auf regionaler Ebene (chiho gakuren) zusam­mengeschlossen, dann auf Präfekturebene (kakken gakuren) und in Tokyo auf Stadtebene (to-gakuren). Der Dachverband Zengakuren ist nach dem Prinzip des »Demokratischen Zentralismus« organisiert, oberstes Organ ist die Nationale Voll­versammlung. Bis zur Entstehung der Neuen Linken stand der Zengakuren unter Kontrolle der KPJ. Als die Anhänger der Neuen Linken in den meisten jichikai die Mehrheit stellten, verlor die Partei die Führungsrolle. - Zengakuren sollte im Ide­alfall als landesweiter Zusammenschluß a 11 er jichikai bestehen, doch seit Mitte der sechziger Jahre beanspruchen Vertreter der Neuen Linken ebenso wie der KPJ­geführten Komitees den Titel gleichermaßen, ohne wirklich zusammenzuarbeiten. Seitdem existieren verschiedene, durch jeweils die KPJ oder Gruppen der Neuen Linken kontrollierte Zengakuren nebeneinander. Zu Organisation und Programm des Zengakuren vgl. Voß: Studentische Linke in Japan, S. 67f., 72f.; ferner Whee­ler, Donald Frederick: The Japanese Student Movement: Value Politics, Student Politics and the Tokyo University Struggle. Columbia Univ., unpubl. Ph. D. Diss., 1974, S.158f.

121 Der Name shokan-ha rührt daher, daß die Vertreter der Hauptstromgruppe in der KPJ als Antwort auf die Kominform-Kritik zunächst ihre "Ansichten" (shokan) geäußert hatten. Die Internationalisten lehnten diese Ansichten ab und akzeptierten die Kritik vorbehaltlos. Die parteiinterne Spaltung spiegelte sich auf der Ebene ih­rer studentischen Mitglieder wider.

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getragenen Klassenkampf fungieren. Takei überstieg mit dieser Theorie argumentativ alle Grenzen, die für die von der KPJ geführte Stu~enten­

bewegung der Nachkriegszeit maßgeblich gewesen waren. Die KPJ ordnete den Studierenden lediglich die Rolle einer .kleinbtirgerüchen Intelligenzija zu, die im Kielwasser des Proletariats schwimme. Nur unter Führung der Kommunistischen Partei beziehungsweise ihrer Ju­gendorganisationen könne sie zur Selbstbefreiung gelangen.122 Die Takei-Theorie war daher insofern von epochemachender Bedeutung, als sie zum erstenmal dem Stratum der Studierenden Eigenständigkeit zu­schrieb und ihre berechtigte, für die Bewegung obligatorische Rolle in einer Theorie thematisierte. 123

Als 1955 durch die rokuzenkyo die Selbstkritik der KPJ wegen ihres fünfjährigen "ultralinken Abenteurertums" und der Wandel in der Par­teilinie ausgelöst wurden, als 1956 auf dem 20. Parteitag der KPdSU die scharfe Kritik an Stalin vorgebracht wurde und in demselben Jahr die sowjetische Armee in Polen und Ungarn einmarschierte, zog eine Schockwelle über die internationale kommunistische Bewegung. Auch der Zengakuren, noch unter Leitung der shokan-ha stehend, reagierte auf diese Veränderungen. Die 'volksnahe' Linie, die die KPJ einzu­schlagen versuchte, präsentierte sich an den Universitäten ·in Form von Sing- und Tanzfesten, die der Zengakuren organisierte. Es hieß, wenn die Selbstverwaltungskomitees die unmittelbaren Bedürfnisse der Stu­dierenden aufgriffen und sich um derer Befriedigung bemühten, könnte

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Kurata der in dem Buch die Theoriegeschichte zusammengestellt hat, zitiert bei diesen 'Ausführungen aus Führungsplänen der KPJ für studentische Organisationen von 1927 und 1928 (S. 23; keine näheren Zitatnachweise). Voß meint zu selbigem Thema: In der ersten Phase der Besatzungszeit wurde von der KPJ über den Kommu~'istischen Jugendbund auf die Studentenbewegung, die zu diesem Zeit­punkt von der Partei noch als Jugend be~egung ei~gestuft wurde, Einfluß ge­nommen. Anfang 1948 begann dann aber die KPJ, zwischen Jugend- und Studen­tenorganisation zu unterscheiden und der Studentenbewegung wachsende Bedeu­tung beizumessen. Der zunehmende Einflu~ der _KPJ a~f die Studentenbewegung wurde auch in der Tatsache deutlich, daß d1e meisten Fuhrungsposten von Zenga­kuren mit Parteimitgliedern besetzt waren." Voß: Studentische Linke in Japan , s. 79.

Der Gedanke, die Studentenbewegung als ein Segment der proletarischen Bewe­gung zu verstehen, kann zwar schon für die Vorkriegs~eit nac~gewi~se.n werden, doch wurden dahingehende Bestrebungen von der Tokko (Geheimpohzei) kontrol­liert und mit Sanktionen belegt, so daß keine Weiterentwicklung zu einer 'Theorie' stattfand. Vgl. Smith, Henry De Witt II: Japan's Fir.st Studen.t Radicals. Cam­bridge, Mass.: Harvard Univ. Press, 1972, S.124; Mitchell, R1chard H.: Janus­FacedJustice. Honolulu: Univ. ofHawaii Press, 1992, S.51-54.

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die Einheit der Studentenschaft auch ohne Situationsanalyse oder politi­schen Plan hergestellt werden. Die Funktion der Komitees reduzierte sich damit auf die eines bloßen Service-Organs. Kritiker merken höh­nisch an, daß dies die Zeit gewesen sei, in der das Hinterlegen von Sei­fenstücken auf Campus-Toiletten »die Bewegung« symbolisierte.

Die Kritik an Stalin wurde vom Zengakuren unter der Führung der shokan-ha genauso verschleiert wie von der Parteizentrale der KPJ.124 Die studentischen Parteimitglieder ereiferten sich über den erfolgrei­chen Abschuß des sowjetischen Satelliten "Sputnik" ins All und vertra­ten in bezug auf den Einmarsch in Polen und Ungarn den Standpunkt, daß dies "ein Kampf gegen die gefährliche Einmischung der imperia­listischen Kräfte" sei.125 Diese Haltung zog zunehmend Unzufrieden­heit vieler Parteigänger nach sich. Der erste organisierte Widerstand gegen die Zentrale rührte sich jedoch nicht in Zengakuren-Kreisen, sondern in einem Studienzirkel an der Peripherie der KP: Im Januar 1957 wurde der Japanische Trotzkistenbund (Nihon Torotsukisuto ren­mei) gegründet, 126 unter anderen von Öta Ryil, Kuroda Kan'ichi und Uchida Hideo. Im April desselben Jahres schloß sich ihnen Nishi Kyöji, damals Mitglied der KPJ-Sektion in Kyöto, an, und im Dezember fand eine U mbenennung in "Japanischer Bund Revolutionärer Kommuni­sten" (Nihon kakumeiteki kyosanshugisha domei; Akronym: Kakukyo­d.o) statt. Dieser Bund nahm nach und nach als "Partei" Gestalt an und gab den internen Auseinandersetzungen in der KPJ entscheidende ideel­le und theoretische Impulse. Auf der Suche nach einem neuen Verständ­nis des Marxismus-Leninismus griffen die japanischen Trotzkisten die Kritik an Stalin auf und entwickelten daraus eine Stalinismus -Kritik, die sich nicht auf die Diktatorgestalt Stalin und seinen Personenkult beschränkte, sondern seine gesamte politische Linie (Sozialismus in e in em Staat, Großmachtpolitik, Dogmatismus, Autoritätsprinzip und Theorie der zweistufigen Revolution) betraf. Nur: Die Stalinismus-Kri­tik des Trotzkistenbundes war wenig mehr als ein zweiter Aufguß der

124 Referenzobjekt dieser 'Verschleierung' ist der bereits erwähnte Yonehara-Aufsatz (s. Anm. 112).

125 Shinsayoku nijunen-shi, S. 25f.

126 Vgl. hierzu auch Voß: Studentische Linke in Japan, S.106; Pohl: Kommunistische Partei Japans, S. 120f.

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Vierten Internationale und ging letztlich nicht über Trotzkis Dogmatis­muskritik hinaus.127

Der fortan unter dem Akronym Kakukyodo firmierende Trotzkisten­bund breitete seinen Einfluß in den studentischen Selbstverwaltungs­komitees aus. Die 'Dienstleistungsstrategie' der shokan-ha im Zengaku­ren geriet zunehmend unter Beschuß, und im Juni 1956 wurde vom Zengakuren eine Vollversammlung einberufen, deren Vorsitz die stu­dentische Antikriegsliga Hansen gakusei domei übernahm, eine schon 1949 unter der Ägide des damaligen Vorsitzenden Takei Akio formierte Gruppe.128 Sie war eine eigenständige Organisation, die sich im Zuge der Anti-Eells-Kampagne129 1949 als studentische Einheitsfront mit nationalem Aktionsprogramm zusammengeschlossen hatte. Die von H ansen gakudo geleitete Vollversammlung läutete den Wiederaufbau eines kämpferischen Zengakuren ein, der dem Schutz des Friedens statt den genuinen Bedürfnissen des alltäglichen Lebens Priorität beimessen sollte. Ihrer reorganisierenden Wirkung wegen wird die Versammlung auch als der 2. Gründungskongreß des Zengakuren bezeichnet.

Das erste Thema, auf das sich dieser erneuerte Zengakuren konzen­trierte, war der Kampf gegen die Erweiterung des US-Militärstützpunk­tes in Sunagawa (Stadt Tachikawa/Tökyö).130 Im Laufe dieses Kamp-

127 Zur näheren Erläuterung der theoretisch-ideologischen Ausrichtung s. Shinsayoku nijCmen-shi, S. 26f.

128 Die Hansen gakusei domei (Akronym: Hansen gakud6) benannte sich im Mai 1958 in Shakaishugi gakusei domei um (Sozialistischer Studentenbund; Akronym: Shagakud6) und wurde zu einer einflußreichen Organisation innerhalb der sich neu organisierenden Studentenschaft. Die Studierenden in der frühen Hansen-Liga vertraten die Auffassung, daß eine Revolution in Japan nur mit Unterstützung von außerhalb - von internationalen revolutionären Bewegungen - erfolgreich sein könne. Takei Akio wurde wegen seiner Kritik am 1950 einsetzenden Radikalismus der KPJ aus der Partei und später auch aus dem Zengakuren ausgeschlossen. 1956 konnte er letzterem wieder beitreten. Vgl. Voß: Studentische Linke in Japan, s. 79f.

129 Die Anti-Eells-Kampagne gewann im Zusammenhang mit dem Red Purge im Uni­versitätshereich besondere Bedeutung. Walter C. Eells war in der Funktion eines Erziehungsberaters von den USA nach Japan geschickt worden und sollte in einer Vortragsreise an japanischen Hochschulen den anti-kommunistischen Standpunkt des SCAP verdeut!ichen. Zengakuren und der Lehrerverband Nikkyoso kritisierten Eells. Vgl. auch Ono, Tsutomu: "Student Protest in Japan - What 1t Means to Society", in: JSPIJ, Vol. V, No. 2-3 (Dec. 1967), S . 258 bzw. Anm.ll des Übers.; Voß: Studentische Linke in Japan, S. 75f.

130 Der Kampf gegen den Militärstützpunkt seit 1955 ist dokumentiert in: Miyaoka Masao: Sunagawa t6s6 1w kiroku [Dokumentation des Sunagawa-Kampfes]. San'ichi shobo, 1970 (mit Zeittafel 1955-1969).

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fes kam es jedoch zu Streitigkeiten um die taktische Linie der Bewe­gung zwischen der lokalen Studentenkomitee-Führung und dem Gene­ralsekreteriat des Zengakuren. Ein unversöhnlicher Kampf entbrannte zwischen einzelnen . Gruppen des Zengakuren, und einmal mehr wurde deutlich, daß der gegenwärtig in Frage gestellte Marxismus als Leitmo­tiv von Grund auf neu bekräftigt werden mußte. Die erste kritische Formation in dieser Situation war der erwähnte Trotzkistenbund I Kaku­kyodo, dem sich viele studentische Parteimitglieder anschlossen. Rela­tiv eigen in ihrer avantgardistischen Expression des Anti-Stalinismus und Trotzkismus, steuerten die studentischen Kampfgruppen vom rea­len Klassenkampfschauplatz Sunagawa aus auf ihre endogene Selbst­gestaltung als Bewegung zu. Sie stellten nicht mehr ein bloßes Anhäng­sel der Arbeiterbewegung dar, sondern formten einen eigenständigen Korpus. In dieser Phase gewann der zweite Theoretiker in der Vorge­schichte der Neuen Linken, Yamaguchi Ichiri131, an Bedeutung.

Yamaguchi hatte in der Januar-Ausgabe (Nr. 9, Jan. 1958) der Zeit­schrift Marxismus-Leninismus (? Jv ~ ;;z · v-=. y ±.~, Marukusu­Reninshugi)132 einen Aufsatz mit dem Titel "Der Weg der Oktoberrevo­lution und unser Weg - Lernen aus der Geschichte der internationalen kommunistischen Bewegung" veröffentlicht. Dieser Aufsatz löste un­mittelbar nach seinem Erscheinen einen Aufstand der studentischen Parteimitglieder aus und wurde zum ideologischen Stützpfeiler in der Gründungsphase der Neuen Linken. Nach Kuratas Meinung war Yama­guchis Essay in zweierlei Hinsicht von bahnbrechender Bedeutung: "Erstens stellte der Aufsatz damals [ ... ] eine völlige, systematische Ab­lehnung der auf ihren monolithischen Zusammenhalt stolzen internatio­nalen kommunistischen Bewegung und somit der Generallinie der KPJ dar. Und das öffentlich im Blatt einer Tödai-Zelle! Zweitens war der Aufsatz der direkte Anlaß dafür, daß studentische Parteimitglieder, al-

131 Yamaguchi I~hiri ist ein Pseudonym für einen Aktivistennamens Saeki (Vorname unbekannt). Saeki war 1953 an der Univ. T6ky6 in einem Studienzirkel für na­turwissenschaftliche Dialektik mit Shima Shigeo, einem der Gründer des späteren BUNTO (= Ky6sand6; s. Anm.133, 134), bekannt geworden. Shima schildert Saekis wichtige Funktion für den Ky6sand6 in seiner persönlichen, sehr ausführli­chen Darstellung der frühen BUNTO I Ky6sand6-Zeit in Bd. 1 und Bd. 4 der Reihe BUNTO no shis6, S. 3-31 bzw. S. 5-59; zu Yamaguchi alias Saeki s. ebd., S.12f.

132 Marxismus-Leninismus war das Publikationsorgan einer KP-Zelle an der Univ. T6ky6. Der Aufsatz ist vollständig abgedruckt in: Shinsayoku riron zenshi, S. 17-28. Bd. 5 der Reihe BUNTO no shis6 (z. Z. in Vorbereitung) wird alle noch erhal­tenen Nummern der Zs. Marxismus-Leninismus als Nachdruck enthalten.

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len voran die Tödai-Zelle, öffentlich in einen innerparteilichen Kampf mit der KPJ-Zentrale traten, innerhalb eines Jahres eine 'kopernika­nische Wende' vollzogen und dadurch die Weichen für die Gründung der 'neuen Partei der studentischen Komitees: BUNTO' stellten."133

Der 11. Zengakuren-Kongreß im Mai 1958 bestätigte die erhebliche Distanz zwischen dem Zentralkomitee der KPJ und ihrer Studentenor­ganisation. Zengakuren verabschiedete einen Aktionsplan, schlug einen neuen Kurs ein und schuf eine neue 'Partei' des Studentenverbandes. Dieser Akt führte im Dezember 1958 zum endgültigen Bruch mit dem ZK der Kommunistischen Partei und zur Gründung des besagten BUNTO 1 Kyosandßl34 (Bund der Kommunisten), das heißt zur Geburt der Neuen Linken. "Mit ihrem Auftreten begann eine neue Entwicklung im japanischen Klassenkampf."135

1.3 Ideologie des Kakukyodo und des Kyosando

Yamaguchis Essay wurde zu einer Waffe der Kritik in den Händen der nationalen Studentenbewegung und zur ersten schriftlichen Grundlage der BUNTO-Theoretiker. Er war ein Versuch, den Marxismus-Leninis­mus zu rehabilitieren und einen Ausgangspunkt für eine neue Revoluti­onstheorie festzulegen. Der Zengakuren mußte davor bewahrt werden, von dem Strom der beständig nach rechts driftenden etablierten Linken ( = KPJ, SPJ und Söhyö) mitgerissen zu werden. Die neue Partei sollte diese Aufgabe bewältigen, die Kampfbereitschaft des Zengakuren vermitteln und eine eruptive Entwicklung des Massenkampfes einleiten. Zu solchem Zwecke "hatte der Yamaguchi-Aufsatz aus den Lehren der russischen Oktoberrevolution die in Vergessenheit geratene Weltrevo­lution auferstehen lassen. Der sterbende Klassenkampfcharakter der

133 Shinsayoku nijCmen-shi, S. 28. - Der Begriff BUNTO ist die Übertragung des deutschen Wortes "Bund" und rekurriert auf den 1847 gegründeten "Bund der Kommunisten". BUNTO ist synonym mit dem im folg. Abschnitt erwähnten Kyosando.

134 Kyosanshugisha domei, Akronym: Kyosando oder BUNTO (s. vorherige Anm.). Voß: Studentische Linke in Japan, S. 84, beziffert die Anhängerschaft des BUNTO zur Zeit seiner Gründung auf über 2000 Studenten. Zum Vergleich: 1957 waren im Zengakuren 238 jichikai zusammengeschlossen, die 264.00 Studenten repräsen­tierten. Ebd., S. 83.

135 Shinsayoku nijunen-shi, S.13.

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Volksfront-Taktik sollte wieder aufgerüttelt und der [Welt-]Revolution eine Zukunft in Aussicht gestellt werden. "136

Der Kakukyodo kritisierte den Plan des Kyosando. Für den Kaku­kyodo als japanischer Sektion der Vierten Internationale bildete ein a~fklärerisch-werbender Gruppencharakter das Fundament für den Par­teiaufbau. Er betrachtete die Kyosando-Theorie als verräterische Ge­schichtsauffassung und legte programmatisch den Schwerpunkt auf "Antiimperialismus und Anti-Stalinismus". Dieser allen späteren Fak­tionen des Kakukyodo gemeinsame Slogan137 fußte auf einem Pro­gramm, das erläuterte, wie die damalige sowjetische Revolutionstheorie in die Weltrevolutionsstrategie einbezogen werden könnte.

Führender Theoretiker des Kakukyodo zu jener Zeit war Kuroda Kan'ichi (Mitbegründer des Trotzkistenbundes ).138 Er sah den grundle­genden Bezugspunkt für die Realisierung der Weltrevolution in einem revolutionären Marxismus. Die "Antiimperialismus und Anti-Stalinis­mus"-Theorie bestimmte die KPdSU als 'harte' und die KP Chinas als 'weiche' Stalinisten. Der vietnamesische Revolutionskrieg wurde als Stellvertreterkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion definiert. Bezeichnend für diese Theorie des Kakukyodo war, daß sie sich gegen die wesentlichen Argumente der Stalinisten richtete und gleichermaßen die sowjetische wie die chinesische Form der 'kolonisierenden Revolu­tion' ablehnte.139

136 Ebd., S. 28.

137 Intern bestanden Meinungsverschiedenheiten zwischen der Kansai-Faktion des Kakukyodo und dem Kakukyodo-Nationales Komitee über eine These Trotzkis zur Zerschlagung der Stalinistenbürokratie und über den defensiven Kurs der KPdSU. Der Kakukyodo spaltete sich bis 1959 gleich zweimal: Anfang 1958 bildeten Öta RyG und seine Anhänger die bis heute als Dai-4-/nta I Nihon shibu bestehende ja­panische Sektion der 4. Internationale, die damals als "Kansai-Faktion" bezeichnet wurde; im August 1959 trat dem eine von Kuroda Kan'ichi angeführte, die Affini­tät zu Trotzki mehr und mehr ablehnende "Kuroda-Faktion" gegenüber. Der ur­sprüngliche Trotzkistenbund hatte sich also bereits vor 1960 in drei Stränge ge­teilt, die aber nach wie vor unter dem Namen Kakukyodo subsumiert blieben.

138 Kuroda Kan'ichis bürgerlicher Name ist Kuroda Hirokazu (geb. 1927). Als ein­flußreicher ideologischer Führer des Kakukyodo in den 60er Jahren hat Kuroda auch danach viele Veröffentlichungen zu Marxismus, Materialismus, Dialektik und Logik verfaßt Tsurumi Kazuko bezeichnet Kuroda als einen "blind philosopher", der "militant critiques of Stalinism in its philosophical aspects" veröffentlichte. Tsurumi, Kazuko: Social Change and the Individual. Princeton/N.J.: Princeton Univ. Press, 1970, S. 378, Anm. 8.

139 Shinsayoku nijunen-shi, S. 28f.

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5) Trotzki anerkannte zwar die Bedeutung des von Lcnin beschwo­renen Bündnisses von Arbeitern und Bauern, entschied aber, daß es eine Diktatur eines solchen Bündnisses nicht geben dürfe. Deshalb forderte er die Diktatur des Proletariats. Lenin forderte die Diktatur von Arbeitern und Bauern, 163 vergaß aber nie, die Hegemonie des Proletariats zu betonen.

6) Bis zum Friedensvertrag von Brest-Litowsk164 gab es keine ent­schieden unversöhnlichen Konfrontationen zwischen Lenin und Trotzki. Erst im Zuge dieses Vertrages kam es zunehmend zu Feindseligkeiten. Unter Stalins Herrschaft nach dem Tode Lenins wurde der Aufbau des »Sozialismus in einem Land« schwä­cher; die Diskussion der »friedlichen Koexistenz« blühte. Trotzki lehnte diese Linie bis unmittelbar vor seinem Tode ab und be­stand kontinuierlich auf seiner Theorie von der »permanenten Revolution«. Sein Revolutionsgeist allerdings schwand immer mehr. Er gab sich bündnisbereit und kooperativ, nur damit in der Sowjetunion die Macht bewahrt werden konnte. Die von ihm 1938 gegründete Vierte Internationale verfiel in sektiererische Dispute, die bis heute anhalten, so daß ihre Organisationsstruktur nicht über das Dasein von Studienzirkeln hinausgeht.165

Aufgrund dieser hier nur in groben Zügen angeführten Argumentati­on betrachteten die meisten Gruppen der Neuen Linken Japans das von der KPJ gefällte Pauschalurteil "Trotzkisten" als reichlich unzutreffend. Die bloße Reduktion der Unterschiede in den Theorien Trotzkis und

163 Zur Unterscheidung Lenins zwischen Arbeitern und Bauern s. Lenin: Ausgewählte Werke, Bd. 2. Frankfurt a. M.: Verlag Marxistische Blätter GmbH, 1970, S. 338-340.

164 Am 3.3.1918 schlossen die Mittelmächte (Deutschland, Österreich-Ungarn, Bul­garien, Türkei) einen Friedensvertrag mit Sowjetrußland. Vorausgegangen war ei­ne deutsche militärische Offensive, verbunden mit einem Ultimatum, das zu harten Auseinandersetzungen in der sowjetrussischen Regierung und im ZK führte . Lenin konnte die Annahme des Vertrages durchsetzen, nachdem er mit Rücktritt gedroht hatte. Sowjetrußland mußte auf das Baltikum, Polen, Finnland und die Ukraine verzichten. Zum Zustandekommen und Wortlaut des Vertrages s. u. a. Handbuch der Verträge, S.171-175.

165 In diesem Punkt stimmte die trotzkistische 4. Internationale-Japanische Sektion(= Dai-4-Inta) freilich nicht mit den übrigen Gruppen überein . (Zur Dai-4-Inta s. Anm. 136.)

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER NEUEN LINKEN IN JAPAN 77

Lenins auf die Frage "Diktatur des Proletariats - ja oder nein?" war für sie höchst unzulänglich.166

Die ideologische Ausrichtung der frühen Neue-Linke-Bewegung kann in bezug auf die Parteiorganisationstheorie Lenins als "lenini­stisch" eingeordnet werden167, als "trotzkistisch" dagegen in bezug auf die Elemente, die dem Konzept der "permanenten Revolution" ent­nommen wurden. Weder die Anhänger des Kyosando noch die des Ka­kukyodo (mit Ausnahme der Dai-4-Intti) können als orthodoxe Trotzki­sten im Sinne einer Billigung sämtlicher Lehren Trotzkis bezeichnet werden.

1.3.4 Die 'revolutionäre Praxis'

Die Anhänger der Neuen Linken fanden in der zweiten Hälfte der fünf­ziger Jahre eine Reihe von Anlässen, bei denen ihre theoretischen Überzeugungen in der Praxis erprobt werden konnten. Die schon er­wähnten Kämpfe in Sunagawa gegen die Erweiterung des US-Militär­stützpunktes warein Schauplatz ihrer Aktionen. Aktiv wurden Studen­ten aber auch im Kampf gegen verschiedene Gesetze(svorlagen) der konservativen LDP-Regierung. Das geplante Polizeidienstgesetz (Kei­shoku-ho)168 beispielsweise konnte wegen des Widerstandes von Ge­werkschaften, Oppositionsparteien und Zengakuren auch unter verstärk­tem Druck von seiten des Ministerpräsidenten Kishi nicht durchs Par­lament gebracht werden.

Gemeinsam mit Nikkyoso, der (damals sehr linksgerichteten) japani­schen Lehrergewerkschaft, protestierte Zengakuren gegen das System zur "Evaluation von Arbeitsleistungen" der Lehrer169 und gegen die

166 Kurata: Ampo Zengakuren, S. 33.

167 Als Vorlage galt Lenins Werk "Was tun?", in: Lenin: Ausgewählte Werke, Bd.1, S.175-324.

168 Das eigentliche "Gesetz über die Erfüllung der Dienstpflichten des Polizeibeam­ten", das Keishoku-ho (Keisatsu-kan shokumu shikko-ho, im Unterschied zum Po­lizeigesetz, Keisatsu-ho [1954]), war bereits 1948 in Kraft getreten. 1958 sollten der Polizei jedoch erweiterte Befugnisse per Gesetz bei Verhören, Festnahmen, Durchsuchungen u. ä. eingeräumt werden. Zum Originaltext des Keishoku-ho s. Mohan roppo, S. 403.

169 Bei dieser Leistungsüberwachung (kinmu hyotei, Akronym: kinpyo) sollten z . B. Schulleiter regelmäßig Berichte über die Leistungen des Lehrkörpers abliefern, um inkompetente Pädagogen aus den Schulen entfernen zu können. Auch die falsche politische Einstellung war ein Kriterium für Nichttauglichkeit

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1958 vom Erziehungministerium oktroyierte 'Moralkunde' 170. Auch mit dem Widerstand der Kohlebergbauarbeiter gegen Massenentlassun­gen in Miike (1959-60)171 solidarisierten sich die studentischen Ver­bände.

Andere Themen und Anlässe für aktiven Protest waren die Wasser­stoff- und Atombombentests der USA und der Sowjetunion, die Erhö­hung von Studiengebühren, vor allem an den privaten Universitäten und schließlich die bevorstehende Revision des Ampo-Vertrages (ab 1959). Die Demonstrationen vor Mitte 1959 verliefen - aus heutiger Sicht -relativ friedlich. Gewaltanwendung beschränkte sich auf handgreifliche Auseinandersetzungen mit der Polizei auf den Straßen; Plakate, Fahnen, zeitweilige Sitzblockaden und Sprechchöre172 waren die hauptsächlich augewandten Mittel der Protestkundgabe. Im Gegensatz zu den von der KPJ zwischen 1950 und 1955 augewandten Protestformen mit Moloto­wcocktails und ähnlichem zeigte sich der B UNTO-Zengakuren in der Anfangsphase seiner 'revolutionären Praxis' recht zurückhaltend. Die Militanz sollte jedoch nicht lange auf sich warten lassen.

1.4. Zusammenfassung der Jahre 1957 bis 1959

Das Jahr 1957 wird gemeinhin als das Geburtsjahr der Neuen Linken J apans verstanden. Wenngleich noch nicht alle Organisationen ihre offizielle Gründungsversammlung abgehalten hatten, war von den Anti­Yoyogi-Gruppen doch der endgültige Bruch mit der KPJ vollzogen und der Aufbau einer neuen Avantgardepartei als Ziel deklariert worden.

170 dotoku kyoiku; die japanische Jugend in den Grund- und Mittelschulen sollte mittels Moralkunde-Unterricht zur Achtung sittlicher Werte angehalten werden. Kritiker befürchteten hingegen ein erneutes Aufkeimen der kokutai-Indoktrination aus der Vorkriegszeit. Vgl. dazu u. a. Osada, Arata: "Problems Involved in Provi­ding Ethical Education", in: JSPJJ, Vol.1, No. 3 (Dec. 1963), S . 67-70.

171 Der Kampf der Arbeiter in den Mitsui-Kohlegruben von Miike (KyushG) gilt als der größte Arbeitskampf im Nachkriegsjapan. Die Managementseite der Kohle­gruben plante wegen der anhaltenden Flaute im Bergbau eine Unternehmenskon­solidierung. Um diese durchzusetzen, sollten 2.000, vornehmlich organisierte, Ar­beitnehmer entlassen und dadurch auch die Miike-Gewerkschaft (damals die stärkste in Japan) handlungsunfähig gemacht werden. Zu den Arbeitskämpfen der Nachkriegsära, insbesondere den Miike-Kämpfen, s. u. a. Kawanishi, Hirosuke (Hg.) : Japan im Umbruch. Köln: Bund Verlag, 1989 (= WSI-Studien zur Wirt­schafts- und Sozialforschung, 64).

172 Für "Sprechchor" wird dabei im Japanischen die phonetische Wiedergabe des deutschen Wortes in Katakana (supurehikoru) verwendet.

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER NEUEN LINKEN IN JAPAN 79

Die Jahreswende 1957/ 58 leitete die Bildung der drei Organisationen der Neuen Linken ein, die in der Folgezeit den studentischen Dachver­band Zengakuren dominieren sollten: Kakukyodo, BUNTO I Kyosando und Shagakudo, letztere als Fortsetzung der 1949 gegründeten studenti­schen Antikriegsliga Hansen gakudo.l73 Während Shagakudo sich we­niger ins Kreuzfeuer ideologischer Debatten stellte, war bei den erste­ren beiden die Festlegung der "Parteilinie" von zentraler Bedeutung.

Der BUNTO betonte den politischen Kampf gegenüber dem öko­nomischen, der vor allem von der Kansai-Gruppe des Kakukyodo im Kampf gegen die Rationalisierung174 in der Arbeitswelt vertreten wur­de. Ohne den sozialen und ökonomischen Konditionen der japanischen Arbeitnehmer größere Beachtung zu schenken, kritisierte der BUNTO die von SPJ und Söhyö initiierten Frühjahrslohnkämpfe und forderte stattdessen einen Generalstreik. Die Arbeiterklasse werde sich jederzeit gegen Unterdrückung und Ausbeutung erheben, es bedürfe lediglich einer geeigneten politischen Führung. Die aus dem realpolitischen Kampf entstehende (echte) Avantgardepartei sollte diese Führung auf sich nehmen. Diese subjektivistische Haltung war charakeristisch für den frühen Kyosando. Bei Kakukyodo hingegen war die Formierung der 'Partei' in kleinerem Rahmen dem aktiven Kampf vorgeschaltet Weite­re Parteimitglieder sollten dann über Studienzirkel und Informations­veranstaltungen rekrutiert werden; dies seien wesentliche Vorausset­zungen. Der BUNTO stieß mit seiner Forderung nach unmittelbarem aktivem Kampf auf großen Zuspruch in der Studentenbewegung und konnte bald die Anhänger des Shagakudo für sich gewinnen. Allerdings zog der Einfluß des BUNTO über die Reihen der Studenten hinaus keine sehr weiten Kreise. Seine 'Avantgarde' -Position sollte mit dem Abflau­en der Ampo-Kämpfe von 1960 auch mehr und mehr dahinschwinden.

Insgesamt läßt sich der BUNTO I Kyosando, dessen weitere Entwick­lung vorrangig verfolgt werden soll, in seiner Anfangsphase wie folgt charakterisieren:

173 Zu Hansen gakudo und Shagakudo s. Anm.127.

174 Der Begriff Rationalisierung (gorika) hat im Japanischen eine umfassendere Be­deutling als im Deutschen. Mutö beispielweise schreibt: "[ ... ] gorika, a word which may be translated literally as rationalization but which conveys in the Japa­nese context a peculiar degree of thoroughness, intensity, and refinement whereby the buildup of new capacities, application of new technological methods, restraints on organization of labour, and enforcement of new kinds of labour control devised to preempt and decimate workers' power are originally linked." Mutö: "Class struggle", S. 118f.

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80 JAPANS NEUE LINKE

Während die theoretisch-ideelle Ebene des BUNTO von einem dogmatischen 'klassischen Marxismus' 175 bestimmt war, orien­tierte er sich in ökonomischen Fragen an der 'Drei-Stufen-Theo­rie' von Uno K6z6.176 In seiner Politik und in der Diskussion um die Sowjetunion wurde er stark von Trotzki beeinflußt und in der Philosophie von Kuroda Kan'ichi, Umemoto Katsumi und Exi­stentialisten wie Sartre.177

Das eigentlich Neue an der Neuen Linken bestand weder in ihrem Streben nach dem Aufbauder Avantgardepartei noch in ihren Aktions­formen, sondern in der Tatsache, daß sich zehn Jahre nach der Grün­dung des Zengakuren ein unerwartet großer Teil der japanischen S tu­dentenschaft der bis dato herrschenden Kontrolle der etablierten Lin­ken, allen voran der KPJ, entzog und mit eigenen Theorien, Strategien und Ideen eine neue Form der Partizipation am politischen Prozeß im Lande hervorbrachte. Die Studenten, die Hauptträger der Neuen Lin­ken, traten nicht als zukünftige gesellschaftliche Elite, sondern als Menschen, die ebenso aktiv wie die Arbeiter und mit diesen zusammen auf gleichberechtigter Ebene, als Verbündete, den Klassenkampf führen wollten. Das Selbstverständnis als eigenständiges und sehr wohl ernst zu nehmendes soziales Stratum erzeugte ein neues Selbstbewußtsein,

175 Die BUNTD-Anhänger bezogen sich vorwiegend auf die frühen Schriften Marx' (Ökonomisch-philosophische Manuskripte, Thesen über Feuerbach, Die deutsche Ideologie [letztere: Marx / Engels]), die den Entfremdungsbegriff hervorheben.

176 Uno K6z6 (1897-1977) war marxistischer Ökonom und übte mit seinen Theorien großen Einfluß auf die akademische Welt im Nachkriegsjapan aus . Uno suchte in seinen Wirtschaftstheorien die Ökonomie von ideologischen Debatten über soziale Klassen zu trennen und sie als reine, objektive Wissenschaft zu etablieren. Seine Studien zur Marxistischen Ökonomie teilte er in drei Stufen ein: »Theorie«, »Stu­dium der drei Entwicklungsstufen des Kapitalismus« und »Analyse der gegenwär­tigen Situation«. Uno vertrat die Auffassung, daß die reine Theorie des Kapitalis­mus den tatsächlichen Prozeß der Wirtschaft nicht im Detail zu erklären vermöge. Nur unter Rücksichtnahme auf die Stufentheorie der kapitalistischen Entwicklung, d. h. die drei Stufen Merkantilismus, Liberalismus und Imperialismus als For­mungstypen des Kapitalismus, könne die exakte Reichweite und Bedeutung der reinen Theorie unzwe.i.deutig erfaßt werden. Vgl. Uno K.: Keizai genron [Grund­lagen der politischen Okonomie] . Iwanami shoten, 1964; idem: Principles of Poli­tical Economy: Theory of a Purely Capitalist Society. Sussex, N. J. : Ha1vester / Hu­manities, 1980 (=Marxist Theory and Contemporary Capitalism, 24). Kurze Skiz­zierung der Theorie auch in KEJ, Bd. 8, S. 173f.; s. auch Hiroomi Fukuzawa: Aspekte der Marx-Rezeption in Japan. Bochum: Studienverlag Dr. N. Brockmeyer, 1981 (= Berliner Beiträge zur sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Japan­Forschung, 10), S.129ff.

177 Kurata: Ampo Zengakuren, S. 47.

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER NEUEN LINKEN IN JAPAN 81

das wiederum Energien freisetzte für eigenständiges Handeln. Bemer­kenswert ist zudem, daß der unmittelbare Anlaß für das Entstehen die­ser neuen Bewegung kein hochschulpolititisches Konfliktthema wie Universitätsverwaltung oder Hochschulautonomie war, sondern der Unmut über die Ignoranz und das Chaos in den Reihen der Kommuni­stischen Partei Japans sowie das daraus resultierende Bedürfnis nach unabhängiger Bestimmung des eigenen Handelns. Im Japanischen steht für diese angestrebte Eigenverantwortlichkeit, für die "Subjektheit", der Begriff shutaisei. Wiedergegeben mit "Selbstheit" (Koepping), "Selbst­sein" (Seiffert) und im Englischen mit "seljhood" (Tsurumi / D. F. Wheeler) oder "subjecthood" (Lifton), steht shutaisei für die Suche der jungen japanischen Nachkriegsgeneration nach nach Identität und Un­abhängigkeit.178 Die Problematik der shutaisei des Einzelnen für sich selbst und der shutaisei als Paradigma des erfolgreichen revoluionären Kampfes zieht sich bis in die Gegenwart hinein als latentes, übergeord­netes philosophisches Leitkonzept durch die gesamte Bewegung.

2. Ampo-Kampf 1960

2.1 Einleitung

Japan und die USA hatten am 8. September 1951, parallel zum Frie­densvertag von San Francisco, 179 einen bilateralen Sicherheitsvertrag (Nichi-Bei anzen hosho joyaku, Akronym: Ampo) geschlossen, der ebenso wie der Friedensvertag am 28. April des folgenden Jahres in Kraft trat. Der Sicherheitsvertrag, ergänzt durch ein beiderseitiges Ver­waltungsabkommen, in dem die Bedingungen für die Präsenz US-

178 Koepping, KJaus-Peter: "Motive und Taktiken der japanischen Studentenrebelli­on", in: lndo Asia 12 (1970), S. 285. Seiffert, Johannes Ernst: Zengakuren. Uni­versität und Widerstand in Japan . München: Trikont Verlag, 1969, S. 41. Tsurumi: Social Change and the Individual, S.311. Wheeler: The Japanese Student Move­ment, S. 73. Lifton, Robert J.: "Youth and History: 'Individual Change in Postwar Japan"', in: Erikson, Erik H. : The Challenge of Youth. N. Y.: Doubleday, 1963, S. 274.- Vgl. auch Teil I, Abschnitt 1.1.2.

179 Der Friedensvertrag wurde von Japan und 48 Staaten auf seiten der (ehemaligen) Alliierten unterzeichnet, jedoch von der UdSSR, Polen und der Tchechoslowakei abgelehnt. Lediglich 27 Signatarstaaten neben Japan ratifizierten ihn zwischen 1952 und 1956, darunter die USA, Großbritannien und Frankreich. Der volle Wortlaut des Vertrages in japanischer Sprache findet sich in Nihon gaiko-shi jiten, Anhang, S. 234-241. Zur Vorgeschichte des Vertrages und seinen wesentlichen In­halten s. auch Handbuch der Verträge, S. 518-524; Vertrags-Ploetz, S. 40~11.

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amerikanischer Truppen auf dem japanischen Archipel festgelegt wa­ren, räumte den Vereinigten Staaten auf militärischem und sicherheits­politischem Gebiet zahlreiche Vorrechte ein. Die für die japanische Seite konfliktträchtigsten Artikel des Sicherheitsvertrages180, Artikel 1, 2 und 4, besagten im wesentlichen folgendes:

Japan gesteht den USA bei Inkrafttreten des Friedensvertrages und dieses Vertrages das Recht auf Stationierung amerikanischer Land-, Luft- und Seestreitkräfte in und um Japan zu. Diese kön­nen zur Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit im Fernen Osten sowie zum Schutz Ja­pans gegen einen Angriff von außen eingesetzt und auf aus­drückliches Ersuchen der japanischen Regierung zur Hilfelei­stung bei der Unterdrückung von großangelegten Unruhen und Aufruhr in Japan selbst herangezogen werden, die auf Betreiben oder durch Intervention einer oder mehrerer ausländischer Mächte hervorgerufen werden. (Art. 1)

- Für die Dauer der Ausübung des in Artikel 1 genannten Rechtes wird Japan ohne vorherige Zustimmung der USA an dritte Mächte keinerlei Stützpunkte oder Rechte darauf gewähren noch irgendwelche Rechte auf Truppenstationierung, das Abhalten von Manövern oder Transitrechte für Land-, Luft- oder Seestreitkräfte irgendeiner dritten Macht. (Art. 2)

- Dieser Vertrag tritt erst außer Kraft, wenn nach Ansicht der Re­gierungen beider Staaten Vereinbarungen im Rahmen der Verein­ten Nationen oder anderweitige individuelle oder kollektive Si­cherheitsvereinbarungen wirksam geworden sind, welche die Aufrechterhaltung des Friedens und der internationalen Sicher­heit im genannten Raum hinreichend garantieren. (Art. 4)

180 Voller Wortlaut des aus Präambel und 5 Art. bestehenden Vertrages in Nihon gai­k6-shi jiten, Anhang, S . 241f.; Packard: Protest in Tokyo, S. 355-357; Vertrags­Ploetz, S. 412f.; kurze Einführung nebst Art. 1 bis 3 in Handbuch der Verträge, S. 524f. Einen knappen, gleichwohl informativen Überblick über Vorgeschichte und Inhalte dieses Vertrages, der im untrennbaren Zusammenhang mit dem Frie­densvertrag von San Francisco stand und als Resultat des Ka lten Krieges zwischen den USA und der Sowjetunion, namentlich des Koreakrieges (Juni 1950-Juli 1953), gesehen werden muß, bieten Nihon gaik6-shi jiten, S. 658-660; KEJ, Bd. 8, S. 165f. Zur Reaktion der japanischen Bevölkerung auf den Sicherheitsvertrag s . insbesondere Packard: Protest in Tokyo, S. 3-31; Havens: Fire Across the Sea, S. 7-13 .

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Durch Artikel 1 war es den USA freigestellt, von ihren japanischen Basen aus militärisch zu agieren, ohne vorher die japanische Regierung zu konsultieren; sie waren mithin in der Lage, Japan bewußt der Gefahr eines gegnerischen Angriffes auszusetzen. Das am 28. Februar 1952 unterzeichnete beiderseitge Verwaltungsabkommen, einschließlich der fünf Monate später im Gemeinsamen Ausschuß beider Staaten erzielten Übereinkunft, 181 legte als Obergrenze für die amerikanische Truppen­stationierung 1.400 Einrichtungen und Gelände in ganz Japan fest. Die­se waren, ebenso wie die Zufahrtswege zu ihnen zu Wasser, zu Lande oder in der Luft, den USA kostenlos zur Verfügung zu stellen; außer­dem hatte Japan alljährlich einen finanziellen Beitrag zu ihrem Unter­halt zu leisten.

Der Ampo-Vertrag war eindeutig zugunsten der Vereinigten Staaten abgeschlossen worden. Doch in Japan regte sich zu jener Zeit außer bei der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei wenig Widerstand gegen die Benachteiligung. Ein Grund dafür lag in der Tatsache, daß Japan sich zur Zeit der Unterzeichnung des Friedens- und Sicherheits­vertrages noch unter amerikanischer Besatzung befand und deshalb nur zaghaft gegen die USA aufzubegehren vermochte. Ein weiterer Grund war der, daß die durch den Friedensvertrag ermöglichte Aussicht auf das Ende eben jener Besatzungszeit und die Wiedererlangung der Sou­veränität das Sentiment der Bevölkerung wesentlich stärker beeinflußte als die Diskussion um militärische Stützpunkte. Im Gegenteil: War nicht die enge Anhindung an die USA eine sicherheitspolitisch kluge Entscheidungangesichts des Kalten Krieges, der sich just das Nachbar­land Korea als Schlachtfeld ausgesucht hatte? Überdies versprach die wirtschaftliche Kooperation mit den Vereinigten Staaten einen be­schleunigten Wiederaufbau der japanischen Industrie durch technische Hilfe, Know-How und Kredite. Gleichzeitig diente Nordamerika im Außenhandel als sicherer Absatzmarkt für japanische Exporte.

Die kommunistischen Staaten beurteilten den Sicherheitsvertrag als Mittel zur Konsolidierung der amerikanischen Kontrolle über Japan und

181 Grundlage des Verwaltungsabkommens, dessen Präambel und 29 Art. am 28.4.1952 in Kraft traten, war Art. 3 des Sicherheitsvertrages. ,Art. 26 des Verwal­tungsabkommens sah die Einrichtung eines Gemeinsamen Ausschusses zur Be­handlung von Fragen und Problemen im Zusammenhang mit der Stationierung amerik. Streitkräfte in Japan vor. Zu beiden Übereinkünften, die als Regierungs­vereinbarungen dem japanischen Parlament nicht zur Beratung vorgelegt zu wer­den brauchten, s. Packard: Protest in Tokyo, S. 6-8.

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84 JAPANS NEUE LINKE

als Zeugnis der aggressiven Haltung der USA, vor allem gegenüber der Sowjetunion und China. Packard formuliert:

The security treaty became a constant target for Russian and Chi­nese attacks during the 1950's. The Soviet Union used it as a pretext for blackballing Japan from the United Nations until 1956 and has continued up to now [1965; C.D.] to use it to avoid signing a peace treaty on terms acceptable to Japan. Mixing threats and and promises in their stormy romance with Japan during the 1950's, the Chinese reminded successive governments in Tokyo and hundreds of Japanese visitors to the mainland that relations could be patched up if, among other things, the security treaty were abolished; reversion to dangeraus militarism under the treaty, they warned, would mean forfeiting all the advantages of trade and cultural exchange with the mainland and would Iead Japan to new disasters. This anti-treaty propagandawas intended to appeal to the pacifist and neutralist sentiment in Japan, as weil as to goad Japan's national pride.182

Mit der wiedererlangten Souveränität, dem wirtschaftlichen Auf­schwung und dem dadurch auch wachsenden Nationalstolz führten die Unausgewogenheiten des Sicherheitsvertrages im Laufe der fünfziger Jahre zu mehr und mehr Dissonanzen in den japanisch-amerikanischen Beziehungen. Zwar verteidigte die japanische Regierung nach wie vor den Ampo-Vertrag, doch die Stimmung in der Bevölkerung und die veränderte wirtschaftliche sowie außenpolitische Situation 183 erforder­ten 1957 zumindest eine baldige Modifizierung des Vertragstextes. Dem Kishi-Kabinett oblag es, eine Revision des ungleichen Abkommens in

182 Ebd., S. 10.

183 Auf einstimmigen Beschluß der UNO-Vollversammlung war Japan am 18.12.1956 als 80. Vollmitglied in die Vereinten Nationen aufgenommen worden (vgl. Showa­shi jiten, S. 500). Möglich geworden war die Aufnahme erst durch das lokrafttre­ten der Sowjetisch-japanischen Deklaration über die Beendigung des Kriegszu­standes zwischen beiden Ländern und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen sechs Tage zuvor, die am 19.10. d. J. in Moskau unterzeichnet worden war. Zum vollen Wortlaut der Deklaration s. Nihon gaiko-shi jiten, Anhang, S. 276--278; zu ihren wesentlichen Inhalten s. auch Vertrags-Ploetz, S. 534f., und Handbuch der Verträge, S. 620f.- Der Deklaration, die u. a. die baldige Aufnahme von Verhand­lungen zur Verbesserung der Handelsbeziehungen zwischen beiden Staaten vorsah (Art. 7), war ein Protokoll über die Entwicklung des Handels und die gegenseitige Gewährung der Meistbegünstigung angefügt. - Handelsbeziehungen zur Volksre­publik China und Nordvietnam waren ebenfalls seit Mitte der 50er Jahre wieder zustande gekommen, obschon Japan die Regierungen der beiden Staaten . ai.cht an­erkannte. Vgl. auch Havens: FireAcross the Sea, S. 7-19.

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER NEUEN LINKEN IN JAPAN 85

die Wege zu leiten. Die linken Oppositionellen sahen darin die Chance, die Auslöschung des gesamten Ampo-Vertrages durchzusetzen.

Sozialisten, Kommunisten und sogenannte "progressive Intellektuel­le" (kakushin interi) hatten seit 1951 gegen das Vertragswerk prote­stiert. Die Argumentation des linken Flügels der SPJ184 war die, daß Japan sich durch den Vertrag den USA unterordne. Die Partei plädierte für Japans Neutralität und betrachtete die Einrichtung der 75.000 Mann starken Nationalen Polizeireserve - dem Nukleus der heutigen Selbst­verteidigungsstreitkräfte185 - als verfassungswidrig. Die Beibehaltung der amerikanischen Truppenpräsenz auf japanischem Territorium kon­stituiere ein Kriegspotential, das laut Artikel 9 der Verfassung verboten sei.186 Die KPJ sprach sich nicht gegen Japans Recht auf Selbstvertei­digung aus,187 klagte aber die Yoshida-Regierung an, mit dem Sicher­heitsvertrag J apans freundschaftliche Beziehungen zu Moskau und Pe­king zu opfern. Die Erlaubnis, amerikanische Streitkräfte auf japani­schem Boden zu stationieren, setze Japans Unabhängigkeit aufs Spiel und berge das Risiko in sich, Japan in einen Atomkrieg zu verwik­keln.188 Die "progressiven Intellektuellen", marxistisch orientiert und primär auf Friedensschaffung durch soziale Umorganisation bedacht, sahen das Hemmnis für den Weltfrieden im kapitalistischen System begründet. Sie forderten, ebenso wie die SPJ, Neutralität für Japan.189 Mit geschärftem Sinn für die neue Demokratie sprachen sie Tabu­Themen wie die Frage der Mitschuld oder des Mitwirkens der Intellek­tuellen an den Geschehnissen vor und während des Zweiten Weltkrieges

184 Der linke Flügel der SPJ opponierte sowohl gegen den Friedens- als auch gegen den Sicherheitsvertrag. Der rechte Flügel hingegen akzeptierte zwar den Friedens-, nicht aber den Sicherheitsvertrag. Die orthodox-marxistische Linie der Linken ablehnend, spalteten sich die Rechten im Zuge dieser parteiinternen Querelen ab und gründeten 1960 die Demokratisch-Sozialistische Partei Japans (DSP).

185 Die Nationale Polizeireserve wurde 1950 auf Anordnung des SCAP von Minister­präsident Yoshida Shigeru ins Leben gerufen. 1952 wurde ihre Stärke auf 110.000, 1954 auf 200.000 Mann aufgestockt. Seit 1954 fungiert die Polizeireserve offiziell als Selbstverteidigungsstreitkraft (jieitai). Die SPJ sah darin eine Verletzung des Art. 9 der Japanischen Verfassung, welcher die Haltung von Land-, See- und Luftstreitkräften verbietet; vgl. Reinhard Neumann: Änderung und Wandlung der Japanischen Verfassung. Berlin/Bonn/München: Heymanns, 1980. (=Japanisches Recht, 12), S. 71ff.

186 Vgl. Packard: Protest in Tokyo , S.19f.

187 Vgl. Muto: Class struggle, S.120-122.

188 Vgl. Packard: Protest in Tokyo, S. 23-25.

189 Ebd., S. 26--31.

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an. Die Haltung dieser Intellektuellen änderte an der Regierungpolitik nichts, aber ihr Einfluß auf die Studenten und die übrige Anti-Ampo­Bewegung Ende der 50er Jahre war um so wirkungsvoller.

2.2 Neue Linke und Ampo-Kampf 1960

2.2.1 Parlament und Kokumin kaigi

Die Oppositionsparteien, S6hy6, die KPJ- wie auch die Anti-KPJ-Grup­pen der Studenten und nahezu ein Drittel der übrigen Bevölkerung fühl­ten sich 1959 gemeinsam zum Kampf gegen die Revision des Ampo­Vertrages berufen.190 Sie schlossen sich im Frühjahr 1959 zu einer "Volkskonferenz gegen die Revision des Ampo-Vertrages" (Ampo joya­ku kaitei soshi kokumin kaigi, Akronym: Kokumin kaigi) zusammen. Ihre Hauptforderungen waren die Abschaffung des Ampo-Vertrages, Auflösung der US-Militärstützpunkte, Unabhängigkeit und Neutralität Japans. Die Argumente der Ampo-Gegener, die durch die SPJ und KPJ auch im Parlament vorgetragen wurden, standen den Ansichten der Konservativen diametral entgegen. Die LDP, wenngleich interfaktioneil wegen Kishis Vorgehen zerstritten,191 begründete ihre pro-Ampo-Hal-

190 Neben George Packards Standardwerk sind die Ampo-Kampf-Aktionen der Jahre 1959/60 u. a. geschildert in Shinobu Seizabur6: Ampo toso-shi [Geschichte des Ampo-Kampfes]. Sekai shoin, 1967 [Beobachterperspektive]; Sait6 lchir6: Ampo toso-shi [Geschichte des Ampo-Kampfes]. San'ichi shob6, 1962 [Kokumin kaigi­Perspektive]; Kurata: Ampo Zengakuren. [Schwerpunkt: Rolle des Zengakuren und der Neuen Linken in den Kämpfen]; Ishida Ikuo: Ampo, Hansen, Okinawa. San'ichi shob6, 1969 [Teilnehmerperspektive mit viel Sympathie für Arbeiter- und Anti-Militärbasenkämpfe]. Scalapino, Robert/ Junnosuke MASUMI: "The Crisis of May-June, 1960- A Case Study in Japanese Politics", in: Gusfield, Joseph R. (ed.): Protest, Reform and Revolt. AReader in Social Movements. N.Y./Lon­don/Sydney /Toronto: John Wiley & Sons, 1970, S. 274-298 [Schwerpunkt: LDP­interne und innerparlamentarische Auseinandersetzungen; Rolle Kishis]. An Auf­sätzen in Zs.en s. u. a. Fukuda, Kan'ichi: "The May-June Incident", in: Far Eastern Survey, Val. 24, No.10 (1960), S.146-151; Matsumoto, Sannosuke: "The 1960 Demonstrations and Their Intellectual Aftermath", in: JSPIJ, Vol.1, No. 2 (1963), S. 2-8. Zur Bewegung für die Abschaffung des Sicherheitsvertrages s. schließlich den instruktiven Kurzbeitrag von Kösaka Masataka in Nihon gaiko-shi jiten, S. 662f., s. v. "Nichi-Bei anpo j6yaku kaitei soshi und6".

191 Kishi, der den Revisionsentwurf mit beispielloser Rigidität durch das Parlament zu bringen suchte, hatte keinen geschlossenen Rückhalt in der eigenen Partei. Aspi­ranten auf seine Nachfolge saßen bereits 'in den Startlöchern' . Vgl. dazu Scalapi­no/Masumi : "Crisis of May-June", 1960; Packard: Protest in Tokyo, S. 33-81.

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER NEUEN LINKEN IN JAPAN 87

tung (Beibehaltung des Vertrages, aber in revidierter Form) folgender­maßen:192

a) Japan ist von feindlichen Staaten umgeben und kann deshalb kei­ne Neutralität riskieren. Für die kommunistischen Staaten ist eine neutrale Haltung nicht legitim. Eine Übereinkunft zwischen Ja­pan und ihnen würde jederzeit unilateral von ihnen verletzt wer­den, wenn die Verfolgung ihrer Absichten es erfordern sollte. Ein wehrloses Japan stellt für Sicherheit und Frieden auf jeden Fall eine größere Gefahr als ein militärisches Bündnis mit den USA dar.

b) Die Aufrechterhaltung eines globalen Kräftegleichgewichtes (balance of power) ist das beste Mittel, um einen Krieg zwischen den kommunistischen und den nichtkommunistischen Kräften zu vermeiden. Japan trägt moralische Verantwortung für diese Auf­rechterhaltung. Da es außerhalb des eigenen Territoriums nicht militärisch agieren kann, sollte es den USA bei der Unterstützung nichtkommunistischer Kräfte in Asien behilflich sein, indem es die Benutzung militärischer Einrichtungen gestattet.

c) Japan hat durch die Allianz mit den USA größtmögliche Vorteile im ökonomischen Bereich erzielt. Ohne die finanzielle, wirt­schaftliche und technische Hilfe der Vereinigten Staaten wäre Ja­pan niemals in solch kurzer Zeit zu derart hoher wirtschaftlicher Prosperität gelangt.

d) Im Außenhandel ist Japan abhängig von Amerika; ein Drittel von J apans gesamtem Handel wird mit den USA und Kanada abge­wickelt. Eine neutralistische Außenpolitik würde die derzeitige Verbundenheit mit den USA aufs Spiel setzen und negative Auswirkung für jeden einzelnen in Japan haben.

Der Revisionsentwurf sah die Eliminierung aller bisherigen Un­gleichheiten vor. So etwa die Bedingung, daß die USA vor einem Ein­griff in einen regionalen Konflikt von japanischem Boden aus die japa­nische Regierung konsultieren müsse. Der eindeutig gegen die japani­schen Kommunisten gerichtete Passus, mit amerikanischer Hilfe inner­japanische Konflikte beizulegen (Art. 1), sowie das Verbot, irgendeiner dritten Nation ohne das Einverständnis der USA die Errichtung von

192 Die folg. Auflistung ist zusammengestellt nach Scalapino/ Masumi: "Crisis of May-June, 1960", S . 275-277.

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88 JAPANS NEUE LINKE

Stützpunkten zu gewähren (Art. 2), sollten ebenfalls gestrichen wer­den.193 Den Konservativen erschien damit das wesentliche Problem der als 'Eingriff in die Souveränität Japans' interpretierten Passagen des Vertragstextes gelöst. Die Revisionsverhandlungen sollten auf Basis von Kooperation, nicht Subordination, vonstatten gehen. Das militäri­sche Bündnis diene ausschließlich Verteidigungszwecken.

Die Arnpo-Gegner betrachteten die Sache anders. Viele hatten das Desaster des Zweiten Weltkriegs noch nicht vergessen. Es herrschte Angst vor einem Nuklearwaffenkrieg, zumal tausende Menschen als lebendige Mahnmale der Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki (1945) gegenwärtig waren. Da Japan gerade für China und die Sowjetunion ein geographisch nahes Ziel darstelle, sei, so die Begrün­dung, politische Neutralität der sicherste Schutz vor einem Angriff. Neutralität würde bewirken, daß sich dem von Rohstoffexport und Au­ßenhandel abhängigen Japan neue Märkte eröffneten, die zusätzlich zu den bereits bestehenden genutzt werden könnten. Amerikanische Mili­tärbasen auf japanischem Boden seien nicht nur gefährlich, sondern gleichzeitig Symbole für eine immer noch währende Okkupation, für Arnerika-Hörigkeit.194

Nicht zu übersehen ist, daß der Forderung nach einem neutralen und unabhängigen Japan ein gewisser Grad von Nationalismus innewohnte. Das Spektrum der Vertragsgegner umfaßte deshalb neben linken Inter­nationalisten auch eine Vielzahl patriotisch-nationalistisch Gesinnter rechter und subjektiv linker Couleur. Daß die Vertreter beider Ausrich­tungen sich in der Frage des Sicherheitsvertrages auf die Parole "Nieder mit dem Arnpo-Vertrag!" (Ampo funsai!) einigen konnten, überdeckte die Divergenzen innerhalb der Kokumin kaigi und gewährleistete das Zustandekommen ihrer Einheitsaktionen. Die unterschiedlichen kausa-

193 Dem wurde im Amerikanisch-japanischen Vertrag über gegenseitige Zusammenar­beit und Sicherheit tatsächlich Rechnung getragen. Der Inhalt dieses Vertrages, der am 19.1.1960 in Washington unterzeichnet wurde und nach beiderseitiger Ratifi ­zierung am 23 .6. d. J. in Kraft trat, bestand aus einer Präambel, 10 Art., 1 Zusatz­abkommen, 1 Protokoll und 5 Notenwechseln. Sein voller Wortlaut (mit Ausnah­me des Zusatzabkommens) ist auf Japanisch in Nihon gaiko-shi jiten, Anhang, S . 282-287, und auf Engl. in Packard: Protest in Tokyo, S. 364--375, abgedruckt. Zum Inhalt der wesentlichen Art. des Vertrages selbst wie auch des aus 28 Art. bestehenden Zusatzabkommens zu Art. 6 des Vertrages, Einrichtungen und Gelän­de sowie den Status der amerik. Streitkräfte in Japan betreffend, s. Handbuch der Verträge, S. 688-690 .

194 Vgl. Scalapino/ Masumi: Crisis of May-June, 1960, S. 278.

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER NEUEN LINKEN IN JAPAN 89

len Zusammenhänge der Faktoren Frieden, Neutralität, Nationalismus und Sozialismus / Kommunismus wurden erst deutlich, als die (Anti-Yo­yogi-)Zengakuren-Gruppen mit dem Versuch scheiterten, die Kokumin kaigi für ihren revolutionären Kampf zu instrumentalisieren.

2.2.2 Die Gruppen der Neuen Linken

2.2.2.1 Der Stunn auf das Parlamentsgelände

Alle im Dachverband Zengakuren zusammengeschlossenen Gruppen hatten seit Mitte des Jahres 1959 im Verein mit der Kokumin kaigi an Protestdemonstrationen gegen die Revision des Ampo-Vertrages teilge­nommen.195 Die Veranstaltungen waren friedlich und ohne Zwischen­fälle verlaufen. Als achte Einheitsaktion war für den 27. November des Jahres eine Demonstration vor dem Parlamentsgebäude geplant.196 Während die Koordinatoren der Kokumin kaigi für die Gesamtorgani­sation des Demonstrationszuges zuständig waren, bereiteten die einzel­nen Mitgliedsgruppen ihre jeweiligen Plakate, Parolen und gesonderte Aktionen vor. So plante Zengakuren, an diesem Tag das Eingangstor zum Parlamentsgelände zu stürmen.197 SPJ, KPJ und die Gewerk­schaftsführer wollten unter allen Umständen von solch einer Aktion absehen. Vertreter der SPJ hatten zu diesem Zweck ein geheimes Ab­kommen (mitsuyaku) mit der Polizei getroffen, das vorsah, einige Ak-

195 Zur Entwicklung des Zengakuren seit dem Ampo-Kampf 1960 bis zur Zeit der Studentenunruhen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre s. auch Ino Kenji: Zenga­kuren. Kakumei ni kakeru seishun [Zengakuren. Die Jugend setzt auf Revolution]. Futabasha, 1968.

196 An dieser Demonstration nahmen 27.000 Menschen teil, bei den Auseinanderset­zungen mit Polizeikräften wurden 300 Personen verletzt. Vgl. Showa-shi jiten, S. 533. Nach Sengo-shi daijiten, S. 1071, betrug die Teilnehmerzahl über 20.000 Personen. Das Koan chosa-cho (Public Security Investigation Agency) des Ju­stizministeriums nannte eine Zahl von 25.000 Teilnehmern, wohingegen die Ko­kumin kaigi selbst von 80.000 Demonstranten sprach. Die Japan Times vom 28.11.1959 gab die Zahl der Verletzten mit 673 (432 Demonstranten, 241 Polizi­sten) an. Vgl. Packard: Protest in Tokyo, S.164, 167.- Bei diesen zum Teil erheb­lich divergierenden Zahlen stellt sich das Problem ihrer Glaubwürdigkeit. Sie scheinen in der Regel je nach dem vom Beobachter favorisierten Blickwinkel hö­her oder niedriger auszufallen, so daß letzlieh keine Quelle die Gewähr für objek­tiv korrekte Angaben bietet. Angaben zu Demonstrationen, Verletzten u. a. m. sind daher in der vorliegenden Arbeit grundsätzlich unter gewissem Vorbehalt zu be­trachten.

197 S. dazu auch Shinsayoku riron zenshi, S. 86-106.

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90 JAPANS NEUE LINKE

tivisten bis auf das Gelände vordringen zu lassen, dann aber umgehend für Kontrolle und Ordnung zu sorgen. Allerdings erfuhren die Zengaku­ren-Führer am Vorabend des 27. November von diesem geheimen Ab­kommen und beschlossen nach der Devise "Jetzt erst recht!" auf ihrer Vorstandskonferenz, "das Parlament bis auf das Geländeinnere zu stür­men" .198 Der Plan gelang. Ohne jegliche Bewaffnung (mi ni suntetsu mo obizu ni) durchbrachen die Studenten mit spontaner Unterstützung der Arbeiter die Kette von Bereitschaftspolizisten (kidotai) vor dem Haupttor des Parlamentsgeländes und strömten zu Hunderten hindurch. Die Organisatoren der Kokumin kaigi versuchten vergebens, mit Laut­sprecherdurchsagen die Lage unter ihre Kontrolle zu bringen. Studenten und Arbeiter hielten, ihren 'grandiosen Sieg' feiernd, bis zum Abend das Gelände besetzt.

Für die Vertreter der Neuen Linken war jene Aktion das Signal für den kommenden, gemeinsam mit der Arbeiterklasse zu bestreitenden Revolutionskampf Die unerwartete Unterstützung der Arbeiter bei der Stürmung des Geländes werteten sie als Beweis dafür, daß die bürgerli­chen Gewerkschaftsführer bislang ihre Mitglieder nur als funktionali­sierte Masse, etwa bei den Frühjahrslohnoffensiven, behandelt hatten. Durch die drohenden Entlassungen sowie abwechselnden Spaltungen und Fusionen von Gewerkschaften der Klein- und Mittelindustrie habe das Vertrauen in die Gewerkschaftsführung gelitten. Die Arbeiterbewe­gung verlange nach einer neuen Führung, die ihre Energie für den revo­lutionären Kampf gegen das Kapital nutze.199 Am 27. November sei buchstäblich "Arm in Arm mit der Arbeiterklasse" gekämpft worden. Die Prognosen für die kommende Kampfphase waren dementsprechend von Euphorie geprägt; die sozialistische Revolution in Japan schien zum Greifen nahe. J(yosando fühlte sich in seiner Organisationstheorie vom 'Parteiaufbau via realem politischem Kampf' bestätigt. Die Versu­che der Oppositions- und Gewerkschaftsführung, die Ordnung wieder­herzustellen, wurden als eindeutiges Zeichen für die Kollaboration der etablierten (Alten) Linken mit der herrschenden Klasse gewertet. Daß die KPJ sich geradezu als "Retterin der herrschenden Klasse" erwiesen hatte, deutete die Neue Linke als "Verfallsprozeß vom 'Mythos der

198 Vgl. Kurata: Ampo Zengakuren, S. 20f.

199 Ebd., S. 16f.

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER NEUEN LINKEN IN JAPAN 91

Avangardepartei' Japans" - als Verrat an der Arbeiterklasse schlecht­hin.200

Bei den gemäßigteren Gruppen in der Kokumin kaigi war die Eska­lation der Parlamentsdemonstration indes auf völlige Ablehnung gesto­ßen. Konsterniert durch die plötzliche Militanz des Zengakuren­'Sturmkommandos' und unfähig, die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen, hatte vor allem das friedliche Image der SPJ Blessuren erlitten. Die Folge war, erwartungsgemäß, der Ausschluß des Zengakuren aus der Volkskonferenz. Die unterschiedlichen Beweggründe, die sich hin­ter der Einheitsparole "Nieder mit dem Ampo-Vertrag!" verbargen, waren durch die offensive Sturmaktion unmißverständlich zutage getre­ten. 201 Die Differenzen zwischen Zengakuren und Kokumin kaigi waren an einem irreversiblen Konfrontationspunkt angelangt. Zudem hatte nun innerhalb des Zengakuren die Kontroverse zwischen dem KPJ- und dem Anti-KPJ-Lager ihren Höhepunkt erreicht. Voß schreibt dazu:

Die KPJ affilierten [sie] Studenten lehnten die Militanz des Hauptstroms (Kyösandö und Kakukyödö) deshalb ab, weil -zu diesem Zeitpunkt - ihrer Meinung nach nur eine 'Zweistufen­Revolution' in Japan erfolgreich sein könnte. Zunächst müßte man den US-Imperialismus überwinden, um eine bürgerliche Re­volution einleiten zu können, der dann erst eine sozialistische Revolution folgen könnte. Für die KPJ-Studentengruppe war die Hauptstoßrichtung des Anpo-Kampfes gegen die USA und deren imperialistische Ziele, nicht aber gegen das japanische Monopol­kapital gerichtet.202

200 Ebd., S. 23f. Zur 'Abrechnung' Kuroda Kan'ichis mit der Kokumin kaigi nach den Ampo-Kämpfen s. Voß: Studentische Linke in Japan, S. 94f.

201 Auf dem zuvor am 6. August 1959 in Hiroshima eröffneten »Weltkongreß zum Verbot von Atombomben«, war innerhalb der Friedensbewegung, die damals von Shimizu !kutan) und der KPJ angeführt wurde, über die gesellschaftspolitische Einordnug des Ampo-Kampfes debattiert worden. "Während insbesondere der Zengakuren auf dieser Veranstaltung gefordert hatte, dem Ampo-Kampf eine ge­bührende Position innerhalb der Friedensbewegung[= Anti-A- und H-Bombenbe­wegung; C. D.] einzuräumen, hatte die Führung der Friedensbewegung entgegnet, daß es 'linksradikal' sei, die Ampo-Bewegung als politisches Thema in die Anti­A- und H-Bombenbewegung hineinzuziehen, und ihren eigentlichen Grundsätzen widerspreche". Kurata: Ampo Zengakuren, S.18. Shimizu !kutan) bezeichnete im Nachhinein den Ampo-Zengakuren als "glücklosen Protagonisten" (fukona shuya­ku; ebd., S . 17) und hat sich in den sechziger Jahren offen von der Anti-Ampo­Bewegung distanziert bzw. ist zur Rechten übergewechselt. Vgl. u. a. Krauss, Ellis S.: Japanese Radicals Revisited. Student Protest in Postwar Japan. Berke­Iey/L.A./London: Univ. ofCalifornia Press, 1974, S.2-5.

202 Voß: Studentische Linke in Japan, S. 95.

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92 lAPANS NEUE LINKE

Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzungen in der Ampo­Oppositionsbewegung bereiteten die Gruppen der Neuen Linken im weiteren ihre Protestaktionen im Alleingang vor, bei denen sie gleich­wohl als Vertreter des Zengakuren auftraten. Die Phase der Radikalisie­rung des Ampo-Zengakuren nach dem Sturm auf das Parlamentsgelän­de vom 27. November 1959 bis zum Höhepunkt der Kämpfe im Mai / Juni 1960 soll im folgenden anband einiger Beispiele verdeutlicht wer­den.

2.2.2.2 Weitere Aktionen

Die erste aufsehenerregende Aktion der Neuen Linken nach der erfolg­reichen Sturmaktion war der Versuch, den USA-Besuch Kishis203 zu verhindern. Geplant war, den Ministerpräsidenten am Tag seiner Abrei­se, dem 16. Januar 1960, am Flughafen Haneda abzufangen. Söhyö, KPJ und SPJ hatten im Dezember des Vorjahres erwogen, im Rahmen der Kokumin kaigi eine Demonstration vor dem Flughafen abzuhalten, dann aber entschieden, in der Stadtmitte von Tökyö zu demonstrieren, um eine Eskalation wie die im November auf jeden Fall zu verhin­dern.204 Am Vorabend des 16. Januar fuhren die Zengakuren-Gruppen schubweise mit Bussen und Zügen nach Haneda, um möglichst unauf­fällig in das Flughafengebäude zu gelangen. Als die Bereitschaftspoli­zei einige Stunden später eintraf- zunächst in Zivil, dann mit unifor­mierten Trupps -, wurde allen Ankommenden, die nach "Student" aus­sahen, der Eintritt in das Flughafengebäude verwehrt. Es kam zu tätli­chen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Zengakuren inner­und außerhalb des Gebäudes. Eine in der Lobby aufgebaute Barrikade wurde niedergerissen und alle Studenten, die sich dahinter verschanzt hatten, wurden nach draußen gejagt. Den insgesamt etwa 2.000 Zenga­kuren-Aktivisten,205 unterstützt von etlichen Gewerkschaftern, blieb nur noch die Belagerung der äußeren Zugänge zum Gelände. Kishi, der über Nebenstraßen die Innenstadt verlassen hatte, konnte mit seiner Eskorte ungehindert zum Flugzeug gelangen. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang, daß, wenngleich die Handgemenge mit der kidotai von

203 Der revidierte Sicherheitsvertrag sollte in Washington unterzeichnet werden.

204 Zu den diesbezügl. Diskussionen der Parteien und Sohyos s. Packard: Protest in Tokyo, S.173- 178; Kurata: Ampo Zengakuren, S. 92-99.

205 Laut Showa-shi jiten, S. 536, betrug die Anzahl 700.

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER NEUEN LINKEN IN JAPAN 93

gewisser Militanz zeugten, auch bei diesem Haneda-Vorfall außer eini­gen wenigen Studenten, die Stöcke oder Kanthölzer bei sich trugen, niemand bewaffnet war. Beim zweiten Haneda-Vorfall, fünf Monate später, sollte den Protestierenden mehr Erfolg beschieden sein.

Die Niederlage beim ersten Haneda-Vorfa11206 dämpfte die euphori­sche Stimmung im Zengakuren. Die Protestaktionen in den kommenden Monaten, darunter auch einige, die wieder gemeinsam mit der Kokumin kaigi durchgeführt wurden, verliefen wenig spektakulär. Quantitativ al­lerdings war die Anti-Ampo-Bewegung in der Bevölkerung stetig ge­wachsen, so daß in Hochzeiten über 600.000 Menschen an den De­monstrationen teilnahmen.207 Ein Ereignis von katalysierendem Cha­rakter trat am 19. Mai ein, als Kishi die Vertragsratifizierung im Abge­ordnetenhaus in Abwesenheit der Oppositionsparteien und seiner Geg­ner aus den eigenen Reihen durchboxte. 2°8 Kishis Ansehen schwand, sein Rücktritt zeichnete sich ab.

Die Ratifizierungsurkunden sollten anläßlich des Besuches von Prä­sident Eisenhower am 19. Juni ausgetauscht werden. Zengakuren mobi­lisierte dagegen. Die KPJ-affiliierten Studenten und Arbeiter durch­kreuzten jedoch die Pläne der anderen Gruppen, indem es ihnen gelang, den Pressesekretär Eisenhowers, James C. Hagerty, am 10. Juni bei seiner Ankunft auf dem Flughafen Haneda so zu umzingeln, daß er nur mit einem Hubschrauber aus dem Wagen geholt und in die Stadt ge­bracht werden konnte.209 Die japanisch-amerikanischen Beziehungen kühlten durch dieses Vorkommnis um einen weiteren Grad ab, und die japanischen Sicherheitskräfte erklärten, daß sie sich außerstande sähen, vollkommene Sicherheit für den Eisenhower-Besuch zu garantieren.

206 Das hier als "erster" Haneda-Vorfa ll titulierte Ereignis ist nicht zu verwechseln mit dem "I. Haneda-Vorfall" im Herbst 1967, auf den später noch Bezug genommen wird. Dasselbe gilt analog für den nachfolgend erwähnten "zweiten" Haneda-Vor­fall.

207 Andere, lockerer organisierte Protestbewegungen als Kokumin kaigi waren bei­spielsweise von Intellektuellen initiiert worden. Die bekannteste darunter war die Koe naki koe no kai (Voiceless Voices Society), deren Gründerväter die Mitglieder der Shiso no kagaku kenkyu-kai (Society for the Study of the Science of Thought, gegr. 1946 von Tsurumi Shunsuke u. a. bekannten Intellektuellen) waren. Vgl. auch Anm. 65; Havens: Fire Across the Sea, S. 54f.

208 S. dazu u. a. Scalapino/Masumi: "Crisis of May-June", 1960, S. 282f. 209 Hagerty sollte letzte Vorbereitungen für den Austausch der Urkunden treffen.

Ausführliche Beschreibung bei Packard: Protest in Tokyo, S. 285-291.

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106 1APANS NEUE LINKE

I. B UNTO und während der Zeit der Faktionskämpfe eine ganze Reihe von stets auf Uno Közös »Drei-Stufen-Theorie« aufbauenden Thesen zur ökonomischen Entwicklung produziert worden waren, zeugte Iwa­tas Werk erstmals von einer kritischen Herangehensweise an Unos 'Stamokap'-Theorie. Iwata stellte eine krisentheoretische Erklärung des Imperialismus vor, die beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges ansetzt:

Insgesamt betrachtet faßte der Kapitalismus durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Gelegenheit [keiki] beim Schopfe, in das Stadium des imperialistischen Weltkriegs einzutreten. Gerade deshalb hatte die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg die besondere Eigenschaft, nicht mehr einfach eine Phase des Imperialismus als 'höchstes Stadium des Kapitalismus' 247, sondern zum einen eine Periode des Weltsystems Imperialismus, und des weiteren eine Periode des Kollapses des Kapitalismus, der als Weltkapitalismus funktionierte, zu sein. Und dann hat ebenjene Systemkrise des Weltkapitalismus selbst dafür gesorgt, diese Phase zu einer Ära der sozialistischen Revolution werden zu lassen . Die Periode nach dem Ersten Weltkrieg muß als Ära von 'Krieg und Revolu­tion'- als Ära der 'allgemeinen Krise' bestimmt werden.248

Die argumentativen Grundzüge von Iwatas Thesen lagen in der Ana­lyse der kapitalistischen Systemkrise. Der Zusammenbruch der Gold­währung 1929 - und damit der Zusammenbruch des internationalen Währungssystems - habe zur Entstehung eines Überschußkapitals ge­führt, das durch Kapital- und Warenexport nicht mehr verwertet werden konnte. Das Resultat sei eine Politik gewesen, welche die Wirt­schaftsexpansion gewaltsam vorantrieben hätte und unweigerlich in den (zweiten) imperialistischen Krieg gemündet wäre.249 Die derzeitige (1963) Dollarkrise zeige, daß auch die Reorganisation des Währungs­systems nach dem Zweiten Weltkrieg eigentlich nur die Krise der Auf­lösung des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems in sich berge.250

Folglich dürfte die Revolution nicht mehr fern sein. Iwatas Imperialismustheorie (die "Weltkapitalismus-Theorie")251

wurde über verschiedene Faktionen hinweg 'vererbt' so daß sie für den II.BUNTO (1966) und auch für die Chukaku-ha zu einem der wirt-

247 lwata rekurriert hier auf Lenins Werk Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus.

248 Shinsayoku riron zenslzi, S. 283 . 249 Ebd., S. 282. 250 Ebd., S. 284. 251 Shinsayoku nijunen-shi, S. 82.

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER NEUEN LINKEN IN JAPAN 107

schaftstheoretischen Basistexte wurde. Im II.BUNTO verlor sie im Zu­ge der Diskussionen über den Vietnamkrieg an Bedeutung, für die Chukaku-ha aber blieb sie eine Grundlage für neue Theorien.

In der Chukaku-ha war überdies ab 1962 Honda Nobuyoshi zum führenden Theoretiker avanciert. Honda, der bis zu seiner Ermordung 1975 durch die Kakumaru-ha zahlreiche Schriften verfaßte und heraus­gab,252 war der direkte Gegenspieler Kuroda Kan'ichis. Hondas Aufsät­ze, die nicht weiter diskutiert werden sollen, drückten die gegensätzli­chen Positionen der verfeindeten Faktionen Chukaku und Kakumaru deutlich aus: Massenkampf (Chukaku) anstelle von isoliertem Sekten­dasein (Kakumaru) (s.o., Kap. 2).

3.3 Kampfpraxis bis 1969

3.3.1 Aktionen bis 1965

In der ersten Hälfte der Dekade nach dem Ampo-Kampf von 1960 war die revolutionäre Linke Japans durch mangelnden Elan und nachlassen­den Rückhalt in der Studentenbewegung geschwächt. Der Zuwachs an Mitgliedern aus der Arbeiterschaft, der den Verlust an studentischen Mitgliedern ein wenig abfedern konnte, ist unter anderem auf den ge­sellschaftspolitischen Bezugsrahmen der Kampfaktivitäten zurückzu­führen. So war beispielsweise das erste, unmittelbar nach den Allpo­Aktionen angesteuerte Betätigungsfeld die Unterstützung der Bergarbei­ter in Miike. Diese Arbeiter hatten den Ampo-Kampf mit vorangetrie­ben, aber ihre Belange waren aufgrund der Popularität des Allpo­Geschehens in den Hintergrund gerückt worden. Die Miike~Gewerk­

schaft war seit dem 25.Januar 1960 in einen unbefristeten Streik getre­ten.253 Nachdem eine zweite Gewerkschaft in Konkurrenz zur beste­henden Miike-Gewerkschaft gegründet worden war und ein Streik der

· gesamten Bergbaubranche nicht zustandekam (Konkurrenz der Unter-

252 S. etwa Honda Nobuyoshi (Hg.): Shori ni mukatte no shiren [Proben für den Sieg]. Zenshinsha, 1969. Die wichtigsten Schriften Hondas sind in sieben Bänden zu­sammengefaßt: Honda Nobuyoshi chosaku-sen. Zenshinsha, 1975-1981. - Die Zenshinsha ist der Chukaku-eigene Verlag. In den Zeitschriften der Chukaku-ha wird bis heute für Hondas Werke geworben.

253 Die Mitsui-Bergbau-Leitung hatte am 9.11.1959 die Entlassung von 2.000 Ge­werkschaftern durchgesetzt (s. Anm. 171). Daraufhin entzündete sich ein Lang­zeitstreik. Vgl. Kawanishi: Japan im Umbruch, S. 272-277.

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108 JAPANS NEUE LINKE

nehmen übertrug sich auf die Unternehmensgewerkschaften), konnte das Ziel des Kampfes, die Verhinderung der Massenentlassung und Pro­duktionskontrolle, nicht erreicht werden. Am 1. November 1960, nach 282 Tagen Ausstand, wurde ein Kompromißangebot, das die Zentrale Kommission für Arbeitsbeziehungen vermittelt hatte,254 angenommen und der Streik für beendet erklärt. Die Miike-Gewerkschaft hatte eine bittere Niederlage erlitten.

Auf die Unterstützung der Miike-Kämpfe folgte für die Neue Linke im Jahr 1961 ein - diesmal erfolgreicher - Protest gegen die Verab­schiedung eines "Gesetzes zur Vorbeugung von politischen Gewaltak­ten" (Seijiteki boryoku koi boshi-ho, Akronym: Seiboho)255. LDP und DSP (Minshato) hatten im Mai 1961 die Gesetzesvorlage im Oberhaus eingebracht, welche die Kontrolle gewalttätiger politischer Organisatio­nen vorsah sowie das Eindringen ins Parlament während der Sitzungs­periode und in die Residenz des Ministerpräsidenten zu strafbaren Handlungen erklärte. Im April 1962 wurde die Vorlage vom Parlament abgelehnt, nachdem massive Protestaktionen veranstaltet worden wa­ren, an denen sich auch die SPJ, Söhyö und KPJ beteiligt hatten.

Ein weiterer Gesetzesentwurf löste ebenfalls im Jahr 1962 Proteste aus: das Universitätskontrollgesetz (Daigaku kanri-ho, Akronym: Dai­kan-ho).256 Beunruhigt über die politischen Aktivitäten der japanischen Studenten, plante Ministerpräsident Ikeda die Durchführung von Uni-

254 Das Angebot enthielt eine Red uktion der Entlassungen von 2.000 auf 1.200 Per­sonen, eine finanzielle Entschädigung für Arbeiter, die bereit waren, "freiwillig" in Rente zu gehen, sowie ein Programm von Regierungs- und Arbeitgeberseite, ent­lassene Arbeiter umzuschulen und ihnen dadurch zu neuen Anstellungen zu ver­helfen. Vgl. KEJ, Bd. 5, S.169f.

255 Die Schreibweise des Schriftzeichens "ba" in Seihaha ist unterschiedlich. Offiziell wird das ~:Jj von bashi (Vorbeugung) benutzt, aber politisch linksgerichtete Auto­ren scheinen die Benutzung des ~ von baryoku (Gewalt) zu bevorzugen. Vgl. Shinsayoku nijunen-shi, S. 54f.; Shawa-shi jiten, S. 553f.

256 Vgl. zur Problematik des Daikan-ha, auch mit Hochschu lverwaltungsgesetz wie­dergegeben, Voß : Studentische Linke in Japan, S.100, 178f. - Am 17. August 1969 trat, vornehmlich zur Bewältigung von Universitätskonflikten, das Daigaku rinji sochi-ha (Vorläufiges Hochschulkontrollgesetz) trotz starker Proteste von Studierenden und Hochschullehrern in Kraft. Durch dieses auf Grundlage eines Entwurfes des Zentralrates für Erziehung (chukyashin) verabschiedeten Gesetzes konnten Konflikte wie "Studentenunruhen" an den Universitäten unmittelbar un­terdrückt werden. Zur Entwicklung vom Entwurf bis zum lokrafttreten des Geset­zes, inkl. Auszügen aus dem Gesetzestext und der Kritik daran, s. ebd., S. 205-212. Eine kurze Interpretation des Gesetzes bringt Wheeler: The Japanese Student Movement, S. 253-255.

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER NEUEN LINKEN IN JAPAN 109

versitätsreformen, die unter anderem zu einer Einschränkung der Hoch­schulautonomie und zu einer stärkeren Kontrolle des Erziehungsmini­steriums über die Hochschulen führen sollten. Ikedas Vorhaben rief starke Abneigung auf seiten der Lernenden und der Lehrenden hervor. Ihre Proteste bewirkten, daß das Daikan-ho, welches Teil der Reform­pläne war, per Kabinettsentscheid (Januar 1963) nicht dem Parlament vorgelegt wurde.

Partieller Erfolg war 1963 auch den Protesten gegen Atombomben­tests der USA und der UdSSR beschieden, da die Mehrheit der Bevöl­kerung nach den Schocks von Hiroshima und Nagasaki die Forderung nach Einstellung der Tests unterstützte. 25? Großbritannien, die USA und die Sowjetunion unterzeichneten im Juli des Jahres einen befristeten Vertrag zur Einstellung der Bombentests. Das Anlegen amerikanischer Atom-U-Boote in japanischen Häfen war ebenfalls Thema der Anti­Bomben-, Antikriegs- und Neue-Linke-Bewegung in dieser Zeit.

Während die Protest- und Widerstandsaktionen bis 1964 teilweise Erfolge zeitigten, aber nicht von außerordentlicher Tragweite waren, trat 1964/ 65 ein von der Neuen Linken wieder mit wachsender Vehe­menz bekämpftes Objekt auf die (Kampf-)Tagesordnung. Die Regie­rung hatte den Abschluß eines "Normalisierungsvertrages" mit Südko­rea angekündigt. Seit 1951 in der Diskussion, war der sogenannte "Grundlagenvertrag zwischen Japan und (Süd-)Korea" (Nikkan kihon joyaku; kurz: Nikkan) schließlich im Februar 1965 ausgearbeitet und am

257 Die Bewegung gegen Atom- und Wasserstoffbombentests formierte sich in Japan unmittelbar nach dem H-Bomben-Test der USA auf dem Bikini-Atoll am 1.3.1954, bei dem ein japanisches Fischerboot von radioaktivem Niederschlag getroffen wurde. 1955 formierte sich die Japanische Konferenz gegen A- und H-Bomben (Gensuibaku kinshi Nihon kyagikai, Akronym: Gensuikya) mit Unterstützung auch aus konservativen Kreisen. Da Gensuikya bald auch politisch aktiv wurde und u. a. gegen amerik. Militärbasen und den Sicherheitsvertrag agitierte, distanzierte sich die LDP von der Bewegung. Im November 1961 organisierten LDP, DSP und pri­vate Gewerkschaften ihre eigene Bewegung, die Nationale Konferenz für Frieden und gegen Nuklearwaffen (Kakuheiki kinshi heiwa kensetsu kokumin kaigi , Akronym: Kakkin kaigi). Zwei Jahre später, im November 1963, spalteten sich die Sozialisten von Gensuikya ab und gründeten den Japanischen Kongreß gegen A­und H-Bomben (Gensuibaku kinshi Nihon kokumin kaigi, Akronym: Gensuikin). Gensuikya blieb nur mehr KPJ-dominiert. Die Anti-Nuklearwaffen-Bewegung war und ist ein Basiselement der japanischen Friedensbewegung. Detaillierte Darstel­lung u. a. bei Imahori Seiji: Gensuibaku kinshi unda [Die Bewegung für ein A­und H-Bombenverbot]. Ushio shuppansha, 1974 (= Ushio shinsho).

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22. Juni desselben Jahres in Tökyö unterzeichnet worden.258 Gleichzei­tig mit diesem Vertrag, durch den unter anderem normale diplomatische und konsularische Beziehungen zwischen Japan und Südkorea aufge­nommen und alle vor der Annexion Koreas durch Japan (1910) ge­schlossenen Verträge und Abkommen annuliert wurden, erfolgte die Paraphierung einer Reihe weiterer Abkommen über wichtige, zwischen beiden Ländern schwebende Fragen. Dazu gehörten insbesondere ein Fischereiabkommen, ein Abkommen über die Regelung wirtschaftlicher Ansprüche und wirtschaftlicher Zusammenarbeit sowie ein Abkommen über den Rechtsstatus koreanischer Staatsbürger und ihrer Nachkom­men in Japan.259 Das Abkommen über die Regelung wirtschaftlicher Ansprüche sah japanische Darlehen, Staats- und Privatkredite an Süd-, nicht jedoch an Nordkorea vor.

Obgleich weniger heftig als in Korea selbst, demonstrierten in Japan die linken Kräfte gegen den Vertragsabschluß. Zum ersten Mal seit dem Splittergruppen-Chaos (shibungoretsu no j6tai) nach dem Ampo-Kampf fanden sich 1965260 wieder alle Anti-Yoyogi-Gruppen im gemeinsamen Kampf gegen die Ratifizierung dieses Vertrages zusammen, der ihrer Meinung nach zu einem Militärbündnis Japan-USA-Korea expandierte und die beiden asiatischen Staaten doch nur zum Bollwerk gegen den Kommunismus in Asien machte. Auch mit den SPJ-, Söhyö- und KPJ­affiliierten Gruppen fanden gemeinsame Aktionen statt. Ein Antikriegs­Jugendkomitee (Hansen seinen iinkai) wurde am 30. August 1965 ge­gründet und unter der Ägide von SPJ und Söhyö aktiv. Beabsichtigt war, junge Industriearbeiter zum Widerstand gegen den Normalisie-

258 Das japanische Parlament billigte ihn am 11.12.1965; nach Austausch der Ratifi­zierungsurkunden am 18.12. d.J. in Seoul trat er noch amselbenTage in Kraft. Der volle Wortlaut des Vertrages, bestehend aus Präambel und 7 Art., ist in Nihon gaiko-shi, Anhang, S. 300f., abgedruckt; desgleichen in Mohan roppo, S. 2062f.

259 Zu diesen und weiteren Abkommen im Zusammenhang mit dem jap.-korean. Grundlagenvertrag s. Kleiner, Jürgen: Korea. Betrachtungen über ein fernliegen­des Land. Frankfurt a. M.: R. G. Fischer Verlag, 1980, S. 208-211 (ebd. auch An­gaben zum militanten Widerstand in Südkorea gegen den Abschluß des Vertrages); Kindermann, Gottfried-Karl: "Die Außenpolitik der Republik Korea", in: Ma­chetzki, Rüdiger/Manfred Pohl (Hg.): Korea. Wirtschaft, Politik, Kultur, Gesell­schaft, Natur, Gesellschaft, Reisen, Sport. Stuttgart/Wien: Thienemann, 1988 (= Ländermonographien, 16), S.146-157, hier 149-151; KEJ, Bd. 4, S. 287f.

260 Für den gesamten Nikkan-Kampf werden in der Regel die Jahre 1963-65 angege­ben. Seine Höhepunkte fallen jedoch alle in das Jahr 1965. Vgl. Shinsayoku ni­junen-shi, S. 69f.

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rungsvertrag und den Vietnamkrieg261 zu mobilisieren. Das Komitee war deshalb bewußt egalitär und dezentral organisiert. Bei den Herbst­aktionen gegen den Nikkan-Vertrag, die den Höhepunkt des Kampfes bildeten und eine relativ geschlossene Front aller Vertragsgegner dar­stellten, schätzten die Organisatoren die Teilnehmerzahl auf insgesamt drei Millionen.262 Die Studenten organisierten am 29. Oktober eine studentische Einheitsaktion mit Demonstrationen und Kundgebungen an 20 Orten im ganzen Land. Die Anti-Yoyogi-Gruppen brachten dabei allein im Tökyöter Hibiya-Park etwa 4.500 Personen zusammen.263 Der Kampf gegen den Normalisierungsvertrag (Nikkan-t6s6) war seit 1960 das erste Ereignis, das wieder Schwung in die Neue-Linke-Bewegung brachte, und trug zu einer Katharsis in den zersplitterten Faktionen bei.

Ab 1965 führten hauptsächlich das Geschehen in Vietnam und die Ereignisse an den jaE_anischen Universitäten zu Aktivitäten der Neuen Linken. Die Protestformen beschränkten sich immer noch primär auf Demonstrationen, Versammlungen und Agitation in Wort und Schrift. Verändert hatte sich allerdings der Grad der angewandten Gewalt (jitsuryoku). 'Während schon im Ampo-Kampf 1960 der jitsuryoku t6s6, der "gewalttätige" beziehungsweise "militante Kampf'' propagiert, aber in der Praxis nicht ausgetragen worden war,264 war es ob der interfak­tionellen Konkurrenzkämpfe zu einer spezifischen Art interner Ausein­andersetzungen gekommen, für die im Japanischen der Terminus uchi­geba (interfaktionelle Gewalt)265 kreiert worden ist.

261 Die USA hatten 1965 abrupt mit der Bombardierung Nordvietnams begonnen. Zu Anfang des Jahres waren amerik. Bodentruppen nach Südvietnam entsandt wor­den; Ende 1965 betrug deren Zahl 165.000 Mann, denen etwa 180.000 nordviet­namesische und Vietcong-Soldaten gegenüberstanden. Vgl. dtv Brockhaus, Bd.19, S. 183f. Von Okinawa aus waren 3.500 amerik. Marinesoldaten nach Vietnam ent­sandt worden. Vgl. Havens: Fire Across the Sea, S. 54ff.

262 S. ebd., S. 82.

263 S. Shinsayoku nijunen-shi, S. 69f.

264 Vgl. dazu Tsurumi: Student Movement (1), S.449: "[ ... ] toward the end of the anti­anpo campaign, some of the Bund's Ieaders were contemplating a 'violent revolu­tion.' However, it should be noted that not a single politician, person in power or policeman was actually killed or injured either by students or by other demonstra­tors. lt was the students, their professors and other citizens who were attacked and wounded. Even if a 'violent' revolution were contemplated by some of the student Ieaders, they never actually meant to use violence against persons, however vehe­mently they opposed such persons' policies."

265 uchi-geba setzt sich zusammen aus fi:t und Katakana 7 J\, wobei geba wie in gebabo dem dt. Wort "Gewalt" entlehnt ist.

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Im August 1961 war es auf einer Zengakuren-Versammlung zum er­sten uchi-geba-Vorfall gekommen, als zwei konkurrierende Faktionen gewaltsam aufeinandergestoßen waren und eine Kakukyodo-Studenten­gruppe mit Kanthölzern die Oberhand zu gewinnen versucht hatte. Die Gewaltbereitschaft in den eigenen Reihen übertrug sich zunehmend auf die extramuralen Protestaktionen, so daß bis 1967 das Bild der Straßen­demonstrationen eine eigene, als "student style"266 bezeichnete Fasson gewonnen hatte: Helme und Kanthölzer tragende, maskierte und von der Polizei nach "sandwich"-Prinzip267 begleitete Demonstranten zogen durch die Straßen. In den Campuskämpfen an den Universitäten vollzo­gen sich Kampfrituale nach ungeschriebenen Regeln. Auf den neuen Stil der Protestformen soll im anschließenden Abschnitt detailliert ein­gegangen werden; das Phänomen der uchi-geba in seinen extremen Er­scheinungsformen wird in Teil III, Kap. 2 untersucht.

3.3.2 Studentenunruhen und Straßenkämpfe

In den späten sechziger Jahren bot sich der revolutionären Linken Ja­pans eine breite Palette von Betätigungsfeldern. Angefangen mit dem Vietnamkrieg, standen in der Politik noch zwei weitere Themen zur Debatte. Zum einen sollte gegen Ende der Dekade eine erneute Verlän­gerung des japanisch-amerikanischen Sicherheitsvertrages erfolgen, zum anderen bahnte sich, innenpolitisch, eine langwierige Tragödie im Zuge des Flughafenbaus im Umland der Stadt Narita (Präfektur Chiba) an. Zusätzlich dazu erreichten die Studentenunruhen ihren Höhepunkt.

Die Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg allgemein und insbe­sondere gegen die Einbeziehung J apans in das Kriegsgeschehen wurde landesweit angeführt von einer "Bürgervereinigung gegen den Vietnam­krieg" ('Betonamu ni heiwa wo!' shimin rengo, bekannter unter der Kontraktion Beheiren).268 Beheiren war bis 1973 aktiv, als der Waf-

266 Zit. nach: Keisatsu hakusho 1988, S.14.

267 Im Unterschied zu dem "französische Demonstration" genannten Stil, bei dem sich die Demonstranten auf die gesamte Straßenbreite ausdehnen und den Verkehr lahmleg(t)en, eskortieren beim "sandwich"-Sti l zwei Reihen von Polizisten rechts und links den Demonstrationszug, um Eskalationen zu verhindern.

268 Als knappe, aber informative Darstellungen der Reheiren in eng!. Sprache s. etwa Tsurumi, Yoshiyuki: "Beheiren", in: Japan Quarterly, Vol. 16, No. 4 (Oct.-Dec. 1969), S.444-448; Wheeler: The Japanese Student Movement, S. 233- 241. Die Entstehungsgeschichte der Bewegung ist zusammengefaßt in Havens: Fire Across

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fenstillstandsvertrag zwischen den Kriegsparteien unterzeichnet wurde. Ihre organisatorischen Richtlinien und ihre praktische Vorgehensweise räumten Beheiren eine besondere Stellung innerhalb der Bürgerbewe­gungen J apans 'ein. Die Neue Linke beteiligte sich oft an den Aktionen der Beheiren, erregte aber mehr Aufsehen durch ihre Universitäts- und Straßenkämpfe in dieser Zeit. Die japanischen Campusunruhen, ihre Hintergründe und Auswirkungen sind in japanischer wie in europä­ischsprachiger Literatur hinreichend ausführlich thematisiert worden;269

in der vorliegenden Arbeit werden sie daher lediglich in den Fällen Erwähnung finden, in denen die Kausalbeziehung zu den Aktivitäten

the Sea, Kap. 2 (S. 54-83). Eine umfangreiche Zusammenstellung von Originärma­terialien bietet 'Betonamu ni heiwa o!' shimin rengo (Hg.): Shiryo: Beheiren. Ka­wade shobo shinsha, 1974. 3 Bde.

269 Auswahl in westl. Sprachen:

a) Monographien: Battistini, H. Lawrence: The Postwar Student Struggle in Ja­pan. Vermont: Charles E. Tuttle, 1965. Dowsey, Stuart J.: Zengakuren. Japan's Revolutionary Students. Berkeley, California: Ishi Press, 1970. Krauss: Japanese Radicals Revisited. Seiffert: Zengakuren. Universität und Widerstand in Japan. Voß: Die studentische Linke in Japan. Wheeler: The J apanese Student Movement.

b) Aufsätze: Koepping: Motive und Taktiken der japanischen Studentenrebellion; McCormack, Gavan: "The Student Left in Japan", in: New Left Review, 65 (Jan.­Feb. 1971), S. 41-57. Mieczkowski, Seiko: "The Rise and Fall of the Japanese Student Federation (Zengakuren)", in: Asian Thought and Society, Vol. XIV, No. 40 (Jan. 1989), S. 53-58. Ono: "Student Protest in Japan- What lt Means to Society"; Shimbori, Michiya: "Student Radicals in Japan", in: The Annals of the American Academy of Political and Social Science. Philadelphia, 1971. Sunada, Ichiro: Thought and Behaviour of Zengakuren: "Trends in the Japanese Student Movement", in: Asian Survey, Vol. 9, No. 6 (June. 1969), S.457-474. Tsurumi: The Japanese Student Movement (I) + (II); s. auch dt. Übers. jap. Zeitschriftenar­tikel in KAGAMI. Japanischer Zeitschriftenspiegel (Hamburg), 1968-70.

c) Auswahl in japanischer Sprache: Kurata: Ampo Zengakuren; Ino: Zengakuren. Shakai mondai kenkyfikai (Hg.): Zengakuren kakuha. Gakusei undo jiten [Die ein­zelnen Faktionen des Zengakuren. Ein Lexikon der Studentenbewegung]. Futa­basha, 1969. Nakajima Makoto: Zengakuren. San'ichi shobo, 1968. 6saki Hitoshi (Hg.): 'Daigaku funso' o kataru [Erzählen über die Universitätskämpfe]. Yfishindo kobunsha, 1991 (Ein Rückblick aus 'Professorenperspektive'). Nihon hyoronsha henshfibu (Hg.): Zenkoku gakuen toso no kiroku [Dokumentation der landesweiten Campuskämpfe]. Nihon hyoronsha, 1969. 3 Bde. (= Nihon no daigaku kakumei, 1-3}. Takagi: Zengakuren to Zenkyoto; s. auch Tagespresse und zahlreiche Aufsät­ze in Zeitschriften, 1968-70.- Als Theorie zur Studentenbewegung als einer so­zialen Bewegung, die bis heute vielen japanischen Soziologen als Modell für Un­tersuchungen auf Interview-Basis dient, gilt Takahashi Akiras "Nihon gakusei un­do no shiso to kodo (1-4) [Denken und Verhalten der japanischen Studentenbewe­gung]", in: Chuo koron (Mai 1968), S. 256-272, (Juni 1968), S.170--187, (Aug. 1968),S.268-286,(Sep. 1968),S.132-147.

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der Neuen Linken nach 1970 unmittelbar gegeben ist. Eine Zusammen­fassung der extramuralen Kampfaktionen zwischen 1967 und 1971 soll an dieser Stelle als Darstellung des situativen Hintergrundes genügen und der Betrachtungsschwerpunkt vielmehr auf die programmatischen Veränderungen sowie Veränderungen der Protestformen gelegt werden. Als Vorlage der Zusammenfassung dient eine im Sonderbericht des Polizei-Weißbuches von 1988 gegebene Darstellung mit dem Titel "Lebhafte bewaffnete Straßenkämpfe"270, die gleichzeitig die Sichtwei­se der staatlichen Ordnungshüter widerspiegelt. Die Terminologie un­terscheidet sich dieser Perspektive entsprechend in einigen Punkten von der im Umfeld der Neuen Linken gebräuchlichen. So werden die Fak­tionen der Neuen Linken offiziell als "ultralinke Gewaltgruppen" (kyo­kusa boryoku shudan) bezeichnet.

In Übereinstimmung mit einschlägigen Beurteilungen involvierter wie außenstehender Beobachter tituliert auch die japanische Polizei die ' Post-Ampo' -Ära nach 1960 als eine Phase der Spaltungen und des Chaos in der linken Anti-KPJ-Bewegung. Ein Umschwung kam erst nach dem Nikkan-Kampf in Gang.

Die ultralinken Gewaltgruppen, die sich selber als 'Zündstoff für die Revolution ' bezeichneten, nahmen in den späten sechziger Jahren die Ampo-Revision 1970 ins Visier und eröffneten ge­meinsam mit ordentlichen Studenten und jungen Arbeitern einen auf Dauer angelegten, destruktiven ' Ampo-Kampf 1970'. Die Kulisse bildeten die weltweite student-power-Bewegung, die Antikriegs- und Anti-Amerika-Haltung wegen des Vietnamkrie­ges und die allgemeine systemfeindliche Atmosphäre [han-taisei mudo], die an den Universitäten aufgekommen war.271

Im Dezember 1966 hatte sich der sogenannte Sanpa-Zengakuren, ein Zusammenschluß vorwiegend aus Mitgliedern des ehemaligen Kyosan­do , der Chukaku-ha und der Shaseido Kaiho-ha (dem späteren Ka­kurokyo) formiert. Unter der Ägide dieses Sanpa-Zengakuren wurde bereits im Oktober 1967 der Beginn des Ampo-Kampfes 1970 mit der "Verhinderung des Vietnambesuches von Ministerpräsident Satö Eisa­ku" ausgerufen. Der Aufruf machte das Junktim deutlich, das die Fak-

270 Keisatsu hakusho 1988- tokushu: "Kyokusa boryoku shGdan nado no d6k6 to kei­satsu no tai6" [Polizei-Weißbuch 1988 - Sonderthema: "Aktivitäten der ultralin­ken Gewaltgruppen und die Reaktion der Polizei"], S. 7-85 . Das Kap. "Kappa­tsuna gait6 bus6 t6s6, Sh6wa 42 nen koro kara 46 nen koro made" ["Lebhafte be­waffnete Straßenkämpfe 1967-71"] findet sich ebd., S.13-19.

271 Ebd. , S.13.

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tionen der Neuen Linken zwischen der Problematik des Vietnamkrieges und dem Sicherheitsvertrag herstellten. Satö, der auf einer Besuchsreise durch Ozeanien und Südostasien auch in Südvietnam Station machen sollte, konnte zwar die Reise antreten, doch ging die versuchte Verhin­derung als "I. Haneda-Vorfall" in die Geschichte ein. Das Polizei-Weiß­buch schreibt dazu:

Am 8.10.1967 unternahmen ca. 2.500 Personen aus ultralinken Gewaltgruppen in der Überzeugung, daß man den Südvietnam­Besuch von Ministerpräsident Satö verhindern müsse, vom frü ­hen Morgen an einen Ansturm auf den Flughafen Haneda. Sie bewarfen die kontrollierenden Polizei-Einheiten mit Pflasterstei ­nen, schwangen Stöcke und Kanthölzer zum Angriff und verletz­ten auf diese Weise 850 Polizisten und fü nf Zivilisten. Neben sieben Polizeiwagen, die ei ner nach dem anderen in Brand ge­setzt w urden, zerstörten sie weitere 42 Autos und versuchten schließlich, mit einem gestohlenen Polizeiauto zum Flughafen vorzudringen. Auf dem Wege wurde ein Student überfahren und starb. A n diesem Tage nahm das Polizeipräsidium der Präfektur Tökyö 58 Personen, in der Mehrzahl Studenten, wegen Störung von Be­amten bei der Ausübung der Amtsgeschäfte,272 wegen [illegaler] Versammlung mit Mordwerkzeugen273 und anderem mehr auf frischer Tat fest.274

272 kamu shikka bagai: Straftat nach § 95 Abs.1 StOB (Mohan roppa, S.1276): "Wer sich gegen einen Beamten bei der Ausübung seiner Diensthandlung mit Gewalt oder durch Drohung wendet, wird mit Zuchthaus oder Gefängnis bis zu drei Jah­ren bestraft." Das abgeänderte Japanische Strafgesetzbuch vom 10. August 1953, S.14. - Für Straftaten nach § 95 StOB aus politischen Motiven sieht § 40 des Habaha dasselbe Strafmaß vor. S. dazu Anhang: Habaha.

273 kyaki junbi shuga: Straftat nach § 208a StOB (nach dem Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, Gesetz Nr.107 von 1958, hinzugefügt): "Wer in dem Falle, daß sich zwei oder mehr Personen in der Absicht versammeln, einem anderen an Le­ben, Leib oder Eigentum gemeinschaftlich Schaden zuzufügen, sich mit Mord­werkzeugen ausrüstet oder sich in Kenntnis des Vorhandenseins solcher Ausrü­stung versammelt, wird mit Zuchthaus bis zu zwei Jahren bestraft.

Wer im Falle des obigen Absatzes andere veranlaßt, sich mit Mordwerkzeugen auszurüsten, oder in Kenntnis des Vorhandenseins solcher Ausrüstung sich ver­sammeln läßt, wird mit Zuchthaus bis zu drei Jahren bestraft." Mohan roppa, 1292. Der in § 208a Abs.1 vorgesehene Höchstbetrag der Geldstrafe (500V) ist entspre­chend der Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse auf 100.000V erhöht worden. Rechtliche Grundlage dafür ist das "Gesetz hertreffend die zeitweilige Behandlung von Geldstrafen usw." (Bakkinta rinji sochi-ha) von 1948 in der re­vidierten Fassung von 1972, Gesetz Nr. 61. Nach § 3 Abs. 1 dieses Gesetzes beträgt

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Von seiten der linken Aktivisten wurde erklärt, daß die Polizei den Tod des 19 Jahre alten Yamazaki Hiroaki (Student der Universität Kyöto) verschuldet hätte.

Aus polizeilicher Sicht wird der I. Haneda-Vorfall in puncto "Mas­senbewaffnung" (Holzstöcke, Steine) und "geplanter Angriff auf Poli­zei-Einheiten" als ein rapide brutal werdender Kampf eingestuft, der

a) "zum Auslöser für die Eskalation des Kampfes mit gefährlichen Waffen" wurde, und

b) "im nachhinein massiven Einfluß auf den gesteigerten Kampf­geist der ultralinken Gewaltgruppen ausübte, da er eine Hauptrol­le im Szenario des '1970-Kampfes' spielte".275

Der II. Haneda-Vorfall, der im Polizei-Weißbuch nur namentlich er­wähnt wird, ereignete sich am 11. November 1967 und wurde über­schattet von der Selbstverbrennung des 73jährigen Yui Chfinoshin vor der Residenz des Ministerpräsidenten.276 Die Proteste von Beheiren, Hansen seinen iinkai, SPJ und den Neue-Linke-Gruppen am Haneda­Flughafen richteten sich gegen den USA-Besuch Satös, bei dem die japanische Unterstützung der amerikanischen Vietnampolitik erneut bekräftigt und die Aussichten auf die Rückgewinnung Okinawas son­diert werden sollten.

Die "Gewaltgruppen" fuhren zu Beginn des Jahres 1968 mit bewaff­neten Gruppenkämpfen fort, bei denen die Aktionen mehr und mehr außer Kontrolle gerieten. Die wichtigsten Kämpfe bis Ende 1968 waren der »Kampf zur Verhinderung des Anlegens der Enterprise«277 im Ja-

der Höchstbetrag einer Geldstrafe, auf die wegen eines unter das Strafgesetzbuch fallenden Verbrechens erkannt wird, das Zweihundertfache der betreffenden Geld­strafe. Vgl. Mohan roppo, S.1307.

274 Keisatsu hakusho 1988, S.14. 275 Ebd. , S.14.

276 Havens schreibt zu diesem Vorfall: "Yui wrote in his suicide Ietter to Sat6 that he had learned loyalty and patriotism during the Russo-Japanese War of 1904-1905 but now saw the United States repeating in Vietnam the mistakes Japan had made in China during World War II. He said he was writing 'in hopes of ending the suf­fering of the Vietnamese people as soon as possible'. He asked Sat6 to press John­son for an end to the bombings and the start of peace negotiations." Havens: Fire Across the Sea, S. 136.

277 Die Enterprise war ein atomarer Flugzeugträger der USA, der als Kriegsschiff der Siebten US-Flotte im Vietnamkrieg eingesetzt wurde . Die Vorstellung, daß die Enterprise mit einer Ladung Nuklearwaffen in japanischen Häfen anlegen sollte, rief den Widerstand der Friedens- und Anti-Atombomben-Bewegung hervor. Trotz der Proteste legte das Schiff vom 19.-24. Januar 1968 im Hafen von Sasebo (Präf.

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nuar 1968, der »Kampf zur Verhinderung des Baus eines amerikani­sehen Lazaretts in Öji«278, die »Nationale Einheitsaktion zum Geden­ken an den Haneda-Vorfall vom 8. Oktober 1967 « und der »Shinjuku­Aufruhr« im Oktober des Jahres 1968. Letzterer ergeignete sich am 21.10., dem internationalen "Antikriegstag" (10 / 21 Hansen-de).

An diesem Antikriegstag mischten sich laut Polizeibericht etwa 4.000 Ultralinke unter eine über 10.000 Personen umfassende Menge von Schaulustigen in der Umgebung des Tökyöter Shinjuku-Bahnhofs, veranstalteten eine Demonstration und besetzten über viele Stunden hinweg das Bahnhofsgelände. Sie stürzten ins Innere des Bahnhofsge­bäudes und auf die Gleise, besetzten die Eisenbahneinrichtungen, bau­ten Barrikaden aus Zugsitzen und Bahnschwellen, die sie dann in Brand steckten, und zerstörten mit Holzknüppeln und Steinen wahllos das Gebäude, Züge und eine Polizeiwache. Bei diesen Ausschreitungen in Shinjuku nahm das Polizeipräsidium der Präfektur Tökyö 364 Fest­nahmen wegen Aufruhrs279 vor. Hierbei handelte es sich um ein Delikt,

Nagasaki) an; s. auch: "The Enterprise Drama", in: Havens: Fire Across the Sea, S.145- 155; Sasebo 19 nichi shimin no kai (Hg.): Shimin undo no shuppatsu [Der Take-off der Bürgerbewegung]. Shinp6 shinsho, 1968 (zum Kampf der Bürger von Sasebo).

278 In Oji (im Norden von T6ky6) eröffneten die USA am 18. März 1968 ein. Milit~r­hospital mit 400 Betten für verwundete Vietnamkämpfer, ?hne v?rher ~It de! Ja: panischen Regierung Rücksprache gehalten zu haben. Die Regierung In ~okyo

erklärte, daß die Nutzung der Einrichtung den USA laut Ampo-Vertrag zu Jedem gewünschten Zwecke offenstehe, und legte keinen Protest ein. Die Friedensbewe­gung klagte die Regierung der Komplizenschaft mit dem Kriegsführer Amerika an und opponierte gegen das Lazarett.

279 s6j6 (no) zai : Straftaten, die nach §§ 106 u. 107 StGB wie folgt geahndet wurden:

§ 106. Wenn sich eine Menschenmenge zusammenrottet und Gewalt gebraucht oder Drohungen ausstößt, werden sämtliche Beteiligten wegen Aufruhrs wie folgt bestraft: 1. Der Rädelsführer mit Zuchthaus oder Gefängnis von einem bis zu zehn Jahren; 2. Wer den Befehl über die anderen führt oder den anderen vorangehend die Stärke des Aufruhrs erhöht, mit Zuchthaus oder Gefängnis von sechs Monaten bis zu sieben Jahren; 3. Wer sich lediglich der Ansammlung zugesellt, mit Geld­strafe bis zu 50 V.

§ 107. Wenn sich eine Menschenmenge zusammenrottet, um Gewalt zu gebrau­chen oder Drohungen auszustoßen, und sich trotz drei- oder mehrmaliger Auffor­derung seitens des zuständigen Beamten nicht zerstreut, wird der Räd~lsführer mit Zuchthaus oder Gafängnis bis zu drei Jahren, die übrigen Personen mit Geldstrafe bis zu SOV bestraft. Vgl. Mohan roppo, S.1278f.; Das abgeänderte Japanische Strafgesetzbuch vom 10. August 1953, S.16.- Der in §§ 106 u. 107 vorgesehen.e Höchstbetrag der Geldstrafe (50V) beläuft sich derzeit auf 10.000V. Zur rechtli­chen Grundlage dessen s. Anm. 272. - Straftaten nach § 106 StGB aus politischen

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auf das die entsprechenden Paragraphen des Strafgesetzbuches letzten­rnals 16 Jahre zuvor beim "1. Mai-Aufruhr vor dem Kaiserpalast"280 in Verfahren gegen demonstrierende Arbeiter angewandt worden waren. Weitere 86 wurden wegen Störung von Beamten bei der Ausübung der Amtsgeschäfte,281 wegen vorsätzlicher Brandstiftung282 und wegen Vergehen gegen das Eisenbahnbetriebsgesetz283 verhaftet.

Die Gesamtbilanz des Tages lautete: 1.012 Festnahmen landesweit, davon allein 770 in Tökyö, und 1.157 verletzte Polizisten.284 Übertrof­fen wurde die Zahl der Festnahmen nur noch im folgenden Jahr, bei einem abermaligen "Kampf zur Verhinderung des USA-Besuchs von Satö", als die Polizeibehörde zwischen dem 13. und 17. November 2.557 Festnahmen bei einer Mobilisierungsstärke der Ultralinken von 34.000 Personen alleine in Tökyö zählte.285

Besonderer Erwähnung bedarf der 28. April 1969, der seither im Kalender der Neuen Linken als "Okinawa-Tag" gilt. Anläßlich der Ver-

Motiven wurden nach § 40 des Habaha mit Zuchthaus oder Gefängnis bis zu drei Jahren geahndet; s. Anhang: Habaha.

280 Der 1. Mai 1952 ging als der "blutige 1. Mai" ("bloody Mayday") in die Geschich­te der japanischen Arbeiterbewegung ein. Zwischen demonstrierenden Arbeitern und der Bereitschaftspolizei war es zu einer brutalen Straßenschlacht gekommen. Die Eskalation wurde den Kommunisten angelastet, obwohl das provokative Vor­gehen der Polizei der Auslöser gewesen war. V gl. Pohl: Kommunistische Partei Japans, S. 98f). Vgl. auch Kokubun, Yutaka: "The University Problem", in: Dowsey: Zengakuren, S. 134, wo von der Resurrektion des "crime of riotous as­sembly" nach 16 Jahren die Rede ist.

281 S. Anm. 271. 282 haka: Hierunter sind die Straftaten der vorsätzlichen Brandstiftung zu verstehen,

die nach §§ 108 bis 115 StGB geahndet werden. S. dazu im Detail Mohan roppa, S.1279f.; Das abgeänderte Japanische Strafgesetzbuch vom 10. August 1953, S.16f. Vorsätzliche Brandstiftung nach § 108 und § 109 Abs. 1 aus politischen Mo­tiven wird nach § 39 des Habaha mit Zuchthaus oder Gefängnis bis zu fünf Jahren bestraft; s. Anhang: Habaha. Damit liegt das Strafmaß des Habaha im Vergleich zu § 108 StGB (Todesstrafe, lebenslängliches Zuchthaus oder Zuchthaus nicht un­ter fünf Jahren) niedriger; verglichen mit § 109 Abs. 1 StGB (Zuchthaus nicht un­ter zwei Jahren) ist hingegen eine höhere Bestrafung nach dem Habaha möglich.

283 Tetsuda eigya-ha; Gesetz Nr. 65 vom 15. März 1900. Es besteht aus 45 Paragra­phen (§§ 29-43 Strafbestimmungen) und ist abgedruckt in lv!.eiji nenkan harei zensho [Gesammelte Gesetze und Verordnungen der Meiji-Ara ], J g. 33, Bd. 2 (1900). Hg.: Naikaku kanpö-kyoku. Reprint Hara shobö, 1983, S.155-161.

284 Keisatsu hakusho 1988, S. 15. Sawara Yukiko: "The University Struggles", in: Dowsey : Zengakuren, S.136-192, gibt die Zahl der Verhafteten mit insgesamt 1.505, davon 1 .221 in Tökyö, an. Takagi spricht in Shinsayoku sanjunen-shi, S. 71f., von 769 Festnahmen in Shinjuku.

285 Keisatsu hakusho 1988, S.16.

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handlungenzwischen der japanischen und der US-Regierung über eine Rückgabe von Okinawa 1972 an Japan wählten die linken Faktionen das Datum des Ampo-Vertrages aus, um ihre Kritik an diesem Vorhaben kundzutun.286 In der Innenstadt Tökyös, vor allem in den Stadtteilen Ginza und Ochanomizu, kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Bereitschaftspolizei, in deren Vorfeld fünf Führungsmitglieder aus der Chukaku-ha und dem BUNTO gemäß §40 des Habaha (Vor­bereitungshandlungen für Straftaten des Aufruhrs zu politischen Zwek­ken)287 festgenommen wurden. Damit wurde das Habaha zum ersten­mal konkret gegen Aktivisten der Neuen Linken angewandt.288

Durch die Massenfestnahmen und -Verhaftungen Ende 1969 erlitten die Anti-Yoyogi-Gruppen den größten Rückschlag seit ihrer Gründung. Die natürliche Folge war eine stärkere Konzentration auf den Wieder­aufbau ihrer Organisationen, was den Ampo-Kampf 1970 qualitativ schwächer ausfallen ließ als den von 1960. Der für Juni 1970, dem Mo­nat der erneuten Verlängerung des japanisch-amerikanischen Sicher­heitsvertrages, angekündigte Höhepunkt der Kämpfe zeigte wenig mehr als eine demoralisierte Anti-Ampo-Front. Erst ein Jahr später, als die Rückergewinnung Okinawas faktisch in greifbare Nähe rückte, waren die Gruppen der Neuen Linken, zumindest innerlich, wieder so weit gestärkt, daß ihre militanten Aktionen breitere Wirkung erzielen konn­ten.

Die Okinawa-Frage war seit 1969 die eigentliche Triebfeder der Ampo-Protestbewegung gewesen. Die Konditionen des Sicherheitsver­trages blieben im wesentlichen bestehen, aber Ministerpräsident Satö hatte bei seinem USA-Besuch im November 1969 von Präsident Nixon die Zusicherung erhalten, daß die Verwaltungshoheit (shiseiken) über Okinawa 1972 an Japan zurückgegeben würde. Beide hatten ein ge­meinsames Kommunique (kyada seimei) vorbereitet und herausgege­ben, das die Bedingungen für die Rückgabe im Jahre 1972 enthielt. 289

286 Zur Nachkriegsdebatte über den Ryukyu-Archipel, dessen größte Insel Okinawa ist, nebst einschlägiger Literatur s. KEJ, Bd. 6, S. 88-91. Zur Kritik einzelner Fak­tionen der Neuen Linken s. Teil III, Abschnitt 1.2.

.287 Zum Wortlaut des§ 40 des Habaha s. Anhang: Habaha.

288 Der Prozeßverlauf gegen die fünf Aktivisten in den ersten 38 Verhandlungstagen ist ausführlich geschildert in Asada Mitsuterus Chian saiban to habaha und Ha­baha saiban bachaki.

289 Die gemeinsame Erklärung, datiert vom 21.11.1969, ist in japanischer Sprache abgedruckt in Nihon gaikO-shi jiten, Anhang, S. 305-307; ebd., S. 307-311, der volle Wortlaut des Abkommens zwischen den USA und Japan über die Rückgabe

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120 JAPANS NEUE LINKE

Unabhängig von der a priori ablehnenden Haltung gegenüber dem Si­cherheitsvertrag stellte die Rückgewinnung Okinawas für die Neue Linke nichts anderes als eine militärische Zweckhandlung wegen der dort lagernden Nuklearwaffen der USA dar. Da zu den Rückgabebedin­gungen die Klausel gehörte, daß die Stützpunkte auch weiterhin von den amerikanischen Streitkräften genutzt werden dürften, wurde Oki­nawa als Schlupfloch für eine mögliche nukleare Aufrüstung J apans betrachtet.

Die Demonstrationen, Kundgebungen und Straßenkämpfe gegen Ende 1971 verliefen militant und destruktiv. Ein Polizist wurde in Shi­buya durch einen Molotowcocktail getötet (14.11.), in Hibiya brannte ein Restaurant ab. Beide Vorfälle lastete die Polizei der Chukaku-ha an.290 Die Rückgabe Okinawas gemäß dem gemeinsamen japanisch­amerikanischen Kommunique konnte durch die Aktivitäten der Anti­Yoyogi-Faktionen freilich genausowenig verhindert werden wie die Verlängerung des Ampo-Vertrages. "Da die Polizei insgesamt etwa 2.000 Personen verhaftet hatte, ließ die Tatkraft der ultralinken Gewalt­gruppen nach; der langwierige ' 1970-Kampf' erlosch."291

3.4 Theorie und Kampfpraxis bis 1971

3.4.1 Neue Theorien und Konzepte für den bewaffneten Kampf

Laut Einschätzung der Autoren Kurata, Takagi und Takazawa stand die Neue Linke Japans 1969 mit Blick auf den Ampo-Kampf und insbeson­dere die Okinawa-Frage vor einem Wendepunkt, der zu einer Art Neubildung der revolutionären Linken führte und mit dem die Hinwen­dung zu bewaffnetem Kampf (buso toso, im Unterschied zu jitsuryoku toso) einsetzte. Die Problematik der eigenen "Militarisierung" stand zur Debatte, und die zentrale Frage war, wie die Grenzen der an Intensität verlierenden Campus- und Straßenkämpfe überwunden werden konn­ten.292 Der Begriff "Militarisierung" (gunji) bezog sich dabei nicht auf die staatliche Organisierung des Militärwesens, sondern auf die linken

der Ryfikyfi-Inseln an Japan, das am 17.6.1971 in Tokyo und Washington unter­zeichnet wurde und am 15.5. des folgenden Jahres in Kraft trat.

290 Keisatsu hakusho 1988, S. 17. - Shibuya ist ein zentraler Stadtbezirk, Hibiya ein Stadtteil von Tokyo.

291 Ebd., S. 17. 292 Shinsayoku nijunen-shi, S. 138f.

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER NEUEN LINKEN IN JAPAN 121

Faktionen, die sich als kämpfende Armeen verstanden und ihre Mit­glieder auch als "Soldaten" (heishi) bezeichneten. Besonders deutlich wird dieses Selbstverständnis bei der Sekigun-ha, der Roten Armee­Faktion (Stammorganisation: Kyosando), die am 5. September 1969 zum erstenmal an die Öffentlichkeit trat.

Die Sekigun-ha hatte ihre Mitglieder ursprünglich aus der non-sect­Bewegung Zenkyot6293 an den Universitäten rekrutiert, wurde dann jedoch zunehmend für (Ober-)Schüler attraktiv. Die Zenkyoto-Komitees waren jeweils einzeln an den Universitäten als Zusammenschluß von Studenten entstanden, die keiner der bestehenden Parteifaktionen -weder den Pro- noch den Anti-Yoyogi-Faktionen - beitreten, sondern sich als "non-sects" oder "non-poli" im Hochschulkampf engagieren wollten. Die Gruppen der Neuen Linken infiltrierten die Zenkyoto, übernahmen nach und nach ihre Leitung und gründeten, ebenfalls am 5. September 1969, das Zenkoku Zenkyoto ( Gesamtjapanisches Allge­meines Universitätskampfkomitee ), in dem acht Faktionen der Neuen Linken eine Allianz bildeten.294 Nicht vertreten in dieser Allianz war die Kakumaru-ha, die jegliche Koalition ablehnte. 295 Dem Zenkoku Zenkyoto war allerdings keine lange Lebensdauer beschieden; die Or­ganisation brach gegen Ende des Jahres faktisch zusammen.

Die Sekigun-ha, die auf der Gründungsversammlung des Zenkoku Zenkyoto im Tökyöter Hibiya-Park ihr Konzept vorgestellt hatte, strebte "bewaffneten Aufstand" und "Krieg für die Weltrevolution"296 an. Zu diesem Zwecke ging sie im Juli 1971 eine "wilde Ehe" mit der Keihin

293 Zenkyoto ist die Kontraktion von Zengaku kyoto kaigi (Allgemeines Universitäts­kampfkomitee). Dazu detailliert u. a. Takagi: Zengakuren to Zenkyoto; Amano Ya­sukazu: Zenkyoto keiken no gendai [Gegenwartsbezug der Zenkyata-Erfahrung]. Inpakuto shuppansha, 1989; Nihon hyoronsha henshfibu (Hg.): Zenkyoto undo [Die Zenkyoto-Bewegung]. Nihon hyoronsha, 1969. 2 Bde (= Nihon no daigaku kakumei, 5-6); die einschlägige Literatur zu den Studentenunruhen 1968-71.

294 Die vier großen Strömungen (Kakukyodo, Kyosando/Shagakudo, Shaseido und Strukturreformer) waren alle mit studentischen Faktionen vertreten; vgl. dazu auch Matsunami, Michihiro: "Who's Who in Zengakuren and the Youth Movement in 1969", in: Dowsey: Zengakuren, S.242-267.

Die Inaugurationsadresse für Zenkoku Ze11kyot6 schrieb Yamamoto Yoshitaka, der zu der Zeit Vorsitzender der Ze11kyot6 an der U niv. Tokyo war und zu den '11011-sects' zählte. Vollständiger Wortlaut in Shi11sayoku riro11 ze11shi, S. 442-452.

295 Zum Alleingang der Kakumaru in der Zeit der Universitätsunruhen s. Sawara: "The University Struggles; Nakanishi, Masahiro: Kakumaru- Portrait of an Ultra­Radical Group"; beide in: Dowsey: Ze11gakure11, S.136-241.

296 Shi11sayoku 11iju11e11-shi, S. 139.

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122 JAPANS NEUE LINKE

Ampo ky6t6 (Gemeinsame Tokyo-Yokohama-Front gegen den Ampo­Vertrag) ein, die nach Maos Devise »Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen«297 den Kampf mit Schußwaffen praktizierte. Die dem bewaffneten Kampf der Sekigun-ha zugrunde liegende Theorie war eine Deduktion aus der "Theorie der Übergangsperiode" (katoki sekai­ron), die nicht bei allen Ky6sand6-Gruppen auf Verständnis stieß.298

Der defensiv-militante Kampf sollte in einen ultimativen, offensiv­militanten Kampf transformiert werden. Der I!. BUNTO hatte 1968 auf seiner 7. Vollversammlung das Konzept des itten-toppa299 , einer mili­tärischen Angriffstaktik, zur Richtlinie des Kampfes erhoben, aber we­nig Erfolg damit erzielt. Die Sekigun-ha griff dieses taktische Konzept wieder auf und versuchte, den auf Campus- und Straßenschlachten be­grenzten Kampf zu erweitern, indem sie bewaffnete Attacken gegen und Anschläge auf polizeiliche Einrichtungen verübte. Die ideelle Leit­linie umfaßte vier Stufen:

1) Bewaffneter Aufstand als Vorstufe (zendankai bus6 hoki); 2) globaler Revolutionskampf und Gründung einer Weltpartei

(sekai-t6); 3) Aufbau einer weltweiten Roten Armee; 4) Bildung der weltweiten Revolutionsfront.30D

Der "Militärausschuß" der Sekigun-ha gab Ende 1969 ein "Kriegs­manifest" bekannt und erklärte "der Bourgeoisie öffentlich den

297 Vgl. Mao Tse-tung: "Probleme des Krieges und der Strategie", in: idem: Ausge­wählte Werke, Bd. II. Peking: Verlag für fremdsprachige Literatur, 1968, S. 255-271 [274] (Zitat: S. 261). Die maoistisch orientierte Keihin Ampo kyata war die Frontorganisation der sog. "Revolutionären Volksarmee", einer militaristischen Gruppe des linken KPJ-Flügels in der Präf. Kanagawa. Die Keihin Ampo kyOta setzte sich vornehmlich aus Studenten und Arbeitern aus dem Industriegebiet Tokyo-Yokohama zusammen. Zum politischen Programm der Kampffront s. den Aufsatz "Yugekisenso no senryaku mondai [Zur Strategie des Guerillakrieges]", in: Shinsayoku rironzenshi, S.513-523.

298 Gemeint ist die Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus. Die katoki sekai-ron wurde später zum zentralen Streitthema zwischen dem Gründer der Sekigun-ha, Shiomi Takaya, und dem Führer der Senki-ha, Ara Taisuke; s. auch Teil 111, Abschnitte 3.2.2, 3.7. - Die Grundlage der katoki sekai-ron im Kyasanda war die erwähnte "Theorie des politischen Prozesses" von 1961; s.o., Abschnitt 3.2, s. v. "Die Ampo-Auswertung des Kansai-Bunto".

299 Wörtlich : punktueller Durchbruch. Durch einen gezieHen Angriff an einem Punkt soll der Feind wirksam getroffen werden, im Gegensatz etwa zum Rundum­angriff von außen.

300 Vgl. Shinsayoku nijunen-shi, S. 155f.

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER NEUEN LINKEN IN JAPAN 123

Krieg".301 In dieser Kriegserklärung wird die Entschlossenheit zum bewaffneten Kampf unmißverständlich ausgedrückt und mit dem Ver­halten der Bourgeoisie gerechtfertigt:

Wenn ihr[= die Vertreter der Bourgeoisie; C.D.] das Recht habt, unsere Gefährten in Vietnam nach Belieben zu töten, haben auch wir das Recht, euch nach Belieben zu töten. Wenn ihr das Recht habt, unsere Genossen der Black Panther Party zu ermorden und mit Panzern die Ghettos plattzumachen, haben auch wir das Recht, Nixon, Satö, Kissinger und De Gaulle zu töten und das Pentagon, das Amt für Verteidigung, die Nationale Polizeibehör­de und eure Häuser mit Bomben zu zerstören. Wenn ihr das Recht habt, unsere Freunde auf Okinawa mit Bajonetten aufzu­spießen, haben auch wir das Recht, euch mit Bajonetten aufzu­spießen. 302

Die besagte "Vorstufe" sollte ein Guerillakrieg nach lateinamerikani­schem Vorbild (Carlos Marighelas "Stadtguerilla") sein.303 Die "Stadt­guerilla", die eine Reihe von Sprengstoffanschlägen durchführte, scheiterte jedoch, als im November 1969 im Gebirgspaß Daibosatsu (Präfektur Yamanashi) 53 Mitglieder der Faktion bei Schießübungen für einen geplanten Sturmangriff auf die Residenz des Ministerpräsidenten gefaßt und verhaftet wurden.3D4

Die Konsequenz aus dieser personellen Dezimierung war eine neue, aus dem sokatsu der gescheiterten Stadtguerilla entstandene Linie: die Errichtung internationaler Operationsbasen. Damit war das geographi­sche Bezugsobjekt für Aktionen nicht mehr Japan, sondern ausländi-

301 Kyosando Sekigun-ha: "Senso sengen [Kriegserklärung]", in: Shinsayoku riron zenshi, S. 437-441.

302 Ebd., S. 438.

303 Vgl. Carlos Marighelas Handbuch des Stadtguerillero, veröffentlicht als Rowohlt­Taschenbuch unter dem Titel "Zerschlagt die Wohlstandsinseln der 3. Welt". Harn­burg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1971. In Deutschland wurde das Konzept der Stadtguerilla und der punktuellen Angriffe vorwiegend durch die Rote Armee Fraktion (RAF) bekannt, die sich in ihrer Anfangsphase daran orientierte: "Stadt­guerilla zielt darauf, den staatlichen Herrschaftsapparat an einzelnen Punkten zu destruieren, stellenweise außer Kraft zu setzen, den Mythos von der Allgegenwart des Systems und seiner Unverletzbarkeit zu zerstören." Rote Armee Fraktion: "Konzept Stadtguerilla", in: Redaktion diskus (Hg.): Texte der Neuen Linken. Amsterdam: edition ID-Archiv, 1992, S. 264-269.

304 Der Daibosatsu-Vorfall war der zweite Fall, bei dem sich die Anklage gegen die radikalen Aktivisten auf das Habaha stützte; s. dazu auch Asada Mitsuterus Werke zu den Habaha-Prozessen.

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124 1APANS NEUE LINKE

sehe "Arbeiterstaaten".305 In Südamerika, Kuba, im Nahen Osten oder in Nordkorea sollten logistische Basen entstehen, von denen aus der Kampf gegen den Imperialismus mittels militärischer und politischer Unterstützung von Bürgerkriegen (Befreiungskämpfen) vorangetrieben und auf die Ebene einer Weltrevolution gehoben werden sollte. Die praktische Umsetzung dieser Linie erfolgte durch eine Flugzeugentfüh­rung nach Nordkorea im März 1970306 und die Emigration einiger Mitglieder der Sekigun-Kommandoebene in den Nahen Osten. Die in Japan verbliebenen Mitglieder der Sekigun-ha schlossen sich im Juli 1971 offiziell mit der Keihin Ampo kyoto zur "Vereinigten Roten Ar­mee" (Rengo Sekigun) zusammen.307 Beide Gruppen hatten zwischen Februar und Juli des Jahres mit Überfällen auf Waffengeschäfte, koban­Stationen30B, Postämter und Banken für ihre 'Ausrüstung' gesorgt. Die Keihin Ampo kyoto war dabei für die Waffenbeschaffung und die Seki­gun-ha für die Geldbeschaffung zuständig.

Für die übrigen, im Vergleich zur Rengo Sekigun gemäßigten Fak­tionen war der offensive bewaffnete Kampf nicht verwerflich; gleich­wohl schwenkten nicht alle auf diese Linie ein, wie in Teil III deutlich werden wird. Nach den Universitätsunruhen-und den ebenfalls nachlas­senden Straßenkämpfen verlagerten sich die Gruppen der Neuen Linken auf Kämpfe an neuen Schauplätzen im Inland, wobei das Thema »San­rizuka« (Narita-Flughafenbau) die Priorität innehaben sollte.

305 Zu "Arbeiterstaaten" s. Anm.145.

306 Das sogenannte "Yodo-go-highjack" ereignete sich am 31.3.1970 und war die erste jemals in Japan durchgeführte Flugzeugentführung. Neun Mitglieder aus der Führungsebene der Sekigun-ha gelangten auf diese Weise nach Nordkorea, wo die meisten von ihnen bis heute leben; s. auch Teil III, Abschnitt 1.1. Zur Highjack­Aktion vgl. die Berichterstattung der japanischen Tages- und Wochenpresse zwi­schen dem 31.3. und 10.4.1970. Der chronologische Ablauf des Vorfalls ist aus­führlich beschrieben in Shinsayoku nijunen-shi, S.145f.

307 Vgl. den Appell der Rengo Sekigun an die anderen Faktionen mit dem Titel "T6-itsu sareta 'Sekigun' ni kesshG shi, tetteiteki ni yugekisen o tatakai Nihon kakumei sens6 no tai-hiyaku o!" [Schließt euch zusammen in der vereinigten 'Roten Ar­mee'; kämpft den totalen Guerillakrieg! Auf daß der japanische Revolutionskrieg steil abhebe!], in: ebd., S. 528-532.

308 koban: kleine Polizeistationen (police boxes), die meist in der Nähe von Bahnsta­tionen placiert sind. In jedem koban befindet sich ein Waffensafe für die Polizei­beamten; s. Worm, Herbert: "Japans K6ban-Polizei: Die Helden der inneren Si­cherheit?", in: Pohl, Manfred (Hg.): Japan, Politik und Wirtschaft. Hamburg: Insti­tut für Asienkunde, 1994, S.l12-146.

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER NEUEN LINKEN IN JAPAN 125

3.4.2 Militanter Kampf- Die Praxis

Der militante Kampf (jitsuryoku toso) der Neuen Linken zwischen 1967 und 1971 vollzog sich auf zwei Ebenen, die zueinander in Relation standen, aber durch unterschiedliche Protestformen gekennzeichnet waren. Die eine Ebene waren die intramuralen Universitätskämpfe, die andere die Schlachten mit der Bereitschaftspolizei auf den Straßen. Auf dem Campus hatte sich nach und nach ein Kampfritual entwickelt, nach dessen ungeschriebenen Regeln die Faktionen auch untereinander ihre Feindseligkeiten austrugen. Die herausragende Form der Konfrontation zweierLagerwar der schon erwähnte Zick-Zack-Marsch, in dem beide Schlangen über die Innenhöfe des Hochschulgeländes zogen.309 Wäh­rend die nahezu hypnotisch in rhythmische Schritt- und Parolenfolge verfallenen gegnerischen Parteien wechselweise aufeinandertrafen, wurden Beleidigungen ausgetauscht, bisweilen auch die zum Equip­ment gehörenden Holzstöcke benutzt. Nakanishi führte dazu aus:

The wooden poles that the students carry are about two meters in length. Any shorter or Ionger and they become ineffective. [ ... ] These poles have a special name, 'gebabo'. Most of the radical students have very little experience in using wooden swords or playing kendo, but they can still produce quite a Iot of darnage with one. It is interesting to note that while the radicals use the

· gebabo made of rough building timber, it is usually the right­wing student activists who wield the traditional Japanese swords or kendo sticks ( one notable exeption was the Sekigun hijacking of a JAL airliner to North Koreä in April 1970, when the students carried short swords as weil as bombs).310

Nakanishi betont die Funktion des geba-bo (wörtl.: "Gewalt-Stock") auf psychologischer Ebene. Der Holzstock vermittele das Gefühl von Stärke, was wichtiger sei als der praktische Gebrauchswert des gebabo als Angriffs- und Verteidigungswerkzeug. 311

Zur 'student-style' -Montur gehörten ferner der Plastikhelm312 und ein (meist weißes) Handtuch. An der Farbe und Aufschrift der Helme

309 Ein sehr plastisches Beispiel eines solchen Zick-Zack-Rituals im Winter 1968 an der Univ. T6ky6 gibt Koepping: "Motive und Taktiken der japanischen Studenten­rebellion", S. 269-271.

310 Nakanishi: "Kakumaru-Portrait" , in: Dowsey: Zengakuren, S.213f.

311 Ebd., S.214.

312 In einigen Darstellungen der Studentenunruhen ist von Stahlhelmen die Rede. Die auch heute noch bei Protestaktionen der Neuen Linken benutzten Helme sind je-

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126 JAPANS NEUE LINKE

ließen sich die Faktionen unterscheiden. Ky6sand6-Gruppen beispiels­weise trugen rote, mit dem Schriftzug Ky6sand6 oder Shagakud6 für die studentische Riege versehene Helme. Das Handtuch, das durch die Helmschlaufen vor das Gesicht gezogen wurde, diente sowohl dem Schutz vor optischer Identifizierung durch die Polizei als auch, in Was­ser getränkt, dem Schutz vor der Wirkung von Tränengas. Statt eines Handtuchs konnten auch 'Schnupfenmasken' aus Mull (gaze-masuku) verwendet werden.

Eine Schutzmaßnahme im weiteren Sinne waren auch die Barrika­den, die innerhalb und an den Eingängen der Universitätsgelände aus Mobiliar und zu Holzwänden zusammengenagelten Brettern errichtet wurden. Die Barrikaden dienten der Abschottung vor sämtlichen un­willkommenen Eindringlingen, also sowohl dem Schutz vor Eingriffen der Hochschulverwaltung und der polizeilichen Einsatztruppen als auch vor dem Eindringen 'feindlicher' Faktionen. Hartgesottene Aktivisten lebten über Wochen hinweg in abgesperrten Gebäudeteilen des Campus und wurden- bezeichnenderweise- in der Regel von Studentinnen mit Speisen und Getränken versorgt. Darüber hinaus fungierten die besetz­ten Gebäude als Waffenlager für Molotowcocktails, Steinschleudern, Eisenstäbe und Bambusspeere, die bei den Straßenschlachten eingesetzt wurden.313

Die Auseinandersetzung mit der Administration der Hochschule fanden in sogenannten "Kollektiv-Verhandlungen" (taishu dank6, engl.: mass-bargaining sessions) statt. Bei solchen Verhandlungen, die an die kyudan-Praxis der Burakumin-Befreiungsbewegung314 erinnern, wurden

doch in der großen Mehrzahl die frei im Handel erhältlichen Bauarbeiterhelme aus Plastik.

313 Vgl. Keisatsu hakusho 1988, S.18. Die Polizei spricht außerdem von der Lage­rung von Salzsäure, Schwefelsäure und gefährlichen Giften. Zu deren Verwendung äußerten sich die Aktivisten nicht eindeutig; vgl. Dowsey: Zengakuren, S.155.

314 Die Burakumin-Befreiungsbewegung bediente sich häufig einer Denunziations­taktik, die im Japanischen mit kyudan (offene Anklage; Zur-Verantwortung-Zie­hen) bezeichnet wird. Beim kyudan wurden Personen, die sich diskriminierend ge­genüber Burakumin verhalten hatten, aufgefordert, sich in einem öffentlichen Medium für ihr Verhalten zu entschuldigen oder sich öffentlich der Diskussion zu stellen auf einer Versammlung der Befreiungsbewegung. V gl. auch Steinhoff, Pa­tricia G.: "Protest and Democracy", in: Krauss, Ellis S./Takeshi Ishida (eds.): De­mocracy in Japan. Pittsburgh: Univ. of Pittsburgh Press, 1989, S.171-198; Frank K. Upham: "Instrumental Violence and the Struggle for Buraku Liberation", in: idem: Law and Social Change in Postwar Japan, S. 78-123; Neary, Jan: Political Protest and Social Contra[ in Prewar Japan: The Origins of Buraku Liberation. Manchester: Manchester Univ. Press, 1989.

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER NEUEN LINKEN IN JAPAN 127

Repräsentanten der Universitätsverwaltung vorgeladen, um vor einer versammelten Masse von Studenten Selbstkritik für Fehlverhalten im Management der Hochschule zu leisten und um sie zu Zugeständnissen an die studentischen Forderungen zu zwingen. Der berühmteste Fall von taishu dank6 ereignete sich 1968 an der Universität Tökyö, als der Dekan der Literarischen Fakultät, Hayashi Kentarö, zehn Tage lang in einem Konferenzzimmer festgehalten und mittels tsurushi-age (morali­sches Fertigmachen) zur Diskussion über studentische Belange ge­zwungen wurde.315 Das Wirkungsmoment der Kollektiv-Verhandlung lag in dem psychologischen Druck, der durch das tsurushi-age und die Konstellation »Masse gegen Individuum« auf den 'Angeklagten' ausge­übt wurde.

V~rglichen mit der Funktion des gebab6, der ein Gefühl der Stärke und Überlegenheit bewirkt, war auch bei den Kollektiv-Verhandlungen von entscheidender Bedeutung, vor dem Gegner 'stark' und (physisch) 'überlegen' aufzutreten. Dem "Feind" wurde bewußt die Opferrolle zugeteilt. Die Umkehrung dieses Verhältnisses präsentierte sich auf den Straßen, wo in den Kollisionen mit der Bereitschaftspolizei jeweils die linken Aktivisten die Opferrolle einnahmen. Sunada Ic!lirö deutete das Verhalten der radikalen Oppositionellen in den Straßenschlachten als bewußte, taktische Vorgehensweise, die ein Element im Repertoire ver­schiedener "Konfrontationstaktiken" der Neuen Linken darstelle:

So-called 'confrontation tactics' are usually employed by radicals in order to expose the brutal aspect of power structure so as to 'politicize' or further radicalize, mass bystanders. Recognizing the overwhelming strength of the police force, the militants know that they will be defeated in confrontations . If by promoting vio­lent clashes they seem intentionally to seek brutal suppression by the police, it is because they are generally much more concerned with the political effects their tactics will bring than with victory in the immediate confrontation.316

Sunada nennt die · militanten Techniken ,Jitsuryoku soshi tactics" ("prevent by using force"-Taktiken), die eine Kombination aus "direct­action philosophy with confrontation tactics in the general sense of the

315 Hayashi schilder~e dieses Prozedere nach seiner Freilassung in der Zs. Bungei Shunju. Die dt. Ubers. der Berichtes wurde in KAGAMI, Bd. VI, Heft 3 (1968), S. 58-64, veröffentlicht: "Hayashi, Kentar6: 173 Stunden von den Studenten in­haftiert".

316 Sunada: "Thought and Behaviour of Zengakuren, S.466.

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128 JAPANS NEUE LINKE

term" seien.317 Neben den Konfrontationstaktiken des taishu dank6 und des snake dance, der auf den Straßen - im Unterschied zum snake­dance auf dem Universitätsgelände - zur Durchbrechung von Hinder­nissen aufgeführt wurde, gehörten Sit-ins (suwari-komi) und Demon­strationen im französischen StiP18 zu den gängigen Protestformen der Neuen Linken. Der jitsuryoku t6s6 auf den Straßen mit Holzstäben und Wurfgegenständen hörte mit dem Abriß der Barrikaden an den Uni­versitäten nicht auf, was deutlich macht, daß für die Mehrheit der in­und außerhalb des Campus tätigen Aktivisten doch das übergeordnete Ziel "Nieder mit dem Ampo-Vertrag" beziehungsweise der antiimpe­rialistische Kampf im Vordergrund stand. Die im Zenky6t6 organisierten non-sects" verband wenig mit der Absicht der Straßenkämpfer, den

Kampf auf dem Campus zum Katalysator des Revolutionskampfes zu machen. Für die Neue-Linke-Faktionen war der Campus ein Schau­platz des revolutionären Klassenkampfes, war die Universität die Festung" in der die Revolutionäre sich verschanzen und externe Ak­

~ionen vo;bereiten konnten, die sie aber auch verteidigen mußten.319

Als gegen Ende 1969 die Hochschulunruhen durch rigorose Einsätze der Bereitschaftspolizei abflauten, 320 war den radikalen Aktivisten eine wichtige logistische Basis genommen worden. Gleichwohl fanden, wie erwähnt, weitere militante Kämpfe statt. Die Gründung der Zenkoku Zenky6t6 hatte weder darauf noch auf das extramurale Geschehen son­derlichen Einfluß, sondern dürfte als eine Absicherungsmaßnahme ein­zuschätzen sein, um die Unterstützung der Massenbasis an den Hoch-

317 Ebd., S.467. 318 Im Stadtviertel Kanda beispielsweise wurde, in Anlehnung an die Kämpfe im

Pariser Quartier Latin, der ,jrench style" zu praktizieren versucht. S. Anm. 267.

319 Vgl. Sunada: Thought and Behaviour of Zengakuren, S. 462f.

320 Symbolisch für die Räumungsaktionen und den bis zur letzten Minute ungebro­chenen Widerstand einiger Aktivisten ist der Kampf um das Yasuda-Auditorium der Univ. Tokyo, der als "Todai-Schlacht" in die Geschichte der japanischen Stu­dentenbewegung einging und bereits im Januar 1969 stattfand. Zur ausführlichen Schilderung des Ereignisses s. Sawara: "The University Struggles", in: Dowsey: Zengakuren, S.136-192, bes. S.136-164. Die gesellschaftliche und ideologische Bedeutung der Todai-Unruhen analysieren Inoue, Kiyoshi : "Der Sinn der Todai­Schlacht und die Geburt einer neuen Intelligenz", in: KAGAMI, Bd. VI, Heft 3 (1968), S.65-82; Horigome, Yozo: "Das Kernproblem der Todai-Unruhen", in: ebd., S. 83-93; Wheeler: The Japanese Student Movement, S. 352-354. Das fakti­sche Ende der Unruhen setzte ein, als die Regierung im August 1969 das Hoch­schulkontrollgesetz Daigaku rinji sochi-ho (s. Anm. 255) zur Konfliktbewältigung an den Universitäten anwandte.

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER NEUEN LINKEN IN JAPAN 129

schulen nicht gänzlich zu verlieren. Wie die Steigerung vom militanten zum bewaffneten Kampf zeigt, hatte die Gründung der Sekigun-ha mehr Einfluß auf das Protestverhalten der Neue Linke-Faktionen im und nach dem Ampo-Kampf 1970 als die Bildung universitärer Kampfkomitees.

Sekigun-ha und Keihin Ampo ky6t6 waren die ersten Formationen der Neuen Linken, die mit Raubüberfällen und Sprengstoffanschlägen in die Offensive traten. Die beiden Gruppen brachten damit bis dato in Japan nicht gekannte Aktionsformen als Praxis des politischen Kampfes hervor. Die gezieHen punktuellen Anschläge zeigten, daß auch mit we­nigen Akteuren breite Wirkung erzielt werden konnte, daß also der »Massenkampf« nicht die ultimative Form des aktiven politischen Kampfes sein mußte. Andere Faktionen der Neuen Linken nahmen das Guerilla-Konzept in ihr Programm auf. In Teil III soll unter anderem auf den bewaffneten Kampf dieser Gruppierungen eingegangen werden.

4. Zusammenfassung und Auswertung der Jahre 1957 bis 1970 I 71

In den dreizehn Jahren seit ihrer offiziellen Gründung 1958 erlebte die neue, revolutionäre, radikale Linke J apans in Theorie und Praxis eine wechselhafte Geschichte. AlsKonkurrentinder KPJ-affiliierten Organi­sationen einerseits und der gemäßigten Bürgerbewegungen andererseits stand sie kontinuierlich im linken Abseits der etablierten Linksoppositi­on, deren Konfrontationskurs gegen die Regierungspolitik augen­scheinlich immer nur so weit ging, wie die Demoskopie zur Wähler­stimmung es nahelegte. Bis zum Ende der sechziger Jahre fanden die Forderungen der Neuen Linken beträchtliche Zustimmung von seiten der japanischen Bevölkerung. Dabei rief weniger das Fernziel »Revo­lution« Sympathien hervor als vielmehr der aktive (körperliche) Einsatz der Aktivisten für bestimmte Belange. Die Stimmung schlug um, als die Kampfpraxis zunehmend militant wurde.

In den bürgerlichen Medien als "Die Radikalen" (kageki-ha) por­traitiert, weckten die Aktionen der extremen linken Aktivisten ab 1969 in der 'Normalgesellschaft' immer häufiger negative Assoziationen. Akzeptanz verzeichnete die Neue Linke indes durchgängig bei vielen Intellektuellen.

Bis 1965 war die Neue Linke eine nahezu rein studentische Bewe­gung; erst in der zweiten Hälfte der Sechziger Jahre war ein gradueller Anstieg des Arbeiteranteils zu verzeichnen (s. Anhang: Stärke der Neu­en Linken).

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Aus den theoretischen Texten der Neuen Linken wird deutlich, daß die tragenden Gruppen der Bewegung von Beginn an darauf ausgerich­tet waren, ihre eigenen, endogenen Theorien aufzustellen. Die Stoßrich­tung ging eindeutig gegen die Kommunistische Partei und ihre autoritä­re Supervision der angeschlossenen studentischen und Jugendgruppen. Die Entstehung der Neuen Linken Japans beruhte deshalb primär auf der Erkenntnis, daß die orthodoxe Haltung der KPJ sowie ihr Anspruch, die alleinige, einzig wahre Avandgardepartei zu sein, nicht länger tole­rierbar wären. Für die erste Generation im Nachkriegsjapan, der in ihrer Sozialisation die Achtung universaler Werte wie Demokratie, indivi­duelle Rechte, Partizipation an Entscheidungsprozessen etc. vermittelt worden war, stellte die Unterdrückung 'nicht liniengemäßer' Meinun­gen durch den monolithischen Parteiapparat das genaue Gegenteil de­mokratischer Zielsetzung dar. Die Lösung von der KPJ evozierte eine Freisetzung kognitiver Energien, die sich gedanklich-theoretisch in der Konfiguration neuer Gesellschaftsanalysen, Geschiehtsauffassungen und Strategien für gesellschaftliche Veränderungen entluden. In der Praxis wurden die neuen Ideen durch die Erprobung des Widerstandes gegen den staatlichen Imperativ mit einem neuen Selbstverständnis als eigenständiges Stratum (Sunagawa, Proteste gegen das Polizeidienstge­setz, Sturm auf das Parlamentsgelände) umgesetzt.

Die einzelnen Strömungen der Neuen Linken, die sich nach und nach konsolidierten, übernahmen keine vorgefertigten Ideensysteme einer politisch-ökonomischen 'Schule', sondern rezipierten einzelne Segmente aus klassischen (Marx, Lenin, Trotzki) und zeitgenössischen (Uno, Umemoto, Sartre) Theorien, um daraus ihre jeweiligen politi­schen Leitlinien zu verfassen. Die synthetische Vorgehensweise kann in Anlehnung an Tsurumi Kazuko als ein "eklektisches Herangehen" ("ec­lectic approach")321 an existierende Ideologien oder Ideensysteme ver­standen werden. Die Unterschiede zwischen den Theorien der einzelnen Faktionen sind daher eher in der Gewichtung bestimmter Elemente bestehender Theorien (Organisationsfrage, permanente Revolution, ökonomische Krisenstadien etc.) zu erkennen denn in den Demarkati­onslinien klassischer (leninistischer, trotzkistischer, maoistischer u. ä.) Revolutionstheorien als solchen.

Die Aufteilung der Neuen Linken in fünf große Linien resultiert aus der ursprünglichen, bei der Gründung der Stammorganisationen (Kaku-

321 Ygl. Tsurumi: "The Japanese Student Movement (2)".

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kyodo, Kyosando, Shaseido, Strukturreformer und Shin-Chugoku-ha) vorherrschenden ideologischen Orientierung. Die daraus hervorgegan­genen Gruppierungen (Faktionen, toha, Splittergruppen) sind zwar identifikativ sehr stark an ihre Stammorganisation angegliedert geblie­ben, haben in ihren Theorien jedoch auch jeweils eigene Schwerpunkte und Akzente gesetzt. Sehr deutlich wird dies beispielsweise bei den drei Faktionen des Kakukyodo (Chukaku-ha, Kakumaru-ha , Dai-4-/nta), die sich in ihrer Affinität zum Trotzkismus erheblich unterschieden. Kommt es zusätzlich zu Differenzen in praxisbezogenen Fragen, kann erbitterte Feindschaft zwischen Faktionen derselben Linie (Beispiel: Chukaku- und Kakumaru-ha) entstehen; umgekehrt sind sehr wohl Koalitionen zwischen Faktionen verschiedener Linien möglich (Bei­spiel: Kyosando-Sekigun-ha und Keihin Ampo kyoto), oder theoretische Ansätze werden strömungsübergreifend vererbt, indem sie von nicht der Linie entstammenden Faktionen übernommen und weiterentwickelt werden (Beispiel: lwata Hiroshis "Weltkapitalismus-Theorie"). Die Zu­gehörigkeit zu einer "Linie" sagt somit wenig über die ideologische und kampfpraktische Ausrichtung einer Faktion / Splittergruppe aus.

Ein Beleg für die ideologische Vielfalt ist auch das Phänomen der ständigen Spaltungen, Koalitionen und Reorganisationen als solches, das verstärkt in der Phase ins Wanken geratener theoretischer Konzepte (Ende 1960 bis 1964/65) auftrat. Der Effekt jener nach außen hin als Chaos wirkenden, führungsschwachen Phase war- mittels sokatsu- die Herausbildung neuer Konzepte, deren Anwendbarkeit und infolgedes­sen auch Akzeptanz in der Bewegung sich nach 'darwinistischem' Prinzip ("der Stärkere überlebt") herauskristallisierte.

Die Entwicklung der aktiven Protestformen (Demonstration, Stra­ßenkampf etc.) kann in vier Stufen unterteilt werden:

1) Traditionelle, unbewaffnete Demonstrationen auf ganzer Stra­ßenbreite; Zick-Zack-Märsche; unbewaffnete Kollisionen mit Si­cherheitskräften; Sitzblockaden. Ausrüstung: Fahnen und Plakate. Beispiele: Ampo-Kampf 1960, Sturm auf das Parlamentsgelände.

2) Militante Demonstrationen mit Polizeieskorte im "sandwich"­Stil. Neue Bewaffnung: Steinschleudern, Helme, gebabo (Stöcke). Beispiele: Nikkan-Kampf, Enterprise-Kampf.

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3) Militante Campus- und Straßenkämpfe; Barrikadenbau; rituali­sierte Kampf- und Demonstrationsstile. Neue Bewaffnung: Molotowcocktails, Eisenstäbe, Bambusspeere. Beispiele: Universitätsunruhen; "T6dai-Schlacht", Straßenkämp­fe in Kanda.

4) Offensiver bewaffneter Kampf; Waffen- und Geldraub; punktuel­le Anschläge auf Gebäude und Personen; Flugzeugentführung. Neue Bewaffnung: Explosivstoffe; Gewehre. Beispiele: koban-(Polizeibox-)Überfälle; Sprengstoffanschläge.

Die vor allem zur Zeit der Universitäts- und Straßenkämpfe zur Kampfuniform avancierte Montur aus Helm, gebabo und Maske ist zum einen eine Schutzausrüstung vor den Waffen der Bereitschaftspoli­zei (Knüppel, Schild, Wasserwerfer, Tränengas), zeugt aber zum ande­ren auch von hohem Konformitätsbewußtsein der Aktivisten. Wie das Tragen des gebabo die Doppelfunktion hat, Defensivwaffe zu sein und das Gefühl von Stärke zu erzeugen, so ist der Helm ein Objekt, das Schutz gewährt und gleichzeitig ein Zugehörigkeitsgefühl vermittelt. Farbe und Aufschrift der Helme machen die Träger nicht nur für Mit­glieder der eigenen und anderer Faktionen, sondern auch für Außenste­hende zuordbar und berechenbar. Dieses Faktum deutet auf das kulturell verankerte uchi-soto-Schema (,Jngroup-Outgroup")3 22 hin, auf bewuß­tes Erzeugen von Homogenität und auf ein starkes Bestreben nach Or­ganisiertheit. In Teil III dieser Arbeit werden weitere Merkmale des Organisations- und Konformitätsstrebens in der Kampfpraxis der Fak­tionen, unter anderem am Beispiel eines Demonstrationsablaufs, er­kennbar werden. 323

Das der Öffentlichkeit präsentierte "heart-piercing image"324 des verbissen für die Volksbefreiung kämpfenden Aktivisten wird ab 1969

322 Vgl. etwa Ishida, Takeshi: "Conflict and lts Accomodation: 'Omote-Ura and Uchi­Soto Relations"', in: Rohlen, Thomas P./E.S: Krauss/P. G. Steinhoff: Conflict in Japan. Honolulu: Univ. of Hawaii Press, S.16-38; Nakane, Chie: Die Struktur der japanischen Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985.

323 In den "68ern" trugen in Europa ebenfalls einzelne Personen bei Demonstrationen Helme (Berlin, Paris 1968), jedoch waren dies in der Regel Motorradhelme, die aus rein defensiven Beweggründen verwendet wurden und keinerlei gruppenspe­zifisch festgelegtes Design aufwiesen.

324 Shima Shigeo, Mitbegründer des BUNTO, in einem Interview mit Tsurumi Kazu­ko: "Thus, I thought, what we should do was to present to the public a heart­piercing image which would instantaneously crystallize the true meaning of the situation." Tsurumi: The Japanese Student Movement (1), S.447.

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durch die Einführung des bewaffneten Kampfes in ein Bild des radika­len, gewaltbereiten 'Revolutionärs auf Lebenszeit', der durch spektaku­läre Einsätze das bestehende politische System bedroht, transformiert. Die Autosuggestion des "Volksbefreiers" basiert auf der Voraussetzung, daß das Volk der Befreiung durch Umsturz des Systems bedarf, auch wenn das Bewußtsein eines solchen Bedürfnisses noch nicht bei allen Individuen vorhanden ist. Die Voraussetzung wird als Axiom gehand­habt und nicht weiter hinterfragt. Zur Debatte steht nur das "Wie" der Einleitung des Umsturzes. Impulse erhält die Debatte durch regelmäßi­ge Auswertung erfolgter Kämpfe (sokatsu) mit kritischer Selbstreflexi­on.