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Determinismus bei Nietzsche Moralische Implikationen und Explikationen 6. Oktober 2004 Zum Proseminar Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches“ am Philosophie Department der LMU M¨ unchen bei Dr. Matteo Vincenzo d’Alfonso vorgelegt von Johannes Oberreuter aus Passau [email protected] 1

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Determinismus bei Nietzsche

Moralische Implikationen und Explikationen

6. Oktober 2004

Zum Proseminar ”Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches“am Philosophie Department der LMU Munchenbei Dr. Matteo Vincenzo d’Alfonsovorgelegt von Johannes Oberreuter aus [email protected]

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung 3

2 Methode 32.1 Methodischer Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32.2 Quellenkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

3 Nietzsches Erkenntnismethode 53.1 Ablehnung philosophischer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53.2 Gegenepistemologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73.3 Wille zur Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

4 Determinismus-Begriff bei Nietzsche 114.1 Determinismus: Definition und naturwissenschaftliches Verstandnis . 124.2 Nietzsche und die Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

4.2.1 Naturwissenschaftliche Lekture . . . . . . . . . . . . . . . . . 164.2.2 Ablehnung der Naturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . 18

5 Naturwissenschaft und Moral 20

6 Fazit und Kritik 24

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Der große Kunstgriff kleine Abweichungen von der Wahrheit fur dieWahrheit selbst zu halten, worauf die ganze Differential-Rechnung ge-baut ist, ist auch zugleich der Grund unsrer witzigen Gedanken, wo oftdas Ganze hinfallen wurde, wenn wir die Abweichungen in einer philo-sophischen Strenge nehmen wurden.(Georg Christoph Lichtenberg, [15, [A1]])

1 Einleitung

Friedrich Nietzsche erkennt: ”Alles Menschliche insgesamt ist des grossen Ernstesnicht werth, trotzdem – –“1 schreibt er ein ”Buch fur freie Geister“, das er 1878erstmals unter dem Titel ”Menschliches, Allzumenschliches“ herausgibt. Die zuneh-mende Abkuhlung seiner Freundschaft zu Richard Wagner, die dem Abfassen desBuches vorausgeht, erleichtert Nietzsche, dem Bedurfnis nach vielfaltigen Bruchennachzugeben; dem Bruch der Form, in der der aphoristische Stil das geschlosseneArgumentieren ablost und zu einer neuen Spielart der Philosophie insgesamt wird;einem Bruch mit der Kunst vor allem Richard Wagners, denn noch vor Herausgabedes zweiten Bandes muss er mitansehen: ”Richard Wagner, scheinbar der Siegreichs-te, in Wahrheit ein morsch gewordener, verzweifelnder Romantiker, sank plotzlich,hulflos und zerbrochen, vor dem christlichen Kreuze nieder . . .“.2 Er beginnt einemneuen Menschentypus zu huldigen: ”Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterent-wicklung des kunstlerischen.“3 Auch einem Bruch mit dem Christentum und dessenMoralvorstellung.

Moral und Wissenschaft markieren die Ecksteine der vorliegenden Untersuchung. Esstiftet viel Verwirrung, dass Nietzsche keine Skrupel hat, sich innerhalb eines einzi-gen Werkes, uber ein und dieselbe Sache in sich widersprechender Weise zu außern.So bereitet es ihm keine Schwierigkeiten, Erkenntnisse der Wissenschaft als volliggrund- und haltlos zu entlarven, sie aber gleichzeitig fur ein großen ”Glucksfall“ zuhalten.4 Auch der Moral vermag er zugleich den Boden zu entziehen und dennoch

”etwas Moralisches hochster Gattung aus einer Schwarzwurzel herausbluhen“5 zusehen.

Diese Arbeit untersucht auf der Grundlage seines Wissenschaftsverstandnisses, inwelcher Weise, wenn uberhaupt, Nietzsche einen Begriff von Determinismus ge-braucht, inwiefern dieser in Konflikt mit einem freien Willen gerat und welcheAuswirkungen auf die Moral dies nach sich zieht. Am Ende steht die Frage, obeine Kritik der Moral durch Determinismus nicht wie so oft ”Ursache und Wirkungverwechselt.“6

2 Methode

2.1 Methodischer Zugang

Begriffe wie ”Determinismus“, ”Freier Wille“, ”Moral“ auf Nietzsches Philosophieanzuwenden, scheint schwierig, ist es doch schon schwammig, was man unter ”Nietz-

1[23, MA I, 628, S. 354]2[23, MA II, Vorrede 3, S. 372]3[23, MA I 222, S. 186]4Z.B. [23, MA I 11, S. 30f.]5[23, MA II, Vermischte Meinungen und Spruche 26, S. 391]6Vgl. [23, MA I, Der Mensch mit sich allein 608, S. 345]

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sches Philosophie“ verstehen mochte. Der Grund liegt darin, ”daß Nietzsches Stil diesystematische Methode unmoglich macht, der man sich in der Regel bedient, wennman sich mit anderen Denkern beschaftigt.“7. Der Stil Nietzsches Philosophierens,dessen Denkeinheit der Aphorismus ist, kennzeichnet sich durch eine stete Durchmi-schung der Themen, die dadurch zueinander in immer neuen Bezug gesetzt werden,jedoch als ”Mikrokosmos“ auch fur sich allein stehen konnen.8 Es gibt also keine

”Metaphysik“ oder ”Ethik“, in der sich Nietzsches Aussagen zu den jeweiligen The-men sammelten. ”Ein systematischer Zugang ist uns im Fall Nietzsches verwehrt,und es ist nicht leicht, eine zufriedenstellende Alternative zu finden. Eine halb syste-matische Anthologie verstreuter Außerungen kann uns gewiß nicht vermittlen, ’wasNietzsche meint‘– weder seine eigenen Absichten noch seine Bedeutung fur uns. [. . . ]wir konnen Nietzsche nicht verstehen, solange wir bewußt die Entwicklung seinesDenkens außer acht lassen.“9

Einen Uberblick uber die Genese der Begriffe bei Nietzsche zu gewinnen, wurdeeine sorgfaltige Lekture samtlicher Werke erfordern, was diese Arbeit nicht leistenkann. Vielmehr soll von solchen Aphorismen aus Menschliches, Allzumenschlichesausgegangen werden, an denen sich der Konflikt dieser Begriffe erkennen laßt. Vondort aus versuchen wir die Widerspruche durch Hinzunahme anderer Stellen, vor-nehmlich aus Der Frohlichen Wissenschaft zu klaren und aufzulosen.

2.2 Quellenkritik

Seit der Ausgabe des Gesamtwerkes von Friedrich Nietzsche durch Giorgio Colli undMazzino Montinari erfahrt die Forschung den Segen philologisch und textkitischhochwertigen Materials samtlicher von Nietzsche je niedergeschriebener Worte. Erwird aber zum Fluch, wenn man sich auf den schier unerschopflichen Nachlass, dermehr als die Halfte der ganzen Ausgabe ausmacht, genauso wie auf die noch vonNietzsche selbst zu Lebzeiten herausgegebenen Schriften sturzt. In der KritischenStudienausgabe10 werden all jene Niederschriften aus Nietzsches Notizbuchern, diespater als Aphorismen Eingang in Nietzsches Werke fanden oder die zu solchenfuhrten als Vorstufen gekennzeichnet. Unter den Aufzeichnungen finden sich aberauch eine Fulle an sogenannten Gelegenheitsnotizen, Randbemerkungen und solcheAphorismen, die spater nie zur Veroffentlichung gereift sind. Wie sind nun solchezu bewerten? Michael Tanner bemerkt dazu:

”Schon die Liste der publizierten Werke ist beeindruckend genug. Abermindestens ebensoviel, wie er in Buchern geordnet darstellte, hielt erin Notizen fest, und leider wurde eine Menge dieser unveroffentlichtenNotizen, der Nachlass uberliefert. Dies ware nicht so bedauerlich, gabees ein allgemein anerkanntes methodologisches Prinzip, daß man das,was er nicht veroffentlichte, unter allen Umstanden klar vom Veroffent-lichten abgrenzen muß. Diese Grundregel wird aber von fast niemandembeachtet. Sogar jene, die vorgeben, sich daran zu halten, gleiten gewohn-lich in nicht klar gekennzeichnetes Zitieren aus dem immensen Nachlaßab, wann immer es den Geichtspunkt bestatigt, unter dem sie Nietz-sche sehen. [. . . ] Nietzsche war zuweilen so sicher, eine philosophischeGoldmine entdeckt zu haben, daß er eine Menge Gedanken aufs Papierwarf, die er dann aber nicht ausarbeitete. Dies bietet einem Kommenta-tor die Moglichkeit, Gedankengange weiterzuverfolgen, die er Nietzsche

7[12, S. 88]8Vgl. [12, S. 88f.]9[12, S. 89]

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– ungehindert durch definitive Aussagen – unterstellt. Einige sind sogarder Ansicht, den ”wahren“ Nietzsche fande man in den Nachlaßnoti-zen, wahrend sein veroffentlichtes Werk lediglich ein außerst kunstvollesVerwirrspiel darstelle.“11

Wie aber stunde der Philosoph selbst dazu? Er wurde ”’alle seine Freunde ver-pflichten, nichts von ihm nach seinem Tode herauszugeben als was er selbst fur diePublication bestimmt und fertiggestellt hatte; denn wenn man sich sein ganzes Le-ben geplagt hatte, nur Ausgearbeitetes und Ganzes vor das Volk zu bringen, mochteman doch nicht dann im Hauskleid erscheinen‘– so Nietzsche in Nizza zu SiegmundFreuds Freund J. Paneth.“12

Es bleibt die Frage, ob man Wichtiges uber Nietzsches Denken aus seinem Nachlaßlernen kann. Kaufmann vertritt die Meinung: ”Bei der Abfassung spaterer Buchernicht benutzte Aufzeichnungen hielt Nietzsche fast immer deswegen zuruck, weil ermeinte, sie noch nicht genug durchdacht zu haben; sie waren noch nicht weit ge-nug entwickelt, daß er bereit gewesen ware, dafur einzustehen.“13. Daruberhinausist es wichtig zu beachten, ”daß Nietzsche seine Gedanken im Nachlaß thetischerformuliert, was viele Interpreten dazu verleitet, aus den isolierten Notizen ’letzteLehren‘zu rekonstruieren und zu Dogmen zu verdinglichen. Im publizierten Werkkommen diese vermeintlichen Lehren, wenn uberhaupt, asthetisch kontextualisiertvor und werden dadurch zumeist auf vielfaltige Weise ironisiert, gebrochen und un-terlaufen. Nietzsche formuliert hier hypothetisch, doppelbodig und vielschichtig; eroperiert mit zahllosen Anspielungen und Verweisungen, durch welche die einzelnenGedanken in einem komplexen Beziehungsgeflecht situiert werden, bzw. durch die-ses erst konstituiert werden. Den veroffentichten Schriften eignet somit qua Formein Reflexionsgrad mehr als den nachgelassenen Aufzeichungen.“14

Die vorliegende Arbeit wird trotz aller Bedenken und Unsicherheiten auf ein gele-gentliches Zitieren aus dem Nachlass nicht verzichten konnen. Es muss dabei aber dieskizzierte Problematik beachtet und versucht werden, Interpretationen, die sich ausdem Nachlaß ergeben, durch Aphorismen aus den publizierten Werken zu stutzen.

3 Nietzsches Erkenntnismethode

3.1 Ablehnung philosophischer Systeme

Ihr aphoristischer Stil ist nicht nur der Grund, warum ein systematischer Zugangzu Nietzsches Philosophie nicht moglich ist, er ist vielmehr das Bekenntnis derAblehnung all jener ”glanzenden Lufterscheinungen, die man ’philosophische Syste-me‘nennt: sie zeigen mit zauberischer Kraft der Tauschung die Losung aller Rathselund den frischesten Trunk wahren Lebenswassers in der Nahe;“15 An anderer Stelleheißt es sogar: ”Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg.Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.“16 Dieses Misstrauenliegt darin begrundet, dass ein System sich notwendigerweise auf Voraussetzungenstutzt, die sich innerhalb seiner selbst verabsolutieren und nicht mehr in Frage ge-

11[S. 12f.][30]12[29, S. 169]13[12, S. 90]14[29, S. 138f.]. Hier findet sich auch eine gute Ubersicht uber die unterschiedlichen Positionen

zum Gewicht des Nachlasses und Verweis auf umfangreiche Literatur.15[23, MA II, Vermischte Meinungen und Spruche 31] Vgl. hierzu auch den Beginn von [10]16[26, GD, Spruche und Pfeile 26]

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stellt werden konnen. Vor allem gilt das fur die menschliche Vernunft. So schreibtNietzsche wider Kant:

”Woran liegt es doch, dass von Plato ab alle philosophischen Baumei-ster in Europa umsonst gebaut haben? Dass Alles einzufallen droht oderschon in Schutt liegt, was sie selber ehrlich und ernsthaft fur aere per-ennius hielten? Oh wie falsch ist die Antwort, welche man jetzt nochauf diese Frage bereit halt, ’weil von ihnen Allen die Voraussetzungversaumt war, die Prufung des Fundamentes, eine Kritik der gesammtenVernunft‘– jene verhangnisvolle Antwort Kant’s [. . . ] (– und nachtraglichgefragt, war es nicht etwas sonderbar, zu verlangen, dass ein Werkzeugseine eigne Trefflichkeit und Tauglichkeit kritisiren solle? dass der Intel-lekt selbst seinen Werth, seine Kraft, seine Grenzen ’erkennen‘solle? wares nicht sogar ein wenig widersinnig? –)“17

Auf welche Pramissen sich ein jeder Philosoph einlasst, ist subjektiv oder, lapidarausgedruckt, Geschmackssache. ”Eine Philosophie ist der Ausdruck des innerstenCharakters eines Menschen“, so William James18, und seiner moralischen Verblen-dung, denn: ”Der Wille zum System: bei einem Philosophen moralisch ausgedruckteine feinere Verdorbenheit, eine Charakter-Krankheit, unmoralisch ausgedruckt,sein Wille, sich dummer zu stellen, als man ist“19.

Nietzsche kommt auf eine philosophische Welt, die Kant in die Welt der Erscheinun-gen und die Welt der Dinge an sich geschieden hat.20 Diese Teilung begrundet sichdurch den Satz vom Widerspruch: ”Der Satz vom Widerspruch gab das Schema: diewahre Welt, zu der man den Weg sucht, kann nicht mit sich in Widerspruch sein,kann nicht wechseln, kann nicht werden, hat keinen Ursprung und kein Ende.“21

Eine wahre Welt, aus der die Gegensatze getilgt sind, ist starr, denn ”wie kann Et-was aus seinem Gegensatz entstehen, zum Beispiel Vernunftiges aus Vernunftlosem,Empfindendes aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus be-gehrlichem Wollen, Leben fur Andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrthumern?“22

Nietzsche aber erkennt in der Annahme der Gegensatzlichkeit ein Vorurteil der Me-taphysik, gegen das er damit eintritt, ”dass es keine Gegensatze sind, ausser in dergewohnten Ubertreibung der popularen oder metaphysischen Auffassung und dassein Irrthum der Vernunft dieser Gegenuberstellung zu Grunde liegt.“23

In der klassischen Erkenntnisphilosophie ist Wahrheit apriorisch und jeder Subjek-tivitat vorgegeben. Erkenntnis der Wahrheit ist dabei interesselos und setzt daherein nicht-individuelles erkennenes Subjekt voraus.24 Fur Nietzsche aber, ”giebt es,streng gefasst, weder ein unegoistisches Handeln, noch ein vollig interesseloses An-schauen, es sind beides nur Sublimirungen, bei denen das Grundelement fast ver-fluchtigt erscheint und nur noch fur die feinste Beobachtung sich als vorhandenerweist.“25 Klassische Wahrheit beansprucht Allgemeingultigkeit, denn in der Weltdes Absoluten gibt es zu jeder Frage nur eine wahre Antwort und diese Antwortgilt fur alle Subjekte. Dagegen setzt Nietzsche die Prioritat der Perspektive, die derBetrachter in der neuen Philosophie einnimmt:

17[24, M, Vorrede 3, S. 13]18A Pluralistic Universe, nach [12, S. 93]. Vgl. hierzu und zum Folgenden [12, Nietzsches Me-

thode, S. 84–11]19[21, 9 [188], S. 450]20Vgl. [10]21[22, 14 [153], S. 336]22[23, MA I, 1, S. 23]23[23, MA I, 1, S. 23]24Vgl. zum Folgenden [10]25[23, MA I, 1, S. 23f.]

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”Sind es neue Freunde der ’Wahrheit‘, diese kommenden Philosophen?Wahrscheinlich genug: denn alle Philosophen liebten bisher ihre Wahr-heiten. Sicherlich aber werden es keine Dogmatiker sein. Es muss ihnenwider den Stolz gehn, auch wieder den Geschmack, wenn ihre Wahr-heit gar noch eine Wahrheit fur Jedermann sein soll: was bisher dergeheime Wunsch und Hintersinn aller dogmatischen Bestrebungen war.

’Mein Urtheil ist mein Urtheil: dazu hat nicht leicht auch ein Andererdas Recht‘“26

Jeder relativistische Standpunkt birgt logische Probleme, so auch hier. Wenn Per-spektive Prinzip des Erkennens ist, dann ist das Erkennen zumindest in einemAspekt der Perspektive entzogen, namlich genau in diesem.27 Wir werden sehen,dass ”Perspektive“ fur Nietzsche nicht Beliebigkeit im Sinne des homo-mensura-Satzes bedeutet. Allerdings schließt sie die Logik mit ein, so dass ein logischesGegenargument schon von Vornherein entkraftet ware.

3.2 Gegenepistemologie

Nietzsches Gegenentwurf zu klassischen Epistemologien ist die subjektive Experi-mentalphilosophie. Fur ihn ist jede Beobachtung und Erkenntnis perspektivisch ge-pragt:

”Du solltest das Perspektivische in jeder Werthschatzung begreifen ler-nen – die Verschiebung, Verzerrung und scheinbare Teleologie der Hori-zonte und was Alles zum Perspektivischen gehort; [. . . ] Du solltest dienothwendige Ungerechtigkeit in jedem Fur und Wider begreifen lernen,die Ungerechtigkeit als unablosbar vom Leben, das Leben selbst als be-dingt durch das Perspektivische und seine Ungerechtigkeit.“28

Wenn dem Menschen auch die Erkenntnis einer objektiven Realitat verwehrt ist,weil die Perspektive Aspekt des Lebens ist, so gibt es doch einen Weg der Welter-kenntnis uber die Selbsterkenntnis, denn der Mensch als Teil der Welt spiegelt derenGrundgefuge wieder. Nietzsche ermutigt:

”Vorwarts. – Und damit vorwarts auf der Bahn der Weisheit, gutenSchrittes, guten Vertrauens! Wie du auch bist, so diene dir selber alsQuell der Erfahrung! Wirf das Missvergnugen uber dein Wesen ab, ver-zeihe dir dein eignes Ich, denn in jedem Falle hast du an dir eine Leitermit hundert Sprossen, auf welchen du zur Erkenntnis steigen kannst.[. . . ] Und indem du mit aller Kraft vorauserspahen willst, wie der Kno-ten der Zukunft noch geknupft wird, bekommt dein eigenes Leben denWerth eines Werkzeuges und Mittels zur Erkenntniss. Du hast es in derHand zu erreichen, dass all dein Erlebtes [. . . ] in Deinem Ziele ohne Restaufgeht.“29

Eine solche Art der Erkenntnis stellt eine Erinnerung des Subjekts an seinen eige-nen Ursprung im kosmischen Werden dar.30 Kirchhoff bezeichnet dies als die neue

26[25, JGB, Der freie Geist 43, S. 60]27Siehe hierzu auch [29, S. 300]

”Umstritten ist jedoch dabei die Frage, ob N., wenn er die Per-

spektivitat als Erkenntnisbedingung benennt, nicht selbst wieder einen Metastandpunkt einnimmt,von dem aus er erst die Beschranktheit der Perspektiven beschreiben kann, die:

’Perspektive des

Perpektivismus ‘.“28[23, MA Vorrede 6, S. 20]29[23, MA I 292, S. 236]30Vgl. zu diesem Zugang [13, S. 16]. Kirchhoff bemerkt hierbei:

”Mit der zweiten These [der

Moglichkeit von Erkenntnis durch Selbsterkenntnis] wird er [Nietzsche] selbst zum Metaphysiker,ohne dies offen einzugestehen und ohne sich dessen voll bewußt zu sein.“ Lustigerweise bemerkt

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”Kategorie der ’Ruckerinnerung‘(Anamnesis)“, die schon in der Philosophie Pla-tons eine zentrale Rolle spiele. Dort bezeichne sie das Wiederbewusstwerden dervorgeburtlichen Ideenschau. Demnach ist alle Erkenntnis Erinnerung an etwas, dasin unserem Geiste schon vorhanden war. Zwar lehnt Nietzsche in der PhilosophiePlatons die absoluten Ideen und die Trennung in Erscheinungs- und Ideenwelt ab,in der Erkenntnismethode finden sich aber Parallelen.31 So erklart sich Nietzscheauch die Ahnlichkeit der verschiedenen philosophischen Schulen.

”Dass die einzelnen philosophischen Begriffe nichts Beliebiges, nichtsFur-sich-Wachsendes sind, sondern in Beziehung und Verwandtschaft zueinander emporwachsen, dass sie, so plotzlich und willkurlich sie auch inder Geschichte des Denkens anscheinend heraustreten, doch eben so guteinem Systeme angehoren als die sammtlichen Glieder der Fauna einesErdtheils: das verrath sich zuletzt noch darin, wie sicher die verschieden-sten Philosophen ein gewisses Grundschema von moglichen Philosophienimmer wieder ausfullen. Unter einem unsichtbaren Banne laufen sie im-mer von Neuem noch einmal die selbe Kreisbahn: sie mogen sich nochso unabhangig von einander mit ihrem kritischen oder systematischenWillen fuhlen: irgend Etwas in ihnen fuhrt sie, irgend Etwas treibt siein bestimmter Ordnung hinter einander her, eben jene eingeborne Sy-stematik und Verwandtschaft der Begriffe. Ihr Denken ist in der Thatviel weniger ein Entdecken, als ein Wiedererkenen, Wiedererinnern, ei-ne Ruck- und Heimkehr in einen fernen uralten Gesammt-Haushalt derSeele, aus dem jene Begriffe einstmals herausgewachsen sind: – Philoso-phiren ist insofern eine Art von Atavismus hochsten Ranges.“32

Wenn aber Nietzsches Erkenntnistheorie auf alle Pramissen verzichten mochte,Wahrheit gleichzeitig aber nicht mehr durch apriorisches Schauen gefunden wer-den kann, dann bedarf die Methode der Selbstreflexion einer Rechtfertigung, dienicht außerhalb des Erkennntisprozesses stehen darf. Er bemerkt:

”Hatte diess aber nicht zur Folge, das die Maschine des Denkers nichtmehr recht arbeitet, wenn er sich beim Acte des Erkennens wirklichunverpflichtet fuhlen konnte? Insofern scheint hier zur Heizung das selbeElement nothig zu sein, das vermittelst der Maschine untersucht werdensoll.“33

Methode und Erkenntnis stehen also in einem Wechselverhaltnis von Brennstoffund Werkstuck, in dem das eben gewonnene verbrannt wird um aus seiner Aschedie nachste Erkenntnis zu formen. Man kann Nietzsche unterstellen, ”daß er Me-thode und Erkenntnis tatsachlich in einem Zirkelverhaltnis stehen sieht, allerdingsjedoch nicht in einem vergeblichen, so daß der Vergleich mit einer Spirale angemes-sener erscheint.“34 Einsatzpunkt dieser Erkenntnisspirale kann ein beliebiges Kon-kretum sein, zum Beispiel das historische Bewusstsein der Selbstreflexion, das abernur die Qualitat einer Arbeitshypothese oder eines Versuchsstandpunktes erreicht.

”Fur Nietzsche, der intensiv die naturwissenschaftlichen Werke seiner Zeit studier-te, ist die Ubernahme der experimentellen Methode fur eine neu zu konzipierendePhilosophie nicht zufallig. Dabei ist zu beachten, daß Nietzsche ’naturwissenschaft-liche Befunde eher als Spekulationspotential denn als objektiv gesicherte Erkennt-

Nietzsche in seinem Nachlass [21, 9 [188], S. 450]:”Ich mißtraue allen Systemen und Systematikern

und gehe ihnen aus dem Weg: vielleicht entdeckt man noch hinter diesem Buche das System,dem ich ausgewichen bin. . .“ Im Folgenden werden wir sehen, warum trotz der Moglichkeit derSelbsterkenntnis Nietzsches Standpunkt nicht zum metaphysischen System wird.

31Vgl. auch [12, S. 96]:”Nietzsche ist, wie Plato, kein Systemdenker, sondern ein Problemdenker“

32[25, JGB 20, S. 34]33[23, MA II, Der Wanderer und sein Schatten 43, S. 572]34[10, S. 101]

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nisse‘betrachtet und auch die Physik lediglich als eine Art der ’Welt-Auslegungund -Zurechtlegung‘begreift. Ein experimenteller Entwurf richtet sich aber immer-hin nach den tatsachlichen Lebensbedingungen und hat immer nur hypothetischenCharakter, da er nur solange gilt, bis er durch einen weiteren Versuch widerlegtwird.“35

Die Philosophie ist vor allem deshalb wesenhaft ephemer, weil der Mensch ein hi-storisches Wesen ist, sas sich im Lauf der Zeit andert; mit ihm wandelt sich auchaber die Perspektive und die Art der Selbsterkenntnis:

”Alle Philosophen haben den gemeinsamen Fehler an sich, dass sie vomgegenwartigen Menschen ausgehen und durch eine Analyse sesselbenan’s Ziel zu kommen meinen. [. . . ] Alles, was der Philosoph uber denMenschen aussagt, ist aber im Grunde nicht mehr, als ein Zeugniss uberden Menschen eines sehr beschrankten Zeitraumes. Mangel an histori-schem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen; [. . . ] Sie wollen nicht ler-nen, dass der Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnissvermogengeworden ist; wahrend einige von ihnen sogar die ganze Welt aus die-sem Erkenntnissvermogen sich herausspinnen lassen. [. . . ] Alles aber istgeworden; es giebt keine ewigen Thatsachen: sowie es keine absolutenWahrheiten giebt. – Demnach ist das historische Philosophiren von jetztab nothig und mit ihm die Tugend der Bescheidung.“36

3.3 Wille zur Macht

Welterkenntnis ist eigentlich aus dem erkennenden Subjekt geschopft und von ihmgeschaffene Welterkenntnis. Dieses schopferische Wirken des Menschen sieht Nietz-sche in einer Analogie zum schopferischen Hervorbringen der Natur, denn beidesind bestimmt als die Fortentwicklung der bisherigen Geschichte des kosmischenWerdens. Diesen Analogieschluss zu rechtfertigen, muss man sich mit einem furNietzsche so typischen und so oft missbrauchten Begriff vertraut machen: dem Wil-len zur Macht, der dem Wirken von Mensch und Natur gleichermaßen zugrundeliegt. Aus dem Nachlass erfahren wir:

”Der siegreiche Begriff ’Kraft‘, mit dem unsere Physiker Gott und dieWelt geschaffen haben, bedarf noch einer Erganzung: es muß ihm eineinnere Welt zugesprochen werden, welche ich bezeichne als ’Willen zurMacht‘, d.h. als unersattliches Verlangen nach Bezeigung der Macht;oder Verwendung, Ausubung der Macht, als schopferischen Trieb usw.[. . . ] Es hilft nichts: man muß alle Bewegungen, alle ’Erscheinungen‘,alle ’Gesetze‘nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen undsich der Analogie des Menschen zu Ende bedienen. Am Thier ist esmoglich, aus dem Willen zur Macht alle seine Triebe abzuleiten: ebensoalle Funktionen des organischen Lebens aus dieser Einen Quelle.“37

Diesen Willen zur Macht wirkt der Mensch in der Selbstuberwindung.38 Grundbe-dingung des eigenen schopferischen Werdegangs ist es namlich, sich stets von alljenen Wesensmerkmalen seiner selbst loszusagen, die im Verharren befangen sind.

”Das Charakteristikum des Lebenswillens [. . . ] bestehe darin, daß er uber den jeweilsgegebenen Zustand hinausdrangt: Alles suche den status quo zu uberwinden und sich

35[29, Experiment, Experimentalphilosophie, S. 224]36[23, MA I 2, S. 24]37[20, 36 [31]]38Vgl. [13, S. 41ff.]

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auf neuem Niveau zu etablieren.“39 So fuhren im Menschen zwei entgegengesetzteWillensstromungen ihren Kampf, der ”Wille zum Nichts“ gegen den ”Willen zumLeben“. ”Schopferisches Werden wird so in der philosophischen Selbst-Beobachtungzum kampferischen Machtwillen. Da dieser zukunftsgerichtet ist, wird der Wille zurMacht zum ’Willen zur Zukunft‘, zum Willen zur schopferischen Gestaltung der Zu-kunft.“40 Wendet man nun die Analogisierung von Mensch und Natur auf den Wil-len zur Macht an, so folgt, dass auch die Entwicklung des Kosmos eine fortwahrendeSelbstuberwindung seiner Formen bedingt, gleichsam einen Kampf gegen sich selbst,ganz so wie auch Heraklit den Kampf als kosmisches Prinzip betrachtet hat. Hierinerkennt man den ”weitreichenden asthetisch-kulturellen Anspruch, mit dem Nietz-sche auch noch die Erkenntnisse der modernen Naturwisenschaften erganzen undin Ubereinstimmung mit dem kunstlerischen Selbstverstandindes produktiven In-dividuums bringen will: ’Wille zur Macht‘soll nicht nur die Triebkraft jener Wesensein, die einen Willen haben, sondern soll als energetischer Impuls allen Geschehensverstanden werden.“41

Wie auch Heraklit wehrt sich Nietzsche gegen die Vorstellung, dass sich in derWelt etwas Beharrendes, Ewiges fande. Gegen diese ”lebensnotwendige Fiktion eines

’Seins‘“ setzt er den ”absoluten Fluss“, denn:

”Damit es irgend einen Grad von Bewußtsein in der Welt geben konne,mußte eine unwirkliche Welt des Irrthums – entstehen: Wesen mit demGlauben an Beharrendes an Individuen usw. Erst nachdem eine ima-ginare Gegenwelt im Widerspruch zum absoluten Flusse entstanden war,konnte auf dieser Grundlage etwas erkannt werden – ja zuletzt kann derGrundirrthum eingesehn werden worauf alles beruht [. . . ] – doch kanndieser Irrthum nicht anders als mit dem Leben vernichtet werden: dieletzte Wahrheit vom Fluß der Dinge vertragt die Einverleibung nicht,unsere Organe (zum Leben) sind auf den Irrthum eingerichtet. [. . . ]Leben ist die Bedingung des Erkennens. Irren die Bedingung des Lebensund zwar im tiefsten Grunde Irren. Wissen um das Irren hebt es nichtauf! [. . . ] Wir mussen das Irren lieben und pflegen, es ist der Mutter-schooß des Erkennens.“42

Weil die Negation des Werdens dem erkennenden Menschen immanent ist, kann audder Intellekt keine Kategorie des absoluten Werdens bilden.

”Unser Intellekt ist nicht zum Begreifen des Werdens eingerichtet, erstrebt die allgemeine Starrheit zu beweisen, Dank seiner Abkunft ausBildern. Alle Philosophen haben das Ziel gehabt, zum Beweis des ewi-gen Beharrens, weil der Intellekt darin seine eigene Form und Wirkungfuhlt.“43

Der Intellekt ist also bloßes Werkzeug des Willens zur Macht, mit dem er die Wahr-heit des absoluten Werdens negiert und eine allgemeine Starrheit konstruiert. Wennaber der Intellekt nur ”die in das Bewußtsein hineinragende letzte und schmalsteAusdrucksform von dunklen und unbewußten Willensstromungen, Triebimpulsen“44

ist, dann ist der Intellekt strukturell unfrei und alles Denken sind bloße bewußtge-wordene Wirkungen des Willens zur Macht.

39Volker Gerhardt in [29, Wille zur Macht, S. 351ff.]40[13, S. 43]41Volker Gerhardt in [29, Wille zur Macht, S. 351ff.]42[28, 11[162], S. 503f.]43[28, 11[153], S. 500]44[13, S. 22]

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4 Determinismus-Begriff bei Nietzsche

Der Versuch, den Begriff des Determinsmus mit Nietzsches Philosophie in Einklangzu bringen, ist problematisch. Zum einen ladt das eben Dargelegte nicht unbedingtdazu ein, in einer perspektivischen Philosophie ein absolutes Gesetz zu verorten,wie es der Determinismus per definitionem ist (s.u.). Zum anderen finden sich vie-le einschlagige Außerungen dazu in jener problematischen Zusammenstellung, dieihre Herausgeber ”Wille zur Macht“ nannten und die mehr zum Zerrbild als zumVerstandnis Nietzsches beigetragen hat.45 Wir mussen also den Umweg uber Belegeaus den veroffentlichten Schriften nehmen, um eine Uberbewertung der Nachlass-Aphorismen zu vermeiden.

Man konnte die Untersuchung sofort abbrechen, verließe man sich auf ein Stelle ausdem Nachlass, die mit ”Zur Bekampfung des Determinismus“ uberschrieben ist:

”Daraus, daß etwas regelmaßig erfolgt und berechenbar erfolgt, ergiebtsich nicht, daß es nothwendig erfolgt. Daß ein Quantum Kraft sichin jedem bestimmten Falle auf eine einzige Art und Weise bestimmtund benimmt, macht ihn nicht zum ’unfreien Willen‘. Die ’mechani-sche Nothwendigkeit‘ist kein Thatbestand: wir erst haben sie in dasGeschehn hinein interpretirt. Wir haben die Formulierbarkeit des Ge-schehens ausgedeutet als Folge einer uber dem Geschehen waltendenNecessitat.“46

Allerdings lassen sich ebenso Stellen anfuhren, in denen Nietzsche genau das Ge-genteil dessen behauptet:

”Am Wasserfall. - Beim Anblick eines Wasserfalles meinen wir in denzahllosen Biegungen, Schlangelungen, Brechungen der Wellen Freiheitdes Willens und Belieben zu sehen; aber Alles ist nothwendig, jede Be-wegung mathematisch auszurechnen. So ist es auch bei den menschli-chen Handlungen; man mußte jede einzelne Handlung vorher ausrech-nen konnen, wenn man allwissend ware, ebenso jeden Fortschritt derErkenntniss, jeden Irrthum, jede Bosheit. Der Handelnde selbst stecktfreilich in der Illusion der Willkur; wenn in einem Augenblick das Radder Welt still stande und ein allwissender, rechnender Verstand da ware,um diese Pausen zu benutzen, so konnte er bis in die fernsten Zeiten dieZukunft jedes Wesens weitererzahlen und jede Spur bezeichnen, auf derjenes Rad noch rollen wird. Die Tauschung des Handelnden uber sich,die Annahme des freien Willens, gehort mit hinein in diesen auszurech-nenden Mechanismus.“47

Neben dem vordergrundig klaren Bekenntnis zu Materialismus und Determinismusist hier die daraus gefolgerte Negation des freien Willens wichtig. Wir werden imFolgenden untersuchen, wie Nietzsche seine Vorstellung von Determinismus aus sei-ner Beschaftigung mit den zeitgenossischen Naturwissenschaften gewonnen hat undwelche Konsequenzen fur den freien Willen und die Moralphilosophie sich darausergeben.

45Kaufmann schreibt:”Die wichtigsten einschlagigen Texte findet man im Nachlaß. Die Heraus-

geber des Willens zur Macht haben sie zu einem Abschnitt zusammengefaßt (WM 618-639). Dergroßere Teil von ihnen stammt aus den Jahren 1885 und 1886, der Rest aus spaterer Zeit. Bei derAbfassung seiner spateren Werke hat Nietzsche diese Aufzeichnungen nicht benutzt. Man kannsagen, daß er in ihnen seine

’Physik‘skizziert hat. Seine Thesen sind nicht voll durchdacht, und er

hat sie auch nicht zu volliger Ubereinstimmung mit seiner sonstigen Philosophie gebracht – dasgilt fur fast alle Aufzeichnungen, die er spater nicht mehr benutzt hat.“ [12, S. 306]

46[21, 9 [91], S. 386]47[23, MA I, 106]

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4.1 Determinismus: Definition und naturwissenschaftlichesVerstandnis

Wie fur alle philosophischen Begriffe ist auch hier die richtige Definition umstritten.Wir verwenden einen Minimalkonsens, der sowohl mit der Auffassung des Materia-lismus im 19. Jahrhundert als auch mit einem mutmaßlichen Verstandnis Nietzschesubereinstimmt, habe er den Begriff nun abgelehnt oder angenommen.

”Kausaler Determinismus: Die Welt ist von Determinismus gelenkt ge-nau dann, wenn unter einer gegebenen Anordnung, die die Dinge zueinem Zeitpunkt t einnehmen, die Art und Weise, wie sich die Dinge da-nach entwickeln als ein Gegenstand von Naturgesetzen bestimmt ist.“48

Eine derartige Auffassung des stofflich-materiellen Geschehens zieht die Forderungder Vorhersagbarkeit nach sich. Wenn namlich ein vernunftbegabtes Wesen der Na-turgesetze kundig ist und gleichzeitig um die Konfiguration aller Dinge zu einembestimmten Zeitpunkte weiß, muss es ihm moglich sein unter Anwendung der Na-turgesetze die Konfiguration zu einem spateren Zeitpunkt zu berechnen. Diese Ein-sicht fuhrte zum Gedankenexperiment des Laplaceschen Damons, dem genau dieseFahigkeiten zugeschrieben wurden und der uns sinngemaß auch im oben zitiertenAphorismus vom Wasserfall begegnet ist.49 In gleicher Weise sollte es einem sol-chen Damon moglich sein, die Vergangenheit zu ergrunden, denn jeder Zustand desUniversums ist Folge eines vorhergehenden und Ursache eines nachfolgenden.

Freilich konnte man mathematisch beweisen, dass ein solcher Damon innerhalb un-serer Welt nicht moglich ware. Es musste denn der Herrgott selbst sich als damonischerweisen, was außerhalb des Interesses dieser Arbeit liegt. In die theoretische Physikhat jedoch Newton eine Formulierung eingefuhrt, die einem jeden mehr oder mindervernunftbegabten Wesen, das heißt einem jeden Menschen der in bescheidenem Ma-ße in der Lage ist, Berechnungen durchzufuhren, ein Mittel an die Hand gegeben,selbst diesen Damon zu spielen. Die hierfur notwendige Simplifizierung rechtfertigtesich aus der Beobachtung, dass viele physikalische Vorgange adaquat beschriebenwerden konne, ohne das ganze Universum zu berucksichtigen. Man fuhrt also das ab-geschlossene System ein, das eine Teilmenge der Welt bezeichnet, die mit dem Restder Welt nicht in (relevanter) Wechselwirkung steht, das heißt, dessen physikalischeEntwicklung von den Vorgangen und Konfigurationen außerhalb seiner selbst, nichtbeeinflusst wird. Naturlich ist dieses Postulat problematisch, denn allein derjenige,der das physikalische Vorgehen betrachtet und vorhersagt und den wir Beobachternennen, tritt mit dem beobachteten System in Verbindung, kann aber schon ubersich selbst kein vollstandiges Wissen haben. In der klassischen Physik fuhrt dieszu keinen Problemen, stiftete aber im Bezug auf die ”moderne“ Physik, i.e. dieQuantenmechanik, hinreichend Verwirrung.50 Der praktische Erfolg der klassischen

48”Causal determinism: The world is governed by (or is under the sway of) determinism if and

only if, given a specified way things are at a time t, the way things go thereafter is fixed as amatter of natural law.“[11]

49”We ought to regard the present state of the universe as the effect of its antecedent state and

as the cause of the state that is to follow. An intelligence knowing all the forces acting in nature ata given instant, as well as the momentary positions of all things in the universe, would be able tocomprehend in one single formula the motions of the largest bodies as well as the lightest atomsin the world, provided that its intellect were sufficiently powerful to subject all data to analysis;to it nothing would be uncertain, the future as well as the past would be present to its eyes. Theperfection that the human mind has been able to give to astronomy affords but a feeble outline ofsuch an intelligence.

”Laplace 1820, zitiert nach [11]

50Eine gute Diskussion dieser Probleme der Quantenmechanik, die eher interpretatorischer alskonzeptioneller Natur sind, findet sich in [3]. Der Status dieser Diskussion unter Naturwissen-schaftlern ist offen. Außerdem wurde die Quantenmechanik erst nach dem Tode von Nietzschezu entwickeln begonnen. Es truge nicht zu Verstandnis und Kritik Nietzsches bei, hier naher auf

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Mechanik und die theoretischen Betrachtungen der Dekoharenztheorie51 rechtferti-gen aber eine solche Annahme.

Betrachten wir als Beispiel einen Gegenstand, etwa eine Kaffeetasse, die zu Bodenfallt. Die Sprache, die Newton fur seine Formulierung der Mathematik erfunden hat,ist die Differentialrechnung. Wie eine Funktion einem Punkt einen Wert zuweist,also zum Beispiel jedem Zeitpunkt den Ort, an dem sich das Objekt zu diesemZeitpunkt befindet, weist die Differentialrechnung jedem Punkt eine ”Entwicklung“zu, also zum Beispiel, wohin sich das Objekt zu einem gegebenen Zeitpunkt be-wegt. Man bezeichnet die ”(Zeit-)Entwicklung“ einer Funtion als deren Ableitung.52

Nun ist die Ableitung des Ortes, an dem sich das Objekt zu jeder bestimmten Zeitbefindet, seine Geschwindigkeit, und die Ableitung seiner Geschwindigkeit seine Be-schleunigung. Newton setzt nun die Beschleunigung eines Teilchens mit der daraufwirkenden Kraft in eine Beziehung, die man Differentialgleichung nennt. Der Me-chanismus entfaltet deswegen pradiktive Kraft, weil er auch einen Formalismus zurVerfugung stellt, die Ableitungen umzukehren: die Integration. Dabei ergibt sichjedoch das Problem, dass die Integration im Gegensatz zur Ableitung nicht zu ein-deutigen Ergebnissen fuhrt. Unterschiedliche Anfangsbedingungen fuhren zu unter-schiedlichen Resultaten aber zur selben Differentialgleichung. Ob unsere Kaffeetassevom Schreibtisch aus einer Hohe von 80 Zentimetern oder vom Tresen eines Lokalsaus 1,20 Meter fallt, fuhrt dazu, dass sie mit unterschiedlichen Geschwindigkeitenauf dem Boden aufschlagt, die Beschleunigung der Tasse aber, die durch die Erd-anziehungskraft bestimmt ist, ist in jeder Hohe die gleiche, so dass sich in beidenSituationen die gleiche Beschreibung ergibt. Fur die theoretische Physik hat mandaher erkannt, dass allein das Wissen um die Orte aller Objekte in einem physikali-schen System (deren Konfiguration) keine vollstandige Beschreibung darstellt. Manbenotigt zusatzliche Randbedingungen, zum Beispiel die Impulse der einzelnen Ob-jekte. Eine solche vollstandige Beschreibung des Systems nennt man Phasenraum,der ”doppelt so groß“ ist, wie der Konfigurationsraum, dessen Bewaltigung fur denLaplaceschen Damon also eine noch schwierigere Aufgabe darstellt.

Wenn ein Mensch also weiß, die Kaffeetasse, die auf seinem Schreibtisches in sei-ner Wohnung steht, wird Sonntag morgens um 9 Uhr 23 durch eine unachtsameBewegung des rechten Ellenbogens uber den Rand geschoben, weiß er auch, bevorihm dieses Malheur widerfahrt, zu welchen Zeitpunkten danach sie sich wo zwischenTischplatte und Fußboden befindet und zu welchem genauen Zeitpunkt sie an wel-chem Ort auf den Boden aufschlagen wird. Dies ist Pradiktion auf der Grundlagevon Determinismus.

Was aber passiert mit unserer Kaffeetasse dann? Sie zerschellt in viele Einzelteile,die sich in wildem Muster uber den ganzen Raum verteilen, Kaffee spritzt nach al-len Seiten. Vorhersehbar? Nein, aber dennoch voherbestimmt. Es wird mit keinemSuperrechner der Welt moglich sein, das Verhalten eines jeden Splitters vorherzu-sagen. War die Tasse mit dem Henkel voraus gefallen? War die Wand der Tassean allen Stellen gleich dick? Wie war die Beschaffenheit des Fußbodens? Wo sind

Details einzugehen, so dass ich darauf verzichten werde. Eine unproblematische Betrachtung derQuantenmechanik, die auf unsere Zwecke zugeschnitten ist, findet sich unten.

51In sehr bescheidenen Worten ausgedruckt ist dies eine mathematische Formulierung der Be-dingungen, unter denen physikalische Entitaten als nicht mehr wechselwirkend betrachtet werdenmussen.

52Es gibt Raumableitungen, Zeitableitungen, Ableitungen nach beliebigen physikalischen Großen.Im Prinzip kann nach allem abgeleitet werden, wobei nicht immer physikalische Aussagen zutagetreten. Fur unseren Zwecke der Betrachtung des Determinismus genugt die Zeitableitung, weiluns interessiert, wie ein Zustand zu einem gegebenen Zeitpunkt einen anderen nach sich zieht. Esließe sich aber fragen, ob man die gegenseitige Bestimmung verschiedener physikalischer Großen ineinem System auch als Determinismus bezeichnen konnte, etwa wenn eine bestimmte Temperatureines Gases einen bestimmten Druck nach sich zieht.

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die Storstellen im Porzellan, die die Tasse dort brechen lassen? Wenn die kleinstenEinheiten der Materie eine Rolle spielen und es so viele davon gibt, wie in makrosko-pischen Objekten, blaht sich der Phasenraum immens auf und die zur Vorhersagenotige Information kann nicht mehr beschafft werden. Und selbst, wenn wir uns einumfangreiches Wissen beschaffen konnten und setzten es in alle Differentialgleichun-gen fur alle Wechselwirkungen ein, so erhielten wir ein mathematisches Problem,das wir zu losen nicht imstande sind, weil uns die technischen Methoden dafur feh-len. Dieses Problem, fur das man die Begriffe Komplexitat oder Chaos eingefuhrthat, stellt sich in fast allen realen physikalischen Situationen. Es widerspricht demDeterminismus nicht, denn die Entwicklung der einzelnen Bestandteile des Systemsfolgt zu jeder Zeit den Naturgesetzen.53

Ganz ahnlich ist die Situation in der statistischen Physik, die fur Nietzsche einegroße Rolle gespielt hat. Hier untersucht man sehr große Systeme, die aus 1020 bis1030 Teilchen bestehen. Uber solche Systeme ist ein vollstandiges Wissen nahezuunmoglich, auf alle Falle nicht mehr verwertbar. Die Physik beschrankt sich aberinsofern, als sie sich fur die einzelnen Teilchen nicht interessiert, sondern nur furdie makroskopischen Großen, die die Bewegungen dieser einzelnen Teilchen verur-sachen, wie zum Beispiel Temperatur, Druck, Volumen, Magnetisierung, Energie. . . Es spielt dabei keine Rolle, ob das eine oder das andere Teilchen zu einem be-stimmten Zeitpunkt mit einer bestimmten Geschwindigkeit an einem bestimmtenPunkt an die Kaffeetasse stoßt, es ist nur wichtig, dass im Mittel alle Teilchen mitmittleren Geschwindigkeiten gleichmaßig uberall in gewisser Regelmaßigkeit sol-che Stoße durchfuhren, um uber die Temperatur des Kaffees Aussagen treffen zukonnen. Dies ist eine Annahme, die durch die mathematischen Methoden der Stati-stik gerechtfertigt wird. Man erhalt als Ergebnis solcher Berechnungen das typischeVerhalten eines physikalischen Systems, das heißt, dass die Ergebnisse in fast allenFallen auch so experimentell bestatigt wurden. Es wird dadurch aber nicht ausge-schlossen, dass unter extrem seltenen und dummen Umstanden sich plotzlich alleBestandteile des Kaffees zum gleichen Zeitpunkt in einer Bewegung uber den Randder Kaffeetasse hinaus in die Luft befinden und er sich von selbst verschuttet. SolcheEreignisse sind allerdings so selten, dass man seinen Kaffee getrost fur die Lebens-dauer des Universums stehen lassen konnte, ohne ein solches Eigenleben befurchtenzu mussen. Auch hier finden wir keinen Widerspruch zum Determinismus, denn dasSchicksal aller Teilchen ist mit dem Zeitpunkt bestimmt, da der Kaffee in die Tassegeschuttet wird, ohne dass uns dieses Schicksal jemals zuganglich ware.

Auch die Relativitatstheorie andert nichts an dieser deterministischen Weltsicht.Sie tragt zwar dem Gedanken Nietzsches von der Perspektivitat aller Erkenntnisund Naturbeschreibung Rechnung, weil sie die physikalischen Beschreibungen allerBeobachter gleich wertet, stellt aber auch einen Formalismus zur Verfugung, mitdem jede mogliche andere Perspektive berechnet werden kann, ohne dass man sieselbst erfahren musste. Die Entwicklung des physikalischen Systems ist aber nachwie vor durch ein System von Differentialgleichungen festgelegt, so dass aus demvollstandigen Wissen uber ein System zu einem gegebenen Zeitpunkt sein Zustandzu jedem spateren vorherberechnet werden kann.

Wie steht es nun um die Quantenmechanik, die vielen immer wieder als ein Hort desIndeterminismus gilt. Die Frage ist schwierig zu beantworten, weil die Diskussionuber die korrekte Interpretation der Quantenmechanik andauert und die Materieselbst schwierig ist.54 Im Kern begegnen wir in der Quantenmechanik keiner ande-ren Situation als in der klassischen Physik: Eine Differentialgleichung, die Schrodin-

53Man konnte sogar sagen: die Welt ist ein gigantischer Computer zum Losen komplizierterDifferentialgleichungen.

54”I think it is safe to say that no one understands quantum mechanics.“ (Richard P. Feynman)

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gergleichung, beschreibt, wie sich ein Zustand des physikalischen Systems in einennachsten entwickelt und zwar mathematisch wohlverstanden. Die Quantenmechanikfuhrt zu Resultaten, die mit Experimenten ubereinstimmen, es gibt sogar kein Expe-riment, das sich mit Hilfe der Quantenmechanik nicht erklaren ließe. Das Problembesteht darin, wie man den ”Zustand des physikalischen Systems“ mathematischbeschreibt, denn statt ”Orten“ und ”Impulsen“ benutzt man hier ”Zustandsfunk-tionen“ oder ”Wellenfunktionen“, die sich nicht mehr auf Objekte der Alltagser-fahrung beziehen wie eben ”Teilchen“. Die Frage, wie aus Zustandsfunktionen diereale Welt entsteht, ist noch nicht beantwortet55, es ist noch nicht einmal klar, obsie beantwortet werden muss.56 In einer Weiterentwicklung der Quantenmechanikzur Quantenfeldtheorie, die die Quantenmechanik mit der speziellen Relativitats-theorie in Einklang bringt, werden die Wellenfunktionen zu Gunsten der Teilchenwieder abgeschafft, allerdings zum Preis, dass sich die Teilchen nicht mehr wie inder klassischen Physik verhalten, sondern unendlich viele verschiedene Wege gleich-zeitig nehmen.57 Dennoch bleibt der Zustand des physikalischen Systems zu jedemZeitpunkt durch einen vorhergehenden Zustand und die Randbedingungen deter-miniert.

Auch wenn auf die Unterschiede des Determinismusbegriffs in den einzelnen phy-sikalischen Theorien nicht eingegangen werden kann, so laßt sich doch verstehen,dass physikalische Gesetze, die mathematisch mit Hilfe von Differentialgleichungenausgedruckt werden, wesenhaft beschreiben, wie sich physikalische Objekte von ei-nem Zustand zu einem anderen entwickeln. Es gibt Minimalanforderungen an dasWissen uber das zu betrachtende System, die genugen, um durch die Anwendungdes Gesetzes das kunftige Verhalten sowie die Vergangenheit zu berechnen.58

4.2 Nietzsche und die Naturwissenschaft

Es steht fest, dass sich Nietzsche intensiv mit den naturwissenschaftlichen Posi-tionen seiner und fruherer Zeit auseinandergesetzt hat. Dies lasst sich neben denzahlreichen Verweisen, die sich in seinen Texten finden, auch anhand der Ausleihenbestatigen, die er in der Baseler Universitatsbibliothek getatigt hat.59 Er beschaftig-te sich gleichermaßen mit Physik (Boscovich, Helmholtz, Madler, Mohr, Pouillet,Zollner), Chemie (Kopp, Ladenburg) und Physiologie (Funke). Weit weniger offen-sichtlich ist, welches Verhaltnis Nietzsche zu den Aussagen der Naturwissenschafteneinnahm. ”Unklar ist vor allem das Verhaltnis von Nietzsches aufrichtigem oder rhe-torischem Bekenntnis zur Wissenschaft in seiner sogenannten ’positivistischen Pha-se‘einerseits und seiner grundsatzlichen Erkenntnisskepsis andererseits“60 Insbeson-

55Einige Mathematiker und Naturphilosophen sind der Meinung, die Schrodingergleichungmusse durch ein Fuhrungsfeld erganzt werden. In der sog. Bohmschen Mechanik werden damitneben den Wellenfunktionen auch den Teilchen deterministische Entwicklungen zugewiesen. Vgl.[7]

56Z.B. Kojeve [14] ist der Meinung, dass Zustandsfunktionen die eigentlich konkreten Objekteder Welt sind.

57[9]58Es lasst sich nun auch verstehen, warum sich Nietzsche entgegen der Meinung von Kirchhoff

[13, 1.5, S. 23] nicht in Widerspruch zu wesentlichen Grundpositionen der modernen Physik undder Physik des 19. Jahrhunderts bringt. Physikalische Gesetze beschreiben wesenhaft die Ent-wicklung der Dinge, also deren Werden. Die sogenannten Naturkonstanten stehen dazu nicht imWiderspruch. Zum einen gilt es mittlerweile als nicht unwahrscheinlich, dass sie gar nicht fur alleEwigkeit konstant sind sondern sich im Laufe der Geschichte des Universums langsam andern,zum anderen werden sie bei der Untersuchung physikalischer Gesetze meist einfach weggelassen.Sie sind im wesentlichen nur

”Umrechnungsfaktoren“, die die mathematisch relevanten Einheiten

in die Einheiten der Beobachtung umwandeln.59Vgl. [4]60[29, S. 404]

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dere darf man nicht verfuhrt sein, in seinen Notitzbuchern reproduzierte oder zumeigenen besseren Verstandnis dort nachvollzogene naturwissenschaftliche Lekture,als von Nietzsche widerspruchslos anerkannte Wahrheit zu betrachten, nur weil sieim Nachlass erhalten ist.61 Ein Beispiel fur solch ein schopferisches Nachvollziehenist das Fragment zur Zeitatomenlehre62 von 1873, in dem Nietzsche aus der Lektureeiner naturwissenschaftlichen Arbeit eine ”wissenschaftliche Empfindungslehre“ ab-zuleiten versucht.63

4.2.1 Naturwissenschaftliche Lekture

Unter den nicht-zeitgenossischen Naturwissenschaftlern ehrte Nietzsche am meistenRuggero Giuseppe Boscovich. Der Jesuit, der von 1711 bis 1787 lebte, stammte ausDalmatien, studierte Physik und Mathematik am Collegium Romanum, wo er spaterauch Professor wurde. Er beschaftigte sich mit Themen aus der Astronomie und mitTeleskopen, mit Gravitation und sogar mit der Statik der Kuppel des Petersdomes.Sein Hauptwerk ist Theoria philosophiae naturalis redacta ad unicam legem viriumin natura existentium64 von 1758, in dem er aufbauend auf die Newtonsche Me-chanik eine Atom- und Krafttheorie vorstellt, dergemaß Atome strukturlose Punktesind, welche abstoßende und anziehende Krafte aufeinander wirken. Uber die Wir-kung von Boscovich schreibt Nietzsche:

”Was die materialistische Atomistik betrifft: so gehort dieselbe zu denbestwiderlegten Dingen, die es giebt; und vielleicht ist heute in EuropaNiemand unter den Gelehrten mehr so ungelehrt, ihr ausser zum beque-men Hand- und Hausgebrauch (namlich als einer Abkurzung der Aus-drucksmittel) noch eine ernstliche Bedeutung zuzumessen – Dank vor-erst jenem Polen Boscovich, der, mitsammt dem Polen Kopernicus, bis-her der grosste und siegreichste Gegner des Augenscheins war. Wahrendnamlich Kopernicus uns uberredet hat zu glauben, wider alle Sinne, dassdie Erde nicht fest steht, lehrte Boscovich dem Glauben an das Letzte,was von der Erde ’feststand‘, abzuschworen, dem Glauben an den ’Stoff‘,an die ’Materie‘, an das Erdenrest- und Klumpchen-Atom: es war dergrosste Triumph uber die Sinne, der bisher auf Erden errungen wordenist.“65

Mit Boscovich glaubt Nietzsche auch den deutschen Arzt und Physiker Julius RobertMayer (1814 – 1878) widerlegen zu konnen. Mayer beschaftigte sich mit Warmelehreund leistete wichtige Vorarbeiten zum Energieerhaltungssatz, den spater Hermannvon Helmholtz formulierte. Wenn Nietzsche auch aus Mayers ewiger Konstanz desKraftquantums eine Begrundung fur seine Vorstellung von der ewigen Wiederkehrdes Gleichen gewinnt, indem er daraus eine Begrenztheit der moglichen Kraftla-gen folgert, lehnt er seinen mechanistischen Stoffbegriff ab.66 Er schreibt an seinenFreund Koselitz:

61Vgl. [29, S. 404]”Ebenso mißlich ist, daß der interpretatorische Status der haufig als Exzerpte

im Nachlaß uberlieferten Lekturezeugnisse von naturwissenschaftlichen Werken beim isoliertenAufspuren von Quellentatbestanden zumeist unbefragt bleibt.“

62[27, 26 [12], S. 575ff.]63Es geht hierbei um die Atomismuskritik bei Boscovich, dem Nietzsche große Bedeutung zumaß

(s.u.). Aus dem Primat der Kraft und der Ablehnung stofflicher Atome leitet sich ein Kraftgesetzher, das nur in der Ferne wirken konne. Nietzsche stellt eine Transformation aller Aussagen uberOrtspunkte in Aussagen uber verschiedene Zeitpunkte vor. Wenn nun manche Dinge als gleichzeitigwahrgenommen wurden, so sei dies eine Leistung der Empfindung, die fur ein Nebeneinanderordnender Zeitpunkte sorge. Hierzu ausfuhrlich [31].

64Theorie der Naturphilosophie zuruckgefuhrt auf das einheitliche Gesetz der Naturkrafte65[25, JGB, von den Vorurtheilen der Philosophen 12, S. 26]66Vgl. [29, S. 406]

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”Ich las in R〈 obert〉 Mayer [. . . ] Wenn irgend Etwas gut widerlegt ist soist es das Vorurtheil vom ’Stoffe‘: und zwar nicht durch einen Idealistensondern druch einen Mathematiker – durch Boscovich. [. . . ] Schwereist ganz gewiß keine ’Eigenschaft der Materie‘, einfach weil es keineMaterie giebt. Schwerkraft ist, ebenso wie die vis inertiae, gewißeine Erscheinungsform der Kraft (einfach weil es nichts anderes giebtals Kraft): nur ist das logische Verhaltniß dieser Erscheinungsform zuanderen, z.B. zur Warme, noch ganz undurchsichtig.“67

Mit der Ablehnung stofflicher Atome, die vielmehr wie ein ”als relationale Kraft-wirkungen auszulegendes Geschehen“68 interpretiert werden, andert sich auch dieEinstellung gegenuber den von der Wissenschaft aufgestellten Naturgesetzen, ”dennjedes Gesetz kann jetzt nur noch als transitorisches Resultat perspektivischerTauschung und somit als regulative Fiktion begriffen werden.“69 Absolute Gesetzeund alle Verharrende, wie Stoff und Materie, sind mit dem Postulat vom ”absolutenWerden“ eben nicht vereinbar. Damit greift er aber die Grundlagen der Naturwis-senschaften an, denn deren Gegenstand, auch in der statistischen Physik des 19.Jahrhunderts, sind die materiellen Objekte. Wenn man diese aber in Abrede stellt,werden die Naturgesetze im wahrsten Sinne des Wortes gegenstandslos.

Die physikalische Forschung wurde zu Nietzsches Lebzeiten von der statistischenPhysik bestimmt. Neben Robert Mayer leistete auch Sadi Carnot (1796–1832) mitseinen Uberlegungen zum idealen Kreisprozess fur den Antrieb eines Motors durchWaremebader wichtige Vorarbeiten fur die Erkenntnis der Aquivalenz von mechani-scher Energie und Warmeenergie die schließlich zur Formulierung des ersten Haupt-satzes der Thermodynamik durch James Joule (1818–1889) fuhrte. Demnach ist dieSummer aller Energien, mechanischer wie thermischer, im abgeschlossenen Systemstets erhalten und ein perpetuum mobile erster Art, eine Maschine, die Arbeit leistet,ohne Energie aufzunehmen, unmoglich. Mit diesem Gesetz allein konnte aber nochnicht erklart werden, warum bestimmte Prozesse in der Natur nicht auftreten, wiezum Beispiel, dass ein Stein sich abkuhlt und in die Luft springt. William Thomsonund Rudolf Clausius fanden zwei aquivalente Formulierungen des zweiten Haupt-satzes der Thermodynamik, namlich dass es keinen Prozess geben durfe, desseneinzige Wirkung es sei, Warmeenergie vollstandig in mechanische Energie umzu-wandeln, was man auch als perpetuum mobile zweiter Art bezeichnet, bzw. Warmevon einem kalteren in ein warmeres Reservoir zu leiten. Der zweite Hauptsatz istim Gegensatz zu allen anderen physikalischen Gesetzen nicht mathematisch abge-leitet sondern stellt eine reine Erfahrungstatsache dar. Er ermoglicht die Definitioneiner neuen Zustandsgroße, der Entropie, als das Verhaltnis der Warmeenergie, diewahrend einer Zustandsanderung eines thermodynamischen Systems aufgenommenwird, und der Temperatur, bei der die Zustandsanderung geschieht. Durch Betrach-tung des Carnot-Prozesses kann man beweisen, dass die Entropie eines thermischabgeschlossenen Systems nicht abnimmt. Ein solches System, das sich nicht im ther-modynamischen Gleichgewicht befindet, kann also nur dem Gleichgewichtszustandzustreben und dabei seine Entropie maximieren.70

Ein solches thermisch abgeschlossenes System im Nichtgleichgewicht stellt auch dasUniversum als ganzes dar, weil es außerhalb nichts gibt, mit dem es thermischwechselwirken konnte. Wendet man den zweiten Hauptsatz der Thermodynamikauf das Universum an, so bedeutet dies, dass auch das Universum sich langsamauf einen thermodynamischen Gleichgewichtszustand maximaler Entropie hinent-

67[17, III,1, 213, S. 183f.]68Abel 1998, zitiert nach [29, Naturwissenschaft, S. 405]69[29, ebd.]70Siehe z.B. [1]

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wickeln wird, in dem es dann keine Zustandsanderung mehr erfahrt: der Waremetoddes Universums. Diese erstaunliche und vielleicht erschutternde Folgerung hat un-ter Naturforschern und Philosophen eine Rege Debatte ausgelost.71 Im Jahre 1875verfasst Hans Vaihinger einen Artikel fur die Konferenz des Philosophischen Vereinsvon Leipzig. In einer von Neokantismus und Positivismus gepragten Zeit ist ”Dergegenwartige Stand des kosmologischen Problems“ von zwei Stromungen zu seinerLosung beherrscht: der mechanistischen, die an die Gultigkeit der physikalischen Ge-setze glaubt und der sich Thomson, Helmholtz und Clausius angeschossen hattenund der organisch-teleologischen von Otto Caspari, der dem Universum die Cha-rakteristiken eines lebenden Organismus zuschreibt.72 Wenn das Universum nachunendlicher Zeit in den Gleichgewichtszustand des Warmetodes ubergeht, so ver-sucht Caspari die mechanistische Beschreibung zu widerlegen, dann musste es sichbereits in diesem Zustand befinden, da es schon seit einer Ewigkeit bestunde.73 ”Al-so kann das Universum nicht als Mechanismus betrachtet werden: [. . . ] aber jedeEinheit von Teilen, die sich in Bezug auf die eigene Bewegung nach einem nicht-mechanischen Gesetz verhalten, muss als Organismus betrachtet werden. Die Atomevon Caspari, unter Berufung auf den Leibniz der Monadologie, verhalten sich wieeine Art biologische Monaden, die mit einem inneren Zustand ausgestattet sind.Jedes Atom gehorcht dem ethischen Imperativ, zur Erhaltung des gesamten Orga-nismus beizutragen, und folgt in seiner Bewegung neben der reinen physikalischenWechselwirkung, auch einer apriorischen Norm, durch die es das termische Gleich-gewicht vermeidet, das aus jeder rein mechanischen Wechselwirkung unausweichlichfolgt.“74

Wenn man den Atomen solche organischen Eigenschaften zugesteht, versteht manauch, wie der Wille zum Leben ihren Bewegungen zugrundeliegen kann. Ent-scheidend an diesem Weltbild ist aber die Gegenuberstellung von mechanistisch-deterministischer und organisch-ethischer Sichtweise. Ethische Anspruche wider-sprechen also den deterministischen und umgekehrt, was ein entscheidender Punktzum Verstandnis des Determinismusbegriffes Nietzsches ist.

4.2.2 Ablehnung der Naturwissenschaften

Neben ihrer Untersuchung von Objekten, die fur Nietzsche eigentlich nur Gegen-stand eines Grundirrtums sein konnen, kritisiert er das Bedurfnis der Naturwissen-schaften, ein ewiggultiges Naturgesetz aufzustellen, also eine klassische Wahrheit,die jeder Perspektive enthoben und jeder historischen Wertung entzogen ist, als ei-gentlich metaphysisches Bedurfnis, weil ”es immer noch ein metaphysischer Glaube

71Eine ausfuhrliche Darstellung der naturwissenschaftlichen und philosophischen Diskussion der

”kosmologischen Frage“ findet sich bei [6]72S. [6, S. 111ff.]73Freilich ist man in der mathematischen Kosmologie mittlerweile der Ansicht, dass es einen

zeitlichen Beginn des Universums gegeben habe, den Urknall, uber dessen Existenz schon zu Zei-ten der kosmologischen Frage philosophisch spekuliert worden ist. Dem Argument von Caspari istalso heute der Boden entzogen. Ein andere physikalische Spekulation, nach der das Universumnach langer Zeit der Ausdehnung wieder in sich zusammensturzen konnte, scheint nach neue-ren Erkenntnissen unwahrscheinlich. Damit wird der Warmetod wieder als Ende des Universumserwartet.

74”Ergo, l’universo non puo essere considerato un meccanismo: [. . . ]. Ma ogni communita di par-

ti che in relazione al proprio movimento segua una norma non meccanica, deve essere considerataun organismo. Gli atomi di Caspari, in un richiamo al Leibniz della Monadologia, vengono cosı aconfigurarsi come una sorta di monadi biologiche, dotate di stati interni. Ogni atomo obbedisceall’imperativo etico di contribuire alle conservazione dell’organismo generale e nel suo movimentosegue, accanto alla pura interazione fisica, anche una norma datagli a priori, attraverso la qualeviene evitato l’equilibrio termico, immancabile risultato die ogni interazione puramente meccani-ca.“[6, S. 171f.]

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ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht, – dass auch wir Erkennendenvon heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von demBrande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzundet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass dieWahrheit gottlich ist . . .“75. So ist die Wissenschaft nichts anderes als ”Eine tief-sinnige Wahnvorstellung, welche zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam,jener unerschutterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der causalitat,bis in die tiefsten Abgrunde des Seins reiche [. . . ]. Dieser erhabene metaphysischeWahn ist als Instinct der Wissenschaft beigegeben und fuhrt sie immer und im-mer wieder zu ihren Grenzen, an denen sie in Kunst umschlagen muss.“76 Damitvernachlassigt die reine Naturwissenschaft aber den interpretationalen Grundcha-raketer der Welt und verkennt, ”dass Physik auch nur eine Welt-Auslegung und-Zurechtlegung [. . . ] und nicht eine Welterklarung ist: aber, insofern sie sich aufden Glauben an die Sinne stellt, gilt sie als mehr und muss auf lange hinaus nochals mehr, namlich als Erklarung gelten. Sie hat Augen und Finger fur sich, sie hatden Augenschein und die Handgreiflichkeit fur sich: das wirkt auf ein Zeitalter mitplebejischem Grundgeschmack bezaubernd, uberredend, uberzeugend, – es folgt jainstinktiv dem Wahrheits-Kanon des ewig volksthumlichen Sensualismus.“77 Dochhat sie diesen Uberzeugungscharakter eben nur fur die Plebs unter den Denkern,wohingegen deren Nobilitat erkennt:

”Eine ’wissenschaftliche‘Welt-Interpretation, wie ihr sie versteht, konntefolglich immer noch eine der dummsten, das heisst sinnarmsten allermoglichen Welt-Interpretationen sein: dies den Herrn Mechanikern in’sOhr und Gewissen gesagt, die heute gern unter die Philosophen laufenund durchaus vermeinen, Mechanik sei die Lehre von den ersten undletzten Gesetzen, auf denen wie auf einem Grundstocke alles Daseinaufgebaut sein musse. Aber eine essentiell mechanische Welt ware eineessentiell sinnlose Welt!“78

Eine deterministische Weltsicht, so wie wir sie oben dargestellt haben, ware aberessentiell auch eine mechanische und also fur Nietzsche eine sinnlose.

Nietzsches Verhaltnis zur Wissenschaft ist aber durchwegs ambivalent. Im gleichenBuch namlich traumt er von einem Ideal der Frohlichen Wissenschaft : ”Vielleichtwird sich dann das Lachen mit der Weisheit verbundet haben, vielleicht giebt esdann nur noch ’frohliche Wissenschaft‘.“79 Eine Wissenschaft, die ihre eigene Per-spektive relativieren und sich als Diskussionsbeitrag begreifen kann: ”Ueber sich sel-ber lachen, wie man lachen musste, um aus der ganzen Wahrheit heraus zu lachen,– dazu hatten bisher die Besten nicht genug Wahrheitssinn und die Begabtestenviel zu wenig Genie!“80 Nietzsche verweist damit die Naturwissenschaften auf einenPlatz, der z.B. der Kunst untergeordnet ist. Es wurde nicht reichen, eine positivi-stische Wissenschaftsauffassung, wie sie sich im 19. Jahrhundert fand, durch einepragmatische oder funktionalistische zu ersetzen, was in der Moderne oft geschieht,um diesen Makel zu beheben. Auch wenn eine Naturwissenschaft ihr Konzepte alsbloße mathematische Hilfsmittel begriffe, wohnte ihr immer noch die reduktioni-stische Methode inne, deren Objektivitatsanspruch nicht aufgegeben werden kann.Daruberhinaus ist es fur die Naturwissenschaft nicht moglich, Perspektiven soweitzuzulassen, dass einander widersprechende Positionen Gultigkeit erhalten konnten,was im zwischenmenschlichen Bereich durchaus zulassig ist und im Falle der Kunst

75[24, FW, Funftes Buch 344, S. 577]76[19, GT, Nr. 15, S. 99]77[25, JGB, von den Vorurtheilen der Philosophen 14]78[24, FW 373, S. 626]79[24, FW, Erstes Buch 1]80[24, ebd.]

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gar kein Problem darstellt.

Was aber bedeutete eine solche Position der Wissenschaft fur unsere Frage nachdem Determinismus? Eine Naturwissenschaft, die keinen Objektivitatsanspruch andie von ihr betrachteten Gegenstande stellte, ware keine Wissenschaft mehr uber dieWelt, sondern uber Konzepte, die vielleicht einer Okonomie des Denkens entsprun-gen sind. Wenn sie daruberhinaus auch noch den Anspruch der strengen Notwen-digkeit ihrer Naturgesetze leugnete, ware die aus ihr abzuleitende Gesetzmaßigkeitnur mehr ein empirischer Determinismus, der bei Hume sogar zur Vorbedingungder menschlichen Freiheit wird. Auf alle Falle erfullte sie keine der Bedingungen furDeterminismus mehr, die wir in 4.1 festgelegt haben, weil weder die ”Dinge“ Teilder Welt sind, noch ein ”Naturgesetz“ deren Entwicklung lenkt. Mit einer Wissen-schaftsauffassung, wie Nietzsche sie akzeptierte, kann Determinismus nicht gerecht-fertigt werden.81

5 Naturwissenschaft und Moral

Mag das Verhaltnis Nietzsches zur Naturwissenschaft ambivalent sein, wie wir ge-sehen haben, zur Moral scheint der Philosoph, der als vermeintlich großer Kritikerdes Christentums und seiner ”Sklavenmoral“ beruhmt geworden ist, eindeutige Po-sitionen zu beziehen. Den Menschen durch oktroyierte Moralvorstellungen zu un-terdrucken, wurde von ihm abgelehnt.

Zur Begrundung des moralischen Anspruchs an die Handlungen eines Menschenbedarf es zumindest zweier Grundannahmen. Zum einen mussen die Werte, auf diesich die Handlungsnormen stutzen, letztbegrundet werden, das heißt, derjenige, dereine Norm verficht, sei es ein Philosoph, ein Kirchenfurst oder die graue Masse derGesellschaft, muss sie von einem Wert ableiten, von dem selbst hinwiederum gesagtwerden muss, warum er allgemeingultig, ewig und der menschlichen Dispositionentzogen ist. Eine solche transcendentale Verortung wurde immer wieder aus demchristlichen Glauben heraus versucht, was Nietzsche zusammen mit den ”ewigenGlaubenswahrheiten“ ablehnte. Zum anderen kann eine Handlung nur dann mora-lisch bewertet werden, wenn ihr Urheber gestalterischen Einfluss auf sie hatte, wenner sie in dieser oder anderer Weise hatte ausfuhren konnen, wenn er sich uberhauptfur oder gegen sie entscheiden konnte, wenn also der Mensch mit einem freien Wil-len uber seine Handlungen ausgestattet ist. Am Anfang aller Moralphilosophie stehtdas Aristoteleswort:

”Da nun die Tugend sich auf Leidenschaften und Handlungen beziehtund da Lob und Tadel das Freiwillige treffen, das Unfreiwillige aberVerzeihung erlangt, gelegentlich sogar Mitleid, so muß derjenige, dernach der Tugend forscht, wohl auch das Freiwillige und Unfreiwilligebestimmen.“82

Moralisch oder unmoralisch handelt also nur, wer fur seine Tat Lob oder Tadelerwarten kann. Wer aber keine Wahl, kann schlechterdings getadelt werden undtragt auch keine Verantwortung.83.

Moralphilosophie und Naturwissenschaft treffen sich dort, wo naturwissenschaftli-cher Determinismus so weit geht, dass er auch den Menschen als physisches Wesenmitsamt seinem Denken und Handeln erfasst. Des Menschen Handeln ist dann wie

81Vgl. [29, Wissenschaft, S. 355f.]82[2, 1109 b 30 – 34, S. 149]83Vgl. [8]

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jedes Ding in der Welt vorherbestimmt und er ohne jede Freiheit uber, ohne jedemoralische Verantwortung fur sein Tun. Verschiedene Philosophen, darunter Tho-mas Hobbes, David Hume und John Stuart Mill argumentierten fur die Kompa-tibilitat von Determinismus und moralischer Verantwortung und begrundeten dieLehre vom Kompatibilismus84, andere wie Augustinus und Immanuel Kant lehntendiese friedliche Koexistenz ab und bewiesen sich damit als Inkompatibilisten.

Nietzsche selbst nimmt zur Naturwissenschaft ein wechselndes Verhaltnis ein, stren-gen Determinismus schien er abzulehnen. Dennoch scheint er ihm nutzliches Mittelin seinem ”demoralisierenden“ Programm, das er in einer Gegenrede zu Schopen-hauers Postulat des freien Willens im Bezug auf das Wesen des Menschen skizziert:

”Schopenhauer macht jene treffliche Unterscheidung, mit der er vielmehr Recht behalten wird, als er sich selber eigentlich zugestehen durf-te: ’die Einsicht in die strenge Nothwendigkeit der menschlichen Hand-lungen ist die Granzlinie, welche die philosophischen Kopfe von denanderen scheidet.‘Dieser machtigen Einsicht, welcher er zu Zeiten of-fen stand, wirkte er bei sich selber durch jenes Vorurtheil entgegen,welches er mit den moralischen Menschen (nicht mit den Moralisten)noch gemein hatte und das er ganz harmlos und glaubig so ausspricht:

’der letzte und wahre Aufschluss uber das innere Wesen des Ganzender Dinge muss nothwendig eng zusammenhangen mit dem uber dieethische Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns‘, – was eben durch-aus nicht ’nothwendig‘ist, vielmehr durch jenen Satz von der strengenNothwendigkeit der menschlichen Handlungen, das heisst der unbeding-ten Willens-Unfreiheit und -Unverantwortlichkeit, eben abgelehnt wird.Die philosophischen Kopfe werden sich also von den anderen durch denUnglauben an die metaphysische Bedeutsamkeit der Moral unterschei-den.“85

Obwohl Schopenhauer das Problem der Determiniertheit menschlichen Handelnserkennt und insofern ein ”Moralisten-Genie“ ist, hat er nicht die Kraft, sich vonder moralischen Fessel zu losen. Schopenhauer bleibt ein ”moralischer Mensch“, dermoralisch handeln muss und die Moral nicht in Frage stellen darf, sondern sie stattdessen auf ein metaphysisches Podest hebt. Genau dies durfe aber ein Philosophnicht tun, weil die Gultigkeit gesellschaftlicher oder religioser Normen ein ”Vorurt-heil“ ist. Es ist auch unzulassig, dem Menschen die Freiheit zuzuschreiben, sein Esse,also seinen Charakter und sein Wesen, aus dem dann notwendig alle Handlungenfolgen, frei zu wahlen, denn ”manche Hinterthur, welche sich die ’philosophischenKopfe‘, gleich Schopenhauern selbst, gelassen haben, als nutzlos erkannt werden:keine fuhrt in’s Freie, in die Luft des freien Willens; [. . . ] frei konnen wir uns nurtraumen, nicht machen.“86

Denn auch die Entscheidungen fur oder gegen bestimmte Wesenszuge sind Hand-lungen und unterliegen als solche dem Gesetz der Notwendigkeit. Auch das Weseneines Menschen ist also kein Resultat eines freien Willensaktes.

”Nun entdeckt man schliesslich, dass auch dieses Wesen nicht verant-wortlich sein kann, insofern es ganz und gar nothwendige Folge ist undaus den Elementen und Einflussen vergangener und gegenwartiger Dingeconcresciert: also dass der Mensch fur Nichts verantwortlich zu machenist, weder fur sein Wesen, noch seine Motive, noch seine Handlungen,noch seine Wirkungen. Damit ist man zur Erkenntniss gelangt, dass

84vgl. [16]85[23, MA II, Vermischte Meinungen und Spruche 33, S. 395]86[23, MA II, Vermischte Meinungen und Spruche 33, S. 395f.]

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die Geschichte der moralischen Empfindungen die Geschichte eines Irr-thums, des Irrthums von der Verantwortlichkeit ist: als welcher auf demIrrthum von der Freiheit des Willens ruht.“87

Es scheint dennoch eine anthropologische Konstante zu sein, dass der Mensch zurDurchsetzung seines moralischen Interesses fortwahrend bestrebt ist, zu richten.Diese Moralitat ist aber geheuchelt, denn dahinter steckt nur das Bedurfnis desMenschen nach Selbstuberhohung, sein Wille zur Macht : ”Pereat mundus, dumego salvus sim!“88 ist die Fratze, vor der die moralische Maske ”Pereat me, dumDeus salvus sit“ zur Schau getragen wird.89 Dabei konnte sich der Mensch von derSelbstgeißelung moralischer Vorwurfe befreien.

”Aber der Unmuth nach der That braucht gar nicht vernunftig zu sein:ja er ist es gewiss nicht, denn er ruht auf der irrthumlichen Voraus-setzung, dass die That eben nicht nothwendig hatte erfolgen mussen.Also: weil sich der Mensch fur frei halt, nicht aber weil er frei ist, emp-findet er Reue und Gewissensbisse. [. . . ] Niemand ist fur seine Thatenverantwortlich, Niemand fur sein Wesen; richten ist soviel als ungerechtsein.“90

”Der Irrthum steckt nicht nur im Gefuhle ’ich bin verantwortlich‘, son-dern eben so in jenem Gegensatze ’ich bin es nicht, aber irgendwer musses doch sein.‘– Diess ist eben nicht wahr: der Philosoph hat also zusagen, wie Christus, ’richtet nicht!‘und der letzte Unterschied zwischenden philosophischen Kopfen und den anderen ware der, dass die erstengerecht sein wollen, die andern Richter sein wollen.“91

“Diess gilt auch, wenn das Individuum uber sich slebst richtet. Der Satzist so hell wie Sonnenlicht, und doch geht hier Jedermann lieber in denSchatten und die Unwahrheit zuruck: aus Furcht vor den Folgen.“92

Echte Philosophen durfen sich aber von solchen pragmatischen Bedenken nicht ab-halten lassen, die Moral auf ihren Platz zu verweisen, denn

”Diess Alles einzusehen, kann tiefe Schmerzen machen, aber darnachgiebt es einen Trost: solche Schmerzen sind Geburtswehen. Der Schmet-terling will seine Hulle durchbrechen, er zerrt an ihr, er zerreisst sie: dablendet und verwirrt ihn das unbekannte Licht, das Reich der Freiheit.In solchen Menschen, welche jener Traurigkeit fahig sind– wie wenigewerden es sein! – wird der erste Versuch gemacht, ob die Menschheitaus einer moralischen sich in eine weise Menschheit umwandeln konne.[. . . ] Alles ist Nothwendigkeit, – so sagt die neue Erkenntniss: und die-se Erkenntniss selber ist Nothwendigkeit. Alles ist Unschuld: und dieErkenntniss ist der Weg zur Einsicht in diese Unschuld. Sind Lust, Ego-ismus, Eitelkeit nothwendig zur Erzeugung der moralischen Phanomeneund ihrer hochsten Bluthe, des Sinnes fur Wahrheit und Gerechtigkeitder Erkenntniss, war der Irrthum und die Verirrung der Phantasie daseinzige Mittel, durch welches die Menschheit sich allmahlich zu diesemGrade von Selbsterleuchtung und Selbsterlosung zu erheben vermochte– wer durfte jene Mittel geringschatzen? Wer durfte traurig sein, wenner das Ziel, zu dem jene Wege fuhren, gewahr wird? Alles auf dem Gebie-

87[23, MA I, Zur Geschichte der moralischen Empfindungen 39, S. 63], vgl. auch [22, 14 [126],S. 307ff.]

88[23, MA II, Vermischte Meinungen und Spruche 26, S. 391]89Vgl. [5]90[23, MA I, 39, S. 64]91[23, MA II, Vermischte Meinungen und Spruche 33, S. 396]92[23, MA I, 39, S. 64]

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te der Moral ist geworden, wandelbar, schwankend, Alles ist im Flusse[. . . ]“93

Es ist also gar nicht notig, ”aus Trotz [. . . ] die allerhasslichste Wirklichkeit“94desNihilismus zu umarmen, weil die Geschichte der moralischen Empfindungen bisdato notwendig gewesen sei, um sie als Irrtumer zu entlarven, ”croyez-moi, monami, l’erreur aussi a son merite.“95

Entlang dieses Gedankenganges lasst sich gut der experimentelle Fortschritt derPhilosophie im Wechselspiel von Erkenntnis und Methode nachvollziehen, den wirin 3.2 kennengelernt haben: als Anstoßphanomen dient hier das Bewußtsein um dienaturwissenschaftliche Methode, mit der eine Moralphilosophie kritisiert wird, diesich auf den freien Willen des Menschen stutzt. Es stellt sich dabei heraus, dassdieses Postulat des freien Willens verworfen werden muss, womit aber auch al-le Rechtfertigung moralischer Urteile zusammenbricht. Die Erkenntnisspirale aberdreht sich noch weiter, denn mit dem freien Willen stirbt auch die Mar von derFreiheit der Erkenntnis und damit der Glaube an absolute und ewige Wahrhei-ten. Naturgesetzlichkeit, die eben ein solches Postulat ist und eben noch Methodeauf dem Weg zu dieser Erkenntnis war, wird mit deren Erreichen eingeaschert.96

An seine Stelle ruckt eine neue Methode: ”Sobald wir die absolute Wahrheit leug-nen, mussen wir alles absolute Fordern aufgeben und uns auf aesthetische Urtheilezuruckziehen. [. . . ] Reduktion der Moral auf Aesthetik!!!“97

Dass dies ein sehr schwieriger Punkt in seiner Philosophie ist, an dem leicht Kritikeinhaken konnte, hat Nietzsche in einer Selbstreflexion selbst erkannt:

Wenn ich an meine philosophische Genealogie denke, so fuhle ich michim Zusammenhang mit der antiteleologischen, d.h. spinozistischen Be-wegung unserer Zeit, doch mit dem Unterschied, daß ich auch ’denZweck‘und ’den Willen‘in uns fur eine Tauschung halte; ebenso mitder mechanistischen Bewegung (Zuruckfuhrung aller moralischen undaesthetischen Fragen auf physiologische, aller physiologischen auf che-mische, aller chemischen auf mechanische) doch mit dem Unterschied,daß ich nicht an ’Materie‘glaube und Boscovich fur einen der großtenWendepunkte halte, wie Copernicus; daß ich alles Ausgehen von derSelbstbespiegelung des Geistes fur unfruchtbar halte und ohne den Leit-faden des Leibes an keine gute Forschung glaube. Nicht eine Philosophieals Dogma, sondern als vorlaufige Regulative der Forschung.“98

So versteht sich der Determinismus der Naturwissenschaft nicht als eine mataphy-sische Letztbegrundung einer Moral oder Nicht-Moral, sondern als ein vorlaufigesGesetz, das Nietzsche gegen den Wildwuchs der Moral in Stellung bringt. Wis-senschaft zu treiben ist ein Akt des Willens zur Macht, die dem Menschen dieschaffende Selbstuberhohung gestattet. Wissenschaft ist damit auch ehrlicher alsdie uberkommene Moral, weil sie den Willen zur Macht nicht leugnet.

”Ja, meine Freunde! In Hinsicht auf das ganze moralische Geschwatz derEinen uber die Andern ist der Ekel an der Zeit! Moralisch zu Gericht sit-

93[23, MA I, 107, S. 104f.]94[23, MA II, Vermischte Meinungen und Spruche 3, S. 381]95

’Glauben sie mir, mein Freund, auch der Fehler hat sein Verdienst‘, Voltaire zitiert in [23, MA

II, Vermischte Meinungen und Spruche 4, S. 382].96Vgl. hierzu auch Kaufmann in [12, S. 312f.]:

”Man kann Nietzsche also nicht vorwerfen, daß

er in den epimenideischen Trugschluß verfallen sei, insofern sich ein Philosoph lacherlich mache,wenn er Bucher schreibt, um andere Menschen von der volligen Wirkungslosigkeit des Bewußtseinszu uberzeugen.“

97[28, 11 [79], S. 471]98[20, 26 [432], S. 266]

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zen soll uns wider den Geschmack gehen! Uberlassen wir dies Geschwatzund diesen ublen Geschmack Denen, welche nicht mehr zu thun haben,als die Vergangenheit um ein kleines Stuck weiter durch die Zeit zuschleppen und welche selber niemals Gegenwart sind, - den Vielen also,den Allermeisten! Wir aber wollen Die werden, die wir sind, - die Neuen,die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden,die Sich-selberSchaffenden! Und dazu mussen wir die besten Lerner undEntdecker alles Gesetzlichen und Nothwendigen in der Welt werden: wirmussen Physiker sein, um, in jenem Sinne, Schopfer sein zu konnen, -wahrend bisher alle Werthschatzungen und Ideale auf Unkenntnis derPhysik oder im Widerspruch mit ihr aufgebaut waren. Und darum: Hochdie Physik! Und hoher noch das, was uns zu ihr zwingt, – unsre Red-lichkeit!“ 99

6 Fazit und Kritik

Moral und Determinismus gehen also bei Nietzsche eine zerstorerische ”Dysbiose“ein. Vom Geist der ”Umwertung aller Werte“ getrieben, der ihn Verachtung fur al-le unterdruckende Moral empfinden laßt, die den Menschen davon abhalt, seinemWillen zur Macht in Selbstuberhohung zu entsprechen, laßt Nietzsche die Grund-mauern der Moralphilosophie vom Determinismus untergraben, bis sie schließlichauf ihn niedersturzt und erschlagt. Ist der ”Nihilist“ Nietzsche, dem alle ewigenWahrheiten ein Grauen sind, also sogar bereit, das Schafott des Determinismus auf-zurichten, um das uber die Moral gefallte Todesurteil zu vollziehen? Hat er ganzubersehen, dass er seine Seele an Materialismus und den Glauben an ewige Ge-setzmaßigkeit verkauft, wenn er mit dem ”Teufel“ Determinismus paktiert? Stimmter ein, in die Sophistische Tradition: erlaubt ist jedes Argument, das mir nutzt?

Sicherlich griffe es zu kurz, Nietzsche Selbstwiderspruchlichkeit oder Unehrlichkeitvorzuwerfen. Die Anwendung des Determinismus ist bestimmt nicht nur ein rhetori-sches Scheinargument, das er seinen Lesern unterzujubelen trachtet, um sie fur seineDekonstruktion der Moral empfanglich zu machen. Zu sehr war er sich der Proble-matik eines Erkenntnisprozesses bewußt, der ohne jede feste Wahrheit auskommenmuss. Zu scharf setzte er das logische Rasiermesser an, um beide Ideen, Moral wieDeterminismus, aus seinem Weltbild herauszuschneiden. Zu unfertig schließlich, zuunsystematisch ist seine philosophische Hinterlassenschaft, als dass sie uberhauptdie Suche nach ihren letzten Aussagen und den Widerspruchen in ihnen zuließe.

Damit aber verletzt er die Fairness gegenuber seinem Leser und den anderen Philoso-phen. Man kann nicht umhin, Nietzsche eine Immunisierungsstrategie vorzuhalten:wenn es vielleicht auch als das einzig Systematische seiner Philosophie erscheint,so entzieht er doch jeder moglichen Kritik den Boden. Er beweist selbst nicht den

”Muth [. . . ], sich und sein Werk langweilig finden zu lassen.“100 Denn welchen An-griffspunkt ließe er zu? Die Naturwissenschaften nicht, denn die benutzt und stutzter selbst. Keine ihrer Beobachtungen und sorgfaltigen Experimente konnte etwas ge-gen ihn einwenden, denn sie waren immer nur Zeugen eines fundamentalen Irrtumsuber die materielle Welt und einer falschen Grundkonzeption unserer Wahrneh-mung. Gegen jede greifbare Gesetzmaßigkeit fuhrt er das Schwert der Verganglich-keit. Ein letztes Argument hierfur muss er freilich schuldig bleiben, denn es hießeim absoluten Werden eine absolute Wahrheit zu begrunden. Ebensowenig kann ei-ne Transzendentalphilosophie gegen ihn ausrichten, denn sie vermag ihre absoluten

99[24, FW 335, S. 563f.]100[23, MA II, Vermischte Meinungen und Spruche 25]

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Wahrheiten und Ideen ebensowenig zu beweisen, wie Nietzsche sie widerlegen kann.Sein Zweifel daran reicht aber, um sie als ”metaphysisches Bedurfnis“ abzuwer-ten, wodurch ihm Platonismus und Christentum gleichermaßen zum Opfer fallen.Es bliebe die Kunst. Aber was ist Nietzsches aphoristisches Schaffen anderes, alskunstlerisches Schaffen, das als Teil der Kunst aus sich heraus allein schon legiti-miert ware?

Vielleicht ist Nietzsche schlichtweg kein Philosoph und mochte auch keiner sein.Schließlich verwendet er den Begriff selbst meist abfallig fur die ”Metaphysiker“.Ein gelehrter Humanist vielleicht, der aus seinem asthetischen Weltverstandnis eine

”Regulative der Wissenschaft“ schopft. Vielleicht auch nur der einzige, der zumin-dest daran glaubte, die Apotheose zum Ubermenschen geschafft zu haben.

“Ecce homo

Ja! Ich weiß, woher ich stamme!Ungesattigt gleich der FlammeGluhe und verzehr’ ich mich.Licht wird Alles, was ich fasse,Kohle Alles, was ich lasse:Flamme bin ich sicherlich.“ 101

101[24, FW,”Scherz, List und Rache“ 62, S. 367]

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[28] Nietzsche, Friedrich: KSA 9: Nachgelassene Fragmente 1880–1882. in:Colli, Giorgio und Mazzino Montinari (Hrsg.): Kritische Studienausga-be. Deutscher Taschenbuchverlag, de Gruyter, Munchen, Berlin, New York,Neuausgabe der 2. Auflage, 1999.

[29] Ottmann, Henning (Hrsg.): Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung.Metzler, Stuttgart, Weimar, 2000.

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[30] Tanner, Michael: Nietzsche, Band: 4740 Reihe: Herder Spektrum Meister-denker. Herder, Freiburg, Basel, Wien, 1999. aus dem Englischen von AndreaBollinger.

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