Deutsche aus Russland gestern und heute · 3 Deutsche aus Russland gestern und heute D ie...

44
Deutsche aus Russland gestern und heute Volk auf dem Weg Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. Bundesministerium des Innern

Transcript of Deutsche aus Russland gestern und heute · 3 Deutsche aus Russland gestern und heute D ie...

Deutscheaus Russland

gesternund heute

Volk auf dem Weg

Landsmannschaftder Deutschenaus Russlande.V.

Bundesministeriumdes Innern

2

3

Deutsche aus Russlandgestern und heute

Die Russlanddeutschen haben wäh-rend und nach dem ZweitenWeltkrieg großes Leid durch Ge-

walt und Diskriminierung, insbesondereaber durch Deportation erfahren. DerWeg der Deportation und Zwangsarbeitführte sie nach Sibirien und in entlegeneGebiete im asiatischen Teil der ehemali-gen Sowjetunion. Angst, Zurückweisungund Benachteiligung begleiteten langeZeit ihr Leben.Nach Auflösung der UdSSR machtensich viele, die dort keine hinreichendeExistenz gefunden hatten, auf den Weg

zurück in die ferne alte Heimat Deutschland, die ihre Vorfahrenvor 250 Jahren verlassen hatten.Die russlanddeutschen Familien, die in den vergangenen Jahrennach Deutschland gekommen sind, haben das Problem, sichhier zunächst fremd und häufig unverstanden zu fühlen, da sierussische oder mittelasiatische Gewohnheiten mitbringen, vondenen sie geprägt wurden. Dies erschwert es ihnen, sich inDeutschland zurechtzufinden und sich am neuen Wohnort aktivin das gesellschaftliche Leben einzugliedern.Wir als Aufnahmegesellschaft müssen deshalb verstärkt fürAufgeschlossenheit sorgen. Diese Broschüre will einen Beitragdazu leisten, dass den russlanddeutschen Zuwanderern mitmehr Verständnis und Hilfsbereitschaft in unserer Gesellschaftbegegnet wird.Die Bundesregierung sieht sich in der Verantwortung, denDeutschen aus Russland, die große Opfer bringen mussten, zuhelfen. Die Aussiedlerpolitik der Bundesregierung ist sichtbarerAusdruck der gemeinsamen Verantwortung für eine gemein-same Vergangenheit, für nationale Solidarität und für einengemeinsamen Weg in die Zukunft in einem Deutschland, dasseine Teilung überwunden hat. Mit ihrem Hilfenprogramm un-terstützt die Bundesregierung daher die Angehörigen der deut-schen Minderheiten, die sich in den Nachfolgestaaten der ehe-maligen Sowjetunion eine Lebensgrundlage geschaffen habenund dort bleiben wollen. Sie hilft aber auch denjenigen, dienach Deutschland gekommen sind, sich hier in der neuen Hei-mat zu integrieren.Für sie steht ein vielfältiges Integrationsprogramm des Bundes,aber auch der Länder und Kommunen bereit. Zu den aussiedler-spezifischen Hilfen des Bundes zählen z.B. der pauschale Aus-gleich für die Kosten der Rückführung sowie ein Betreuungs-geld nach Eintreffen in der Erstaufnahmeeinrichtung des Bun-des, soziale Betreuung und Beratung durch Migrationserst-beratung und Jugendmigrationsdienste, Sprachförderung durchIntegrationskurse, berufliche Fördermaßnahmen oder die Pro-jektarbeit zur Eingliederung von Spätaussiedlern in das Wohn-umfeld, insbesondere durch sportliche Aktivitäten. Aber Integ-ration ist nicht nur eine staatliche, sondern auch eine gesamtge-sellschaftliche Aufgabe.

Impressum.“Deutsche aus Russland gestern und heute”, 7. Auflage 2006Verfasser:Dr. Viktor KriegerHans Kampen, Nina PaulsenMitarbeit:Dr. Ludmila Kopp, Josef Schleicher, Johann KampenHerausgeber:

Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V.Raitelsbergstraße 49, 70188 Stuttgart

Gefördert vom Bundesministerium des Innern

Grußworte

Integration wird umso erfolgreicher gelingen, wenn die alsSpätaussiedler zu uns kommenden Russlanddeutschen und dieeinheimische Bevölkerung gemeinsam das Einleben in die neueHeimat aktiv gestalten und im Wege des Dialogs und der ge-genseitigen Akzeptanz miteinander umgehen.

Dr. Christoph Bergner MdBParlamentarischer StaatssekretärBeauftragter der Bundesregierung

für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten

Dank der Unterstützung des Bundesmi-nisteriums des Innern und des Aussied-lerbeauftragten der Bundesregierung,Herrn Dr. Bergner, ist es uns gelungen,die siebte Auflage der Geschichts- undIntegrationsbroschüre der Landsmann-schaft der Deutschen aus Russland in dervon Ihnen gewohnten Qualität zusam-menzustellen.Sie wird unseren Mitstreitern in dennächsten Jahren eine wertvolle Hilfe beiihrer Informations- und Aufklärungsar-beit sein. Wir setzen damit die Politikder Landsmannschaft fort, Unkenntnis

und Vorurteilen in der Bevölkerung über die Geschichte undGegenwart der Deutschen aus Russland bzw. der Sowjetunionund ihren Nachfolgestaaten fundierte Informationen entgegen-zustellen.Uns selbst aber, den Nachkommen der Deutschen, die vor rundzwei Jahrhunderten in verschiedenen Zügen nach Russland auf-brachen, um dort für sich und ihre Familien eine Zukunft zufinden, soll die Broschüre Grundlage des eigenen Geschichts-verständnisses sein.Nur mit diesem Wissen über ihre Geschichte wird es den Deut-schen aus Russland nach den Jahrzehnten der Diskriminierunggelingen, ihre kulturelle Identität wieder zu finden.

Adolf FetschBundesvorsitzender der Landsmannschaft

der Deutschen aus Russland

Dr. Christoph Bergner

Adolf Fetsch

4

Das Vielvölkerreich Russland entstand infolge einerterritorialen Ausdehnung, die sich über Jahrhunder-te erstreckte. Um 1300 betrug die Fläche des damals

noch kleinen Moskauer Teilfürstentums etwa 28.000 qkm,was etwa der Größe des heutigen Albanien entspricht. 1460hatte das inzwischen zum Großfürstentum erhobene Gebietbereits eine Fläche von 430.000 qkm erreicht und war da-mit ein gutes Stück größer als Deutschland. Noch 52malgrößer war jedoch der Raum, den die Sowjetunion im 20.Jahrhundert umfasste. Mit 22.400.000 qkm war es das weit-aus größte Land dieser Erde.Russland zeichnete sich durch eine große ethnische, konfessio-nelle, soziale und kulturelle Vielfalt aus. Durch zahlreiche Er-oberungskriege, aber auch auf dem Wege friedlicher Eingliede-rung mehrerer Grenzgebiete wurden die unterschiedlichstenVölker Teil des Russischen Reiches:

" christliche Georgier und Armenier im Transkaukasus;" katholische und protestantische Polen, Finnen und Litauerbzw. Baltendeutsche im Westen des Landes;

" sesshafte orientalistische Völker wie Tataren bzw. Tadschi-ken;

" zahlreiche nomadisierende und Naturvölker.

Ziel war jedoch nicht die Angleichung an die staatsbildendenRussen; als oberste Gebote galten vielmehr Reichspatriotismusund Untertanentreue.Es dauerte mehrere Jahrhunderte, bis die eroberten und zumTeil fast unbewohnten Gebiete durch Russen und in geringeremMaße durch Ukrainer besiedelt waren.Die ersten russischen Bewohner kamen erst nach der Eroberungder Chanate Kazan (1552) und Astrachan an die Untere Wolga;dort wurde 1589 Zarizyn (das spätere Stalingrad bzw. Wolgo-grad) gegründet und 1590, als Festung, Saratow.Die Frage der dauerhaften Besiedlung der eroberten und befrie-deten Gebiete und somit der festen Anbindung an das Reichwar eine ständige Herausforderung. Zum einen erfolgte einenatürliche Bewegung von Tausenden entlaufenen Bauern undAbenteurern in die neu eroberten Gebiete. Doch der Staat be-

trieb auch eine planmäßige Kolonisation: Festungen und Städtewurden gegründet, Kosaken und andere Dienstgruppen der Be-völkerung in die neuen Territorien verlegt; man baute Betriebeund versorgte sie mit leibeigenen Bauern.Wo Russland Land mit sesshaften bzw. kulturell “gleichwerti-gen” Bewohnern erobert hatte (Baltikum, Polen, Kaukasus,Turkestan), war der Strom der russischen Kolonisten gering. ImZarenreich spielten vor allem ständische und konfessionelleUnterschiede eine stark trennende Rolle. Ehen zwischen Ange-hörigen unterschiedlicher Konfessionen waren die Ausnahme;Kinder aus Mischehen mit Russen mussten orthodox getauftund erzogen werden. Eine große Seltenheit waren in Russlandauch Ehen zwischen Deutschen katholischen und protestanti-schen Glaubens.Erst in der zweiten Häfte des 19. Jahrhunderts begann der Staateine vereinheitlichende Politik zu verfolgen Dabei schreckteman auch nicht vor gewaltsamer Russifizierung und kulturellerUnterdrückung zurück. Das betraf in erster Linie Ukrainer undWeißrussen, die offiziell als Teil der “großrussischen Nationa-liät” galten, ferner Polen, Finnen, Georgier oder Baltendeutschebzw. deutsche Siedler. Nicht zuletzt auf diese Politik der Dis-kriminierung lassen sich die nach 1917 entstandenen nationalenBewegungen der Nichtrussen zurückführen.

Deutsche und andere Europäerwandern nach Russland ausMit der radikalen Öffnung zum Westen durch Peter den Großenbegann bereits Anfang des 18. Jahrhunderts die Anwerbungvon Fachleuten für Wirtschaft und Militärwesen. Diese Aktio-nen waren allerdings meistens auf das städtische Element be-schränkt. Gemäß dem Vorbild der anderen europäischen Mäch-te (Österreich, Preußen) entschlossen sich die späteren russi-schen Herrscher, die Besiedlung von mehr oder weniger men-schenleeren Gegenden mit ausländischen Kolonisten in Angriffzu nehmen.Ergebnis dieser Bestrebungen waren einige Erlasse; der be-kannteste wurde am 22. Juli 1763 von der russischen Zarin Ka-tharina II. unterzeichnet, in mehrere Sprachen übersetzt und in

ganz Europa verteilt. Ein durchschlagender Erfolgzeigte sich vor allem in den deutschen Kleinstaatenund freien Reichsstädten, die u.a. zu schwach wa-ren, das Werben der russischen Agenten wirksamzu unterbinden.Bis 1774 folgten 30.623 Ausländer den Verspre-chungen der russischen Zarin. Mehrere hundert Per-sonen verteilte man auf Siedlungen unweit derHauptstadt St. Petersburg, in Livland, im Gouverne-ment Woronesch und in Kleinrussland (u.a. Jam-burg) sowie auf einige Städte.Die meisten Einwanderer, 26.676 Personen, muss-ten den beschwerlichen Weg entlang der Wolganehmen. In dieser Zahl sind die 167 Personen ent-halten, die die Herrnhuterkolonie Sarepta in derNähe von Zarizyn gründeten. Unterwegs starbenmehr als 3.000 Menschen. Die verbliebenen 23.216Kolonisten wurden in der Gegend um Saratow aufbeiden Seiten der Wolga angesiedelt. Streng ge-trennt nach konfessioneller Zugehörigkeit, entstan-den so 66 evangelische und 38 katholische Dörfer.Die gesamte Besiedlung vollzog sich bis ins kleins-

Vielvölkerstaat Russland

Ansicht einer Kolonie ausländischen Siedler um Saratow, Fragment einer Karte.Aquarell von J. Oboldujew, 1767. Quelle: Sergej Terjochin: Deutsche Architekturan der Wolga. Berlin/Bonn 1993, S. 15.

5

te Detail unter staatlicher Regie. Die Regierung schickte Ver-messungsingenieure, Protokollanten und Kopisten; Beamte be-stimmten nicht nur die Standorte der künftigen Dörfer und ihreGemarkungen, sondern erstellten auch die Musterpläne für Ko-lonien und einzelne Familienhöfe samt Wohnhaus und Scheu-nen. Bis Ende 1767 wurden insgesamt 3.453 Häuser gebaut;zeitweise befanden sich bis zu 5.500 russische Zimmer- und1.700 Fuhrleute neben 350 Ziegelbrennern und Schmieden imEinsatz - für damalige Verhältnisse eine großartige Leistung!Jeder Familie wies man anfänglich ein Darlehen in Höhe von200 Rubeln und ca. 30 ha Land zu.Katharina II. wollte mit ihrem Erlass vom 22. Juli 1763 einemöglichst große Anzahl von Siedlern ins Land holen. Die Be-werber wurden deshalb nicht auf ihre Eignung für die vorgese-hene Aufgabe geprüft, so dass nur 55 Prozent der KolonistenBauern waren; die anderen gingen etwa 150 verschiedenen Be-rufen nach.

Die ersten Jahrzehntenach der EinwanderungDie russische Regierung hatte den Einwanderern zahlreicheVergünstigungen versprochen:

" Fahrt zum gewählten Wohnort auf Staatskosten;" Zuteilung von Land;" freie Steuerjahre;" weitgehende Selbstverwaltung;" Befreiung vom Militärdienst;" Berufs- und Religionsfreiheit.

Die Wirklichkeit sah jedoch etwas anders aus: Die Einwandererwurden bereits bei ihrer Ankunft in St. Petersburg regelrechtgezwungen, sich auf eine Ansiedlung im Unteren Wolgagebietfestzulegen. Nur eine winzige Minderheit durfte sich in denStädten niederlassen.Die größte deutsche Siedlung Katharinenstadt war anfänglichals städtisches Zentrum mit handwerklichen und kulturellenFunktionen geplant; von den 235 dort angesiedelten Familienwaren nur sechs in der alten Heimat Bauern gewesen. Offen-sichtlich ließ man diesen Plan wenig später fallen, und diemeisten Neusiedler mussten ihren Lebensunterhalt als Bauernbestreiten.Neben diesem Umstand trugen auch weitere Ursachen zurschleppenden Entwicklung der Siedlungen bei:

" die oft schmerzhafte Anpassung an das raue Steppenklimaund die ungewohnte Bodenbeschaffenheit;

" zahlreiche Überfälle räuberischer Banden und kriegerischerNomaden;

" fehlende Infrastruktur;" Unzulänglichkeiten der Behörden.

Trotzdem: Gegenüber den leibeigenen russischen Bauern warendie ausländischen, meist deutschen Bauern mit erheblichenVorrechten ausgestattet. Für einen Silberschmied oder Kunst-

Katharina die Große. Originalgemälde von Carl Ludwig Christineck.Quelle: Bildende Kunst der Rußlanddeutschen im 18.-20. Jahrhun-dert. Moskau 1997, S. 35.

Das Manifest Katharinas II.

6

maler allerdings, der hier gezwungen war, Landwirtschaft zubetreiben, bedeutete die neue Lage eine einschneidende Degra-dierung.Die Anwerbung der Kolonisten setzte sich in den ersten Jahr-zehnten des 19. Jahrhunderts fort. Diesmal legte man denSchwerpunkt auf die Erschließung von Neu- bzw. Kleinruss-land. Von Gebieten also, die seit den 1770er Jahren - nach denerfolgreichen Kriegen mit der Türkei und der Unterwerfung derKrimtataren - nicht nur von ausländischen Kolonisten, sondernvor allem mit russischen und ukrainischen Bauern besiedeltwurden. Nach den Erfahrungen, die man bei der Ansiedlung ander Wolga gemacht hatte, legte die Regierung diesmal strengeAuswahlkriterien an: Laut einem Erlass Alexanders I. vom 20.Februar 1804 sollten in erster Linie erfahrene und vermögendeLandwirte einreisen dürfen.

Die deutschen Auswanderer stammten diesmal überwiegendaus Westpreußen (Mennoniten) und Württemberg, aber auchaus Baden, dem Elsass und der Pfalz. Insgesamt wurden 181Mutterkolonien gegründet. Im Gegensatz zum geschlossenenAnsiedlungsgebiet der Wolgadeutschen – in einer fast men-schenleeren Gegend – kam es im Schwarzmeergebiet zur Bil-dung mehrerer Kolonistenbezirke und der Anlegung einzelnerSiedlungen, die sich verstreut in der heutigen Südukraine, aufder Krim, in Bessarabien und im Transkaukasus befanden.1819 beendete die Regierung offiziell die Ansiedlung. Zwar zo-gen auch danach noch Einwanderer ins Land, doch musstendiese grundsätzlich ohne staatliche Unterstützung auskommen.In dieser Periode der ausländischen Kolonisation wander-ten zwischen 50.000 und 55.000 Personen in das RussischeReich ein.Die Regierung hob die ausländischen Siedler von der übrigenBauernbevölkerung ab und schuf dadurch einen neuen Kolonis-tenstand. Diese Siedler wurden einer eigens dafür geschaffenenVormundschaftskanzlei in St. Petersburg mit (Fürsorge)Kon-toren in Saratow und Odessa unterstellt. Durch die Einführungdes Deutschen als Amtssprache wurde das Erlernen der russi-schen Sprache gehemmt, wodurch u.a. die Beeinflussung derrussischen Bauern durch den Protestantismus und Katholizis-mus verhindert werden sollte. Die strenge Verwaltung der Ge-meinden durch die Beamten des Fürsorgekontors führte nichtselten zu Amtsmissbrauch und kleinlicher Bevormundung derKolonisten.In den Kolonien wurden alle wichtigen Fragen von der Ge-meindeversammlung beraten und gelöst. Dieses Dorfparlament,das die Vertreter aller Bauernhöfe umfasste, wählte das ständi-ge Organ der örtlichen Selbstverwaltung, das Gemeindeamt,von den Siedlern auch Kolonieamt oder Schulzenamt genannt.Dieses bestand aus dem Vorsteher bzw. Schulzen, zwei odermehreren Beisitzern, dem ständigen Ortsschreiber und dem Bo-ten bzw. Büttel. Mehrere zusammenliegende Dörfer bildeten ei-nen Landkreis (wolost) mit einem ebenfalls gewählten Ober-schulzen bzw. -vorsteher an der Spitze.

Johann Corniesgeb. 1789 bei Danziggest. 1848 in Orloff, Schwarzmeergebiet

Mennonitischer Kolonist, wander-te nach Russland aus und ließ sich1806 in der Ortschaft Orloff, Mo-lotschnaer Kolonistenbezirk, nie-der. Er gilt als die bedeutendsteGestalt des russländischen Men-nonitentums. Auf seinem Muster-gut beschäftigte er sich intensivmit Pferde- und Schafzucht,Wald- und Gartenbau.Mit 28 Jahren wurde er zum Be-vollmächtigen für die mennoniti-sche Siedlungstätigkeit gewählt.Er gab entscheidende Impulse zurVerbesserung der Landwirtschaftund der Viehzucht. Bereits 1830gründete er einen „Landwirt-

schaftlichen Verein“, der wesentlich zur Förderung vonAckerbau, Viehzucht, Garten- und Gemüsebau, des Forstwe-sens und der Anlage von Weinbergen in den Mennonitenko-lonien Südrusslands beitrug. Außerdem leitete Cornies Maß-nahmen zum Aufbau einer Lehrerausbildung ein. Aufgrundseiner Aktivitäten entstand bei den russlanddeutschen Men-noniten eine einheitliche Schulverwaltung.

Größte ethnische Gruppenim Russischen Reich

nach der Volkszählung von 1897absolut in %

total 125.640.000 100davonRussen 55.667.500 44,3Ukrainer 22.380.600 17,8Polen 7.931.300 6,3Weißrussen 5.885.600 4,7Juden 5.063.200 4,0Kasachen 3.881.800 3,1Wolgatataren 1.834.200 1,5Usbeken 1.800.000 1,4Deutsche 1.790.500 1,4Litauer 1.659.100 1,3Aserbeidschaner 1.440.000 1,2Letten 1.435.300 1,2Georgier 1.352.500 1,1Baschkiren 1.321.400 1,1Armenier 1.173.100 0,9

Karte der deutschen Ansiedlungen in Südrussland, gezeichnet vonJ. Wiebe aus Tiege.

Johann Cornies.Quelle: Horst Gerlach: DieRusslandmennoniten.Ein Volk unterwegs.Kirchheimbolanden 1992,S. 29.

7

Die Abschaffung der Leibeigenschaft im Jahr 1861stand am Angang großer Reformen in Russland. Inderen Verlauf wurde die staatliche Sonderverwal-

tung der ausländischen Siedler 1871 endgültig aufgehoben,und man gliederte sie in die allgemeine Verwaltung einSeither bildete die deutsche Landbevölkerung als „Siedler-Ei-gentümer“ einen Teil des russischen Bauernstandes. Und wennder Schriftverkehr mit den Behörden auf Bezirks- und Gouver-nementsebene nun in russischer Sprache verlief, behielten den-noch die deutschen Dörfer und Landkreise einen hohen Grad anörtlicher Selbstverwaltung.

Das SchulwesenDas Schulwesen war stark konfessionell geprägt; die Dorfschu-len bereiteten die Jugendlichen in erster Linie auf die Konfir-mation beziehungsweise Firmung vor. Bei allen Unzulänglich-keiten konnten diese Kirchschulen den meisten Schülern dasLesen beibringen; von den Knaben wurden Schreib- und Re-chenfähigkeiten erwartet.Dadurch hoben sich die Siedler anfangs deutlich von den be-nachbarten leibeigenen und Staatsbauern ab, die in der RegelAnalphabeten waren. Allerdings führte die rege Tätigkeit derörtlichen Selbstverwaltungsorgane ab den 1860er Jahren dazu,dass das Schulwesen einen Aufschwung nahm. Das führte vorallem in den Städten dazu, dass die Anzahl der Analphabetenunter den russischen und ukrainischen Jugendlichen rasch ab-nahm. In der Lesefähigkeit holten sie ihre deutschen Altersge-nossen beinahe ein.Die Regierungspolitik spielte in der nationalen Schulfrage einehemmende Rolle: Ab 1891 mussten sich die Kolonistenschulenüberwiegend auf Russisch als Unterrichtssprache umstellen.Diese Form des Unterrichts, die zum Teil mit drastischen Maß-nahmen durchgesetzt wurde, wurde jedoch weitgehend abge-lehnt.Wo die Siedler engere Kontakte zu ihren russischen oder ukrai-nischen Nachbarn hatten, gab es geringere Widerstände. Daswar im Schwarzmeergebiet der Fall. Bezeichnend in diesemZusammenhang die folgenden Angaben zur russischen Lesefä-higkeit deutscher Jugendlichen zwischen zehn und 19 JahrenEnde des 19. Jahrhunderts in drei verschiedenen Gebieten:

Wolgagebiet: 18%Bessarabien: 44 %Taurisches Gouvernement: 75%

Erst nach der Revolution von 1905 traten positive Veränderun-gen ein: Änderungen in der Verfassung führten zu einer spürba-ren Demokratisierung und Liberalisierung der russischen Ge-sellschaft. Beispielsweise wurde wieder erlaubt, in den Volks-schulen in der deutschen Muttersprache zu unterrichten.Der Reformgeist erfasste auch die schmale Schicht der deut-schen Intelligenz, die sich vor allem aus Volksschullehrern zu-sammensetzte. Diese Entwicklung hielt bis in die 1920er Jahrean. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten dabei dieKreis- oder Zentralschulen, die zur Ausbildung von Lehrkräftenund Schreibern mit guten Russischkenntnissen bestimmt waren.Solche Bildungsstätten gab es in Grimm und Katharinenstadtan der Wolga sowie in Sarata, Prischib, Orloff, Halbstadt undChortiza im Schwarzmeergebiet. Allein die Grimmer Zentral-schule nahm im Laufe ihres Bestehens - von 1868 bis 1916 -3.427 Schüler auf, von denen allerdings nur 368 einen Ab-schluss machten.

Die Auswirkungen des Besuches höherer Bildungsanstalten aufdie geistige Entwicklung der Siedler darf nicht unterschätztwerden. Wer sie auch nur einige Jahre besucht hatte, galt alsgebildet und bestritt nicht selten seinen Lebensunterhalt alsAmtsschreiber oder im Handel.Immer mehr wissbegierigen Jugendlichen in den Dörfern dien-ten diese Zentralschulen als Sprungbrett für den Besuch vonRealschulen, Gymnasien und Universitäten. Drei prominenteBeispiele seien genannt:

" der wolgadeutsche Schriftsteller August Lonsinger (1881-1953), der mehrere Jahre am Gymnasium in Zarizyn Deutschunterrichtete;

" der Sprachforscher Prof. Georg Dinges (1891-1932) ausdem Dorf Blumenfeld, Absolvent der Moskauer Universität;

" der Regierungschef der Wolgadeutschen Republik in denJahren 1924-1930, Johannes Schwab (1888-1938)

Pastor Jakob Stach, Kolonistensohn und Absolvent der BaslerMissionsanstalt, schwebte sogar eine “Schulkolonie” mit einerRealschule, einem Gymnasium, einer landwirtschaftlichen undGartenschule, einem pädagogischen Seminar und einer deut-schen Universität vor. Von diesen ehrgeizigen Plänen ließ sich1907 immerhin die Gründung einer Ackerbau-Fachschule inEugenfeld, Taurien, verwirklichen. Dazu vermerkte PastorStach:„Die Schule wurde nach den Plänen des Ackerbauministeriumsallen Forderungen entsprechend angelegt und ausgebaut. Siekostete mit allen Nebengebäuden, wie Lehrerwohnungen, Inter-nate, Stallungen usw., etwa 500 000 Rubel. Alles Geld gabendie Mitglieder aus den Kolonien des ganzen Schwarzmeerge-bietes, deren Zahl auf 1000 anwuchs. Die erforderlichen land-wirtschaftlichen Maschinen spendeten reiche Fabrikanten,Dampfmühlenbesitzer und Großgrundbesitzer.“

Wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung

August Lonsingergeb. 1881, gest. 1953

Wolgadeutscher Schriftsteller, Publi-zist, Pädagoge und Volkskundler.Geboren in Mühlberg, verbrachteseine Jugend in Grimm an der Wol-ga, wo er die Zentralschule mit Aus-zeichnung abschloss. Bis 1910 lebteer in Zarizyn, dann in Saratow.Verfasste unter dem PseudonymKol’nijer zahlreiche Reportagen,Skizzen und Erzählungen, die in der„Saratower Deutschen Zeitung“ ver-öffentlicht wurden. Autor des erstenRomans aus dem Leben der Wol-

gadeutschen „Nor net lopper g’gewa!“ (1911). 1922-1927Lehrer an der Deutschen Schule in Saratow, Lektor an derSaratower Universität und Inspektor des Volkskommissariatsfür Bildungswesen der Wolgadeutschen Republik.1935 verhaftet und nach Kasachstan verbannt, durfte er 1938wieder an die Wolga zurückkehren. Nach der erneutenZwangsaussiedlung 1941 war er in der Buchhaltung einerKolchose tätig und starb in Ushur, Region Krasnojarsk.

August Lonsinger

8

Unter den deutschen Bauern waren im wesentlichen zwei Ei-gentumsformen verbreitet:

Eigentumsrecht im SchwarzmeergebietDie im Süden, im Schwarzmeergebiet angesiedelten Bauern be-hielten das erbliche Eigentumsrecht: Das zugewiesene Grund-stück von 50, 60 bzw. 65 Desjatinen (russisches Flächenmaß, 1Desj.= 1,09 ha) ging nur an einen Erben, in der Regel an denjüngsten Sohn über und durfte nicht geteilt werden.Die durch dieses Erbrecht zwangsläufig entstandene breite Bau-ernschicht ohne Land sah sich gezwungen, neues Land zu er-werben oder zu pachten. Das setzte für gewöhnlich einen Um-zug voraus. Wer dazu nicht bereit war, musste den Beruf wech-seln.Unter diesen Bedingungen konnte kein großes zusammenhän-gendes Siedlungsgebiet entstehen. Es bildeten sich vielmehrweit voneinander getrennte Kolonistenbezirke mit verstreut lie-genden Tochterkolonien oder gar Einzel- bzw. Gutshöfen.Diese Agrarverfassung brachte in Neurussland eine breite un-ternehmerische Schicht hervor. So beschäftigte die Firma Jo-hann Höhn 1916 fast 1.400 Arbeiter und war die größte Pflug-fabrik des Zarenreiches. Das Handelshaus Lepp und Wallmannentstand um 1850 in Chortitza, Gouvernement Taurien, Süd-ukraine. Es ging auf den Gründer Peter Heinrich Lepp (1817-1871) aus dem Dorf Einlage zurück. Schon 1889 wurden dort1.200 Getreidemähmaschinen, 200 Grasmähmaschinen und 500Windfegen hergestellt. Zwischen 1882 und 1890 errang dasUnternehmen fünf Medaillen auf Landwirtschaftsausstellungen.

Eigentumsrecht im WolgagebietIm Gegensatz dazu verhinderte die im Wolgagebiet herrschen-de Feldgemeinschaftsordnung ein zweckmäßiges und marktori-entiertes Wirtschaften. Nach russischem Muster gab es hier Ge-meindeeigentum an Grund und Boden, das regelmäßig alle achtbis zwölf Jahre neu aufgeteilt wurde. Dadurch war es nicht nö-tig, für die Söhne neues Land zu erwerben und gegebenenfallsTochterkolonien zu gründen.Dadurch entwickelten sich wolgadeutsche Ortschaften mit ho-her Bevölkerungszahl. So zählten 1912 Norka 14.236, Grimm11.788, Katharinenstadt 11.962 und Balzer 11.110 Bewohner.Die beiden letzten Siedlungen wurden 1918 zu Städten erho-ben.Naturgemäß verringerten sich mit wachsender Bevölkerungs-zahl die Landanteile der einzelnen Wirte. Die Bauernfamilienmussten sich deshalb mit Handwerk und Heimarbeit zusätzlicheEinkommensquellen sichern.Die wolgadeutschen Siedlungen waren durch eine breiteSchicht von Mittel- und Armbauern gekennzeichnet. Diesekonnten auf ihrem Land nur geringfügige Überschüsse erzielenund waren zum Teil nur in der Lage, sich selbst zu versorgen.Kapital bildete sich deshalb größtenteils nicht in der Landwirt-schaft, sondern vor allem im Getreidehandel und der Getreide-verarbeitung (Mühlenindustrie) sowie im Textilgewerbe mitseinen Tausenden Heimwebern (Sarpinkaindustrie). Vorwie-gend dort fanden sich die wenigen reichen Unternehmer ausden Reihen der Wolgadeutschen.

“Landhunger” der KolonistenVor dem I. Weltkrieg lebten in Russland um die 2,5 MillionenDeutsche, die sich wie folgt verteilten:

Friedrich von Falz-Feingeb. 1863, gest. 1920

Nachkomme württembergischerSiedler. Studierte in Dorpat Medi-zin (1882-1889). Sein Urgroßva-ter war bereits in den 1860er Jah-ren einer der landreichsten Guts-besitzer Russlands.Friedrich von Falz-Fein verwan-delte das Gut „Askania Nowa“ ineinen der größten Naturschutz-parks der Welt. 52 Säugetierartenund 208 Vogelarten aus nahezuder ganzen Welt wurden dort kurzvor dem I. Weltkrieg gehalten.Ende des 19. Jahrhunderts organi-sierte Friedrich von Falz-Fein

mehrere Fangexpeditionen nach wilden Przewalskipferden inder Wüste Gobi. In Askania Nowa wurden auch wissen-schaftliche Beobachtungen und Kreuzungsversuche durch-geführt. Diese Tätigkeit wurde bis heute fortgesetzt. 1890gründete Friedrich von Falz-Fein ein naturwissenschaftlichesMuseum.Im April 1914 besuchte der russische Zar Askania-Nowa. InAnerkennung ihrer Verdienste verlieh er der Familie vonFalz-Fein den erblichen Adelstitel.Die Familie floh 1919 nach Deutschland. Friedrich von Falz-Fein starb in Bad Kissingen und wurde auf dem Evangeli-schen Alten Friedhof der Zwölf-Apostel-Gemeinde Tempel-hof-Schöneberg begraben.

Friedrich von Falz-Fein

Landmaschinenindustrie im Schwarzmeergebiet im Jahr 1911, auf-geschlüsselt nach Nationalitäten der Fabrikbesitzer. Quelle: DietmarNeutatz: Ländliche Unternehmer im Schwarzmeergebiet. Die süd-ukrainische Landmaschinenindustrie vor dem Ersten Weltkrieg, in:Dittmar Dahlmann, Carmen Scheide (Hg): „… Das einzige Land inEuropa, das eine große Zukunft vor sich hat“. Deutsche Unterneh-mer und Unternehmer im Russischen Reich im 19. und frühen 20.Jahrhundert. Essen 1998, S. 541-574, hier S. 569.

9

" Untere Wolga: 600.000" Schwarzmeergebiet: 530.000" polnische Provinzen(damals Russisches Reich): 550.000

" Wolhynien: ca. 200.000" Baltikum (Baltendeutsche) 170.000" St. Petersburg ca. 50.000" weitere über das ganze Land verstreut lebende Deutsche

Viele brachten es zu großem Wohlstand. Doch es gab auchArme und Landlose, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts verstärktTochterkolonien gründeten, zunächst in der Ukraine, auf derKrim und in Bessarabien.Dieser sprichwörtliche deutsche Landhunger führte zu Span-nungen mit den russischen und ukrainischen Bauern. Er wurdevon „patriotischen“ Kreisen zum Anlass genommen, gegen

„staatswidrige“ Tätigkeiten der deutschen Siedler zu wettern.Hatten 559 deutsche Siedlungen 1864 insgesamt über 2,1 Mil-lionen Desj. Land verfügt, so wurde der Gesamtbesitz der deut-schen Siedler vor 1914 auf 7,2 bis 8 Millionen Desj. geschätzt.Die Anzahl der deutschen Mutter- und vor allem Tochtersied-lungen war auf mehr als 3.000 angewachsen. Das mit Argwohnbetrachtete wirtschaftliche und militärische Erstarken des Deut-schen Reiches tat sein Übriges.In den 1880er Jahren begann eine starke Auswanderungswelleaus den schwarzmeerdeutschen und wolgadeutschen Siedlun-gen. Zielgebiete waren der Nordkaukasus, der asiatische Teildes Russischen Reiches, die USA, Kanada und lateinamerikani-sche Länder, bevorzugt Argentinien und Brasilien.Warum aber waren diese Siedler nicht zurück nach Deutsch-land gegangen? Die Antwort auf diese naheliegende Frage istrecht einfach: Die selbstbewussten Bauern von der Wolga odervom Schwarzen Meer hätte dort eine wenig erstrebenswerteZukunft als Knechte bei einem Junker oder als besitzlose Ar-beiter in einer Fabrik erwartet.Ihr Ziel waren daher vor allem die Überseestaaten, in denen siebillig Land erwerben oder pachten und ihre gewohnte Lebens-weise fortführen konnten. Etwa 45% der 640.000 Einwohnerdes US-Staates Norddakota sind Nachkommen schwarzmeer-deutscher Auswanderer.

Die Deutschen in den Städten

Stadt Zahl der Deutschenin den Großstädten, Zensus 1897absolut in %

der Einwohner

St. Petersburg 50.780 4,0Moskau 17.717 1,7Odessa 10.248 2,5Saratow 8.367 6,1Kiew 4.354 1,8Tiflis (Tbilissi) 2.902 1,8Baku 2.460 2,2Astrachan 1.573 1,4Die Kirchen standen zu allen Zeiten im Mittelpunkt des Lebens der

Kolonisten. Das Bild zeigt den Entwurf für das Bethaus in der Kolo-nie Güldendorf bei Odessa (1832).

Links: Werbeanzeige der Zementfabrik David Seifert aus Wolsk,Gouvernement Saratow. Quelle: Wolgabote. Kalender für die deut-schen Ansiedler an der Wolga. Saratow 1913.Rechs: Werbeanzeige der Pflugfabrik Johann Höhn, Odessa. Endedes 19. Jahrhunderts.

10

Zu Beginn des Ersten Weltkrieges betrachtete die rus-sische Militärführung nicht nur die Untertanen derfeindlichen Staaten, sondern auch die meisten der

seit mehreren Generation im Zarenreich lebenden Deut-schen als mögliche Spione und Verräter.

Erste ZwangsaussiedlungenBereits im September 1914 begann auf Befehl der einzelnenDivisionsgeneräle und Armeebefehlshaber die Ausweisung vonDeutschen aus den polnischen Gouvernements. Gleichzeitigfand eine massenhafte Aussiedlung von Juden aus dem Einsatz-gebiet statt, da diese als Sympathisanten des Deutschen Reichesgalten.Nach den verheerenden Niederlagen der russischen Streitkräfteim Frühling 1915 drängte die Militärführung der Südwest- undNordwestfront auf die Verbannung der deutschen Siedler, de-nen man Verrat und Zusammenarbeit mit dem Feind vorwarf,aus den frontnahen Gouvernements. In den Jahren 1914 bis1916 mussten etwa 200.000 Russlanddeutsche aus dem westli-chen Teil des Landes, vor allem aus Russisch-Polen und Wo-lhynien, ihre Wohnorte verlassen. Zuflucht mussten sie in Tur-kestan und Sibirien sowie in Gebieten an der Wolga und imUral suchen.In Moskau kam es von 26. bis 29. Mai 1915 zu einem schwerenantideutschen Pogrom, der mehrere Menschenleben und Ver-wundete forderte. Unterschiedlichen Angaben zufolge wurden474 Geschäfte und Fabriken sowie weitere 217 Häuser undWohnungen zerstört, geplündert oder niedergebrannt. Der ent-standene Schaden belief sich auf über 50 Millionen Goldrubel.

Ähnliche Ausschreitungen, wenn auch nicht in diesem Ausmaß,gab es auch in anderen russischen Städten und auf dem Land.

Ungerechtfertigte VorwürfeDie patriotisch gestimmte Presse tat das Ihre, um das Gespenstvom „inneren Deutschland“ und der „teutonischen Übermacht“heraufzubeschwören. Es entstand eine Spionage- und Verdäch-tigungshysterie, die weder den baltendeutschen Adel noch dieländlichen Siedler oder die weitgehend assimilierten städti-schen Deutschen verschonte. Die Behörden wurden mit Tau-senden von Anzeigen „wachsamer“ Einwohner überschüttet,die ihre deutschen Nachbarn verleumdeten.Wie ungerechtfertigt die Vorwürfe waren, verdeutlichen fol-gende Tatsachen: Nach zuverlässigen Schätzungen dienten inder russische Armee um die 300.000 russische Staatsbürgerdeutscher Herkunft als Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere.So leisteten im Jahr 1917 ca. 15.000 Mennoniten Sanitätsdienstin den Lazaretten und Spitälern der russischen Armee. Etwa50.000 Wolgadeutsche waren mehrheitlich im Transkaukasus,an der türkisch-russischen Front im Einsatz, u.a. in Transport-zügen, Versorgungstruppen und rückwärtigen Baubataillons.Die im Dezember 1915 für die südlichen Gouvernements be-schlossenen und Anfang 1917 fast auf das ganze Reich ausge-dehnten Zwangsveräußerungen des Landbesitzes und die insAuge gefasste massenhafte Aussiedlung der deutschen Bauernstießen allerdings nicht überall auf Zustimmung. Eine Konfe-renz von Vertretern der Stadtverordnetenversammlungen undder Börsenausschüsse von Saratow und Pokrowsk fasste am 21.Februar 1917 diesen Beschluss:

Existenzprobe Erster Weltkrieg

Kurz vor dem I. Weltkrieg (1913) aufgenommen, lässt dieses Bild noch nichts vom heraufziehenden Unheil ahnen. Es zeigt Deutsche in Ka-tharinenfeld, Kaukasus, beim Theaterspiel im Freien.

11

„Die unter uns lebenden deutschen Kolonisten sind ebenso wiewir russische Staatsbürger. Die Kolonisten in unserem Landes-teil sind unentbehrliche Landwirte. Wir fühlen uns verpflichtet,beharrlich und mit Nachdruck zu erklären, dass die Beseitigung

des deutschen Landbesitzes, insbesondere zum derzeitigen Mo-ment einer allgemeinen landwirtschaftlichen Krise, eine unge-rechte und verderbliche Maßnahme sowohl für die Kolonistenselbst als auch für die ganze Region ist. Sie würde sich auch fürganz Russland als sehr nachteilig erweisen.“Zahlreiche Vertreter der russischen Intelligenz, darunter be-kannte Schriftsteller, Publizisten und Personen des öffentlichenLebens wie Wasili Rosanow, Fjodor Sologub, Sergej Gorodez-ki, Wladimir Ern u.a., stellten sich in den Dienst der antideut-

schen Propaganda.Aber es gab auch andere Stimmen: Der be-kannte Schriftsteller Wladimir Korolenkoprangerte die staatliche Willkür und die an-tideutsche Stimmung an. Er war nicht nurein begabter Literat, sondern auch ein auf-richtiger Kämpfer gegen jegliche Art vonstaatlicher Willkür, was ihm die verdienst-volle Bezeichnung „Russlands Gewissen“einbrachte. In seinem Beitrag „Über Ka-pitän Kühnen“, erschienen im November1916 in dem liberalen Massenblatt derHauptstadt, „Russkie Wedomosti“, zeigte erteilnahmsvoll und mitfühlend, was damalseinem russischen Bürger deutscher Her-kunft widerfahren konnte.Erst die Februarrevolution von 1917 ebneteden Weg zur Wiederherstellung ihrer Rech-te. Das Gesetz über die Gleichheit der Na-tionen und Konfessionen vom 21. März1917 hob alle bis dahin verordneten Be-schränkungen auf. Die überwiegende Mehr-heit der Russlanddeutschen erwies der bür-gerlichen Regierung breite Unterstützung.

Karl Lindemanngeb. 1847 in Nishni Nowgorodgest. 1928 in Orloff

Bedeutender Wissenschaftler undherausragender Vertreter russ-landdeutscher Interessen. Nebenseiner Tätigkeit als Professor ander Landwirtschaftlichen Akade-mie in Moskau engagierte er sichpolitisch. Er gründete und leiteteab 1905 die Moskauer deutscheGruppe des “Verbandes des 17.Oktober” (Oktobristen), einerkonservativ-liberalen Partei. Alskompetenter Landwirtschaftsex-perte war er hochgeschätzt unter

der Zarenherrschaft und in der Sowjetzeit.Noch vor 1914 trat Lindemann als Verfechter der Rechte derrussischen Staatsbürger deutscher Nationalität hervor. Wäh-rend des Krieges protestierte er entschieden gegen die Geset-ze zur Beseitigung des deutschen Landbesitzes in Russland,kritisierte benachteiligende Maßnahmen der Regierung unddie antideutsche Stimmungsmache der Presse. Durch persön-liche Kontakte zu einflussreichen Politikern und Schriftstel-lern (z.B. Wladimir Korolenko) versuchte er ebenso wie inmehreren Schriften dem deutschfeindlichen Klima im Landentgegenzuwirken.Nach der bürgerlichen Revolution im Februar 1917 organi-sierte Lindemann im April und August 1917 in Moskau den„Allrussischen Kongress der russischen Bürger deutscher Na-tionalität”. Nach der bolschewistischen Machtergreifung un-terstützte er tatkräftig die wirtschaftliche und kulturelle Neu-belebung der Deutschen auf der Krim und in der Ukraine.Seine letzten Jahre verbrachte er in der MennonitensiedlungOrloff, Kreis Melitopol, Ukraine

Pflichtbewusste und loyale Kolonisten aus Katharinenfeld im Transkaukasus als Soldatender russischen Armee, 1915. Quelle: Privatarchiv V. Krieger.

Circa 1914: Jakob Kreick (links) und Heinrich Betz in der Zarenar-mee.

12

Aufgrund ihrer wirtschaftlichen, sozialen und geistig-religiösen Entwicklung waren die Nachkommen dereinstigen Kolonisten mit einer breiten Schicht wohl-

habender Bauern für sozialistische Utopien schwer zu ge-winnen.Berücksichtigt man zudem die folgenden Faktoren, so wirdklar, weshalb die Russlanddeutschen während und nach derMachtergreifung der Bolschewiki nicht zu den tonangebenden,sondern zu den leidtragenden Schichten gehörten:

" ihre geographische Lage;" unzureichende Kenntnisse der russischen Sprache;" Fehlen einer politisch aktiven Intelligenzschicht;" verhältnismäßig hohe Schreib- und Lesekundigkeit;" vielfältige Beziehungen zum Ausland, die ihnen einen Ver-gleich ermöglichten.

Die tiefgreifenden wirtschaftlichen, politischen und kulturellenMaßnahmen der neuen Machthaber trafen folgerichtig vor al-lem die landreichen und unternehmerischen Schwarzmeerdeut-schen. Die Gebietsreform von 1921-23 in der Ukraine ignorier-te die Interessen der deutschen Bauern. Geschichtlich und wirt-schaftlich gewachsene nationale Landkreise und Gruppen vonSiedlungen wurden auseinander gerissen und andersnationalenDorfräten angegliedert. Daraus ergaben sich die verschiedens-ten politischen, sozialen und wirtschaftlichen Nachteile sowieerhebliche Verständigungsprobleme.Im Zuge der durch das „Dekret über das Land“ verordnetenEnteignungen musste der Großteil des deutschen Grundbesitzesan ukrainische Bauern abgetreten werden.Ständige wirtschaftliche und kulturelle Benachteiligungen derSchwarzmeerdeutschen führten noch in den Jahren der NeuenÖkonomischen Politik zu einer starken Zunahme von Auswan-derungen. Allein in den Jahren von 1922 bis 1924 wanderten8.000 deutsche Bauern aus der Ukraine aus.Besonders heftige Formen nahmen die folgenden Benachteili-gungen an:

" Verfolgung von Gläubigen und Auswanderungswilligen;" Entzug des Stimmrechts für wohlhabende Bauern;

" Behinderungen der nationalen Vereinigungen;" Enteignung und Verschickung von so genannten Kulaken imZuge der Kollektivierung.

Durch die Gründung von nationalen Dorfsowjets und Landkrei-sen, in denen der Unterricht in der Muttersprache abgehaltenund Deutsch als Amtssprache zugelassen wurde, versuchte dieSowjetmacht unter den Deutschen an Einfluss zu gewinnen. Vorallem aber sollte die Jugend ideologisch beeinflusst werden.

Autonomierechte für WolgadeutscheUnter der wolgadeutschen Bevölkerung fand das in der „Dekla-ration der Rechte der Völker Russlands“ vom 2. November1917 versprochene Selbstbestimmungsrecht eine gewisse Zu-stimmung. Kein Geringerer als Stalin unterstützte als Volks-kommissar für Nationalitätenfragen maßgeblich diese Bestre-bungen zur Gründung eines nationalen Gebietes (allerdings aufproletarischer Grundlage). Er stand damit - so seltsam es imNachhinein auch klingen mag - an der Wiege der wolgadeut-schen Autonomie.Für die neuen Machthaber waren die Siedlungsgebiete der Wol-gadeutschen, in denen große Mengen von Getreide beschafftwerden konnten, von lebenswichtiger Bedeutung. Nicht von un-gefähr kamen deshalb die Wolgadeutschen als erste Minderheitin den Genuss der verkündeten Autonomierechte: Am 19. Ok-tober 1918 unterzeichnete Wladimir Lenin als Regierungschefdas Dekret über die Gründung der Arbeitskommune (des auto-nomen Gebiets) der Wolgadeutschen. Man wollte die reichhal-tigen Getreidevorräte in erster Linie für die Versorgung der bei-den Revolutionszentren Moskau und Petrograd (ab 1924 Lenin-grad) verwenden und sie vor örtlichen Gouvernement-Sowjetsoder vorbeiziehenden Truppen schützen.Die wolgadeutschen Bauern lieferten an Lebensmitteln dasMehrfache des landesweit Üblichen ab. Diese rücksichtsloseAusbeutung war der maßgebliche Grund dafür, dass die Ar-beitskommune von der verheerenden Hungersnot der Jahre1921 und 1922 am härtesten getroffen wurde.Allein 1921 verließen mehr als 80.000 deutsche Bewohner dasWolgagebiet und zogen nach Turkestan, in den Trans- und

Nordkaukasus, nach Zentralrussland, in die Uk-raine und bis nach Deutschland. Hinzu kamen47.777 erfasste Todesfälle, in ihrer MehrheitHungeropfer.Das ganze Ausmaß des Bevölkerungsrückgangsgeht aus dem folgenden Zahlenvergleich hervor:Vor dem I. Weltkrieg lebten auf dem Gebiet derkünftigen autonomen Republik 516.289 Deut-sche, bei der Volkszählung 1926 waren es nurnoch 379.630.

Beitrag zumwirtschaftlichen Aufschwung

Im ersten Jahrzehnt nach dem Oktoberumsturzwaren die Bolschewiki hauptsächlich mit derAufrechterhaltung und Festigung ihrer Macht be-schäftigt. Das zeigte sich besonders im Frühjahr1921 beim Übergang zur Neuen ÖkonomischenPolitik (NÖP).

Machtergreifung der Bolschewiki

Blick auf Katharinenstadt (das spätere Marxstadt) an der Wolga.

13

Ungeachtet

" des blutigen Bürgerkrieges," der Verstaatlichung der Großindustrie und der mittleren Be-triebe

" und der entsetzlichen Hungersnot 1921-22, die MillionenMenschenleben gekostet hatte,

herrschten auf dem Land die bäuerliche Einzelwirtschaft unddie althergebrachte Lebensweise vor.In dieser Zeit erhoffte sich die Sowjetmacht vom hohen wirt-schaftlichen und kulturellen Stand der deutschen Siedler ent-scheidende Anstöße für den Wiederaufbau des Landes. Nichtzufällig hieß der Titel eines im Jahr 1922 erschienenen Buches„Die Deutsche Kommune an der Wolga und die Wiedergeburtdes südöstlichen Russlands“.Als ergiebig und kultiviert galt vor allem die Wirtschaftsweise derDeutschen in der Ukraine, in Sibirien und im Transkaukasus. Beiletzterem Gebiet ist in erster Linie die Winzerkooperative „Konkor-dia“ der Siedlung Helenendorf in Aserbeidschan zu erwähnen. Ne-ben dem weit verzweigten Vertrieb von Weinen in der gesamtenSowjetunion finanzierte sie wissenschaftliche Untersuchungen zurZüchtung neuer widerstandsfähiger Rebsorten und unterhielt ein in-sektenkundliches Arbeitszimmer.1928 zählten die beiden wichtigsten Vereine der wolgadeut-schen Lokalindustrie, der Handwerker- und Gewerbeverein so-wie der Sarpinka-Verein, um die 14.000 Mitglieder. Rund 335Webereien stellten die seit Anfang des 19. Jahrhunderts be-kannte Sarpinka (Baumwollstoff mit beigemischtem Leinen)her, die sich im Russischen Reich bzw. in der UdSSR großerNachfrage erfreute.Noch vor dem I. Weltkrieg entstand in Katharinenstadt (ab1919 Marxstadt) eine große Fabrik mit ca. 400 Arbeitern zur

Herstellung von landwirtschaftlichen Geräten, die nach demOktoberumsturz nationalisiert wurde. In den Hallen der Fabrikwurde einer der ersten Versuche unternommen, einen inländi-schen Traktor zu bauen. Und 1926 wurden dort tatsächlich dieersten Kleintraktoren mit dem Namen “Karlik” (“Zwerg”) er-zeugt.In der mennonitischen Kolonie Einlage (heute Gebiet Sapo-roshje) entwickelten die Ingenieure Leonhard Unger und Ger-hard (?) Rempel 1921 den ersten sowjetischen Traktor, der inSerienproduktion kam. Er erhielt den Namen „Saporoshez“ undwurde in ca. 800 Exemplaren gefertigt. 1932 erhielten GerhardEpp, Peter Dyck und Cornelius Unruh den Lenin-Orden für dieEntwicklung des „Stalinez“, des ersten Mähdreschers der So-wjetunion.

Der erste serienmäßig produzierte sowjetische Traktor „Saporo-shez“.

1930er Jahre: Lehrer und Schüler in Marienheim, Ukraine.

14

Ende der 1920er Jahre wandte sichdie sowjetische Führung mit Sta-lin an der Spitze vom eingeschla-

genen Kurs der allmählichen Entwick-lung im Rahmen der NÖP ab und schlugeinen Kurs der radikalen Umgestaltungder sowjetischen Gesellschaft ein.Das war eine Reaktion auf die utopischeHoffnung einer Weltrevolution und drücktesich im Übergang zum Grundsatz des„Aufbaus des Sozialismus in einem Land“aus. Die wichtigsten Merkmale der neuenPolitik waren:

" beschleunigte Industrialisierung;" völlige Kollektivierung der Landwirt-schaft;

" Kulturrevolution.

Insgesamt bedeutete diese nun eingeschla-gene Entwicklung eine grundlegende Um-formung der sozialen Ordnung. Aus einerGesellschaft mit gewissen Zugeständnissenan die Privatwirtschaft, begrenzter Mei-nungsfreiheit und kultureller Offenheitwurde jetzt eine Diktatur unter Stalins Al-leinherrschaft. Auf dem Weg zur Bildungder „neuen Gesellschaft“ wurden ganze Gruppen und Bevölke-rungsschichten rücksichtslos ausgeschaltet oder vernichtet, dieeine mögliche Gefahr darstellten. Darunter waren vor allemKleinunternehmer, wohlhabende Bauern, Freiberufler, nationaldenkende Intellektuelle, „bürgerliche“ Spezialisten und Wis-senschaftler, Geistliche und aktive Mitglieder von Glaubensge-meinschaften.

Widersprüchliche KulturpolitikFür die vorgesehenen Ziele war es unabdingbar, in kürzesterZeit eine einheitliche Massenkultur zu schaffen. Dafür sollten

im Eiltempo zahlreiche pädagogische Hochschulen, Technikaund weitere Bildungseinrichtungen errichtet werden. In denfünf Jahren ab 1927/28 stieg die Zahl der Hochschulen in derUdSSR von 148 auf 832. Die Zahl der Studenten verdreifachtesich auf 504.400. Ähnlich war das Wachstum im mittlerenFachschulwesen.Dieser gesellschaftliche Wandel ergriff auch die deutsche Be-völkerung der Sowjetunion. So existierten Ende der 1930er Jah-re in der Wolgadeutschen Republik die folgenden Einrichtun-gen:

" das Deutsche Pädagogische und dasLandwirtschaftliche Institut;

" 13 mittlere Fachschulen, darunter einzooveterinäres Technikum und zweiFeldscher- und Hebammenschulen;

" vier landwirtschaftliche Fachschu-len;

" eine Musikschule.

Bei aller berechtigten Kritik an der Artund Weise dieser Kultur- und Massen-bildungspolitik führten die MaßnahmenEnde der 30er Jahre zu einer spürbarenHebung des allgemeinen und fachtech-nischen Bildungsniveaus. Die Reservie-rung von Studienplätzen erleichterteden Jugendlichen aus der Republik dieAufnahme an führenden Instituten undUniversitäten des Landes. Durch Bil-dungsangebote und berufliche Auf-stiegsmöglichkeiten versuchte die Par-tei nicht ohne Erfolg die jüngere Gene-ration für ihre Ziele zu gewinnen.

Der Stalinismus und die Deutschen

Studenten des zweiten Semesters der Fakultät für Sprache und Literatur des DeutschenStaatlichen Pädagogischen Instituts Engels im Mai 1940. In der ersten Reihe sitzend dieHochschullehrer (von links nach rechts, ab der dritten Person): Töws, Bossert, A. Justus,Dominik Hollmann. Quelle: Privatarchiv A. Ziebart

Anfang 1930er Jahre: die deutsche Kolchosbrigade “Neues Leben” in Iwanowka, Kasachstan.

15

KollektivierungFür die ländliche Bevölkerung dagegen be-deutete diese seit 1928 verfolgte Politik einevernichtende Zwangskollektivierung derselbständigen Bauernwirtschaften. Diewohlhabende Schicht, die so genannten Ku-laken, waren restloser Enteignung und an-schließender Verbannung aus ihren Heimat-orten ausgesetzt worden.Bei den deutschen Ansiedlern entlud sichder Protest gegen die Enteignungen und re-ligiösen Verfolgungen Ende 1929 u.a. in ei-ner massenhaften Auswanderungsbewe-gung. Damals versammelten sich in Moskauetwa 14.000 Bauern, vornehmlich Mennoni-ten aus Westsibirien: Sie forderten freieAusreise und wandten sich an die DeutscheBotschaft und die ausländische Öffentlich-keit. Insgesamt gelang es 5.671 Personen,nach Deutschland auszureisen. Von dort zo-gen sie später zu ihren Glaubensbrüdern nachNord- und Südamerika weiter. Die übrigenwurden von der Miliz und der OGPU (Nameder Geheimpolizei bis 1934) gewaltsam inihre Herkunftsorte zurückbefördert. Die sogenannte Kolonistenaffäre schadete dem An-sehen der Sowjetunion erheblich und führtezu einer merklichen Verschlechterung derdeutsch-sowjetischen Beziehungen.Weitere Hilferufe ins Ausland während derkatastrophalen Hungersnot 1932-33 undsämtliche Kontakte mit Ausländern wertetedie sowjetische Führung fortan als Verlet-zung der Untertanentreue. Sie forderte diePartei- und Regierungsorgane zum Kampf“gegen die Faschisten und ihre Helfershel-fer” auf und drohte mit harten Maßnahmen.

Jakob Hummelgeb. 1893, gest. 1946

Einer der Begründer der archäolo-gischen Wissenschaft in Aserbeid-schan. Geboren in der KolonieHelenendorf, studierte in TiflisNaturwissenschaft am Lehrerinsti-tut. Ab 1921 war er in seinem Hei-matdorf als Lehrer tätig und bautegleichzeitig das örtliche Heimat-kundemuseum auf. 1923-24 unter-nahm er im Auftrag des republika-nischen Bildungsministeriumseine Studienreise nach Deutsch-land. Ab 1930 beschäftigte er sich

wissenschaftlich mit der frühen Geschichte Aserbeidschansund führte umfangreiche Ausgrabungen durch. 1933 Verhaf-tung und nach sechsmonatiger Untersuchungshaft wieder auffreiem Fuß. 1936 wurde er zum korrespondierten Mitglieddes Instituts für Kaukasuskunde der Akademie der Wissen-schaft Aserbeidschans gewählt. Jakob Hummel ist Verfassermehrerer Monographien in russischer und deutscher Sprache.1941 wurde er zusammen mit anderen Kaukasusschwabennach Kasachstan deportiert. Im Gebiet Akmolinsk verstarb ernach langer, schwerer Krankheit

„Das Kochen von Arbusenhonig“, ein Bild des Landschaftsmalers Jakob Weber (1870-1958), verdienter Künstlers der ASSR der Wolgadeutschen. 1937 wurde er repressiert underst kurz vor seinem Tod befreit. Quelle: Bildende Kunst der Rußlanddeutschen im 18.-20.Jahrhundert. Moskau 1997, S. 153.

Alexander Frisongeb. 1873, gest. 1937

Katholischer Bischof. Geboren inder Kolonie Baden unweit vonOdessa. Studierte am CollegiumGermanicum in Rom. Promovier-te zum Dr. phil. und Dr. theol.Am 22. November 1902 Priester-weihe. Ab 1905 Professor am ka-tholischen Priesterseminar in Sa-ratow, dem er ab 1910 als Rektorvorstand. Ab 1919 Seelsorger aufder Krim. 1926 wurde AlexanderFrison zum Bischof von Odessaernannt; 1929 erhielt er ohne die

Zustimmung der sowjetischen Behörden in Moskau die Bi-schofsweihe.Darauf folgten mehrere Verhaftungen und mehrmonatigeEinkerkerungen. Im Herbst 1935 verhaftete das NKWD denBischof zusammen mit weiteren 32 Personen und beschul-digte ihn der Spionage zugunsten Deutschlands. Im Septem-ber 1936 verurteilte ihn das Sonderkollegium des Krimer Ge-bietsgerichts in einer geschlossenen Sitzung zum Tod durchErschießen. Das Urteil wurde im Butyrki-Gefängnis in Mos-kau am 20. Juni 1937 vollstreckt.

1933/34: Arbeiterinnen der Strickerei in Großliebental, Odessa.

16

Verfolgung von MinderheitenAb Mitte der 1930er Jahre vollzog sich in der sowjetischen In-nenpolitik eine deutliche Wende. Neben der umfassenden staat-

lichen Lenkung aller wirtschaftli-chen, gesellschaftlichen und kul-turellen Bereiche machte sicheine zunehmende Abkapselungvom Ausland bemerkbar. Dasführte u.a. zum Konzept der“feindlichen Nationalitäten”: Manargwöhnte, ausländische Staatenkönnten durch nationale Minder-heiten schädliche Einflüsse insLand bringen.Die Deutschen gehörten zu denersten, die aufgrund ihrer nationa-len Zugehörigkeit massenhafteVerschickungen über sich erge-hen lassen mussten. Im April1936 fasste der Rat der Volks-kommissare der UdSSR den ge-heimen Beschluss „Über die Aus-

siedlung von 15 000 polnischen und deutschen Haus-halten aus der Ukrainischen SSR und ihre wirtschaft-liche Einrichtung im Gebiet Karaganda der Kasachi-schen SSR“. Daraufhin wurden 69.283 Personen ausden Grenzgebieten der Ukraine verbannt; 75% derZwangsausgesiedelten waren Polen.Ein Bericht des Innenministeriums NKWD von 1937nennt für die Monate Juni bis August 49 “faschisti-sche und aufständische” Organisationen mit ca. 800Mitgliedern, die man unter der deutschen Bevölke-rung des Gebietes Odessa aufgedeckt habe. Die“Agenten des reichsdeutschen Spionagedienstes” be-absichtigten angeblich, 60 bis 70% der erwachsendenOdessa-Deutschen in die antisowjetische Bewegungeinzubeziehen. Gemessen an den vier Jahre späterdurchgeführten Maßnahmen waren die Vorschlägezur Behebung des “Missstandes” gemäßigt: Bis zu5.000 “konterrevolutionäre” Familien müssten ausdem Gebiet ausgesiedelt werden. Der politischenStrafjustiz in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre fie-len Minderheiten wie Polen, Deutsche oder Finnenin überdurchschnittlichem Ausmaß zum Opfer

Im Zuge der „deutschen“ Operation des Volkskommissariatsfür Innere Angelegenheiten in den Jahren des „Großen Terrors“1937-38 wurden in der Ukraine 21.229 Personen verhaftet und18.005 von ihnen zum Tode verurteilt. Obwohl der Anteil derDeutschen an der Bevölkerung nur 1,4% betrug, gehörten siemit 14,7% (!) der Opfer zu den am stärksten verfolgten nationa-len Gruppen.Der Nichtangriffspakt zwischen der UdSSR und Deutschlandvom 23. August 1939 führte zu keiner Veränderung der Lageder Deutschen in der Sowjetunion. Durch die geheime Abspra-che der beiden Diktatoren Stalin und Hitler besetzte die Sowjet-union Bessarabien, die Westukraine und Westweißrussland so-wie die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Diedort ansässigen deutschen Minderheiten gerieten in eine Zwick-mühle: Blieben sie in ihren Heimatorten, gerieten sie unter dieSowjetherrschaft mit Enteignungen, Verbannungen, Verfol-gung der Gläubigen usw. Wollten die dem entgehen, blieb ih-nen nur eine ungewisse Zukunft im Deutschen Reich als Mittel-lose und Entwurzelte.Die meisten der dort beheimateten Deutschen - in den NS-so-wjetischen Vereinbarungen als Vertragsumsiedler bezeichnet -zogen das aus ihrer Sicht geringere Übel vor und entschiedensich für Deutschland.

Vom 1. Januar 1936 bis zum 1. Juli 1938in der UdSSR verhaftete

Personen, nach Nationalitäten gelistet

Nationalität Zahl der Anteil an der Anteil derVerhafteten, Gesamtzahl d. Nationalität anabsolut Verhafteten, der Gesamt-

in % bevölkerungder UdSSR, in %

Russen 657.799 43,6 58,4Ukrainer 189.410 13,3 16,5Polen 105.485 7,4 0,4Deutsche 75.331 5,3 0,8Weißrussen 58.702 4,1 3,1Juden 30.542 2,1 1,8Letten 21.392 1,5 0,1Finnen 10.678 0,7 0,1Insgesamt 1.420.711 100 100

Ausweis des Abgeordneten des Obersten Sowjets der ASSR der Wolgadeutschen, des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare, d.h. Re-gierungschef der Republik, Alexander Heckmann (1908-1994). Er war auch Abgeordneter des Obersten Sowjets der UdSSR und der Russi-schen Föderation, was die sowjetischen Machthaber jedoch nicht hinderte, ihn nach der Auflösung der Wolgarepublik in ein Zwangsarbeits-lager einzuweisen. Quelle: Staatsarchiv der Administrativen Organe des Gebietes Swerdlowsk.

Haftfoto aus dem Jahr 1930von Prof. Georg Dinges.Quelle: Pokrowsk-Engels.Seiten der Geschichte. Nr. 5.Saratow 2004, S. 15.

17

Die hysterische Angst vor Spionage und feindlichenFallschirmjägern, die sich nach dem Angriff Hitler-Deutschlands am 22. Juni 1941 entwickelt hatte, ließ

Russlandddeutsche und deutschsprachige Emigrantenleicht in den Verdacht geraten, Agenten der Gestapo oderder Abwehr zu sein. Dadurch kam es in den ersten Kriegs-wochen zu zahlreichen Verhaftungen.Gleichzeitig versuchte die sowjetische Militärführung, ihr an-fängliches Versagen u.a. durch den Hinweis auf „verräterische“Aktivitäten der deutschen Bevölkerung in den frontnahen Ge-bieten zu erklären. Man verleumdete sie als illoyale Bürger undforderte ihre Ausweisung.

Propagandaund DeportationBereits ab dem 15. August begann man höchst unorganisiertund in größter Eile, die etwa 53.000 Krimdeutschen auszusie-deln, vorerst in den Nordkaukaus. Verschleiernd wurde dieseMaßnahme als “Evakuierung” bezeichnet. Eine nicht zu unter-schätzende Rolle spielten dabei die Erfordernisse eines totalenPropagandakrieges. Die Deutschen wurden damals als „zwei-beinige Tiere“, „Menschenfresser“ und „tollwütige Hunde“ be-zeichnet. Und: Die Existenz einer anerkannten sowjetdeutschenMinderheit an der Wolga mit verbrieften Autonomierechtenstellte vor diesem Hintergrund ein Hindernis dar.Am 26. August 1941 ordnete Stalin daher die Umsiedlung derDeutschen aus der Wolgadeutschen Republik und aus den Ge-bieten Saratow und Stalingrad an. Als Bestimmungsorte wur-den die Regionen Altaj und Krasnojarsk, die Gebiete Omsk undNowosibirsk sowie Kasachstan genannt. Die gesamte Durch-führung wurde dem Volkskommissariat (Ministerium) für Inne-re Angelegenheiten NKWD anvertraut.Dieser geheim gefasste Beschluss über die Auflösung einer inder sowjetischen Verfassung fest verankerten nationalen Re-publik bedurfte jedoch der formalen und rechtskräftigen “Ab-segnung” durch die oberste Staatsgewalt. Deshalb unterzeich-nete zwei Tage später das nominelle Staatsoberhaupt MichailKalinin im Namen des Präsidiums des Obersten Sowjets derUdSSR den Erlass „Über die Umsiedlung der Deutschen, die inden Wolga-Rayons leben“.In dem offiziellen Erlass vom 28. August 1941 wurde gegen dieDeutschen die schwerwiegende Anklage des Vorhandenseinsvon „Tausenden und Zehntausenden Diversanten und Spionen“erhoben, die „nach einem aus Deutschland gegebenen Signal“Sprengstoffanschläge verüben sollten. Durch ein weiteres De-kret vom 7. September 1941 erfolgte die Angliederung derWolgadeutschen Republik an die angrenzenden Gebiete Sara-tow und Stalingrad.Die Verbannung anderer deutscher Bevölkerungsgruppen, diekeinen Autonomiestatus besaßen, erfolgte in den folgendenWochen und Monaten gemäß zusätzlicher geheimer Regie-rungsbeschlüsse. Davon betroffen waren beispielsweise dernoch nicht besetzte Teil der Ukraine, der Trans- bzw. Nordkau-kasus sowie die Städte Moskau und Gorki.Die ganze „deutsche Operation“ verlief unter Ausschluss vonPresse und Öffentlichkeit. Bis Ende 1941 wurden behördlichenAngaben zufolge 799.459 Personen aus dem europäischen Teilder Sowjetunion nach Kasachstan und Sibirien „umgesiedelt“;darunter befanden sich 444.115 Wolgadeutsche.

Deutsch-sowjetischer Krieg:Der Weg in die Katastrophe

Erlassdes Präsidiums desObersten Sowjetsder Sowjetunion

„Über die Umsiedlungder Deutschen,

die in den Wolga-Rayons wohnen“(Moskau, Kreml, 28. August 1941,

Wortlaut der Veröffentlichungam 30. August 1941

im Organ „Nachrichten“ des GebietskomiteesKPdSU(B) und des Obersten Sowjets

der ASSR der Wolgadeutschen, des Stadtko-mitees der KpdSU(B) und des Stadtsowjetsder Deputierten der Werktätigen von Engels)

Laut genauen Angaben, die die Militärbehörden erhalten ha-ben, befinden sich unter der in den Wolgarayons wohnendendeutschen Bevölkerung Tausende und aber Tausende Diver-santen und Spione, die nach dem aus Deutschland gegebenenSignal Explosionen in den von den Wolgadeutschen besiedel-ten Rayons hervorrufen sollen. Über das Vorhandensein einersolch großen Anzahl von Diversanten und Spionen unter denWolgadeutschen hat keiner der Deutschen, die in den Wolga-rayons wohnen, die Sowjetbehörden in Kenntnis gesetzt,folglich verheimlicht die deutsche Bevölkerung der Wolga-rayons die Anwesenheit in ihrer Mitte der Feinde des Sowjet-volkes und der Sowjetmacht.Falls aber auf Anweisung aus Deutschland die deutschen Di-versanten und Spione in der Republik der Wolgadeutschenoder in den angrenzenden Rayons Diversionsakte ausführenwerden und Blut vergossen wird, wird die Sowjetregierunglaut den Gesetzen der Kriegszeit vor die Notwendigkeit ge-stellt, Strafmaßnahmen gegenüber der gesamten deutschenWolgabevölkerung zu ergreifen.Zwecks Vorbeugung dieser unerwünschten Erscheinungenund um kein ernstes Blutvergießen zuzulassen, hat das Präsi-dium des Obersten Sowjets der UdSSR es für notwendig be-funden, die gesamte deutsche in den Wolgarayons wohnendeBevölkerung in andere Rayons zu übersiedeln, wobei denÜberzusiedelnden Land zuzuteilen und eine staatliche Hilfefür die Einrichtung in den neuen Rayons zu erweisen ist.Zwecks Ansiedlung sind die an Ackerland reichen Rayonsdes Nowosibirsker und Omsker Gebiets, des Altaigaus, Ka-sachstans und andere Nachbarortschaften bestimmt.In Übereinstimmung mit diesem wurde dem Staatlichen Ko-mitee für Landesverteidigung vorgeschlagen, die Übersied-lung der gesamten Wolgadeutschen unverzüglich auszu-führen und die überzusiedelnden Wolgadeutschen mit Landund Nutzländereien in den neuen Rayons sicherzustellen.

Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjetsder UdSSR, M Kalinin

Sekretär des Präsidiums des Obersten Sowjetsder UdSSR, A. Gorkin

18

Russlanddeutsche als Personen„minderen Rechts“

Die Maßnahmen der Staats- und Parteiführung nach der Depor-tation sollten vor allem sämtliche politischen, gesellschaftlichenund kulturellen Spuren deutschen Lebens in der Sowjetunion.beseitigen:

Kulturelle ZerstörungAufgelöst wurden kulturelle Institutionen wie das DeutscheStaatstheater in Engels, die Deutsche Staatliche PädagogischeHochschule und mehrere Fachhochschulen, die Philharmoniemit dem Sinfonieorchester und der Deutsche Staatsverlag. Li-quidiert wurden auch die 1918 ins Leben gerufene republikani-sche Zentralbibliothek und das 1925 gegründete Museum derASSR der Wolgadeutschen. Des Weiteren wurde Deutsch alsAmts-, Medien- und Unterrichtssprache umfassend verboten.

Wirtschaftliche AusplünderungDer Sowjetstaat konfiszierte zum einen den individuellen Be-sitz der Bürger, d.h. Häuser, Hausrat, Nutzgarten, Vorräte etc.Er eignete sich aber auch das genossenschaftliche bzw. ver-staatlichte Eigentum einschließlich der Finanzmittel der Sow-chosen, Betriebe und Behörden an, in denen die Deutschen dieMehrheit der Mitglieder bzw. der Belegschaft stellten.

Beschneidung der BürgerrechteIn der Sowjetunion wurden die diskriminierenden Rechtsnor-men bezüglich ethnischer Minderheiten nicht gesetzlich veran-kert. Durch diesen geschickten Schachzug konnten die bolsche-wistischen Machthaber die umfassende Unterdrückung derRusslanddeutschen und später auch anderer Volksgruppen jahr-zehntelang erfolgreich leugnen.Obwohl nicht gesetzlich verankert, entstand bald aus internenParteibeschlüssen, Regierungsanordnungen und NKWD-In-struktionen ein dichtes Netz diskrimierender Bestimmungen:

" Alle Deutsche, auch die in Städten wohnenden, wurden aus-schließlich in ländlichen Ortschaften und kleineren Rayon-städtchen untergebracht.

" Sie wurden unabhängig von familiären Verhältnissen oderfachlicher Qualifikation zur körperlichen Arbeit auf demLand gezwungen.

" Es war ihnen nicht erlaunbt, diese Orte der Pflichtansiedlungzu verlassen.

" Deutschen Jugendlichen wurde ausdrücklich verboten, einunterbrochenes Studium fortzusetzen.

Umfassende Mobilisierungin ZwangsarbeitslagerEine weitere Stufe der bürgerlichen Entrechtung der deutschenMinderheit stellte die beinahe vollständige Einweisung aller er-wachsenen Personen in Arbeitslager dar. Die Einberufung vonJugendlichen, Männern und Frauen im Alter von 15 bis 55 Jah-ren durch die Sammelstellen des Volkskommissariats für Ver-teidigung und ihre Unterstellung unter das NKWD begann imJanuar 1942 und setzte sich praktisch bis Ende des Krieges fort.Man sonderte ferner russlanddeutsche Soldaten und Offiziereaus den militärischen Einheiten aus und schaffte sie ebenfalls inArbeitslager.Ähnlich wie Strafgefangene wurden die Russlanddeutschen fürschwerste und unqualifizierte Arbeiten beim Bau von Eisen-bahnlinien und Industriebetrieben, in der Öl- oder Kohleförde-rung oder beim Holzfällen eingesetzt. Keine andere Volksgrup-pe in der Sowjetunion wurde in diesem Ausmaß physisch aus-gebeutet: Etwa 350.000 der 1,1 Mio Russlanddeutschen, diesich während des Krieges im sowjetischen Machtbereich befan-den, mussten Zwangsarbeit leisten.

Entrechtung, Verleumdungund Beseitigungder nationalen Intelligenz und FührungsschichtPartei- und Sowjetfunktionäre, Richter, Professoren und Do-zenten, Offiziere, Wirtschaftsleiter, Literaten, Lehrer, Schau-spieler, Bibliothekare etc. deutscher Nationalität verloren ihrenArbeitsplatz bzw. ihre Stellung und mussten in die Zwangsar-beitslager. Dort konstruierte die Geheimpolizei zahlreiche poli-tische Strafprozesse, die für die Betroffenen mit langjährigemFreiheitsentzug oder der Todesstrafe endeten.

Antideutsche StimmungsmacheUnzählige Artikel mit verzerrenden undkarikierenden Bildern, Radiosendungenund Filme, in denen vor allem gegen dieDeutschen (und nicht etwa gegen denFeind oder die Faschisten) heftig Stim-mung gemacht wurde, vergifteten das Ver-hältnis zu den Russlanddeutschen. Dasumso mehr, als die sowjetischen Behördenzwischen ihnen und der Angreifernationkeinen Unterschied machten. PersönlicheBeleidigungen und Beschimpfungen blie-ben unbestraft.

Umbenennungder deutschen OrteUm die Erinnerung an die ehemaligen Be-wohner endgültig zu löschen, bekamen dieehemals deutschen Siedlungen russischeNamen, die zudem stark sowjetisch ge-prägt waren. So hieß Balzer nun Krasnoar-mejsk, d.h. Rotarmist; aus einer der ältes-ten und größten wolgadeutschen Siedlun-gen, Mariental (gegründet 1766), wurdeSowetskoje, und Jost wurde in Oktjabrjs-koje umbenannt.Zur Zwangsarbeit mobilisierte deutsche Frauen, die beim Holzschlag eingesetzt wurden. Um

1944. Quelle: Privatarchiv L. Jost.

19

Während des Krieges war dieVersorgung durch Lebensmit-telmarken nur für die arbeiten-

de Stadtbevölkerung gesichert. Auf demLand lebte man überwiegend von eigenenNutzgärten und Privatvieh, weil dieKolchosen nach den Pflichtablieferungenan den Staat nicht in der Lage waren, diegeleistete Arbeit zu entlohnen.Diese lebensrettenden Nebenwirtschaftenfehlten jedoch den Zwangsumgesiedelten.Schon im Dezember 1941 und Januar 1942berichteten örtliche NKWD-Dienststellenvon um sich greifenden Krankheiten, erhöh-ter Kindersterblichkeit und Hungertoten un-ter den deutschen “Übersiedlern”. Dazu einamtlicher Bericht, der umso verheerenderist, weil dort auf die Lage von Betroffeneneingegangen wird, deren Deportation erstzwei Monate zurücklag.

„In den … Kolchosen sind 263 Familienmit 910 Deutschen angesiedelt worden;zur Zeit besitzen von den 263 Familien 133 Quittungen überdie Ablieferung verschiedener Arten von Lebensmitteln anden Staat (vor der Verbannung – Anm. des Verfassers) wieGetreide, Mais, Kartoffeln, Vieh, Weinerzeugnisse und an-dere Produkte. Allerdings haben sie für diese Quittungenbis zum heutigen Tag nichts erhalten...Als Folge der Nahrungsknappheit beginnen sich unter denumgesiedelten Deutschen in diesen Kolchosen verschiedeneArten von Erkrankungen auszubreiten, besonders unter denKindern: Masern, Grippe und andere Krankheiten…Für den Zeitraum des Aufenthaltes der Deutschen in diesenKolchosen ist der Tod von 20 Personen zu verzeichnen; dieMehrheit davon sind Kinder. Von Seiten der Rayongesund-heitsbehörde wird dieses Kontingent nicht medizinisch be-treut…Die Umgesiedelten sind gezwungen, da sie kein Brot haben,den Kolchosbauern für jegliche Art von Lebensmitteln ihrBettzeug, Kissen, Bettdecken und Ähnliches zu verkaufen…Wenn in den nächsten zwei bis drei Tagen nicht (die Zutei-lung von Lebensmitteln) erfolgt, werden einzelne Familien,die überhaupt kein Brot mehr haben und sich in einem halbverhungerten und kranken Zustand befinden, einfach aus-sterben.“(NKWD-Rayonverwaltung Bajan-Aul, Gebiet Pawlodar,

7. Dezember 1941)

Die Zwangsrekrutierung der arbeitsfähigen Männer und Frauenins Arbeitslager brachte die Zurückgebliebenen in eine lebens-bedrohliche Lage. Während ihre russischen, ukrainischen undkasachischen Nachbarn, deren Ehemänner oder Söhne an derFront kämpften, eine, wenn auch bescheidene Unterstützung er-hielten, verweigerte der Staat den verbliebenen Familienange-hörigen der Deutschen jegliche Hilfe.Den Betroffenen erschien diese Missachtung und Diskriminie-rung als letzter Schritt auf dem Weg zur endgültigen Vernich-tung ihrer ganzen Volksgruppe. Ein Regierungsbeschluss vom18. November 1942 erlaubte den Sowjetbehörden, deutscheKinder, die ohne ihre Eltern auskommen mussten, auf benach-

barte russische und kasachische Familien bzw. Kolchosen zuverteilen oder sie in Waisenhäuser einzuliefern.Miserable Arbeits- und Lebensbedingungen, rücksichtlosesVorgehen und faktische Straffreiheit des Lager- und Betriebs-personals führten dazu, dass in den Einsatzorten in kurzer Zeiteine große Zahl von Todes- und schweren Krankheitsfällen zuverzeichnen war. So starben im Arbeitslager Tscheljabmetal-lurgstroj des NKWD, das für den Bau eines Hüttenkombinatsim Ural errichtet wurde, im Jahr 1942 laut Lagerstatistik 2.727Deutsche. Im Januar 1943 befanden sich dort von den 27.430Zwangsarbeitern 8.013 oder 29,2 Prozent in Krankenbaracken.Bei der Unterdrückung und Terrorisierung der eingezogenenDeutschen spielte vor allem die sowjetische Geheimpolizei einewichtige Rolle.

Verbannung und Zwangsarbeit

Um der Zensur zu entgehen und den daheim Gebliebe-nen die wahren Verhältnisse im Lager zu beschrei-

ben, verfasste ein Zwangsarbeiter mit Hang zu schwar-zem Humor eine Art verschlüsselten Brief:„Liebe Frau! Ich möchte Dir mitteilen, dass es mir hier sehrgut geht. Jede Nacht schlafe ich, allerdings nicht immer dieganze. Während des Schlafes arbeite ich nicht. Fast alle mitmir eingetroffenen Freunde sind hier. Wie dir wohl bekanntist, konnte ich daheim ohne sie nicht leben, aber hier wurdensie in einen anderen Ort versetzt.Fleischmann habe ich seit meiner Ankunft hier noch nie ge-troffen. Wo er arbeitet, ist mir nicht bekannt. Grützemann istversetzt worden, Kartoffelmann treffe ich sehr selten, er hatnie Zeit für mich. Manchmal kommt mir Krautmann entge-gen, doch schon lange vermisse ich Mehlmann und Nudel-mann. Milchmann und Schmandmann wurden noch bei derVerladung in den Zug von uns getrennt.Wassermann und Arbeitsmann sind die einzigen, denen ichjeden Tag begegne. Ja, fast habe ich Brotmann vergessen. Erist krank geworden, sieht schwarz und schwerfällig aus...Du kannst allen sagen, dass meine einzigen Freunde hierHungermann, Läusemann, Wanzenmann und Arbeitsmannsind.“

Fundamentgrube für das Walzwerk auf dem Baugelände des Arbeitslagers Tscheljabme-tallurgstroj, um 1943. Quelle: Vereinigtes staatliches Archiv des Gebiets Tscheljabinsk.

20

Vertreterin der Staatssicherheit im Lager war die berüchtigte„Operativ-tschekistische Abteilung“. Eine heftige Welle vonUnterdrückungsmaßnahmen erfasste die Deutschen. Bis zumJuli 1944 wurden 8.543 Zwangsarbeiter aufgrund von Flucht-versuchen, angeblichen Sabotageakten und konterrevolutionä-rer Arbeit verhaftet. 6.392 von ihnen wurden zu langjährigerHaft im Straflager und 526 zum Tode verurteilt.

SondersiedlerstatusLaut einer Regierungsverordnung vom 8. Januar 1945 wurdenzur besseren Erfassung und Kontrolle der deportierten Völkerin den Aussiedlungsgebieten Sonderkommandanturen einge-richtet. Dort mussten die Deutschen sich registrieren lassen undbinnen drei Tagen alle Änderungen der Zahl ihrer Familienan-

gehörigen (Tod, Flucht, Geburt u.a.) melden. Ohne Genehmi-gung des Kommandanten durften sie ihren Wohnort nicht ver-lassen.Nach dem Krieg begann die Auflösung der Arbeitskolonnen.Die deutschen Zwangsarbeiter wurden in die Stammbelegschaf-

ten von Betrieben und Bauorganisationenüberführt. Allerdings wies man ihnennicht die Rechte eines normalen Sowjet-bürgers zu, sondern den Status eines Son-dersiedlers. Nur mit Einverständnis derBetriebsleitung und des zuständigenKommandanten konnten ehemalige Mobi-lisierte an den Ort ihrer Pflichtansiedlungzurückkehren oder ihre Familien zu sichholen. Die Zusammenführung der ausein-ander gerissenen Familien dauerte indesbis in die zweite Hälfte der fünfziger Jah-re.Selbstverständlich durften die Russland-deutschen nicht in ihre vor 1941 bewohn-ten Heimatorte zurückkehren. Die Bedin-gungen der Sondersiedlung verschärftensich weiter mit der Verabschiedung desErlasses des Präsidiums des Obersten So-wjets der UdSSR vom 26. November1948. Darin wurde die Verbannung derDeutschen und anderer “bestrafter” Völ-ker wie der Tschetschenen, Kalmücken,Krimtataren u.a. auf “ewig” erklärt. AufFlucht aus den Ansiedlungsgebieten stan-den 20 Jahre Straflager.

Deutsche Frauen in der Trudarmee.

Neue Wohnblöcke vornehmlich für die Arbeiter des Aluminiumswerkes in Krasnoturinsk,Gebiet Swerdlowsk. Während des Krieges waren an dessen Errichtung circa 20.000 Russ-landdeutsche im Zwangsarbeitslager „BASstroj – Bogoslowlag des NKWD“ im Einsatz. Nach1945 bildeten sie einen beträchtlichen Teil der Belegschaft. Im Vordergrund der Staudammund der Wasserspeicher des Werkes. Quelle: Privatarchiv V. Krieger.

Denkmal für die russlanddeutschen Opfer des Stalinismus auf demFriedhof in Augsburg-Haunstetten.

21

Anmerkung: Bis zum 1. Februar 1918 sind alle Daten derrussischen Geschichte nach dem Julianischen Kalender (alterStil - A.S.) angegeben. Ab dem Jahr 1900 betrug der Unter-schied zu dem im Westen geltenden Gregorianischen Ka-lender 13 Tage. Deshalb wurde in der Sowjetunion zumBeispiel der Tag der bolschewistischen Machtergreifung, dieso genannte Oktoberrevolution, die am 25. Oktober 1917(A.S.) stattfand, am 7. November (25. Oktober plus 13 Tage)gefeiert.

Zeittafelzur Geschichte der Russlanddeutschen

1652

1702

1727

22.07.1763

1764-1773

1765

1789

1800

1804-1824

1817-1818

1832

1848

1853-1856

18611863

Endgültige Errichtung der „Deutschen Vorstadt“(„Nemezkaja sloboda“) in Moskau.

In einem Berufungsmanifest sichert Peter derGroße den einwanderungswilligen Militärs undFachleuten Religionsfreiheit zu.

In der neuen russischen Hauptstadt St. Petersburgerscheint die erste deutsche Zeitung, die spätere„St. Petersburger Zeitung“ (verboten 1916).

Einladungsmanifest der Zarin Katharina II., vorallem an Handwerker und Ackerbauern. Es be-ginnt die Zeit der Masseneinwanderung deutscherund anderer Ausländer

An der Wolga werden 104 deutsche Siedlungen(Kolonien) angelegt, 45 auf der Bergseite (rechtesWolgaufer) und 59 auf der Wiesenseite; 66 Kolo-nien sind lutherisch, 38 katholisch. In Saratowkonstituiert sich eine evangelische Gemeinde.

Gründung der Herrnhuter Kolonie Sarepta (heuteTeil von Wolgograd); im Umkreis von St. Peters-burg entstehen die "Nördlichen Kolonien", inNeurussland die Belowescher Kolonien beiKiew.

In Chortitza und Rosental am Dnjepr entstehendie ersten Kolonien deutscher Mennoniten in derSüdukraine.

Gnadenprivileg Pauls I. für die Mennoniten.

Württemberger, Pfälzer, Badener und Elsässerfolgen dem Einladungsmanifest Alexanders I.(1804) zur Ansiedlung am Schwarzen Meer(Neurussland, Bessarabien, die Krim).

Einwanderung von Württemberger Separatistenin den Transkaukasus.

Gesetz über die evangelisch-lutherische Kirche inRussland.

Gründung des katholischen Bistums Tiraspol mitSitz in Saratow.

Deutsche Siedler unterstützen die russischenTruppenteile im Krimkrieg tatkräftig bei der Ver-sorgung und Krankenpflege.In Russland wird die Leibeigenschaft aufgehoben.Gründung der „Odessaer Zeitung“.Deutsche Einwanderer aus Schlesien und Polengehen als Siedler nach Wolhynien.

Aufhebung der staatlichen Sonderverwaltung derKolonisten. Sie werden nun als „Siedler-Eigentü-mer“ ein Teil des russischen Bauernstandes.Deutsche Dörfer und Landkreise behalten die in-nere Selbstverwaltung, unterstehen jedoch seitherder allgemeinen Verwaltung auf Gouvernements-und Bezirksebene.

Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. ErsteAuswanderungswelle nach Übersee.

Gründung zahlreicher Tochtersiedlungen in Tur-kestan, in der kasachischer Steppe, in Sibirienund im Südural.

Erlass über die Begrenzung des Grundbesitzes fürAusländer in den russischen Westgouvernements.

Verbot der Vergabe von Krediten der Bauernbo-denbank an deutsche Siedler-Eigentümer.

Zwangsrussifizierung: abrupte Umstellung indeutschen Dorfschulen auf den Unterricht dermeisten Fächer in russischer Sprache. Nach 1907teilweise zurückgenommen.

Erste russische Revolution, Unruhen und Auf-stände auf dem Lande und in den Städten.17. Oktober: Zar Nikolaus II. verkündet die Ein-führung einer gesetzgebenden Reichsduma unddie Gewährung bürgerlicher Grundrechte.

Gründung der „Saratower Deutschen Zeitung“,1914 verboten und 1917/1918 kurzzeitig wiedererschienen.Nach Ausbruch des I. Weltkrieges werden die 2,5Millionen Deutsche zahlreichen Restriktionen un-terzogen, obwohl ca. 300.000 von ihnen in derrussischen Armee Dienst leisten.18. August: Die Hauptstadt St. Petersburg wirdin Petrograd umbenannt.„Liquidationsgesetze“. Deutscher Landbesitz sollin einem 150 km tiefen Grenzstreifen zwangsver-äußert und russischen Bauern gegeben werden.Die Militärverwaltung ordnet Deportationen derDeutschen aus den frontnahen Gouvernementsins Landesinnere an; vor allem die Baltendeut-schen und Wohlynier sind davon betroffen.26.-29. Mai: Antideutscher Wirtschaftspogrom inMoskau mit mehreren Toten und Verwundeten.Liquidationsgesetzgebung soll sich praktisch aufdas ganze Land erstrecken.27. Februar: Bürgerliche demokratische Revolu-tion stoppt weitere Zwangsaussiedlungen und -enteignungen.Kongresse der Russlanddeutschen in Moskau, Sa-ratow, Warenburg/Wolga, Slawgorod/Sibirienund Odessa.25. Oktober: „Oktoberrevolution“, Machtergrei-fung der Bolschewiki.

Frieden von Brest-Litowsk mit gegenseitiger Re-patriierungsklausel für russischstämmige Bürger

1871

1874

1882-1914

1887

1895

1897

1905

1906

1914

1915

1917

3.3.1918

22

3.3.1918

19.10.1918

1919

1921

1923

20.2.1924

1926

1928

1929

6.1.1930

1933-1934

1936

in Deutschland bzw. deutschstämmige Bürger inRussland.

Der Rat der Volkskommissare genehmigt per De-kret die Errichtung der Gebietsautonomie (Ar-beitskommune) der Wolgadeutschen.

Juli-August: bewaffnete Erhebung der deutschenBauernschaft in Großliebental, Kreis Odessa, ge-gen bolschewistische Lebensmitteleintreibungenund Mobilisierungen.Oktober-Dezember: Plünderungen, Brandschat-zungen, Raub, Verwüstungen, Vergewaltigungenund mehrere hundert Morde gehen auf das Kontoder Banden des Anarchisten Machno, insbeson-dere in den Mennoniten-Siedlungen der Süd-ukraine.

Auf Revolution und Bürgerkrieg folgt in Russ-land eine große Hungersnot, verursacht in ersterLinie durch falsche Wirtschaftspolitik mit rück-sichtslosen Nahrungsmitteleintreibungen, von de-nen die deutschen Dörfer an der Wolga und imSüden des Landes hart getroffen werden.März-April: Hungeraufstände in mehreren wol-gadeutschen Dörfern, die brutal niedergeschlagenwerden.März: Unter dem Eindruck der landesweiten Un-ruhen und Bauernaufstände beschließt die So-wjetführung einen Übergang zur „Neuen Ökono-mischen Politik“ (NÖP, 1921-1928).

Gründung des Allrussischen Mennonitischenlandwirtschaftlichen Vereins (aufgelöst 1928).

Aufwertung des autonomen Gebiets zur Autono-men Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolga-deutschen (ASSRdWD) mit Pokrowsk, dem spä-teren Engels, als Hauptstadt.

Laut Volkszählung leben in der Sowjetunion1.238.549 Deutsche, davon in der Ukraine393.924, in der ASSRdWD 379.630, auf derKrim 43.631 usw.In Moskau erscheint die „Deutsche Zentralzei-tung“ (DZZ), die bis 1939 existiert.

Beginn der Zwangskollektivierung der selbstän-digen Bauernwirtschaften, verbunden mit derrestlosen Enteignung der wohlhabenden Bauern(„Kulaken“) und ihrer Verbannung nach Ka-sachstan und in den Hohen Norden

Als Protest gegen Enteignungen und religiöseVerfolgungen brechen im November und Dezem-ber an die 14 000 Deutsche mit ihren Familienauf. Sie fordern freie Ausreise aus dem Land. Ins-gesamt gelingt es 5 671 von ihnen, über Deutsch-land nach Amerika auszuwandern.

Offizielle Eröffnung der ersten Hochschule mitdeutscher Unterrichtsprache, des „Deutschen Pä-dagogischen Instituts“ in Engels.

Zweite große Hungersnot an der Wolga, in Ka-sachstan und in der Ukraine; eine Folge der über-stürzten Kollektivierung, die besonders die Land-bevölkerung trifft.

Nach einem Regierungsbeschluss über die Aus-siedlung von 15.000 polnischen und deutschen

1936

1937-1938

1939

1939-1940

1941

1942

1943-1944

1945

Haushalten aus der Ukraine werden 69.283 Perso-nen aus den Grenzgebieten nach Kasachstan ver-bannt; Polen machen dabei mit etwa 75,0% dasGros der Zwangsausgesiedelten aus.5. Dezember: Annahme der so genannten Stalin-schen Verfassung, die direkte oder indirekte Be-schränkungen der Rechte von Personen aufgrundihrer Volkszugehörigkeit oder Propagierung vonNationalitätenhass unter Strafe stellt.

Die sowjetische politische Strafjustiz verurteilt indiesen zwei Jahren 1.372.382 Personen, von de-nen 681.692 erschossen werden. Nach bislangveröffentlichten Opferlisten und Schätzungen derrussischen Menschenrechtsorganisation „Memori-al“ kostete der „Große Terror“ etwa 55.000 Deut-schen das Leben.12. Dezember 1937: Neun Wolgadeutsche in denObersten Sowjet der UdSSR, das „oberste Organder Staatsgewalt“, gewählt.

Die Anfang des Jahres durchgeführte Volkszäh-lung registriert in der UdSSR 1.427.232 Deutscheoder 0,8% der Gesamtbevölkerung des Landes.

Aufgrund der geheimen Absprache der beidenDiktatoren Stalin und Hitler annektiert die So-wjetunion Bessarabien (gehörte zu Rumänien),die Westukraine und Westweißrussland (zu Po-len) sowie die unabhängigen baltischen StaatenEstland, Lettland und Litauen. Die dort ansässigedeutsche Minderheit votiert in überwiegenderMehrheit für Deutschland („Vertragsumsiedler“).

22. Juni: Angriff von NS-Deutschland auf die So-wjetunion.28. August: Verabschiedung des Erlasses überdie Aussiedlung der Deutschen aus den Wolga-regionen. Damit legalisiert das Präsidium desObersten Sowjets der UdSSR die Deportation sei-ner deutschen Bürger, die zu dieser Zeit bereitsvoll im Gange ist. Auflösung und Liquidierung al-ler kulturellen Institutionen: deutsche Museen,Bibliotheken, Theater, Zeitungen, Verlage u.a.Schließung oder Umprofilierung von Bildungs-stätten, Verbot des Unterrichts in deutscher Spra-che.7. September: Territorium der ASSR der Wol-gadeutschen geht an die Gebiete Saratow und Sta-lingrad.Durch geheime Beschlüsse des Staatlichen Vertei-digungskomitees vom 10. Januar, 14. Februar und7. Oktober werden im Laufe des Krieges ca.350.000 russlanddeutsche Jugendliche, Frauenund Männer zur Zwangsarbeit mobilisiert.Etwa 340.000 Schwarzmeerdeutsche, die in dennationalsozialistischen Herrschaftsbereich geratensind, werden beim Rückzug der Wehrmacht inden Warthegau umgesiedelt und erhalten die deut-sche Staatsbürgerschaft („Administrativumsied-ler“).Eine Reihe von Völkern, Tschetschenen, Kalmü-cken, Krimtataren u.a., werden kollektiv des Va-terlandsverrats beschuldigt und nach Sibirien undZentralasien deportiert.8. Januar: Regierungsverordnung über dieRechtsstellung der Deutschen und anderen depor-

23

1945

26.11.1948

5.3.1953

5.7.1954

1955

1957

6.4.1958

29.8.1964

1965

1970

1971-1982

3.11.1972

30.9.1973

1979

26.12.1980

28.12.1984

1986

1.1.1987

1989-1991

1989

9.11.1990

1991

tierten Völker. Einrichtung von Sonderkomman-danturen zur besseren Kontrolle der Sondersied-ler.8. (9.) Mai: Bedingungslose Kapitulation desDeutschen Reiches. Zwangsrepatriierung von ca.210.000 „Administrativumsiedlern“.

Verschärfung der Bedingungen für Deutsche undandere Sondersiedler durch ein Dekret, das dieVerbannung “auf ewig” festschreibt und für uner-laubtes Verlassen des Aufenthaltsortes 20 JahreZwangsarbeit vorsieht und auch verhängt.

Stalins Tod. Vorsichtige Liberalisierung der so-wjetischen Gesellschaft, beginnende Rehabilitie-rung der Opfer politischer Justiz, schrittweiseVerbesserung der Lage der deportierten Völker.

Regierungsbeschluss „Über die Aufhebung eini-ger Einschränkungen in der Rechtsstellung derSondersiedler“.

22. Februar: Bundesrepublik Deutschland er-kennt Einbürgerungen aus der Kriegszeit an.9.-13. September: Besuch von BundeskanzlerKonrad Adenauer in Moskau. Aufnahme diplo-matischer Beziehungen.13. Dezember: Erlass über die Aufhebung derEinschränkungen in der Rechtstellung der deut-schen Sondersiedler und ihre Befreiung von derKommandanturaufsicht.

Die Wiederherstellung der autonomen Gebieteund Republiken der Tschetschenen, Kalmücken,Balkaren, Karatschaen und Inguschen führt zuroffiziellen Beseitigung des Verratsvorwurfes,bringt eine begrenzte materielle Entschädigungmit sich und bewirkt ein gewisses sprachlichkul-turelles und soziales Fortkommen dieser Völker.Dagegen verweigert man den Deutschen (und denKrimtataren) jegliche substantielle Wiedergutma-chung.In Moskau erscheint die überregionale deutsch-sprachige Zeitung „Neues Leben“.

Deutsch-sowjetische Übereinkunft über die Zu-sammenarbeit des Roten Kreuzes eröffnet Per-spektiven für die Familienzusammenführung.

Aufgrund zahlreicher Protestbriefe und Eingabenerscheint ein Dekret über die Teilrehabilitierungder Russlanddeutschen.

Zwei Abordnungen von Russlanddeutschen rei-sen nach Moskau und versuchen vergeblich, eineWiederherstellung der deutschen Autonomie ander Wolga zu erreichen. Enttäuschung und ver-stärkter Wunsch, in die Bundesrepublik Deutsch-land auszuwandern, um dort Glaubens- und Ge-wissensfreiheit, rechtliche Gleichheit und dieerhoffte sprachlich-kulturelle Umgebung zu fin-den.In der Sowjetunion leben laut Volkszählung1.846.317 Deutsche. 66,8 % von ihnen gebenDeutsch als Muttersprache an; nur 342 Russland-deutsche dürfen ausreisen.12. August: Moskauer Vertrag zwischen derBundesrepublik Deutschland und der Sowjetuni-on.

Über 70.000 Russlanddeutsche profitieren vonder Ost-West-Entspannung. Sie dürfen nachDeutschland ausreisen.

Russlanddeutschen, Griechen, Bulgaren und Ar-meniern wird per Ukas zugesagt, dass sie wiederfrei ihren Wohnsitz wählen können.

In Karaganda, Kasachstan, demonstrieren etwa400 ausreisewillige Deutsche, die mit Gewaltauseinander getrieben werden.

Scheinversuch der Einrichtung eines deutschenautonomen Gebiets im Norden Kasachstans.

In Temirtau, Kasachstan, wird ein deutschspra-chiges Theater eröffnet, das 1990 nach Alma-Ataumzieht und heute nur noch ein bescheidenes Da-sein fristet, zumal die meisten Schauspieler nachDeutschland ausgereist sind.

Das Politbüro des ZK der KPdSU beschließtMaßnahmen gegen die „propagandistische Kam-pagne im Westen rund um die Lage der sowjeti-schen Bürger deutscher Nationalität in der So-wjetunion“.

Im Dezember finden schwere ethnische Unruhenin der kasachischen Metropole Alma-Ata statt,die zum ersten Mal öffentlich zur Sprache kom-men. Sie dienen als Ausgangspunkt für eine Aus-einandersetzung mit zahlreichen ungelösten Na-tionalitätenproblemen des Landes, darunter auchder Frage der deutschen Minderheit.

Nach dem Inkrafttreten des neuen sowjetischenGesetzes über die Ausreise und Einreise steigendie Aussiedlerzahlen und erreichen in den folgen-den Jahren ungeahnte Ausmaße.

Massive Proteste an der Wolga gegen die Rück-kehr der Deutschen und die Wiederherstellungder autonomen Republik.

In der UdSSR gibt es laut Volkszählung2.036.000 Deutsche; nur 48,7% von ihnen gebenDeutsch als Muttersprache an.Im März wird in Moskau die Gesellschaft „Wie-dergeburt“ gegründet, die sich als erstes Ziel dieWiedererrichtung der deutschen Autonomie setzt.14. November: Erklärung des Obersten Sowjetsder UdSSR „Über die Bewertung der Repres-sionsakte gegen Völker, die gewaltsam umgesiedeltwurden, als ungesetzlich und verbrecherisch undüber die Gewähr der Rechte dieser Völker“.

Ein Vertrag zwischen Deutschland und derUdSSR ermöglicht u.a. deutschen Sowjetbürgerndie Pflege ihrer nationalen, sprachlichen und kul-turellen Identität. Wird von Russland als Rechts-nachfolgerin der UdSSR übernommen.

24. April: Russland erklärt mit dem Gesetz„Über die Rehabilitierung der repressierten Völ-ker“ die seinerzeitigen Repressionen gegen Russ-landdeutsche und andere Völker für gesetzwidrigund verbrecherisch.1. Juli: In der Region Altai, Sibirien, wird der1938 aufgelöste deutsche Landkreis Halbstadtwieder hergestellt.

24

1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

8. Januar: In einer Rede im Gebiet Saratow er-teilt der amtierende Präsident der Russischen Fö-deration, Boris Jelzin, den Autonomieplänen eineunmissverständliche Absage.17. Februar: Erlass des Präsidiums des OberstenSowjets der Russischen Föderation über dieGründung des deutschen Landkreises Azowo imGebiet Omsk, Sibirien.21. Februar: Ukas „Über sofortige Maßnahmenzur Rehabilitation der Russlanddeutschen“, indem ein deutscher nationaler Rayon im GebietSaratow und ein deutscher Landkreis im GebietWolgograd vorgesehen sind. Diese Entscheidun-gen bleiben auf dem Papier.

Nach dem Zerfall der UdSSR und dem RücktrittGorbatschows am 25. Dezember 1991 haben sichdie Aktivitäten der ehemaligen Sowjetdeutschenin ihre Aufenthaltsorte in der GUS und inDeutschland verlagert. Die Ausreisezahlen errei-chen ungeahnte Ausmaße von 200.000 und mehrpro Jahr und können auch durch das Kriegsfol-genbereinigungsgesetz vom 1. Januar 1993 nichtgesenkt werden, da bereits zu viele ausreisewilli-ge Bürger der GUS auf gepackten Koffern sitzen.

Der Präsident der Ukraine, Leonid Krawtschuk,lässt die Nachricht verbreiten, 400.000 Deutschein ihren früheren Wohngebieten im Süden derUkraine aufzunehmen, doch bereits am 14. Aprilerklärt das deutschsprachige „Neue Leben“ inMoskau das Projekt Krawtschuks für gescheitert.

In Kiew wird die anlässlich der 200-Jahr-Feiervon Odessa 1994 konzipierte Wanderausstellung„Geschichte und Wirken der Deutschen in Odes-sa und im Schwarzmeergebiet“ präsentiert.In Moskau treten Wissenschaftler aus der GUSund Deutschland zusammen, um eine vierbändigeEnzyklopädie „Die Deutschen Russlands“ zu er-stellen.

Die Bundesregierung versucht durch die Ein-führung von Sprachtests und anderen restriktivenMaßnahmen die hohen Einwanderungszahlen(1995: 172 . 181) zu drosseln. In den folgendenzehn Jahren gehen die Zahlen kontinuierlich bisauf unter 10.000 im Jahr 2006 zurück.

Mai: Bundeskanzler Helmut Kohl bekräftigt beieinem Besuch in Almaty (Kasachstan) die Posi-tionen der Bundesregierung, indem er die Deut-schen zum Verbleib in Kasachstan ermutigt,gleichzeitig aber die Rechtsposition bestätigt,dass Deutsche auch weiterhin nach Deutschlandausreisen dürfen.2. September: Bundespräsident Roman Herzogeröffnet in Moskau ein Haus der Russlanddeut-schen als Zentrum der Begegnung von Deutschenund Russen. Mit deutscher Hilfe entstehen ähnli-che Begegnungsstätten auch im Raum St. Peters-burg, in Kasachstan und im Altaigebiet.

23. August: Einweihung eines neuen Got-teshauses der Baptisten in Kaliningrad.29. Oktober: Die evangelischen Christen inKiew erhalten ihre 1938 enteignete Katharinen-kirche zurück.

In der Nähe von St. Petersburg werden die erstenWohnhäuser für deutsche Umsiedler fertig.Deutschsprachige Veranstaltungen erhalten über-raschend starken Zulauf.

Der Nachfolger von Dr. Horst Waffenschmidt(CDU) als Aussiedlerbeauftragter der Bundesre-gierung, Jochen Welt (SPD), verspricht keineKehrtwende, aber neue Akzente in der Aussied-lerpolitik in Richtung kleinerer, aber gezieltererProjekte.In Russland gibt es vier Apostolische Administra-turen (die 2002 zu Diözesen erhoben werden), ca.200 registrierte Pfarreien, davon 40 ohne eigeneKirche. Die Priester kommen größtenteils ausdem Ausland.

Wladimir Putin löst Boris Jelzin als Präsident derRussischen Föderation ab. Die Welt erwartet vonihm mehr Demokratie. Die Russlanddeutschenwarten ebenfalls ab und richten ihre Blicke wei-terhin in Richtung Deutschland.In Irkutsk wird im September 2000 die „Kapelledes Friedens und der Versöhnung“ eingeweiht,eine Gedenkstätte mit 14 Tafeln, auf denen dieNamen der schlimmsten Straflager der UdSSReingemeißelt sind.

Papst Johannes Paul II. wendet sich bei einemBesuch Kasachstans an die Deutschen und sagt:“Durch eure Leistungen ist es euch gelungen, dieLebensleistungen in diesem weiten Land zu ver-bessern.”

In Moskau findet im Mai ein dreitägiges deutsch-russisches Jugendforum unter der Schirmherr-schaft der Ehefrauen von Wladimir Putin undGerhard Schröder statt.

Aus Nischni Tagil und Krasnoturinsk im mittle-ren Ural sowie zahlreichen anderen Städten Russ-lands werden Initiativen zum Gedenken an denJahrestag des Ukases vom 28. August 1941 überdie Verbannung der Russlanddeutschen gemeldetund Gedenktafeln enthüllt.

28. August: Einweihung einer russlanddeutschenGedenkstätte in Archangelsk.Zunehmende Aktivität vermeldet die russischeMenschenrechtsorganisation „Memorial“, diesehr umfangreiche Gedenkbücher mit Tausendenvon Namen und Daten aus den sowjetischenKriegs- und Terrorjahren veröffentlicht. Am 5.Dezember erhält die Gesellschaft den „Alternati-ven Nobelpreis“.1. Januar: Das Zuwanderungsgesetz tritt inKraft.Dezember: Im Altai wird nach 48 Jahren mit der“Zeitung für Dich” die dienstälteste deutschspra-chige Zeitung in Russland geschlossen.

Im Juni spricht Bundeskanzlerin Angela Merkelanlässlich ihres Russlandbesuches in Tomsk mitRusslanddeutschen. “Es war ein sehr offenes undsehr intensives Gespräch, oft mit unterschiedli-chen Meinungen”, beschreibt die Bundeskanzle-rin selbst ihre Eindrücke von der Reise nach Sibi-rien.

25

Gleich nach dem Tod Stalins setzte eine Rehabilitie-rung von Opfern der politischen Strafjustiz ein. Die-se war allerdings vorerst auf Angehörige der Füh-

rungselite und einige Opfergruppen der späten 1940er undfrühen 1950er Jahre beschränkt. Die Geheimrede NikitaChruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Feb-ruar 1956, in der er zwar bruchstückhaft, aber deutlich ge-nug das Ausmaß der von Stalin begangenen Verbrechenvor Augen führte, gab der „Wiederherstellung der sozialis-tischen Gesetzlichkeit“ zusätzlichen Antrieb.Zwischen 1954 und 1961 wurden 737.182 Personen gerichtlichrehabilitiert. In den 26 Jahren von 1962 bis 1987 wurden jedochnur noch 157.055 willkürliche Urteilssprüche aufgehoben. Un-ter diesen größtenteils nach ihrem Tod Rehabilitierten befandensich auch Zehntausende von Russlanddeutschen, die bis in die1950er Jahre hinein zu Opfern der politischen Strafjustiz ge-worden waren.Die Grenzen der Wiedergutmachungspolitik waren jedoch sehreng gezogen: In Betracht gezogen wurden lediglich strafrechtli-che Verurteilungen durch ein ordentliches Gericht bzw. durchandere Organe mit gerichtlichen Befugnissen. Folgende Un-rechtstaten konnten weder juristisch angefochten werden nochzu Schadensersatzklagen führen:

" willkürliche Erschießungen und Verhaftungen während desBürgerkriegs;

" Enteignungen im Zuge der Kollektivierung;" Deportationen und Verbannungen;" Auflösung der Wolgadeutschen Republik;" Einweisungen in Zwangsarbeitslager.

Ende der SonderkommandanturGleichzeitig verbesserte sich Schritt für Schritt die Situation derdeportierten Völker: Am 5. Juli 1954 erließ der Ministerrat der

Sowjetunion die Verordnung „Über die Aufhebung einiger Ein-schränkungen in der Rechtsstellung der Sondersiedler“, derzu-folge Kinder bis zum 16. Lebensjahr von der Registrierung alsSondersiedler befreit wurden. Erwachsene mussten sich jetztnur noch einmal im Jahr anmelden und konnten ihren Wohnortin den Grenzen einer Verwaltungseinheit (Gebiet, Region) selb-ständig wechseln. Ferner wurden Geldstrafen und Arreste we-gen Verstößen gegen das Sonderregime abgeschafft.Einige Tage später folgte die Aufhebung des Erlasses vom 26.November 1948, der die Verbannung auf “ewig” festgelegt hat-te. Und schließlich schaffte das Präsidium des Obersten So-wjets der UdSSR im Erlass vom 13. Dezember 1955 den Statusals Sondersiedler für die Deutschen ab. Einige Monate spätererfolgte das auch für andere deportierte Völker.

Keine vollständige Wiederherstellungder RechteBei aller Bedeutung dieser Erlasse und Anordnungen kann kei-ne Rede davon sein, dass die Rechte der Opfer des Stalinismusvollständig wieder hergestellt wurden. Auf den Deutschen las-tete weiterhin der Vorwurf des Vaterlandsverrates. Eine Art re-gierungsamtlicher Begnadigung fand allein deshalb statt, weildie Beschränkungen der Rechte dieser Personen für „nichtmehr notwendig“ erachtet wurden. Für Stalins “Erben” gab eskeinen Zweifel an der Richtigkeit der Deportationsmaßnahmen.Unmissverständlich kam das in dem Erlass vom 13. Dezember1955 zum Ausdruck. Darin wurde erklärt, dass die Verbannten„nicht das Recht haben, an die Orte zurückzukehren“, aus de-nen sie ausgesiedelt worden waren. Außerdem heißt es in demErlass, dass die Aufhebung des Status von Sondersiedlern nicht„die Rückgabe des Vermögens, das bei der Verschickung kon-fisziert worden ist“ nach sich ziehe. Die Betroffenen musstenschriftlich auf die Rückkehr in ihre früheren Wohnorte und ihrVermögen verzichten.

Nach Stalins Tod: Zögerliche Teilrehabilitierung

1993, Friedhof von Iwanowka, Gebiet Semipalatinsk: Gedenken an die Opfer der stalinistischen Repressionen. Bild: Jakob Hettinger

26

Die ungesühnten Verbrechen des Stalinis-mus und fortgesetzte Benachteiligungenlösten bei einem beträchtlichen Teil der

Deutschen eine Protesthaltung aus, die sich in ver-schiedenen Formen äußerte.

Halbherzige WiedergutmachungZum einen handelte es sich um Bemühungen zurWiederherstellung der autonomen Republik. Zahlrei-che Eingaben, Bittschriften und Vorsprachen führtendazu, dass im Frühling 1964 eine vom ZK derKPdSU eingesetzte Kommission sich mit dieser An-gelegenheit befasste.Die Parteispitze entschloss sich zu einem halbherzi-gen Wiedergutmachungsakt: Am 13. August wurdedem Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR derEntwurf eines Ukases zur wolgadeutschen Frage vor-gelegt. Das oberste Staatsorgan bestätigte zwei Wo-chen später die eingereichte Vorlage im Wortlaut,und so entstand der bekannte Erlass vom 29. August1964. Dieser Rechtsakt hob allerdings nur die An-schuldigungen einer aktiven Unterstützung Hitler-Deutschlandsauf.Zwei Abordnungen deutscher Aktivisten sprachen im Januarund Juli 1965 mit den Verantwortlichen in Moskau über dievollständige Rehabilitation der Volksgruppe. Sie konnten ihrZiel aber nicht erreichen. Bezeichnend die Reaktion des einstglühenden Bolschewiken und jetzigen Leiters der zweiten Dele-gation, Friedrich Schessler. Hinsichtlich der Verweigerungspo-litik der zentralen und lokalen Behörden meinte er: „Darüberempfindet man nur Abscheu, und manchmal will man einfachdiesen Dreck nicht sehen, diesen ganzen Mist, an den manfrüher geglaubt hatte, dem man huldigte und den man verehrtewie ein Heiligtum.“

AuswanderungsbestrebungenDurch die Absage an die Gleichstellung der deutschen Minder-heit bekamen zum anderen die Befürworter einer Auswande-rung in die Bundesrepublik zusätzlichen Auftrieb. Der Ent-schluss auszureisen fiel umso leichter, als die sowjetische Poli-tik der Enteignung und Vertreibung den einst fest verwurzeltendeutschen Bauern oder Handwerker zu einem mittellosen Prole-tarier herabgewürdigt hatte.Der Wunsch, die Sowjetunion zu verlassen, war vor allem beidenjenigen Schwarzmeerdeutschen stark ausgeprägt, die 1941unter reichsdeutsche bzw. rumänische Besatzung geraten und1943-44 in den Warthegau oder das Altreich umgesiedelt wor-den waren. Fast alle hatten zu dieser Zeit die deutsche Staats-bürgerschaft erworben.Die Sowjetunion erkannte ihre Einbürgerung niemals an und“repatriierte” die etwa 210.000 so genannten Administrativum-siedler, größtenteils gegen ihren Willen. Sie verhielten sich kri-tisch dem Sowjetstaat und der kommunistischen Ideologie ge-genüber. Zumal fast jeder von ihnen eine Liste von Verwandtenvorzeigen konnte, die durch sowjetische Organe enteignet, ver-folgt, zwangsausgesiedelt oder ermordet worden waren.Die Bundesrepublik erkannte diese Personen 1955 als Deutscheim Sinne des Grundgesetzes an. Dadurch waren die Vorausset-

zungen zu ihrer Einwanderung und Eingliederung geschaffen.Der Sowjetstaat antwortete mit einer teilweisen Zulassung der„Familienzusammenführung“, vor allem aber mit Unterdrü-ckungsmaßnahmen: Allein in den Jahren 1974 bis 1977 wurdennicht weniger als 42 ausreisewillige Deutsche wegen ihrem An-sinnen verhaftet und abgeurteilt.

Rückhalt im GlaubenSchließlich fanden viele Deutsche geistigen Halt und Gebor-genheit in kirchlichen Gemeinschaften. Nach Aufhebung desSonderregimes und der vorzeitigen Entlassung der verurteiltenPrediger und Gläubigen aus den Straflagern ab Mitte der1950er Jahre entstanden Hunderte von Brüdergemeinden.Allein in den Jahren 1962-64 wurden jedoch Dutzende deut-scher Prediger und Gemeindemitglieder verurteilt oder aus ih-ren Wohnorten vertrieben; in erster Linie waren davon die Ini-tiativ-Baptisten betroffen. Ende der sechziger Jahre nahmen dieDrangsalierungen wieder zu. So verurteilte im April 1969 einVolksgericht im Gebiet Alma-Ata Iwan (Johann) Stephan undAlbin Klassen zu drei Jahren Straflager. Ihnen wurde zur Lastgelegt, Literatur „verleumderischen Charakters über die sowje-tische Wirklichkeit“ zu besitzen sowie diese vervielfältigt undunter ihren Glaubensbrüdern verbreitet zu haben. Ferner hättensie eine Sommerschule für Kinder organisiert, in der sie “Min-derjährige in Religionslehre unterrichteten”.Auswanderungswillige, Militärdienstverweigerer, Mitgliedernicht registrierter Kirchengemeinden, Empfänger ausländischerHilfspakete und Aktivisten der Bewegung für die Wiederher-stellung der Wolgadeutschen Republik waren dem moralischemDruck seitens Arbeitskollegen und gesellschaftlicher Organisa-tionen wie der Kommunistischen Partei, dem JugendverbandKomsomol oder den Gewerkschaften ausgesetzt. Oft wurdensie eingeschüchtert, überwacht und geheimpolizeilich und straf-rechtlich verfolgt.Mit dem beharrlichen Einfordern ihrer religiösen, bürgerlichenund nationalen Rechte leisteten die Russlanddeutschen ihrenBeitrag zum Zusammenbruch des sowjetischen Unrechtsstaates.

Protest, Verweigerung und Widerstandin einem Unrechtstaat

Teilnehmer der zweiten Delegation der Russlanddeutschen, die 1965 in Moskaudie Wiederherstellung der Wolgarepublik forderte. Erste Reihe, 4. von rechts:Friedrich Schessler; die Frau hinter ihm ist Maria Vogel, die Mutter des welt-berühmten Komponisten Alfred Schnittke. Quelle: Privatarchiv M. Helfenbein.

27

Die allgemeine Liberalisierungnach Stalins Tod und die Auf-hebung der Kommandantur-

aufsicht 1955 führten an offiziellerStelle zu verstärkten Bemühungenum eine bessere Eingliederung derehemaligen deutschen Sondersiedlerund Zwangsarbeiter in die Arbeits-und Sozialverhältnisse der Sowjetge-sellschaft.

Für die Betroffenen bedeutete das bei-spielsweise:

" Es eröffneten sich Möglichkeiten ei-ner begrenzten Orts- und Berufs-wahl.

" Ermöglicht wurde auch ein offenerZugang zur allgemeinbildenden Mit-telschule und zur Fachausbildung.

" Teilweise wurden sie zum Studiuman Hochschulen zugelassen, vor-nehmlich im technischen, landwirt-schaftlichen und pädagogischen Be-reich.

" Eine vorsichtige Parteiaufnahme setzte ein, und Russland-deutsche wurden wieder in die sowjetische Armee rekru-tiert.

" Man leitete Schritte zur geringfügigen Berücksichtigung na-tionaler Bedürfnisse ein. Das führte zur Zulassung einerzentralen und zweier regionaler deutschsprachiger Zeitun-gen, zur Ausstrahlung von Radiosendungen, zur Einführungdes Schulfaches “Deutsch als Muttersprache” in bescheide-nem Umfang und zur Genehmigung einiger Gesang- undTanzgruppen.

Im Gegensatz zu anderen deportierten Völkern wie den Tsche-tschenen, Kalmücken oder Balkaren lehnte die Sowjetführungdie Wiederherstellung der gesetzwidrig aufgelösten AutonomenRepublik der Wolgadeutschen hartnäckig ab. Dieser Umstandbrachte schwerwiegende Nachteile mit sich und verhinderteeine wirkliche Gleichstellung der Deutschen mit anderen So-wjetvölkern. Im Vielvölkerstaat UdSSR waren wichtige politi-sche, sprachliche, kulturelle und andere Rechte einzelner Völ-ker an das Vorhandensein einer Gebietsautonomie gebunden.Im Einzelnen seien genannt:

" ungehinderter Zugang zum Studi-um (Universität, pädagogischeund technische Hoch- und Fach-hochschulen);

" berufliche Aufstiegschancen;" Unterricht in der Muttersprache;" kulturelle Förderung (nationaleMuseen, Theater, Kultur- und Ge-schichtsinstitute, Verlage, Zei-tungs- und Zeitschriftenwesenetc.);

" politische Vertretung und Teilha-be an der Macht.

Nehmen wir als Beispiel das GebietNowosibirsk. Dort waren die Deut-schen laut der Volkszählung von1979 in anspruchslosen manuellenBerufen überdurchschnittlich starkvertreten. Die Deutschen stellten2,4% der Bevölkerung des Gebietes,aber 6,3% aller Traktorführer und9,1% der Schweinezüchter. Dagegenwar ihr Anteil in intellektuellen Be-

1956-1985: Nur teilweise Normalisierung -Benachteiligungen halten an

Von 1.000 Personen der jeweiligen Altersgruppe besaßenAltersgruppen 1979 in Kasachstan einen Hochschulabschluss

Deutsche Kasachen Russen Tataren Usbeken10 Jahre und älter 24 56 69 61 40davon20-29-Jährige 40 88 90 76 6230-39-Jährige 68 154 144 124 10540-49-Jährige 26 107 101 86 7950-59-Jährige 11 58 61 65 3860-69-Jährige 13 20 26 37 2070-Jährige und älter 7 4 13 13 4

Demonstratration in den 1970er Jahren gegen die Diskriminierung der Deutschen in derSowjetunion.

Anzahl der Parteimitglieder auf 1.000 Personen entsprechenderStichjahr Nationalität in Kasachstan

Deutsche Kasachen Russen Ukrainer Tataren Koreaner1959 3,8 39,4 32,7 44,3 33,2 31,21970 16,0 45,1 44,0 63,2 40,4 52,31979 27,1 53,3 49,6 70,3 48,1 62,41989 32,0 53,8 51,8 70,1 52,9 64,6

28

schäftigungen verschwindend gering. Bei Hochschullehrernwaren es 0,85%, bei Literaten 0,71% und bei Führungskräften0,69%.Mitgliedschaft in der Partei und universitäre Bildung warenVoraussetzungen für gesellschaftliches Ansehen und sozialenAufstieg in der Sowjetunion. Doch gerade hinsichtlich der aka-demischen Ausbildung war die deutsche Minderheit gegenüberanderen etablierten Nationalitäten deutlich ins Hintertreffen ge-raten. Dieser Rückstand verlief quer durch alle Altersgruppen.

Besonders schwer hatten es die Angehörigen der Erlebnisgene-ration der Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre. Sie wiesen dengeringsten Anteil an Gebildeten auf und konnten diesen Nach-teil auch mit Fern- oder Abendstudium nicht mehr wettmachen.Auf der anderen Seite verlor die höhere Fachausbildung ab den1960er Jahren an Bedeutung und Attraktivität. Deren Absol-venten konnten bestenfalls die untersten Führungspositionen(Brigadier, Farm- oder Abteilungsleiter) besetzen. Angesichtsdes dauerhaften Mangels an Bewerbern wurden sogar praktizie-

Jakob Geringgeb. 1932, gest. 1984

Einer der bekanntesten Landwirtschaftsleiter in der Sowjetuni-on, Vorsitzender der rentabelsten Kolchose in Kasachstan,„Held der sozialistischen Arbeit“, Abgeordneter des OberstenSowjets der UdSSR, Träger von Staatspreisen. Gering wurde

in der Winzersiedlung Luxemburg (ehem. Katharinenfeld) inGeorgien geboren und 1941 nach Kasachstan deportiert.Eine Zeitlang arbeitete er in Kohlengruben, verspürte aber Bil-dungsdrang und schloss 1956 ein veterinärmedizinischesTechnikum ab. Ab 1959 stand er der Kolchose „30 Jahre Ka-sachstan“ im Gebiet Pawlodar vor. Mit Hilfe von Bewässe-rungsanlagen und Rassezüchtung von Milchkühen legte er den

Grundstein für den wirtschaftlichen Erfolg des Betrie-bes. Guten Absatz fanden Erzeugnisse aus mehrerenTierfarmen und Gewächshäusern, aus der eigenen Zie-gelei, der Mineralwasser- und Wurstfabrik. In derZentralsiedlung Konstantinowka, 1907 von deutschenÜbersiedlern aus dem Schwarzmeergebiet gegründet,befanden sich neben einem modernen Krankenhauseine wissenschaftliche Versuchstation, eine Musik-schule, ein landwirtschaftliches Technikum und ein inder Sowjetunion einmaliger Dorf-Zoo.Gering war ein selbstbewusster Mensch und leugnetenie seine Herkunft. Zeit seines Lebens schmerzte ihndie bedrängte Lage seiner Landsleute. Gering ließ imDorf ein Heimatmuseum einrichten, das die Geschich-te der deutschen Einwanderung nach Kasachstan undihr Leben zeigte. Tatkräftig unterstützte er das 1974gegründete und später im ganzen Land bekannte Folk-loreensemble „Ährengold“. Er regte an, dass dieKolchose jährlich die besten Werke russlanddeutscherAutoren mit Geldpreisen würdigte.

Aussicht auf Konstantinowka, Gebiet Pawlodar, die Zentralsiedlung der pro-fitabelsten Kolchose in Kasachstan, der Jakob Gering mehrere Jahre vor-stand. Quelle: Ost-West-Dialog 2/1997, S. 58.

Feldarbeiter in Kirgisien in den 1960er Jahren.

29

rende Gläubige zur Ausbildung zugelassen. Daher durften dieDeutschen relativ ungehindert qualifizierte technische, sozialeund Arbeiterberufe erlernen.Während des Krieges und unter der Sonderaufsicht gab es fürdie Deutschen keine Aufnahme in die herrschende Kommunis-tische Partei. Im Laufe der Zeit sahen die ideologischen Organejedoch ein, dass Parteimitgliedschaften und Aufstiegsmöglich-keiten bis zu einem gewissen Grad zugelassen werden mussten,um die Deportierten besser kontrollieren zu können.Unter den Funktionären auf Rayons-, Gebiets- oder Republiks-ebene stellten die Deutschen jedoch nur eine verschwindendkleine Minderheit. Das legt den Schluss nahe, dass ihnen vonAnfang an nur die Rolle einfacher Parteisoldaten zugedachtwar. Wie aus der Zusammenstellung auf der vorigen Seite her-vorgeht, waren sie in der Kommunistischen Partei stets schwä-cher vertreten als andere Völker.Gemäß der Devise “Teile und herrsche!” versuchte die Mos-kauer Führung 1979 ein deutsches autonomesGebiet unweit von Zelinograd (heute Astana) zugründen. Dieses Vorhaben, das selbstverständ-lich mit den Betroffenen nicht abgesprochenwar, scheiterte am Widerstand der kasachischenFunktionäre und der örtlichen Bevölkerung.In der Regel wurden die Deutschen von ihrenKollegen und Vorgesetzten als zuverlässige undtüchtige Arbeitskräfte hoch geschätzt. In ihrenSiedlungsgebieten kam es nur selten zu Konflik-ten mit Angehörigen anderer Völker; mit ihrenNachbarn kamen sie offensichtlich gut aus. DieZahl der Mischehen, vor allem mit russischenund ukrainischen Partnern, nahm nach der Auf-hebung des Sondersiedlerstatus ständig zu. Daskann als deutliches Zeichen für eine fortschrei-tende Normalisierung im Alltagsleben gewertetwerden. Es sollte allerdings nicht unerwähntbleiben, dass Feindseligkeiten und Beleidigun-gen - als Deutsche oder Faschisten - noch bisin die 1980er Jahre hinein keine Ausnahme wa-ren.Obwohl in der intellektuellen Entwicklung starkunterdrückt, hinterließen die Deutschen auch imgeistigen und gesellschaftlichen Leben der So-wjetunion nicht zu übersehende Spuren. Mandenke nur an bedeutende Wissenschaftler, Mit-glieder der Akademie der Wissenschaften derUdSSR, wie Boris Rauschenbach (1915-2001)und Eugen Pinnecker (1926-2001), oder an Er-win Gossen und Ernst Boos, beide Mitgliederder Nationalen Akademie der Republik Ka-

sachstan. Welt-berühmt sinddie Namen derPianisten Swja-toslaw Richter(1915-1997)und RudolfKehrer, derOlympiasiegerim Gewichthe-ben, RudolfPflugfelder undDavid Riegert,oder der Schau-spieler Aliceund BrunoFreundlich(1909-2002).

Republiken und Regionen Volkszählung Volkszählung17. Jan. 1939 12. Jan. 1989

UdSSR insgesamt 1.427.232 2.038.341davon RSFSR 862.504 842.033unter anderem in:ASSR der Wolgadeutschen* 366.685 --Gebiete Saratow undStalingrad (Wolgograd) 66.721 45.076Nordkaukasus (ohneautonome Republiken) 109.994 52.453Sibirien 105.391 470.763ASSR Krim** 51.299 --Ural 38.441 157.447andere Regionen der RSFSR 123.673 116.294

Ukrainische SSR 392.458 37.849Kasachische SSR 92.571 957.518Aserbeidschanische SSR 23.133 748Georgische SSR 20.527 1.546Kirgisische SSR 11.741 101.309Usbekische SSR 10.049 39.809Weißrussische SSR 8.448 3.517Turkmenische SSR 3.346 4.434Tadschikische SSR 2.022 32.671Armenische SSR 433 265Moldauische SSR -- 7.335Estnische SSR -- 3.466Lettische SSR -- 3.783Litauische SSR -- 2.058

Territoriale Verschiebungen nach 1941Vor dem Zweiten Weltkrieg wohnten nur etwa 20% der Russlanddeutschenim asiatischen Teil der Sowjetunion. Die meisten von ihnen lebten in kompak-ten Siedlungsgebieten auf dem Land. 50 Jahre später waren sie verstreut vorallem in Kasachstan und Kirgisien, in Sibirien und dem Ural anzutreffen. Dortlebten die meisten Deutschen nun in Städten (52,8%) und auf dem Land(47,2%) zusammen mit Angehörigen anderer Völker und unterschiedlicherKonfessionen.

* Nach 1941 wurde das Territorium der ASSR der Wolgadeutschen zwischen denGebieten Saratow und Stalingrad (seit 1961 Wolgograd) aufgeteilt.** Nach 1954 gehörte das Gebiet Krim (seit 1990 wieder eine Autonome Republik)zur Ukraine.

Anerkennung für geleistete Arbeit.

Boris Rauschenbach

30

Die Liberalisierung nach dem Machtantritt von Mi-chail Gorbatschow schuf gewisse Voraussetzungenfür die unvoreingenommene Aufarbeitung der Ge-

schichte der deutschen Minderheit und ihre vollständigeRehabilitation.Die Wichtigkeit der nationalen Frage wurde der Kremlführungerst nach schweren ethnischen Unruhen in der kasachischenMetropole Alma-Ata im Dezember 1986 deutlich genug be-wusst. Die nationale Erhebung wurde diesmal nicht wie üblichverschwiegen und bildete den Ausgangspunkt für eine immeroffenere Diskussion über ungelöste Nationalitätenprobleme.Unter den Deutschen bildeten sich Gruppen von Aktivisten, die1988 eine dritte und danach eine vierte Delegation nach Mos-kau zusammenstellten, die die Wiederherstellung der Wolga-republik forderten. Vor allem Intellektuelle nahmen an diesemKampf teil. Als namensgebende Nation einer künftigen Ge-bietsautonomie erhofften sie sich bessere Chancen im hartenKampf um Studienplätze an Universitäten oder Stellen für Aka-demiker bzw. größere Aufstiegsmöglichkeiten. Besonders galtdas für Kasachstan und die anderen zentralasiatischen Re-publiken. Als engagierte Vertreterin der nationalen Interessentrat die im März 1989 gebildete Gesellschaft „Wiedergeburt“auf.Zum ersten Mal seit mehr als 50 Jahren fand im Juni 1989 inAlma-Ata eine wissenschaftliche Konferenz über die Geschich-te und Kultur der deutschen Minderheit statt. Zahlreiche Beiträ-ge in Zeitungen und Zeitschriften, Radio- und Fernsehsendun-gen sowie wissenschaftliche Veröffentlichungen gingen auf dieGeschichte und Gegenwart der lange Zeit totgeschwiegenenMinderheit ein. Und es wurde über die Bedeutung der Deut-schen für die geistige, wirtschaftliche und politische Entwick-lung Russlands berichtet.Das im Dezember 1980 eröffnete Deutsche Theater in Temirtau(später in Alma-Ata) veranstaltete mit viel Erfolg Festivals derdeutschen Kultur und Kunst. Gesellschaftliche und kulturelleAktivitäten wurden im Wesentlichen von der berechtigtenHoffnung auf eine positive Lösung des „deutschen Problems“getragen.

Meilensteine auf dem Weg zur Wiederherstellung der ge-schichtlichen Gerechtigkeit stellten die beiden folgendenRechtsakte dar:

" die Erklärung des Obersten Sowjets der UdSSR „Über dieBewertung der Repressionsakte gegen Völker, die gewalt-sam umgesiedelt wurden, als ungesetzlich und verbreche-risch und über die Gewähr der Rechte dieser Völker“ vom14. November 1989;

" das Gesetz der Russischen Föderation „Über die Rehabilitie-rung der repressierten Völker“ vom 26. April 1991.

Nicht vergessen werden darf die ehrenhafte Tätigkeit von Men-schenrechtsorganisationen wie “Memorial”. Sie kümmern sichum eine vollständige Rehabilitierung der Opfer der staatlichenWillkür und sind maßgeblich am Abbau von antideutschenVorurteilen beteiligt.Immer wieder kam es jedoch zu Rückschlägen. Zu schwerwie-gend waren die patriotischen, großrussischen, antiwestlichen,und deutschfeindlichen Hinterlassenschaften des Stalinismus.Und zu tiefe Spuren hatte der propagandistische Missbrauchder Kriegserinnerungen in der sowjetischen bzw. russischenGesellschaft hinterlassen.Um so erfolgreicher konnte daher die ortsansässige Bevölke-rung an der Wolga Ende der 1980er und Anfang der 1990erJahre gegen die Wiederherstellung der Deutschen autonomenRepublik aufgebracht werden. Man bediente sich dabei - offenund verborgen - deutschfeindlicher Schlagworte, die an die hel-denhaften Kriegsjahre und Feindbilder des Kalten Krieges an-knüpften.Der Ende der 1980er Jahre erneut unternommene Versuch, dieRusslanddeutschen zu einem gleichberechtigten sowjetischenbzw. russischen Volk mit einem autonomen Gebiet werden zulassen, scheiterte. Unter den veränderten politischen Rahmen-bedingungen entlud sich der über Jahrzehnte angestaute Unmutin einer riesigen Auswanderungswelle, die das seit 1941 beste-hende Problem der deutschen Minderheit nun endgültig zu lö-sen scheint.

Perestrojka:Politischer Aufbruch

und kulturelle Wiederbelebung

Während die einen (linkes Bild) gegen die Wiederherstellung der deutschen Autonomie an der Wolga demonstrierten, baten die anderen dieDeutschen, in der Sowjetunion zu bleiben.

31

32

Im April 1991 verabschiedete der Oberste Sowjet derRussischen Sowjetrepublik ein Gesetz „Über die Reha-bilitierung der repressierten Völker“, das nach dem

Zerfall der Sowjetunion in den Rechtsbestand der Russi-schen Förderation übernommen wurde und zur Aufarbei-tung von Unrechtsakten aufforderte, die der sowjetischeStaat gegen bestimmte Nationalitäten seines Staatsgebietesausgeübt hatte.Zu den Betroffenen der aufzuarbeitenden national motiviertenDiskriminierung und Entrechtung gehören die Deutschen, diesich als Russlanddeutsche (Sowjetdeutsche) im Laufe von über250 Jahren beträchtliche Verdienste um Wirtschaft, Wissen-schaft, Kultur und Staatsaufbau des Landes erworben hattenund dennoch besonderen Repressionen ausgesetzt waren.Das Anliegen dieser Gesetzgebung ist bisher nur teilweiseeingelöst.Inzwischen liegt der russischen Duma bereits die neunte Versi-on eines Gesetzes zur Rehabilitierung der Russlanddeutschenvor. Das russische Parlament tut sich mit einer Entscheidungzugunsten der deutschen Volksgruppe schwer, die vor allemnach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion zu unschuldigen undwehrlosen Opfern von Stalins Rache wurde.So notwendig uns eine gesetzliche Rehabilitierung der Russ-landdeutschen erscheinen mag, der deutsche Staat kann auf denrussischen Gesetzgeber kaum Einfluss nehmen. Während aberdas russische Parlament um Rehabilitierung für die Russland-deutschen ringt, muss sich die deutsche Politik kritisch die Fra-ge stellen, ob sie die Aufgabe noch ernst nimmt, das schwereKriegsfolgenschicksal dieser Deutschen in den Nachfolgestaa-ten der Sowjetunion überwinden zu helfen.In den Wirbeln einer allgemeinen Integrationsdebatte droht diespezifische Verantwortung unterzugehen, die der deutsche Staatgegenüber den Deutschen aus den Nachfolgestaaten der So-wjetunion übernommen hat.Ausländerrechtliche Beschränkungen, die etwa der Unterbin-dung des Familiennachzuges von Zwangsverheirateten ausAnatolien dienen sollen, drohen unversehens zum Hinderungs-grund für die integrationspolitisch wünschenswerte gemeinsa-me Ausreise russlanddeutscher Kernfamilien zu werden.Wer im gesellschaftlichen Leben unseres Landes heimisch wer-den will, braucht deutsche Sprachkenntnisse. Die apodiktischeForderung an russlanddeutsche Familien nach dem Nachweiseines bestandenen Sprachtestes als Voraussetzung für eine Auf-nahme in Deutschland verkennt aber wesentliche Aspekte derEntwicklung dieser Volksgruppe. Es war die stalinsche Repres-sionspolitik, die dazu führte, dass die Menschen trotz ihrer imPass und Namen erkennbaren Nationalität vielerorts nicht mehrals deutsche Sprachgemeinschaft, wohl aber als deutscheSchicksalsgemeinschaft leben.Wir stehen also vor der Frage, ob wir bei unseren Bemü-hungen um nachhaltige Integration von Zuwanderern be-reit sind, der besonderen Verantwortung für Spätaussiedlerden erforderlichen Raum zu geben.Aussiedlerpolitik hat als Beitrag zur Bewältigung von Kriegs-folgen immer einen besonderen Stellenwert gehabt und verdientihn auch weiterhin. Es war das besondere Verdienst der damali-gen Bundesregierung, namentlich von Horst Waffenschmidt,dass sie nach dem Fall des Eisernen Vorhanges unseren beson-deren Verpflichtungen gegenüber den Russlanddeutschen enga-giert nachgegangen ist. Diese Politik braucht unter den gegebe-

nen Umständen eine angemessene Fortsetzung. Nur so werdenwir die Chancen dieser Politik nutzen können, die darin besteht,dass Russlanddeutsche kulturelle und wirtschaftliche Brückenzwischen Deutschland und Russland, aber auch zu den mittel-asiatischen Staaten der ehemaligen UdSSR schlagen können.

Bundesministerium des Innern

Verantwortung für die Schicksalsgemeinschaftder Russlanddeutschen

1950 01951 1.7211952 631953 01954 181955 1541956 1.0161957 9231958 4.1221959 5.5631960 3.2721961 3451962 8941963 2091964 2341965 3661966 1.2451967 1.0921968 5981969 3161970 3421971 1.145

1972 3.4201973 4.4931974 6.5411975 5.9851976 9.7041977 9.2741978 8.4551979 7.2261980 6.9541981 3.7731982 2.0711983 1.4471984 9131985 4601986 7531987 14.4881988 47.5721989 98.134

1990 147.9501991 147.3201992 195.5761993 207.3471994 213.2141995 209.4091996 172.1811997 131.8951998 101.5501999 103.5992000 94.5582001 97.4342002 90.5872003 72.2892004 58.7282005 35.3962006 (Jan.bis. Okt.) 5.983

Deutsche Aussiedleraus der ehemaligen Sowjetunion

1950 bis Oktober 2006

Insgesamt:2.340.317

HerkunftsländerJanuar bis Dezember 2005

Herkunftsland Anzahl in Prozent

Russische Föderation 21.113 59,6Kasachstan 11.206 31,7Ukraine 1.306 3,7Kirgisien 840 2,4Usbekistan 307 0,9Weißrussland 236 0,7Moldau 130 0,4Turkmenistan 72 0,2Lettland 43 0,1Aserbeidschan 34 0,1Estland 32 0,1Litauen 30 0,1Georgien 22 0,1Tadschikistan 15 0,04Armenien 10 0,03Insgesamt 35.396 100,0

33

Um die Bleibewilligkeit der Angehörigen der deut-schen Minderheit in den Herkunftsländern zu er-höhen, unterstützt die Bundesregierung sie durch

kulturelle, wirtschaftliche, humanitäre und gemeinschafts-fördernde Maßnahmen.

Die Angehörigen der Minderheiten sollen durch gezielte Blei-behilfen in die Lage versetzt werden, als eigenverantwortlicheStaatsbürger ihres Landes an dessen Aufbau mitzuwirken undaktiv an den Bindungen zu Deutschland teilzuhaben. Dabei istdas Umfeld angemessen in die Projekte einzubeziehen. Die Hil-fen sind als Hilfe zur Selbsthilfe gestaltet.Eine kritische Prüfung der bisherigen Projekte hat ergeben, dassInfrastrukturmaßnahmen und investive Großprojekte im Be-reich der Wirtschaft und Landwirtschaft nicht mehr durchge-führt werden. Stattdessen sollen Maßnahmen gefördert werden,die den Menschen konkrete Perspektiven in ihren angestamm-ten Wohngebieten bieten. Die Haushaltsmittel sind zwar ver-ringert worden, reichen aber aus, um die neuen Schwerpunktewie die Breitenarbeit, Begegnungsstättenarbeit, Sprachkurse,Jugendarbeit, Aus- und Fortbildung und die Städtepartner-schaften zu fördern.Der Schwerpunkt der gemeinschaftsfördernden Hilfen liegt vorallem in Russland und Polen.

Lage der deutschen MinderheitenDen deutschen Minderheiten in den Staaten Mittel- undOsteuropas sowie in den Nachfolgestaaten der ehemaligenSowjetunion gehören heute noch schätzungsweise zwei Mil-lionen Menschen an, davon ca. 600.000 in Russland, ca.300.000 in Polen und ca. 230.000 in Kasachstan. Ihre Lagehat sich nach der politischen Wende 1989/90 in Abhängigkeit

von den politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in deneinzelnen Ländern sehr unterschiedlich entwickelt.Die Aussiedlung aus Russland und den übrigen Nachfolgestaa-ten der ehemaligen Sowjetunion hat sich im Laufe der Jahre er-heblich reduziert. Während Anfang der 90er Jahre aus vielfälti-gen Gründen jährlich noch bis zu 400.000 Aussiedler in derBundesrepublik Deutschland eintrafen, ist die Zahl im Jahr2005 auf rund 35.000 Spätaussiedler und 2006 auf unter10.000 gesunken. Allerdings siedeln viele Russlanddeutscheaus den mittelasiatischen Staaten nicht nach Deutschland aus,sondern ziehen nach Russland um.Für die deutschen Minderheiten in den GUS-Staaten lässtsich feststellen, dass sich ihre Lage seit der politischen Öff-nung deutlich verbessert hat. Als Gründe dafür sind zunennen:" eine Reihe von bilateralen Verträgen und Abkommen zu-gunsten der Minderheiten,

" die Minderheitenpolitik des Europarates mit dem Rahmen-übereinkommen und der Sprachencharta,

" eine neue Aufgeschlossenheit der Heimatstaaten gegenüberihren Minderheiten, die zum Teil in nationalen Schutzgeset-zen und entsprechender aktiver Minderheitenpolitik ihrenNiederschlag findet,

" die Politik der deutschen Seite zugunsten der deutschen Min-derheiten.

Sprachkurse in den HerkunftsländernDas Bundesministerium des Innern fördert im Rahmen derBreitenarbeit in den Siedlungsgebieten der deutschen Min-derheit in der Russischen Föderation und Kasachstan denaußerschulischen Deutschunterricht. Er steht neben der Ju-gendarbeit und der Aus- und Fortbildung im Vordergrundder Projektarbeit.In Russland und Kasachstan werden aktuell rund 2.300 vomBundesinnenministerium (BMI) geförderte Sprachkurse an ca.650 Orten (seit 1996 insgesamt sogar mehr als 42.164 Kursean etwa 1.800 Orten) flächendeckend durchgeführt. Die An-zahl der Sprachkurse wird ständig dem tatsächlichen Bedarf an-gepasst.Die Maßnahmen sind in erster Linie als Bleibehilfen konzipiert;sie verbessern aber im Fall einer Ausreise auch die Startbedin-

Hilfen der Bundesregierungfür Russlanddeutsche in den Herkunftsländern

Brot und Salz für die Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihremTreffen mit Russlanddeutschen in Tomsk.

Das Russisch-Deutsche Haus Tomsk.

34

gungen für Spätaussiedler in Deutschland entscheidend. DieKurse stehen allen interessierten Russlanddeutschen und ihrenFamilienangehörigen offen, gleich ob sie in Russland verblei-ben wollen oder nicht.

Förderung von Partnerschaftenzwischen KommunenSeit Jahren bestehen mittlerweile mehrere Partnerschaften deut-scher Städte und Gemeinden mit Kommunen in den GUS-Staa-ten, darunter auch eine größere Zahl mit Partnerkommunen inSiedlungsgebieten der deutschen Minderheiten.Partnerschaftsbegegnungen haben das gegenseitige Verständnisund das gutnachbarschaftliche Miteinander gefördert, vielfälti-ge Hilfen und Unterstützungen haben zur Bewältigung der so-

zialen und wirtschaftlichen Probleme beigetragen. In vielendeutschen Partnerkommunen haben die Spätaussiedler durchden starken Zuzug in den vergangenen Jahren einen beachtli-chen Anteil an der Gesamtbevölkerung erreicht. Sie haben ihrefrühere Heimat vielfach nicht vergessen. So ist auf dieser Ebe-ne ein lebendiger Kontakt zu vielen Ortschaften und Landkrei-sen in den Herkunftsgebieten erhalten geblieben.Vom Bundesministerium des Innern werden Maßnahmengefördert, die das menschliche Miteinander intensivieren unddie Entwicklung der Partnerkommune unterstützen. Hierzu ge-hören Hilfen in gemeinschaftsfördernden, sozialen, medizini-schen und wirtschaftlichen Bereichen, berufliche Qualifizie-rungsmaßnahmen (Aus- und Fortbildung) sowie der Jugendaus-tausch, soweit eine anderweitige Förderung nicht möglich ist.

Bundesministerium des Innern

Der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung

Geschichte des AmtesIm Jahr 1988 erhöhte sich die Zahl der Aussiedler drama-tisch. Bis zum Herbst 1988 waren schon über 130.000 Aus-siedler nach Deutschland eingereist. Diese hohe Zahl stelltedie Bundesrepublik Deutschland vor große Schwierigkei-ten, da gleichzeitig viele Übersiedler aus der damaligenDDR in die Bundesrepublik Deutschland kamen.Deshalb beschloss die Bundesregierung am 28. September1988 die Einsetzung eines Beauftragten der Bundesregierungfür Aussiedlerfragen. Dieser Beauftragte sollte alle Aktivitätender Regierungsstellen koordinieren, um die Aufnahme vonAus- und Übersiedlern zu verbessern.Erster Aussiedlerbeauftragter war Dr. Horst Waffenschmidt(CDU).Zum Nachfolger wurde am 2. Dezember 1998 der Bundestags-abgeordnete Jochen Welt (SPD) berufen.Mit Beschluss vom 20. November 2002 erweiterte das Bundes-kabinett das Aufgabengebiet um die nationalen Minderheitenund berief Jochen Welt zum "Beauftragten der Bundesregie-rung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten".Ab dem 17. November 2004 übte der BundestagsabgeordneteHans-Peter Kemper (SPD) das Amt aus.Seit dem 1. Februar 2006 bekleidet der Bundestagsabgeordneteund Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister desInnern, Dr. Christoph Bergner (CDU), das Amt des Beauf-tragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationaleMinderheiten.

Aufgabendes AussiedlerbeauftragtenHinsichtlich der Spätaussiedler nimmt der Aussiedlerbeauf-tragten im Wesentlichen folgende Aufgaben wahr:

" zentraler Ansprechpartner auf Bundesebene;" Koordination der aussiedlerbezogenen Maßnahmen, insbe-sondere

" des Aufnahmeverfahrens gem. § 26 BVFG einschließlichdes Bescheinigungsverfahrens i.S. v. § 15 BVFG

" und der Integrationsmaßnahmen mit Bund, Ländern und Ge-meinden sowie der im Eingliederungsbereich tätigen Kir-chen, der Wohlfahrtsverbände und gesellschaftlichen Grup-pen;

" Betreuung der deutschen Minderheiten in den Herkunftsge-bieten und Übernahme des Co-Vorsitzes bei den bestehen-den Regierungskommissionen mit den Titularstaaten für dieAngelegenheiten der jeweiligen Minderheit:

" Informationsarbeit im Inland und bei den deutschen Min-derheiten in den Herkunftsgebieten.

Bundesministerium des Innern

Der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, Staatssekretär Dr.Christoph Bergner, zu Besuch bei der Wanderausstellung derLandsmannschaft in Halle.

Wir müssen die Erinnerung an das schwere Schicksal derRusslanddeutschen bewahren. Wir müssen auch die Erinne-rung bewahren an die gesamte, reiche, jahrhundertealte Ge-schichte, ihre wirtschaftlichen Erfolge und ihre vielen kultu-rellen Errungenschaften. Die Landsmannschaft der Deut-schen aus Russland leistet dazu einen besonderen und wert-vollen Beitrag, für den ich bei dieser Gelegenheit persönlichund im Namen der ganzen Bundesregierung noch einmalherzlich danken möchte.

Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäubleanlässlich der Feierstunde zum Gedenken

an die Opfer der Vertreibung der Russlanddeutschenam 27. August 2006 in Stuttgart-Bad Cannstatt

35

Viele Bürgerinnen und Bürger haben die Vorstellung,dass Spätaussiedler ungerechtfertigte Geldgeschen-ke, zinslose Darlehen zum Bauen oder große Ent-

schädigungsleistungen erhalten. Dieser Beitrag vermittelteinen Überblick über die tatsächlichen Leistungen und legtgleichzeitig dar, weshalb die Angehörigen der deutschenMinderheit überhaupt Anspruch auf Unterstützung haben.Die Angehörigen der deutschen Minderheit haben am längstenund am schwersten unter den Folgen des Zweiten Weltkriegesgelitten. Sie wurden als Kollaborateure und Spione der Nazisverfolgt und im Falle der Russlanddeutschen kollektiv vertrie-ben, obwohl sie mit Deutschland nicht einmal in Verbindungstanden. Diese und die aus der kommunistischen Zeit danachherrührenden Benachteiligungen bestanden zum Teil bis in die90er Jahre; ihre Auswirkungen – unter anderem im Bildungsbe-reich – dauern bis heute an.Ziel der Aussiedlerpolitik ist es deshalb, diese Benachteiligun-gen abbauen zu helfen und den Angehörigen der deutschenMinderheiten eine Perspektive in ihren Heimatländern zu eröff-nen. Dabei verfolgt die Bundesregierung gegenüber den Staa-ten Mittel- und Osteuropas konsequent einen auf Aussöhnungund Verständigung gerichteten Kurs. Diese Politik der Aussöh-nung zielt darauf ab, das einträchtige Zusammenleben der Völ-ker und Kulturen weiter zu verbessern. Das kommt insbeson-dere auch den deutschen Minderheiten zugute, was die sinken-den Zuzugs- und Antragszahlen eindrucksvoll belegen.Denjenigen, die eine solche Perspektive für sich und ihre Kin-der nicht mehr sehen, wird die Ausreise nach Deutschland er-möglicht, wenn sie die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllen.Vor diesem Hintergrund respektiert die Bundesregierung dieEntscheidung jedes Einzelnen, seine Zukunft entweder in seinerderzeitigen Heimat zu gestalten oder im Rahmen der gesetzli-chen Aufnahmebestimmungen nach Deutschland auszusiedeln.

Aussiedlerspezifische Hilfen" Spätaussiedler erhalten einen pauschalen Ausgleich für dieKosten der Rückführung aus den Herkunftsgebieten, undzwar aus der ehemaligen Sowjetunion 102 Euro, aus Rumä-nien 51 Euro und aus Polen 25 Euro. Nach Eintreffen in derErstaufnahmeeinrichtung des Bundes erhalten sie ein Betreu-ungsgeld von 11 Euro zum Erwerb von Dingen des täglichenBedarfs. Außerdem werden sie bei Bedürftigkeit durch Sach-leistungen der Friedlandhilfe e.V. im Wert von 25,56 Eurounterstützt.

" Spätaussiedler sowie ihre Ehegatten und Abkömmlinge (imSinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes) er-hielten bis zum 1. Januar 2005 eine Eingliederungshilfe fürdie Dauer von sechs Monaten. Sie setzte voraus, dass derBetreffende arbeitslos ist, vor der Ausreise im Herkunftslandeine beitragspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat, beim Ar-beitsamt als arbeitslos gemeldet war, der Arbeitsvermittlungzur Verfügung stand und über keine anderen zur Sicherungdes Lebensunterhalts ausreichenden Einkünfte verfügte. DieHöhe der Eingliederungshilfe entsprach in etwa der Sozial-hilfe. Daneben bestand kein Anspruch auf Sozialhilfe. Zum1. Januar 2005 ist diese aussiedlerspezifische Leistung ein-gestellt worden.

" Spätaussiedler haben nach dem Zuwanderungsgesetz An-spruch auf kostenlose Sprachförderung für die Dauer vonsechs Monaten.

" Im „Akademikerprogramm“ sind Sprachkurse und Förder-maßnahmen zur berufsspezifischen Anpassung von Hoch-schulabsolventen und Wissenschaftlern im Alter von 30 bis50 Jahren vorgesehen.

" Für nicht mehr schulpflichtige Spätaussiedler/Innen bis zum30. Lebensjahr, die in der Bundesrepublik Deutschland ihre

Welche Leistungen erhalten Spätaussiedler?

Mitglieder der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland bei einer Mitarbeitertagung in Würzburg im Mai 2006. Auch bei dieser Ta-gung spielten die sozialen Belange der Volksgruppe eine dominierende Rolle.

36

Hochschulausbildung aufnehmen bzw. fortsetzen wollen,werden zusätzlich folgende Hilfen gewährt:- hochschulvorbereitende Sprachkurse mit dem Ziel C 1,aufbauend auf die Integrationskurse des Bundesamtes fürMigration und Flüchtlinge (BAMF);- Eingliederungslehrgänge in Form von studienvorbereiten-den und begleitenden Seminaren;- auf BAföG aufstockende Beihilfen für die Vorbereitungauf die Abiturprüfung und die Teilnahme am Studienkolleg.

" Aussiedler (nicht aber deren Familienangehörige) haben ei-nen Rentenanspruch aufgrund des Fremdrentengesetzes(FRG). Damit hat der Gesetzgeber dem Kriegsfolgenschick-sal der Aussiedler Rechnung getragen. Bei allen Rentenzu-gängen ab dem 1. Oktober 1996 werden grundsätzlich unab-hängig vom Zeitpunkt des Zuzugs die FRG-Tabellenwerte inHöhe von nur 60% berücksichtigt. Schon vor dieser Rechts-änderung galten für Spätaussiedler Tabellenwerte in Höhevon nur 70%. Bei Zuzug nach dem 6. Mai 1996 wird derRentenanteil aus FRG-Zeiten auf maximal 25 Entgeltpunkte,bei Ehepaaren und eheähnlichen Gemeinschaften auf maxi-mal 40 Entgeltpunkte begrenzt.Dies bedeutet, dass Rentenanteile aus FRG-Zeiten (Stand:Juli 2005) nur noch bis maximal 653,25 Euro (brutto) bzw.1.045,20 Euro berücksichtigt werden. In den neuen Bundes-ländern sind es aufgrund des niedrigeren aktuellen Renten-werts maximal 574,25 Euro bzw. 918,80 Euro Von den ge-nannten Beträgen sind noch die Eigenanteile zur Kranken-und Pflegeversicherung abzuziehen.

" Spätaussiedler (nicht aber deren Familienangehörige) aus derehemaligen UdSSR, die vor dem 1. April 1956 geboren sindund wegen ihrer deutschen Volkszugehörigkeit politischeHaft oder Verbannung erlitten haben, erhalten als Ausgleicheine einmalige Entschädigung in Höhe von 4.000 DM =2.045,17 Euro, sofern sie vor dem 1. Januar 1946 geborensind, 6.000 DM = 3.067,75 Euro (§ 9 Abs. 2 BVFG).

Darüber hinaus gibt eskeine aussiedlerspezifischen Hilfen:" Zinslose oder zinsverbilligte Darlehen für den Bau bzw.für den Erwerb von Einfamilienhäusern oder Wohnun-gen speziell für Aussiedler gibt es nicht.Bei Vorliegen entsprechender Voraussetzun-gen können Aussiedler wie auch einheimi-sche Deutsche oder Ausländer Gebrauch ma-chen von Bauprogrammen der Länder undKommunen, die für sozial schwache undkinderreiche Familien Darlehen mit Sonder-konditionen vorsehen. Nähere diesbezügli-che Informationen erteilt die jeweilige Ge-meinde-, bzw. Stadtverwaltung.

" Die Aussiedler erhalten nach Einreise kei-nen kostenlosen Wohnraum.Sie können jedoch wie auch einheimischeDeutsche oder Ausländer bei Vorliegen ent-sprechender Voraussetzungen Wohngeld inAnspruch nehmen.

" Die Gewährung zinsverbilligter Einrich-tungsdarlehen beim erstmaligen Bezug ei-ner ausreichenden Wohnung an Aussied-ler ist mit Ablauf des 30. Novembers 1992eingestellt worden.Die bis dahin gewährten Darlehen warendurch eine Zinssubvention des Bundes ver-billigt.

... wurde 1950 in Stuttgart gegründet und versteht sich biszum heutigen Tag als Interessenvertreterin, Hilfsorganisati-on und Kulturverein aller Russlanddeutschen. Als eingetra-gener Verein verfolgt die Landsmannschaft der Deutschenaus Russland ausschließlich gemeinnützige Zwecke und istoffen für alle, die sich für das Wohl der Russlanddeutscheneinsetzen wollen.Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ist organisa-torisch unterteilt in Landes- sowie rund 150 Orts- und Kreis-gruppen, deren Vertreter bei der alle drei Jahre stattfindendenBundesdelegiertenversammlung den ehrenamtlich tätigen Bun-desvorstand wählen. Koordiniert wird die Arbeit der Lands-mannschaft durch die in Stuttgart ansässige Bundesgeschäfts-stelle. Weiteres erfahren Sie auf unserer Homepage (www.deutscheausrussland.de) sowie unter den auf Seite 38 angege-benen Telefonnummern.Angesichts der gestiegenen Probleme bei der Integration vonSpätaussiedlern und der sinkenden Akzeptanz der Deutschenaus Russland in der Bevölkerung ist die Arbeit der Landsmann-schaft heute wichtiger als jemals zuvor. Sie setzt dabei gegen-wärtig die folgenden Schwerpunkte:

Politische ArbeitEntsprechend ihrer Satzung handelt die Landsmannschaft über-konfessionell und überparteilich. Auf diese Weise ist es ihr ge-lungen, sowohl vor als auch nach dem Regierungswechsel inBerlin mit den politisch Verantwortlichen in stetem Gedanken-austausch zu bleiben und von diesen als kompetente und ver-lässliche Verhandlungspartner angesehen zu werden. Auf dieseWeise konnte die Landsmannschaft für die Deutschen ausRussland in den 56 Jahren ihres Bestehens erheblich mehr er-reichen als mit lautstarken Parolen.

Die Landsmannschaftder Deutschen

aus Russland e.V. ...

Die Mitglieder des am 11. November 2006 gewählten Bundesvorstandes der Lands-mannschaft der Deutschen aus Russland (von links): Waldemar Axt (Bayern), AdolfBraun (Sachsen), Leontine Wacker (Baden-Württemberg), Adolf Fetsch (Bayern, Bun-desvorsitzender), Lilli Bischoff (Niedersachsen), Dr. Arthur Bechert (Bayern) und Dr.Andres Keller (Baden-Württemberg).

37

Sozialberatung und -betreuungTraditionell im Zentrum der landsmannschaftlichen Arbeit stehtdie soziale Beratung und Betreuung von deutschen Aussiedlernbzw. Spätaussiedlern aus den Staaten der ehemaligen Sowjet-union. Diese Arbeit wird zum größten Teil von ehrenamtlichenBetreuern in den landsmannschaftlichen Gliederungen geleistet,die in Schulungen auf Orts-, Landes- und Bundesebene mit dendafür nötigen Kompetenzen ausgestattet werden.“Offiziell” wurden im Jahr 2005 von 107 ehrenamtlichen Aus-siedlerbetreuern der Landsmannschaft 19.324 Personen in22.855 Stunden betreut. In Wirklichkeit sind auf diesem Gebieterheblich mehr Mitglieder der Landsmannschaft im Einsatz, diegroße Teile ihrer Freizeit denjenigen Landsleuten widmen, dieerst in den letzten Jahren aus den Nachfolgestaaten der Sowjet-union nach Deutschland kommen durften.

IntegrationGrundsätzlich geht die Landsmannschaft davon aus, dass dieIntegration der Deutschen aus Russland in ihrer Gesamtheit alsErfolg betrachtet werden kann. Weitere Erfolge ließen sich er-zielen, würde man Integrationspolitik im Spätaussiedlerbereichnicht nur für Deutsche aus Russland durchführen, sondern ver-stärkt auch mit ihnen.Insbesondere wird von der Landsmannschaft das so genannteHuckepack-System favorisiert, das eine Kombination derKenntnisse und Erfahrungen einheimischer Sozialarbeiter mitdenjenigen russlanddeutscher Integrationsfachleute vorsieht.Die Erfolge in Orten, in denen dieses System praktiziert wird,sprechen eine eindeutige Sprache.

ÖffentlichkeitsarbeitDie Landsmannschaft ist der Überzeugung, dass es nur bedingteffektiv sein kann, über Verbesserungen bei der Integration derDeutschen aus Russland nachzudenken und sich dafür einzuset-zen, solange das Bild, das sich die Einheimischen von ihnenmachen, durch die einseitige und negative Berichterstattung inden Medien beeinflusst wird. Einige Maßnahmen, die von derLandsmannschaft vorgeschlagen bzw. bereits realisiert wurden,seien stichpunktartig erwähnt:" Weiterer Ausbau der Wanderausstellung „Volk auf demWeg. Geschichte und Gegenwart der Deutschen aus Russ-land“, mit deren Hilfe breite Bevölkerungsschichten erreichtwerden können.

" Unmittelbare Reaktion von politisch Verantwortlichen aufunhaltbare Äußerungen über Spätaussiedler.

" Behandlung des Themas „Russlanddeutsche/Deutsche ausRussland“ als selbstverständlicher Bestandteil des Lehrplansdeutscher Schulen.

" Finanzielle und evtl. auch institutionelle bzw. personelle Un-terstützung der Presse- und Informationsarbeit der Lands-mannschaft.

" Fortsetzung und Ausbau der Förderung von kulturellen, Ge-schichts- und Informationsbroschüren im Aussiedlerbereich.

KulturarbeitDie Landsmannschaft hat ihre Kulturarbeit stets in erster Linieals Beitrag zur Festigung bzw. Wiedergewinnung der kulturel-len Identität der Mitglieder einer Volksgruppe verstanden, dienach Jahrzehnten der Verfolgung und Vertreibung orientie-rungslos geworden ist. Es sind ganz gewiss Menschen, die esverdient haben, hierher nach Deutschland zu kommen und ge-mäß ihrer rechtlichen Position gefördert zu werden – auch und

vor allem auf kulturellem Gebiet, um die Ausprägung bzw.Wiedererlangung eines stimmigen Selbstbildes zu erleichtern.Trotz erheblicher finanzieller Einschnitte ist es der Landsmann-schaft gelungen, in den letzten Jahren eine Reihe von Kultur-veranstaltungen durchzuführen, die auch von überregionalerBedeutung waren. Besonders eindrucksvoll waren zwei Veran-staltungen im Jahr 2006:" Mit Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble als Fest-redner gedachten wir am 27. August im feierlichen Rahmendes Kursaales von Stuttgart-Bad Cannstatt der russlanddeut-schen Opfer von Verfolgung und Vertreibung.

" Und am 19. Oktober wurde im Weißen Saal des NeuenSchlosses in Stuttgart zum sechsten Mal der Russlanddeut-sche Kulturpreis des Patenlandes der Landsmannschaft, Ba-den-Württemberg, verliehen.

JugendDie Arbeit der Landsmannschaft mit Kindern und Jugendlichenwird gegenwärtig vorwiegend auf lokaler Ebene, in den Orts-und Kreisgruppen durchgeführt. Die Schwerpunkte liegen aufden Bereichen Kultur (Tanz, Gesang, Theater), Sprachförde-rung und Sport. In den Jahren 2005 und 2006 waren Hessen(Multiplikatorenschulungen, Festival, Jugendbroschüre), Nord-rhein-Westfalen (Jugendkulturfeste) und Baden-Württemberg(Jugendbroschüre, zwei Integrationstreffen) auf Landesebenebesonders aktiv.. Hinzu kamen Schulungen für Jugendleiter, diebundesweit und regional durchgeführt wurden, sowie zahlrei-che Zusammenkünfte, die dem Informationsaustausch dienten,und ein Jugendsymposium im Oktober 2005 in Leipzig.

VOLK AUF DEM WEGNr. 10 • Oktober 2006 • 57. Jahrgang • Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V.

ISSN

0042

-833

7•

E689

1E

“Wir müssendie Erinnerungan das schwereSchicksal derRusslanddeutschenbewahren.”BundesinnenministerDr. Wolfgang Schäublebei der Gedenkfeierder Landsmannschaftin Stuttgart-Bad Cannstatt

Das offizielle Mitteilungsblatt der Landsmannschaft der Deutschenaus Russland. Es erscheint monatlich und wird allen Mitgliedernkostenlos zugeschickt.

38

Ich ärgere mich häufig darüber, dass in verschiedenenTeilen der Öffentlichkeit und in einigen Zeitungen sowiein Fernsehmagazinen grundsätzlich davon ausgangen

wird, Spätaussiedler aus der GUS seien eine Belastung fürdie Bundesrepublik. Bedient man sich jedoch einer unvor-eingenommenen Betrachtungsweise, gelangt man zu einervöllig anderen Einschätzung der Lage.Demnach dürfen wir die Integration der Deutschen aus Russ-land – von bedauerlichen Einzelfällen abgesehen - als vorbildli-chen Erfolg bezeichnen. Das gilt sowohl für die Aussiedlerfrüherer Jahre, die längst ihr Ziel erreicht haben, hier als Deut-sche unter Deutschen zu leben, als auch für Spätaussiedler, dieerst nach 1991 aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutsch-land gekommen sind.Offizielle Statistiken und wissenschaftliche Untersuchungensprechen hier eine deutliche Sprache:" So sind Aussiedler bzw. Spätaussiedler eine ausgesprochenjunge Bevölkerungsgruppe, die der überalterten bundesdeut-schen Gesellschaft nur von Nutzen sein kann.

" Des Weiteren sind Aussiedler bzw. Spätaussiedler keines-wegs überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen,und das nicht zuletzt deshalb, weil sie mehrheitlich bereitsind, Arbeitsstellen anzunehmen, die unter ihrer mitgebrach-ten Qualifikation liegen. Aufgrund ihrer Mobilität und ihrerArbeitswilligkeit haben sie in erheblichem Maße zur Sanie-rung strukturschwacher Gebiete beigetragen. Zudem zeich-

nen sich Deutsche aus Russland vor allem auf künstlerischenund sportlichem Gebiet durch eine weit überdurchschnittli-che Leistungsbereitschaft aus.

" Gerade weil viele es nicht glauben wollen und den Deut-schen aus Russland vorwerfen, sie würden die öffentlichenKassen plündern, will ich auch heute das wiederholen, wasich schon so oft gesagt habe: Deutsche aus Russland zahlenerheblich mehr in die deutschen Sozialversicherungs- undRentenkassen ein, als sie diesen entnehmen, und stützen dieHaushalte von Bund, Ländern und Gemeinden.

" Keine Rede kann auch davon sein – und damit wende ichmich gegen ein weiteres Vorurteil -, dass Deutsche aus Russ-land in überdurchschnittlichem Maße kriminell sind. Zu die-sem Ergebnis sind sowohl Untersuchungen in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg als auch regio-nale Studien in Lahr (Baden-Württemberg) und verschiede-nen norddeutschen Städten gekommen. Einheitlich besagendiese Studien, dass die meisten Spätaussiedler weder beson-ders kriminell noch besonders auffällig sind, sondern sichgut in diese Gesellschaft integrieren.

Vor diesem Hintergrund wäre es nach Auffassung der Lands-mannschaft wünschenswert, die Leistungen sowie die Vorzügeder Deutschen aus Russland in realitätsgerechter Weise darzu-stellen und nicht das Feld Personen zu überlassen, die ihre Aus-länder- und Fremdenfeindlichkeit bedenkenlos auf Aussiedlerund Spätaussiedler ausweiten.

Deutsche aus Russland - ein Gewinn für DeutschlandAuszug aus einer Rede des Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland,

Adolf Fetsch (gehalten am 19. August 2006 beim Landestreffen Niedersachsen der Landsmannschaft)

Beitrittserklärung(Nur für neue Mitglieder. Die Mitgliedschaft von Landsleuten, die bereits Mitglied sind,verlängert sich automatisch.)Ich erkläre hiermit meinen Beitritt zur Landsmannschaft der Deutschen aus Russlande.V. Die Zeitung "VOLK AUF DEMWEG" wird mir als Mitglied zugestellt. DieMitglieds- und Bezugsgebühr beträgt jährlich 30,- Euro in den alten Bundesländernund 27,- Euro in den neuen Bundesländern. Spätaussiedler zahlen in den ersten dreiJahren ihres Aufenthaltes in Deutschland 15,- Euro.

Name Vorname (Vorname d. Ehegatten)

Straße PLZ Ort

Geburtsdatum Einreisedatum

Der Beitrag ist jährlich im Voraus zu bezahlen.

EinzugsermächtigungHiermit ermächtige ich die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland widerruf-lich, die Mitglieds- und Bezugsgebühr durch Einzugsauftrag (Lastschrift) von mei-nem Konto einzuziehen.

Meine Konto-Nr. Bankleitzahl

Bank/Sparkasse

Datum Unterschrift

DDiiee BBuunnddeessggeesscchhääffttsssstteelllleeddeerr LLaannddssmmaannnnsscchhaafftt

ddeerr DDeeuuttsscchheennaauuss RRuussssllaanndd

ZZeennttrraalleeRaitelsbergstr. 49,70188 Stuttgart

Tel.: 0711/1 66 59-0Fax: 0711/ 286 44 13

E-Mail: [email protected]:

www.deutscheausrussland.deMitgliederverwaltung, Anzeigenfür Volk auf dem Weg: 0711/16659-17 und -18Versand (Bücher etc.): 0711/166 59-22Projekte: Tel.: 0711-16659-23Sozialabteilung: Tel.: 0711-16659-19, -21Öffentlichkeitsarbeit: 0711/166 59-0

AAuußßeennsstteelllleennMünchen: Tel.: 089-44141905Neustadt/Weinstraße: Tel.: 06321-9375273Hannover: Tel.: 0511-3748466Thüringen:Mobil:0160-3506627

39

Seit einigen Jahren agiert die Landsmannschaft derDeutschen aus Russland verstärkt im Rahmen integ-rativer Projekte, die vor allem jugendliche Spätaus-

siedler/Migranten und ihre Familien aus den Nachfolge-staaten der Sowjetunion als Zielgruppe haben. Denn: Etwa42 Prozent der gegenwärtig nach Deutschland kommendenSpätaussiedler sind jünger als 25 Jahre.Finanziert werden die Projekte vom Bundesinnenministerium,vom Familienministerium, durch das Bundesamt für Migrationund Flüchtlinge (BAMF) oder die Regierungen einzelner Bun-desländer. Umgesetzt werden sie von Projektleitern der Lands-mannschaft, die über interkulturelle Kompetenzen und Erfah-rungen verfügen. Durch Sport-, Kultur- und Freizeitaktivitätenund ehrenamtliche Betreuung werden die Angebote der Integra-tionsnetzwerke vor Ort erweitert und die Akzeptanz der Zu-wanderer durch die Öffentlichkeitsarbeit verbessert.

ProjektbeispieleWanderausstellung „Volk auf dem Weg.Geschichte und Gegenwartder Deutschen aus Russland“ (bundesweit,Projektleiter Jakob Fischer und Josef Schleicher)Die Wanderausstellung gehört zu den ältesten Projekten derLandsmannschaft. Sie wird seit 1991 vom Bundesministeriumdes Innern gefördert und jährlich an bis zu 50 Standorten prä-sentiert. Vorträge, Filme, Führungen in Schulen, öffentlicheVeranstaltungen mit Kulturprogramm fördern eine bessere Ak-zeptanz der Spätaussiedler in der deutschen Gesellschaft undentkräften Vorurteile. Für das Jahr 2007 liegen der Landsmann-schaft ca. 300 Anfragen von Städten und Gemeinden aus allen16 Bundesländern vor.

„Auf- und Ausbau eines Netzes der Multiplikatorenzur Verstärkung der Integrationsarbeitin Hessen” (landesweit, ProjektleiterinnenRosa Emich und Svetlana Paschenko)Das Projekt wird seit 1999 vom Hessischen Sozialministeriumgefördert und läuft unter dem Motto „Gemeinsam sind wir

stark“. Seine Schwerpunkte - sozialpädagogische Beratung undBetreuung sowie Aufbau eines Multiplikatorennetzes - werdendurch Veranstaltungen in den Bereichen Sport, Kultur und In-formation ergänzt. Durch regelmäßige Multiplikatorenschulun-gen und Zusammenarbeit mit anderen Institutionen entwickeltsich ein Netzwerk von engagierten jungen Deutschen aus Russ-land, die als “Brückenmenschen” die Integrationsarbeit voran-treiben.

„Miteinander statt Nebeneinander – gesellschaftlicheIntegration von Kindern und Jugendlichen(Spätaussiedlern/Migranten) im Ortenaukreis“(Baden-Württemberg, Projektleiter Georg Stößel)Im Vordergrund des Proejktes, das seit 2003 läuft, steht dieIdee, eine Kultur des Zusammenlebens zu pflegen. In aktiverZusammenarbeit mit anderen Vereinen werden jugendlicheSpätaussiedler an die vorhandenen örtlichen Einrichtungen undAngebote herangeführt. Sprachförderung zur besseren schuli-schen und beruflichen Integration, sinnvolle Freizeitgestaltungdurch Kultur- und Freizeitangebote, aufsuchende Arbeit inÜbergangswohnheimen und Hilfen für neu angekommene Fa-milien gehören nach wie vor zu den Angeboten.

„Integration junger Spätaussiedler in dasGemeinwesen von Heinsberg“(Nordrhein-Westfalen,Projektleiter Theodor Thyssen)Im Mittelpunkt des Projektes stehen seit 2003 jungeSpätaussiedler, die sozial desorientiert, schwer zu er-ziehen oder verhaltensauffällig sind. Theodor Thys-sen motiviert die Jugendlichen und jungen Erwachse-nen durch erlebnispädagogische Aktivitäten und er-lebte Heimatkunde. Viel Wert wird auf eine sinnvolleFreizeitgestaltung gelegt, die den spezifischen Be-dürfnissen der Jugendlichen aus der ehemaligen GUSentspricht. Durch die Teilnahme an erlebnispädago-gischen Aktivitäten werden sie in ihren mitgebrach-ten Kompetenzen unterstützt, und durch das Kennen-lernen der neuen Heimat bekommen sie ein Gefühlder Geborgenheit und Zugehörigkeit sowie neueFreunde unter den Einheimischen. Es ist ein Lernenmit Herz, Hand und Verstand, das durch ein breitesSpektrum der Methoden erzielt wird.

Projekte der Landsmannschaftder Deutschen aus Russland

Die Wanderausstellung der Landsmannschaft (hier in Bleckede,Niedersachsen) wird jedes Jahr in bis zu 50 Orten gezeigt.

Projektleiter Theodor Thyssen mit seinen Schützlingen.

40

Die Deutschen und ihre Familienangehörigen aus derehemaligen Sowjetunion haben ein bemerkenswertesPotential an Erfahrungen, Kenntnissen und Können

mit nach Deutschland gebracht. In den verschiedensten Be-reichen der deutschen Gesellschaft haben sie in positiverWeise auf sich aufmerksam gemacht.

Nicht zuletzt gilt das für den Sportbereich. So trugen zahlreicheSpätaussiedler maßgeblich zum Erfolg der deutschen Olympia-mannschaft bei den Olympischen Sommerspielen in Athen 2004bei, und in so mancher Sportart sind sie weit überdurchschnitt-lich vertreten und ausgesprochen erfolgreich.

Alex Lang: Der 20-jährige Vorzeigesportler des KaratevereinsSchwarz-Rot Kassel belegte hervorragende Plätze bei nationa-len und internationalen Wettkämpfen und gehört zum deut-schen Nationalkader´.Eduard Lewandowski: Seit 1995 in Deutschland, gehört seitdrei Jahren zu den Hoffnungsträgern der Kölner Haie. Der 25-jährige Stürmer spielte bei den Olympischen Winterspielen inTurin 2006 in der deutschen Nationalmannschaft.

Renate Lingor:Mitglied der deutschen Fußballnationalmann-schaft. Mehrfache deutsche Meisterin, Pokal- und UEFA-Cup-Siegerin, Weltmeisterin 2003, Europameisterin 2001 und 2005,Olympische Bronzemedaille 2000 und 2004.Jakob Neufeld: Seit 1991 in Deutschland, trainiert beim ACGoliath Dortmund als Gewichtheber. Einer der beiden bestendeutschen Gewichtheber in der Klasse bis 77 Kilogramm.Lilli Schwarzkopf: Trainiert als Siebenkämpferin (Leicht-atheltik) bei ihrem Vater Reinhold im Verein LC Paderborn.Größte Erfolge: EM-Dritte 2006, Deutsche Meisterin 2004,Hallen-DM-Dritte 2005, U23-EM-Zweite 2005, Junioren-WM-Fünfte 2002, Deutsche Juniorenmeisterin 2002.Vitali Tajbert: Kam mit zwölf Jahren zum Velberter Boxclub1922, wo er zur großen deutschen Nachwuchshoffnung wurde.Gewann bei der WM 2003 die Silbermedaille, 2004 bei der EMGold und Bronze in Athen.

Besonders zahlreich sind russlanddeutsche Talente auch in denBereichen Musik, Bildende Kunst und Choreographie vertre-ten. Bundesweit haben Deutsche aus Russland Musik-, Kunst-und Tanzschulen eröffnet, leiten Chöre, spielen in Orchesternund gründen Orchester, vertreten Deutschland bei internatio-nalen Wettbewerben und gehören zu den Preisträgern bei Wett-bewerben. Auch in den Bereichen Literatur, Verlagswesen,Theater und Film zeichnet sich ein positiver Trend ab.

MusikHelene Fischer: Ihre Begabung für Gesang, Schauspiel undTanz führte die Schlagersängerin an die Stage & MusicalSchool in Frankfurt/Main, die sie mit Diplom beendete. 2006erstes Album und die Tournee „Überraschungsfest der Volks-musik“ mit Florian Silbereisen in über 50 deutschen Städten.Olga Gollej: Pianistin, musikalische Frühförderung als Gast-studentin an der Leipziger Musikhochschule und der Würzbur-ger Hochschule für Musik. Mehrfache Bundespreisträgerin bei„Jugend musiziert“. Musikstudium in Weimar. 2005 Förder-preis des Russlanddeutschen Kulturpreises 2005.Rudolf Kehrer: Klaviervirtuose, Musikpädagoge. Musikstu-dium in Taschkent, Professur am Moskauer Konservatorium.Gastprofessur an der Wiener Musikhochschule. Seit 1993 inDeutschland, lebt bei Köln. Jurymitglied bei Klavierwettbe-werben, 2005 Hauptpreis des Russlanddeutschen Kulturpreises.Julia Neigel: Die Pop- und Rocksängerin entdeckte früh ihrmusisches Talent; klassische Musikausbildung, mehrere Preisebei „Jugend musiziert“. Seit 1978 eine bemerkenswerte Karrie-re als Künstlerin, Sängerin und Songschreiberin; schreibt Textefür Peter Maffay. Mehrere Alben, agiert als Musikproduzentin.David Wedel: Geiger. Musikunterricht (Klavier und Geige),Musikstudium in Lübeck, Köln, Madrid, Wien und Berlin.Spielte bei den Berliner Sinfonikern, seit zwei Jahren im re-nommierten Leipziger Gewandhausorchester. Tourneen in allerWelt. Beschäftigt sich nebenbei mit Jazz- und Rockmusik.

Beispiele vorbildlicher Integration

Lilli Schwarzkopf (links), Renate Lingor und Eduard Lewandowski.

Der weltberühmte Pianist Prof. Rudolf Kehrer (links) bei der Verlei-hung des Russlanddeutschen Kulturpreises des Landes Baden-Würt-temberg im Februar 2005. Neben ihm die Gewinnerin des Förder-preises, Olga Gollej, und der Gewinner der Ehrengabe, WladimirWecker.

41

Bildende KunstRobert Hettich: Maler, Grafikdesigner. Kunst- und Malerei-studium in Tadschikistan und Hannover, Dipl.-Grafikdesigner.Freischaffender Künstler in Langenhagen, betreibt ein renom-miertes Design-Studio mit vielfältigem Leistungsspektrum.Stellt im In- und Ausland aus.Paul Krenz: Intarsienkünstler, Restaurator. Seine einzigarti-gen Holzkunstwerke, Intarsienbilder und restaurierten Möbel-stücke schmücken Kirchen, Klöster, Paläste und Parlamente.Drei seiner Werke sind im Vatikan, mit zwei Intarsienbildernist Krenz im Guiness-Buch der Rekorde (1998 und 2001) ver-treten.Nikolaus Rode: Der Maler und Bühnenbildner arbeitete alsTheatermaler, illustrierte Bücher, gestaltete Plakate und Katalo-ge, beschäftigte sich mit Innen- und Außenarchitektur. Stelltemehrfach im In- und Ausland aus, Träger mehrerer Preise;2006 Hauptpreis des Russlanddeutschen Kulturpreises.

Jakob Wedel: Bildhauer. Studierte Skulptur und angewandteKunst, zahlreiche Ausstellungen. Etwa 20 seiner Werke sind inBronze gegossen und in Kurorten, Rathäusern, auf Plätzen undin Parks zu bewundern. Schuf in vier Jahrzehnten über 800Werke. Ehrengabe des Russlanddeutschen Kulturpreises 2006.

ChoreographieBreakdancegruppe „High Energy“: Entfacht ein Feuer-werk auf der Tanzfläche: Die Tänzer Vitali Buchmüller, AlexHaffner, Sergej Novoschilov und Andre Brysgalov sind Deut-sche Meister im HipHop-Showdance und Vize-WeltmeisterZahlreiche Auftritte im In- und Ausland.Elena Kraft: Gründete 2001 beim Polizeisportverein Kiel eineTanzgruppe, die als “Dancecompany K-System” bekannt ist.2003 Sieg beim Kieler Kulturfestival, 2005 1. Platz in der Kate-gorie Jazztanz beim Tanzfestival in Duisburg, 2006 absolutePreisträgerin beim selben Tanzfestival.Andreas Podlich und Darja Titowa: Hessische Tanzmeis-ter in der Standard- und der Lateinsektion. Seit 2004 im Latein-und Standardkader des Landes; vertreten Hessen bei großenTurnieren wie der Deutschen Meisterschaft.Viktor Scherf: Gründete in Altenkirchen, Rheinland-Pfalz,die Tanzschule „Let’s Dance“. Mit dem Showtheater „Rhyth-men der Welt“ hat der Choreograph nationalen und internatio-naler Erfolg. Drei Podiumsplätze beim X. Deutschen Ballett-wettbewerb 2006 in München.

Literatur

Nelly Däs: Erzählerin, Autorin mehrerer Bücher, tritt mit Vor-trägen und Lesungen in Schulen auf. Ihr Buch „Das Mädchenvom Fährhaus“ wurde 1996 verfilmt. Deutscher Jugendbuch-preis, Bundesverdienstorden, goldene Ehrennadel der Lands-mannschaft.Johann Warkentin: Renommiertester russlanddeutscherSchriftsteller; Literaturkritiker, Sprachforscher, Nachdichter,Lektor, Essayist, Lehrbuchverfasser. 2002 Bundesverdienst-kreuz am Bande.Eleonora Hummel: Autorin. Erhielt 2003 als „hoffnungsvol-les Talent“ und „Entdeckung der Jury“ den Förderpreis desRusslanddeutschen Kulturpreises. 2006 Adelbert-von-Chamis-so-Förderpreis für das Buch „Die Fische von Berlin“.Waldemar Weber: Dichter, Übersetzer und Verleger. 2001Liechtenstein-Preis und Makowski-Preis (Russland). Gründeteden Waldemar Weber Verlag.Viktor Heinz: Lyriker, Dramatiker, Erzähler. Studierte Ger-manistik in Nowosibirsk, Dozent und Lehrstuhlleiter in Sibirien

Der Gewinner des Russlanddeutsches Kulturpreises 2006, NikolausRode, vor einem seiner Werke.

Elena Kraft - erfolgreich als Tänzerin und Choreographin.

Unterschiedliche Generationen, gleiche Profession: Eleonora Hum-mel und Johann Warkentin.

42

und Kasachstan. Schreibt Gedichte, Erzählungen, Theater-stücke und Romane. 2003 Ehrenpreis des RusslanddeutschenKulturpreises für sein Gesamtwerk.

Theater/Filmproduktion

Irene Langemann: Drama-turgin, Regisseurin, Filmpro-duzentin. Beteiligung andeutschen und internationa-len Dokumentarfilmfestivals.Zahlreiche Auszeichnungen,darunter 2001 der Grand Prixfür den besten ausländischenDokumentarfilmLilia Tetslau: Gründete1998 ihr eigenes Figu-rentheater „Joey“ und gastiertals Kabarettistin in Kinder-gärten, Schulen und Gemein-den.Maria und Peter Warken-tin: Früher Berufsschauspie-ler am Deutschen TheaterTemirtau/Almaty in Kasachs-tan, führen seit über zehnJahren das Russland-Deut-sche Theater Niederstetten.

Forschung und Wissenschaft sind weitere Zukunftsbereichefür russlanddeutsches akademisches Potential. Zwar ist dieKulturgeschichte der eigenen Volksgruppe das traditionelleForschungsgebiet der Deutschen aus Russland geblieben, aberdie jüngere Generation widmet sich zunehmend auch anderenGebieten wie Mathematik, Naturwissenschaften, Politologieoder Medizin.Außerdem stellen die Deutschen aus Russland eine risikofreudi-gen Bevölkerungsgruppe dar, deren Mitglieder zunehmend denWeg in die Selbständigkeit wagen.

Wissenschaft/ForschungDr. Alfred Eisfeld: Der Historiker ist Leiter der AbteilungGöttingen am Institut für Deutschland- und Osteuropafor-schung. Zahlreiche Publikationen zur Kulturgeschichte derRusslanddeutschen. 2003 Hauptpreis des RusslanddeutschenKulturpreises in Anerkennung „der Erhaltung und Förderungdes Kulturgutes der Russlanddeutschen“.Natalia Krieger: Seit 1995 in Deutschland. Studium der Poli-tologie in Köln, Dipl.-Politikwissenschaftlerin. Promotionsstu-dium im Fach Politikwissenschaft in Köln mit dem Arbeitstitel„Die Demokratisierungs- und Menschenrechtspolitik der EUam Beispiel der GUS-Länder“.

Tatjana Stykel: Die Mathematikerin erhielt für ihre Disserta-tion "Analysis and numerical solution of generalized Lyapunovequations" den Nachwuchswissenschaftlerinnen-Preis 2003 desForschungsverbundes Berlin. Leiterin einer jungen Forscher-gruppe an der TU Berlin.Natalia Wegner: Erster Platz beim Landeswettbewerb „Ju-gend forscht“ 2003 in Hessen im Fachgebiet Biologie für einProjekt über „enzymatisch hergestellte Zellulose“. ZweiterPlatz beim Bundeswettbewerb „Jugend forscht“ 2003. StudiertBiochemie an der TU München.

Selbständigkeit/BerufIrina Braun: Studierte in Mannheim Betriebswirtschaftslehrein der Fachrichtung Spedition, Transport und Logistik. SeitFebruar 2003 Assistentin der Geschäftsführung bei ILS–EASTLogistik GmbH im hessischen Rödermark, führend auf demosteuropäischen Markt.Robert Burau: Betreibt eine Zahnarztpraxis und gründete1997 den BMV Robert Burau Verlag in Lage, NRW. Verlegteseitdem etwa 60 Titel russlanddeutscher Autoren.Dr. Irene Tröster: Studierte Wirtschaftswissenschaften inStuttgart. Ihre Doktorarbeit „Wann ist man integriert. Eine em-pirische Analyse zum Integrationsverständnis der Russland-deutschen“ erschien als Buch. Autorin und Referentin zu Aus-siedlerfragen, Journalistin beim SWR.Paul Neufeld: Gründete 1993 das Neufeld Baustoff Center inOedheim bei Heilbronn. Etwa 2.500 russlanddeutsche Familienhaben seither in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen undRheinland-Pfalz mit Unterstützung der Firma gebaut.Stanislaw Ott: 2006 wurde der 23-Jährige Bundessieger derHandwerksjugend im Wettbewerbsberuf Dreher. Arbeitet beiStaudt-Hydraulik in Geilenkirchen-Niederheid, wo er auch sei-ne Ausbildung absolviert hat..

Irene Langemann (links) und Lilia Tetslau.

Dr. Alfred Eisfeld und Tatjana Stykel.

Irina Braun und Stanislaw Ott.

BÜCHERANGEBOTDER LANDSMANNSCHAFT DER DEUTSCHEN AUS RUSSLAND

HHEEIIMMAATTBBÜÜCCHHEERR1954, Krim, Wolga, Ukraine, Kaukasus u.a.1955, Belowesch, Samara, städt. Deutschtum u.a.1956, Odessa, Geschichte, Kultur u.a.1957, Saporoshje, Großliebenthal u.a.1958, Dnjepropetrowsk, Zentralrussland u.a.1959, Sibirien, Mittelasien, Wolhynien u.a.1960, Krim, großes Auswanderungsverzeichnis u.a.1961, Kaukasus, Wirtschaft, Kultur u.a.1962,Wolhynien, städtisches Deutschtum u.a.1963, Russlanddeutsche in Übersee1964, Sibirien, Wolga, Kirchen, Schulen u.a.1965, Heutige Lage, Schrifttum, Volkstum1966, Aussiedlung und die Vertreibung1967/68, Hof und Haus, Kultur(Preis, je HB 1954 bis 1968 - 8,- Euro + Versandkosten)1969-72, Joseph Schnurr, "Die Kirchen und das religiöse Lebender Rußlanddeutschen", Katholischer Teil, 23,- Euro,Evangelischer Teil, 19,- Euro1973-81, Hungersnot, Deportation u.a., 11,- Euro1982-84, mit Karte der ASSR der Wolgadeutschen, 12,- Euro1985-89, Geschichte, Literatur, Aktuelles, 10,- Euro1990/91, Krieg und Frieden, Rückkehr, 10,- Euro1992-94, Deportation, Ausreise, 284 S., 10,- Euro1995/96, Heimat Deutschland, Trudarmee, 336 S., 10,- Euro1997/98, Deportation, Jugenderinnerungen, 340 S., 10,- Euro2000, I. Teil, Geschichte der Volksgruppe, Heimat 10,- Euro2000, II. Teil, Geschichte der Volksgruppe, Heimat 10,- EuroHeimatbuch 2001/02, 60 Jahre Vertreibung 10,- EuroHEIMATBUCH 2003, 2004, 2005, 2006 Je 10,00 EURO

WWEEIITTEERREE LLIITTEERRAATTUURR

Dr. K. Stumpp, "Die Auswanderung aus Deutschland nachRußland in den Jahren 1763-1862", 1020 S., 48,- EuroDr. K. Stumpp, "Die Rußlanddeutschen - 200 Jahreunterwegs", 185 Bilder, 15,- EuroBosch/Lingor, "Entstehung, Entwicklung und Auflösung derdeutschen Kolonien am Schwarzen Meer", 7,- EuroG. Wolter, “Die Zone der totalen Ruhe” (deutsche undrussische Ausgabe), je 17,90 EuroV. Aul, "Das Manifest der Zarin". 7,- EuroD. Weigum, "Damals auf der Krim", 6,- EuroG. Hildebrandt, "Wieso lebst du noch? Ein Deutscher imGulag", Taschenbuch, 6,- EuroE. Imherr, "Verschollene Heimat an der Wolga", 10,- EuroI. Walker, "Fatma" - eine historische Lebensgeschichte ausdem Kaukasus, 10,- EuroJ. und H. Kampen, "Heimat und Diaspora", Geschichte derLandsmannschaft, 8,- EuroG. Prehn, “Otto Flath. Ein Bilder-Zyklus zum NeuenTestament”, 24,80 EuroG. Orthmann, “Otto Flath, Leben und Werk”, 5,- EuroW. Mangold, "Rußlanddeutsche Literatur", 7,- EuroJ. Warkentin, "Geschichte der rußlanddeutschen Literatur",8,- EuroN. Kossko, “Die geraubte Kindheit”, 8,- EuroN. Kossko, “Ukradennoje Detstwo”, russisch, 8,- EuroN. Kossko, “Am anderen Ende der Welt”, 10,- EuroN. Däs, "Alle Spuren sind verweht. RußlanddeutscheFrauen in der Verbannung", 10,- EuroN. Däs, “Der Schlittschuhclown”, 8,- EuroN. Däs, "Kochbuch der Deutschen aus Rußland", 10,- EuroN. Däs, "Laßt die Jugend sprechen", 5,- Euro

N. Däs, “Rußlanddeutsche Pioniere im Urwald”, 9,- EuroN. Däs, “Wölfe und Sonnenblumen”, 10,- EuroR. Keil, "Rußland-Deutsche Autoren, 1964-1990". 7,- EuroV. Heinz, "In der Sackgasse", 13,- EuroV. Harsch, "Aus der Lebensbeichte meiner Mutter", 4,- EuroM. Schumm, “Sketche und Kurzgeschichten”, 3 EuroW. Hermann, "Das fremde Land in dir", 7,- EuroG. Steinmüller, “Perlen der russischen Volksmedizin”, 6,- EuroG. Schönfeld, “Grundlagen der Mathematik für Schüler”(deutsch/russisch), 10,- EuroAlexander Fitz, “Puteschestwie na semlju”, 5,- EuroF. Dortmann, "Olga von der Wolga", Lieder im Volkston,12,- EuroO. Geilfuß, "Für alle Kinder", Kinderlieder, 5,- EuroLiederbuch “Deutsche Volkslieder aus Russland, 10,-EuroKassette Nr. 1, “Bei uns, ihr Leit, ist Hochzeit heit”, 7,- EuroKassette Nr. 2, “Ai, ai, was ist die Welt so schön”, 7,- EuroCD Nr. 1, “Bei uns, ihr Leit, ist Hochzeit heit”, 10,- EuroCD Nr. 2, “Ai, ai, was ist die Welt so schön”, 10,- Euro

GGEEDDIICCHHTTEEA. Brettmann, "Stimmen des Herzens", Gedichte, 10,- EuroDeutsche Gedichte aus dem Kaukasus, 4,- EuroE. Fotteler, “Das schimmernde Licht”, Gedichte, 8,- EuroJ. Warkentin, "Rußlanddeutsche Berlin-Sonette", 5,- EuroW. Mangold, "Rund um das Leben", Gedichte, 7,- EuroR. Pflug, “Der Wind singt vom kommenden Tag,” 10,20 EuroK. Lubomirski, “Propyläen der Nacht”, 10,- EuroNelly Wacker, "Es eilen die Tage", Gedichte, 7,- Euro

NNEEUU

N. Wagner, “Ein Volk wird gejagt - die Russlanddeutschen”,8,50 EuroE. Udsulaschwili, “Die deutschen Kolonisten in Georgien”(Elisabethtal - Asureti 1818-1941), 12,- EuroAnton Bayr, “Vergessene Schicksale”, 17,- Euro“Frierende Hände - erfrorene Hoffnungen. Berichtedeutscher Deportierter”, 19,80 EuroR. Nachtigal, “Die Dondeutschen 1830 bis 1930”, 17,- EuroW. Weber, “Scherben” - Gedichte, deutsche und russischeAusgabe, je 10,- EuroW. Mangold, “Deutschland, hin und zurück”, Gedichte,8,90 EuroH. Schlotthauer, “Ich bin ein Wolgadeutscher”, 8.90 EuroE. Krohmer, “Der Weg zum Steinbruch”, 10,- EuroG. Walter, “Lebendige Ahnen”, 18,-EuroD. Lomtev, “An der Quelle”, Deutsche Musiker in Russland,9,90 EuroD. Lomtev, “Deutsches Musiktheater Russland”, 10,50 EuroD. Lomtev, “Geistliche Musikkultur der Deutschen inRussland”, 8,- Euro

Richten Sie Ihre Bestellungen bitte an:Landsmannschaftder Deutschen aus Russland e.V.Raitelsbergstr. 4970188 Stuttgart

Telefon: 0711-1 66 59 22Telefax: 0711-2 86 44 13E-Mail: [email protected]

Deutscheaus

Russland -angekommen

undintegriert!

Deutscheaus Russland

gesternund heute

Volk auf dem Weg