Deutsche Literatur: Vom Mittelalter bis zur Frühen … · Die Deutsche Nationalbibliothek...

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Peter Nusser

Deutsche LiteraturEine Sozial- und Kulturgeschichte

Vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit

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ISBN 978-3-534-25449-1

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Inhalt

InhaltInhalt

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

I. Die Lebensformen der Geistlichen und der Mönche und die Literatur der Kirche vom 8. bis zum 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

1. Die Lebensformen der Geistlichen und der Mönche seit der Spätantike 15Amtsverständnis und Amtsausübung der Geistlichen 16 – Die Entwicklung des Mönchtums 20 – Die Regeln Benedikts von Nursia 23 – Armut, Askese, Medita-tion und Arbeit 23

2. Bekehrungsliteratur des 8.–10. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . 27Die Anfänge der Schrift sprachlichkeit 27 – Kirchliche Gebrauchsliteratur 28 – Zauberspruch und Segen: Christentum und Magie 31 – Evangelienharmonien: Tatian und Heliand 36 – Otfrieds Evangelienbuch 38

3. Belehrungsliteratur des 10.–12. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . 39Der Begriff der Heilsgeschichte 39 – Th eologische Übersetzungsarbeiten 42 – Poetische Texte mit heilsgeschichtlicher Th ematik  44 – Physiologus und Ezzolied  45 – Typologische und allegorische Deutung biblischer Texte  49 – Scholastik und Universalienstreit 52

4. Literatur religiösen Ergreifens und Ergriff enseins (12.–16. Jahrhundert) 54

4.1 Die religiöse Ergreifung der Massen durch Literatur . . . . . . . . . . . . 54Die Predigten der Bettelmönche 55 – Visionen von Himmel und Hölle 60 – To-desangst im Zeitalter des Massensterbens 60 – Das geistliche Spiel 64

4.2 Literatur als Ausdruck religiöser Ergriff enheit . . . . . . . . . . . . . . . . 71Sündenklagen  71 – Der Marien- und Heiligenkult; Mariendichtungen  71 – Christliche Mystik 75 – Mechthild von Magdeburg und die Frauenmystik 77 – Eckart, Tauler, Seuse 79 – Wirkungen der Mystik: Kirchenlied und Selbstbio-graphie  82 – Wurzeln des Bildungsbegriff s  86 – Marienverehrung und Hexenwahn 88

5. Die Literatur der Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93Ursachen der Reformation  93 – Die Reformationsschrift en Luthers  94 – Die Lebensform des evangelischen Pfarrers 96 – Luthers Leistung als Bibelüberset-zer 101 – Buchdruck, Flugschrift en, Dialoge und Dramen 104 – Reformatori-sche Kampfspiele; Kontroversschrift tum 106 – Luther und Müntzer 109

Inhalt6

6. Folgen der Reformation: Die Mündigkeit der Person als Wertvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . 111

II. Die Lebensformen der Regenten und die Helden- und Geschichts-dichtung des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

1. Die Lebensformen von Sippe und Gefolgschaft und das Herrschaft sver-ständnis der Germanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113Das Ethos der kriegerischen Aristokratie 117 – Germanische Heldenlieder 118 – Der germanische Ehrbegriff im Hildebrandslied 119 – Das Nibelungenlied und die Geschichte seiner Wirkung 126

2. Der christliche Herrscher als Friedensstift er in der Helden-, Geschichts- und Legendenepik des 9.–12. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135Die christliche Auff assung vom Regentenamt 135 – Christliches Regentenethos auf germanischem Gebiet 137 – Das Ludwigslied 139 – Legendendichtung 141 – Das Annolied 142 – Kaiserchronik und Alexanderlied 144

3. Der christliche Herrscher und die Kreuzzugsthematik in der Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147Das Rolandslied  147 – Die Problematik des Kreuzzugsgedankens  149 – Spiel-mannsepik 154 – Der Willehalm Wolframs von Eschenbach 159 – Walthers po-litische Spruchdichtung 165

4. Ausblick auf die Entwicklung des christlichen Regentenethos in der Neuzeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

III. Die Lebensform der Ritter und die höfi sche Literatur des Mittelalters . . 173

1. Die Lebensform der Ritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173Rittertum und höfi sche Kultur 173 – Das ritterliche Tugendideal 176 – Funk-tionen der höfi schen Literatur 178 – Das Vorbild Frankreichs 180

2. Höfi sche Epik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183Vorstellungswelt und Handlungselemente des Artusromans 183 – Das epische Werk Hartmanns von Aue 186 – Erec  186 – Iwein  192 – Gregorius  197 – Der arme Heinrich 200 – Der Parzival Wolframs von Eschenbach 204 – Der Tristan Gottfrieds von Straßburg 215 – Ausläufer des Artusromans 225

3. Höfi sche Lyrik: Minnesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227Minnesang in der höfi schen Gesellschaft  227 – Quellen, Entwicklungen, Formen des Minnesangs 231 – Donauländischer Minnesang 234 – Rheinischer Minne-sang  238 – ,Kreuzlieder‘  239 – ,Hohe Minne‘ bei Reinmar von Hagenau  241 – Heinrich von Morungen  243 – Traditionsbruch im ,Tagelied‘  245 – Die Lieder Walthers von der Vogelweide  248 – Die Persifl ierung höfi scher Minnelyrik bei Neidhart 252

Inhalt 7

4. Nachwirkungen ritterlich-höfi scher Wertvorstellungen und Verhaltensnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

IV. Die Lebensformen des Bürgers und die städtische Literatur im späten Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

1. Die Stadt im hohen und späten Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261Stadtgründungen  261 – Rechtsverhältnisse und Bürgerstatus  262 – Soziale Schichtung 264 – Schrift lichkeit 265 – Die Bedeutung der Literatur 268

2. Die Literatur des städtischen Patriziats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269Traditionspfl ege und Repräsentationsbedürfnis  269 – Die Erzählliteratur des Patriziats 271 – Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg 271 – Prosaromane; der Fortunatus  273 – Distanzierungen vom traditionellen Minnesang  277 – Th emen und Formen ständischer Lehrdichtung 278 – Der Renner Hugos von Trimberg 283 – Die Reimreden des Teichner 284 – Andere Moraldidaktiker 286 – Der Meier Helmbrecht des Wernher der Gartenaere 287

3. Die Literatur der Zunft bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288Die Organisation der Zünft e 289 – Die Lebensform und das Arbeitsethos der Zunft handwerker  290 – Der Meistergesang  295 – Folz und Sachs  298 – Fast-nachtsbräuche und Fastnachtsspiele  303 – Frauenfeindlichkeit und Juden-hass  305 – Geschlechterbeziehungen in der Maerendichtung  312 – Schwank-romane, satirische Tierepen, Narrendichtungen  321 – Botes Ulenspiegel  325 – Brants Narrenschiff  329 – Wittenwilers Ring als Brennspiegel der Epoche 332

4. Literarisches Leben in der Unterschicht der Stadtbevölkerung . . . . . . 338Begriff , Überlieferung und Trägerschaft der ,Volkspoesie‘ 338 – Soziale Verhältnisse in der städtischen Unterschicht 340 – Vermittlungsformen der ,Volkspoesie‘ 341 – Volkslieder; ihre schichtenspezifi sche Th ematik  343 – Wunschvorstellungen im Volksmärchen  346 – Die Wirklichkeitsdeutung der Volkssage  351  – Dämonen-, Hexen-, Teufels- und Teufelsbündnersagen 353

5. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

V. Die Lebensform, die neue Weltsicht und die Literatur der Humanisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362

1. Die Ausbreitung des italienischen Humanismus in Deutschland . . . . . 362Der Ackermann aus Böhmen des Johannes von Tepl 362 – Johann von Neumarkt und die Prager Kanzlei 365 – Das Vorbild Petrarcas 366 – Die Berufe der Huma-nisten und die ,studia humanitatis‘ 368 – Die Ausbreitung humanistischer Ge-danken in Deutschland 368

Inhalt8

2. Die Lebensform, die neue Weltsicht und die wissenschaft lichen Tätigkeiten der Humanisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370Die Lebensform der humanistischen ,Gelehrtenrepublik‘  370 – Wissenschaft -liche Tätigkeiten der Humanisten  374 – Der Lehrbetrieb an den Universitä-ten 379 – Neues naturwissenschaft liches Denken 380 – Reaktionen der Kirche auf das heliozentrische Weltbild 384 – Geheimwissenschaft en (Magie, Alchemie, Astrologie) 385 – Die Historia von J. Faustus 389 – Die Nachbildung der Schöp-fungsordnung in den Künsten  390 – Das Suchen nach literarischen Gesetz-mäßigkeiten 392

3. Die Literatur der Humanisten in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . 394Das humanistische Idealbild des Dichters 394 – Die elitäre Selbstbestimmung humanistischer Autoren  394 – Der Hebraismus-Streit; die Dunkelmänner-briefe  395 – Sprichwörtersammlungen und Facetien  401 – Neulateinische Lyrik  403 – Dialoge (Erasmus und Hutten)  405 – Formen und Th emen des humanistischen Dramas 407

4. Das Verhältnis von Humanismus und Reformation und seine Auswirkungen in der Spätphase humanistischer Literatur . . . . . . . . . 412Die Auseinandersetzung zwischen Erasmus und Luther 412 – Der Grobianis-mus (Scheidt, Dedekind, Fischart) 415 – Manieristischer Stil bei Rabelais und Fischart 418 – Die Wiedertäuferbewegung; Franck und Paracelsus 423 – Utopi-sches Denken: Morus und Campanella  426 – Die Rosenkreuzer-Schrift en Andreaes 429 – Die Gesellschaft skonzeption der ,Christenstadt‘ 431

5. Schlussbetrachtung: Die politischen Folgen der humanistischen Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444

Personen- und Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465

Einführung

EinführungEinführung

Die vorliegende Literaturgeschichte ist über einen langen Zeitraum hinweg geschrie-ben worden. Teile von ihr erschienen 1992 unter dem Titel Deutsche Literatur im Mittelalter. Lebensformen, Wertvorstellungen und literarische Entwicklungen und 2002 unter dem Titel Deutsche Literatur von 1500 bis 1800– mit demselben Unter titel. Beide seit einigen Jahren vergriff enen Bände werden hier, durchgesehen und aktualisiert, unter neuem Titel wieder veröff entlicht – zusammen mit der abschließenden umfang-reichen Darstellung der Literatur des 19. sowie des 20. und beginnenden 21. Jahrhun-derts, so dass nun eine Geschichte der deutschen Literatur von ihren Anfängen bis zur Gegenwart aus einer Hand vorliegt.*

Die Vorteile einer solchen Darstellung liegen in ihrer einheitlichen Konzeption, der beide Bücher folgen. In ihnen werden literarische Entwicklungen in ihren Wech-selbeziehungen mit der Sozial- und Kulturgeschichte gesehen. Darüber hinaus folgt die Darstellung einem besonderen Erkenntnisinteresse, das der Frage nachgeht, in-wieweit Literatur mit ihren Möglichkeiten des gedanklichen und künstlerischen Ausdrucks im Lauf der Geschichte stets daran beteiligt war, Wertvorstellungen weiterzugeben, zu verändern oder aufzubauen und damit die Weltsicht und die Ver-haltensweisen ihrer Rezipienten mitzubestimmen. Dies beinhaltet die Frage, wo der historische Ort der gesellschaft lichen Orientierungsmaßstäbe liegt, die noch immer gelten oder umstritten sind, eine Frage, der – ohne Bezug auf die Literatur – vor allem Wilhelm Flitner in seinem wegweisenden Buch ,Die Geschichte der abendlän-dischen Lebensformen‘ (Gesammelte Schrift en 7, 1990) nachgegangen ist. Einer Lite-raturgeschichtsschreibung, die sich in diese Fragestellung eingebunden weiß, geht es nicht vorrangig um Bestandsaufnahmen, sondern um Gestaltung, nicht um die von Spezialisten vorgenommene Ausbreitung von Details, sondern um Konzentration auf Wesentliches und um Orientierungsangebote. Sie ist kein bloßes Nachschlage-werk, sondern will ,gelesen‘ werden und zur gedanklichen Vertiefung und zur Dis-kussion beitragen.

* Verweise auf den chronologisch folgenden Band werden in dieser Gesamtdarstellung mit „Vgl. P. N., 2012 b“ gekennzeichnet.

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Mit der genannten Fragestellung umzugehen, erfordert eine vielseitige Betrach-tung. Denn Wertvorstellungen, an denen Orientierung möglich und Handeln ab-gewogen wird, haben sich in unterschiedlichen Lebensformen bzw. Formen der Lebensführung konkretisiert, die es in ihren historischen Wurzeln zu verdeutlichen gilt. Literatur, die unter bestimmten sozialen, kulturellen und mentalen Bedingun-gen entstanden ist und in die jeweils geltenden Maßstäbe des Denkens und Handelns eingebunden war oder sich mit ihnen auseinandergesetzt hat, darf allerdings nicht nur mit diesen historischen Bedingungen, sondern muss immer auch um ihrer selbst willen in ihrem Kunstcharakter und in ihren literarischen Kontexten betrachtet wer-den. Dies erfordert Mut zur Auswahl, die sich daran orientiert, welche Texte sich für den Aufb au, die Entfaltung, die Veränderung und Überwindung von Wertvorstel-lungen und Verhaltensnormen als besonders bedeutsam erwiesen haben und ent-sprechend hervorzuheben sind.

Als Lebensformen bezeichnen Historiker und Soziologen Formen selbstverständ-lichen Handelns, in denen soziale Gruppen ihre Wertvorstellungen verwirklichten und zu Verhaltensnormen verfestigten. Getragen wurden die Konventionen des Zusammenlebens also von den – auch in Rechtsordnungen sich niederschlagenden – ethischen Überzeugungen, die eine Gemeinschaft für verbindlich hielt und die ein allgemeines sittliches Verhalten gewährleisten sollten. Im Mittelalter waren solche fest zu umreißenden und zugleich kulturtragenden Lebensformen die der Mönche und Geistlichen sowie die der Regenten, die jeweils auf antike Ursprünge zurück-gingen, dann die der Ritter und der städtischen Patrizier und Zunft bürger, die sich aus den geschichtlichen Bedingungen des Mittelalters selbst entwickelten. Seit der frühen Neuzeit bezogen sich bei der Ausbildung weiterer Lebensformen die Huma-nisten auf monastische Traditionen und die höfi sche Gesellschaft des absolutisti-schen Staates auf die des mittelalterlichen Rittertums. Mit der Entstehung der staats-bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert beginnt der Begriff der Lebensform seine Angemessenheit zu verlieren, weil fest umrissene Normgefüge sich seit der Aufk lärung aufzulösen beginnen. Deren Geschlossenheit geht vollends im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts verloren, weswegen für diese Zeitspanne nur noch der off e-nere Begriff der Lebensführung gewählt wird, der sich besser auf einzelne soziale Gruppen beziehen lässt, die immer durchlässiger werden und deren Wertvorstellun-gen sich vielfach überschneiden.

Literatur hat für die Orientierung von Menschen von jeher eine wichtige Rolle gespielt. Sie hilft , die Maßstäbe des Handelns überhaupt benennen, über sie kom-munizieren und sie tradieren zu können. Vor allem vermag sie, den mit wertorien-tiertem Handeln verbundenen Sinn und die aus solchem Handeln erworbenen

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Er fahrungen ins Bild zu setzen, also mit den ihr eigenen ästhetischen Mitteln nach-vollziehbar werden zu lassen. Indem sie Handlungen oder Haltungen in Konfl ikten als vorbildlich bzw. umgekehrt als abstoßend oder oft auch als widersprüchlich und problematisch vor Augen führt, nimmt sie über den Rezeptionsprozess auch auf das konkrete Handeln ihrer Leser (oder Hörer) Einfl uss und kann dabei die gewohnten Orientierungsmaßstäbe entweder lediglich bestätigen oder aber kritisch unterlaufen und neuen Wertvorstellungen den Weg bereiten, also wirksam in gesellschaft liche Veränderungsprozesse eingreifen.

Mit dem Versuch, die Literatur in ihren Wechselbeziehungen zu den Orientie-rungsmustern ihrer Rezipienten zu sehen, gewinnt die vorliegende gesellschaft sbe-zogene Literaturgeschichte eine zusätzliche Dimension. Denn es geht nicht mehr nur darum, die Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Literatur zu beschreiben und ihre Geschichte neben die Wirtschaft sgeschichte oder die politische Geschichte zu stellen, sondern auch darum, die Texte auf die aus diesen historischen Bedingun-gen sich herleitenden Wertvorstellungen, Orientierungsmuster und Interessen sozia-ler Gruppen zu beziehen. Allerdings wird es, zumal im 20. Jahrhundert, immer schwieriger, dieses Konzept zu verwirklichen, weil, wie schon angemerkt, die menta-len Orientierungsmuster einzelner Gruppen sich zunehmend stärker überschneiden und dabei undeutlich werden oder sogar in sich selbst zerfallen. Insofern bleibt die Darstellung hier auch notgedrungen, von den Gegebenheiten her begründet, stärker ,innerliterarisch‘ als in den früheren Jahrhunderten geltenden Kapiteln.

Aus der Zielsetzung dieser Literaturgeschichte ergeben sich Entscheidungen für ihre Darstellung. Es liegt nahe, von den Lebensformen bzw. von den Grundzügen der Lebensführung einzelner sozialer Gruppen auszugehen, denen Literatur sich anpasst oder mit denen sie sich auseinandersetzt. Da die kulturtragenden Lebens-formen sich im Mittelalter nicht einfach ablösten, sondern innerhalb größerer Zeit-räume nebeneinander bestanden und oft auch miteinander konkurrierten, stellt sich die Frage, wie dieses Nebeneinander im Nacheinander der Darstellung zu ver-mitteln ist. Im Gegensatz zum üblichen Prinzip, die Literatur im Bemühen um Vollständigkeit chronologisch, also dem Zeitablauf unterworfen, aufzuarbeiten, werden in der vorliegenden Literaturgeschichte die literarischen Entwicklungen, die an die Lebensformen der Geistlichen und Mönche, der Regenten, der Ritter und Bürger gebunden sind, in Längsschnitten behandelt, wodurch der beschriebenen Intention konzentrierter und auch anschaulicher nachgegangen werden kann. Da-bei ist der Akzent der Beschreibung jeweils auf solche Zeitabschnitte gerichtet, in denen die Lebensformen und die Literatur dieser Gruppen in ihrer je wachsenden oder auch sich verlierenden Bedeutung besonders hervorgetreten sind. Dass die im

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Nebeneinander sich ent wickelnden Lebensformen und literarischen Reihen dabei nicht voneinander isoliert sind, sondern stets auch aufeinander einwirken, versteht sich von selbst und ist besonders im Raum der spätmittelalterlichen Stadt, in dem verschiedene Lebensformen aufeinanderstießen, ganz off ensichtlich. – Während die mittelalterlichen Lebens formen zum Teil über Jahrhunderte Bestand hatten, sind die Lebensformen der Humanisten und der Hofgesellschaft des Absolutismus sowie die Lebensführung der ,staatsbürgerlichen‘ Gesellschaft im 18. Jahrhundert stärker an einzelne Zeitabschnitte gebunden. Entsprechend umfassen die ebenfalls in Längsschnitten angelegten Darstellungen der literarischen Entwicklungen zwi-schen 1500 und 1800 nicht mehr so weite Zeiträume wie etwa die Darstellung der Literatur der Geistlichen und Mönche oder der Bürger im Mittelalter, aber auch dieser Teil präsentiert die in Wechselwirkungen mit Lebensformen und Wertvor-stellungen gesehene Literatur in größeren Einheiten. Ungewohnt ist dies zumal für die Beschreibung der Literatur des 18. Jahrhunderts (vgl. die erläuternde Vorbemer-kung zum Kapitel über das 18. Jahrhundert in P. N., 2012b.) – Auch die Literatur-geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts wird in zwei großen Einheiten und nicht in der Abfolge einzelner literarischer ,Epochen‘ (besser Strömungen) gesehen, was die leidige Diskussion über innerliterarische Abgrenzungen vermeiden hilft . Gleich-wohl werden die üblichen Bezeichnungen, wenn sie sinnvoll sind, deswegen nicht aufgegeben. Und auch in diesem Teil wird am Prinzip der gattungsbezogenen Längsschnitte festgehalten, was für die Einschätzung der ästhetischen Qualitäten der Texte vorteilhaft ist. Wird mit Längsschnitten ge arbeitet, sind gelegentliche Querverweise auf zeitlich parallel entstandene andere Gattungen unumgänglich – ebenso wie es angebracht ist, zuweilen Rückverweise auf Abschnitte der vorange-gangenen Teile der Gesamtdarstellung einzufügen.

Jede anspruchsvolle Literaturgeschichte ist darauf ausgerichtet, dem Leser Ori-entierung zu geben. Dies schließt jedoch keineswegs aus, exemplarisch ausgewählte Schwerpunkte zu setzen. Nicht nur werden einzelne Autoren besonders hervorge-hoben, während andere nur genannt oder übergangen werden; die Darstellung ist bei der Behandlung der Texte auch ein Wechselspiel von ,Dehnungen‘ und ,Raff un-gen‘, um die Begriffl ichkeit der Erzähltheorie zu verwenden. Neben ausführlicheren Besprechungen einzelner, für die gewählte sozialgeschichtliche Fragestellung besonders bedeutsam erscheinender Texte, bei denen auch der Funktion der ein-gesetzten ästhetischen Mittel nachgegangen wird, stehen Zusammenfassungen, die der Übersicht dienen und die hervorgehobenen Texte in ihrem literarischen Um-feld zu sehen erlauben. Das Ziel, möglichst nah an den Texten zu bleiben, erfordert, dass Biographisches zurücktritt.

Einführung 13

Mit der Hervorhebung einzelner Texte mischt sich diese Literaturgeschichte, die immer wieder auch die Literatur Österreichs und der Schweiz einbezieht und Hin-weise auf die europäische Literatur enthält, bewusst in die Diskussion um die Ka-nonbildung ein. Wer den auch von der Literatur mitgetragenen oder unterlaufenen Orientierungsmustern gesellschaft licher Gruppen nachgeht, fragt zugleich nach der späteren, oft sogar nach der gegenwärtigen Gültigkeit des geschichtlich ,Geworde-nen‘. Ohne diese Frage wären historische Aufarbeitungen reiner Selbstzweck. Dem zu entgehen, enthält die vorliegende Darstellung immer auch Brückenschläge von der Vergangenheit in die Gegenwart – jedenfalls in Ansätzen und in der Form von Ausblicken. Sie beziehen sich auf die Rezeptions geschichte einzelner Texte, viel mehr aber noch auf literarisch vermittelte, bis heute wirkende Vorstellungen und Denkfor-men. Das Wissen um Traditionen, in denen jeder einzelne steht, und die Auseinan-dersetzung mit ihnen gehört zur Mündigkeit und Verantwortung des aufgeklärten Menschen. Diese Mündigkeit zu festigen, ist die vornehmliche Zielsetzung dieser Literaturgeschichte, und gerade hierin liegt auch ihre didaktische Relevanz.

I. Die Lebensformen der Geistlichen und der Mönche und die Literatur der Kirche vom 8. bis zum 16. Jahrhundert

1. Die Lebensformen der Geistlichen und der Mönche seit der Spätantike I. Lebensformen und Literatur der Geistlichen und der Mönche1. Lebensformen der Geistlichen und der Mönche

In einem zwischen 1150 und 1160 entstandenen Gedicht mit dem Titel Von dem gemei-nen lebene übt sein Verfasser, der sich Heinrich nennt und vermutlich ein adliger Lai-enbruder des Klosters Melk war,1 harte Kritik an der Lebensführung der Geistlichen. Das Gedicht steht ziemlich am Anfang der Reihe unzähliger gegen Priester, Mönche und Nonnen gerichteter Äußerungen, die besonders das späte Mittelalter durchziehen und sich in allen literarischen Formen fi nden, in der Spruchdichtung, in Reimreden, in Meistersingerversen, Fastnachtsspielen und Schwänken, und nicht nur in der deut-schen Literatur, sondern ebenso in der englischen, italienischen, spanischen.

Heinrichs Text gehört in die Gruppe der uns seit dem 11. Jahrhundert bekannten Memento-mori-Dichtungen, die als Bußpredigten eindringlich mahnen, im Ange-sicht des Todes seien alle weltlichen Rangunterschiede nichtig, stehe der Mensch, der eine wie der andere, nackt vor Gottes Richterstuhl und könne dort nur bestehen, wenn er sich zuvor im irdischen Leben als Christ bewährt habe. Wenn bei Heinrich neben dem Adel auch die Geistlichkeit so bitter angegriff en wird, dann kommt diese Kritik mit dem Eifer des Bekehrten aus den eigenen Reihen und steht noch im Zusammenhang mit den von den Klöstern Cluny und Gorze ausgegangenen Reform-bewegungen (vgl. S. 25), die den Verfall des klösterlichen Lebens und die Verwelt-lichung der Kirche aufh alten wollten. Auff ällig ist an Heinrichs Gedicht dabei, dass es nicht nur allgemein an die Sündhaft igkeit des Menschen erinnert und zur Welt-entsagung auff ordert (wie kaum hundert Jahre zuvor die Memento-mori-Predigt No-kers von Zwiefalten), sondern dass es konkret auf die Lasterhaft igkeit des geistlichen Standes hinweist: auf die Habsucht der Bischöfe, das korrupte Geschäft der Priester mit Bußgeldern, auf die von ihnen betriebene Hurerei und Unzucht. Direkt geäu-ßerte, unverhüllte Vorwürfe, denen durch Ausrufe, rhetorische Fragen, Reihungen,

I. Lebensformen und Literatur der Geistlichen und der Mönche16

Gegenüberstellungen Nachdruck verliehen wird, weisen auf den Grad der Empörung Heinrichs hin. In eindringlichen Bildern des Todes und der Verwesung und Ankün-digungen der ewigen Verdammnis wird dem Leser schließlich vor Augen geführt, worin der Lohn der Lasterhaft igkeit besteht.

Die Werte und Normen, die der Priesterstand in den Augen dieses Laienbruders verletzt, sind – z. T. durch Umkehrung des Kritisierten ins Positive – deutlich ables-bar: die Übereinstimmung von Lebensführung und geistlichem Amt (das dem Pries-ter auferlegt, den Erlöser zu vertreten); die Aufsichtspfl icht und das Vorbild der Bischöfe; das Verbot, Handel zu treiben; das Gebot der Mäßigkeit; das Gebot des Gehorsams; das Gebot der Keuschheit.

Diese Gebote sind feste Bestandteile der von Geistlichen und Mönchen durch Jahrhunderte hindurch entwickelten Wertgefüge und sittlichen Lebensformen. Sich ihrer zu vergegenwärtigen, ist die Voraussetzung für das Verständnis wesentlicher Funktionen der aus ihnen erwachsenden und sie ständig refl ektierenden Literatur. Dabei sollen aus Gründen der Übersichtlichkeit die Lebensformen der Geistlichen und der Mönche zunächst getrennt verfolgt werden,2 obwohl viele der für sie gülti-gen Wertvorstellungen und Verhaltensnormen sich überschneiden

Amtsverständnis und Amtsausübung der GeistlichenVorbild für die Lebensweise der Geistlichen in den frühchristlichen Gemeinden ist das Leben der Apostel, der Jünger Christi. Christus hatte ihnen klare Weisungen gegeben, die im Neuen Testament festgehalten sind, z. B. in Mt 10, in Mk 6, in Lk 9: alles an Besitz zurückzulassen, sich um die Kranken zu kümmern, sich den anderen zu überlassen, den Frieden Gottes in den Alltag der Menschen hinein zu verkünden. Aus ihrem Mund, hatte es geheißen (vgl. Mt 10), werde Gott zu den Menschen reden. Die frühchristliche Gemeinde bezieht diese Weisungen auf alle ihre Glieder. Alle nehmen teil an der Nachfolge Christi, alle sind beteiligt an der Deutung der Schrift . Dennoch werden Ämter vergeben, Lehrämter, Botenämter, das Amt des Aufsehers über den Gottesdienst. Der Vorsteher der Gemeinde ist der Presbyter, der Priester. Wer ein derartiges Amt bekleidet, unterscheidet sich grundsätzlich vom Schamanen, Wahrsager, Opferbeschauer der alten Hochkulturen, der durch rituelle Handlungen und Tabuvorschrift en die Götter und Dämonen günstig zu stimmen sucht und den als einem Mittler zwischen Göttern und Menschen selbst ein numinoser Schauder umgibt. Das christliche Amt des Priesters ist zunächst frei von Magie, es ist allge-mein zugänglich, wenn auch, jüdischer Tradition folgend, den Männern vorbehalten.

Erst im Lauf der ersten Jahrhunderte nach Christus und mit der Ausdehnung des Christentums verfestigen sich bestimmte Funktionen, bilden sich Ordnungen, Insti-

1. Lebensformen der Geistlichen und der Mönche 17

tutionen, schließlich ein Kirchenrecht. Die Leitung einer Gemeinde hat ein Aufseher (der Episkopus, der Bischof), ihm unterstellt sind Älteste (Presbyter, Priester), ferner Gehilfen (Diakone, Diener), Vorleser, Türhüter usw. Unter den Gemeindebischöfen erringen einige besondere Bedeutung (Patriarchen, Primaten, Metropoliten), und immer stärker festigt sich allmählich der Primat des römischen Bischofs, der im Westreich zum heiligen Vater aller Gemeinden erklärt wird.

Die Institutionalisierung einer derartigen Hierarchie erinnert an die staatliche Beamtenordnung unter den römischen Kaisern und ist auch keinesfalls losgelöst von politischen Entwicklungen zu sehen. Wichtiger ist die Trennung, die sich zwischen Laien und Amtsinhabern entwickelt. Sie ist einerseits durch den Institutionalisie-rungsprozess der sich vergrößernden Kirche, andererseits durch die theologische Kompetenz erfordernden Auseinandersetzungen mit gnostischen Lehren begründet. Der Amtsinhaber in der christlichen Gemeinde wird nun von den Laien durch eine ,Weihe‘ abgehoben, die zu geben sich der Bischof vorbehält, der wiederum nur durch andere Bischöfe ordiniert werden kann. Durch das Sakrament der Priesterweihe erhält der Geistliche die spirituelle Gabe, die den Aposteln versprochen worden war: „Es soll euch zur Stunde gegeben werden, was ihr reden sollt, denn ihr seid es nicht, die da reden, sondern eures Vaters Geist ist es, der durch euch redet“ (Mt 10,19 f.). Der Priester wird durch die Weihe zum göttlichen Werkzeug, das die Botschaft der Apostel weitergibt und im Kultus gemäß der kirchlichen Ordnung das Opfer Christi sakramental nachvollzieht. Die durch ihn vollzogenen heiligen Handlungen wirken auch da – hierin liegt die Amtsgnade des Priesters, die er ,für andere empfangen‘ hat –, wo sein sittliches Verhalten dem Anspruch, menschlicher Stellvertreter Christi zu sein, nicht gerecht wird.

Durch diese Abgehobenheit der Amtsträger von den Laien und durch die priester-lich-rituellen Verfahren wird nun wieder für alte magische Vorstellungen, die in den urchristlichen Gemeinden schon zurückgedrängt worden waren, Raum geschaff en.

Der Kirche als Institution hat die Trennung von Amtsträgern und Laien zweifellos genützt. Dies zeigt allein die Missionsgeschichte. Den heidnischen Germanen erschienen die christlichen Geistlichen, so sie Dämonen vertrieben, Donareichen umschlugen, Weihwasser sprengten, zwar nicht immer, aber eben ausreichend häufi g als Hilfe und Sieg magisch herbeizaubernde Abgesandte eines Gottes, der stärker war als ihre Götter. Natürlich liegen hierin auch Missverständnisse derer, die bekehrt wurden und die den christlichen Kultus lediglich als magische Praxis auff assten. Aber der Gefahr eines solchen Missverständnisses ist die Kirche auch in späteren Jahrhunderten und auch unter ,Christen‘ nie wirklich Herr geworden. Die von Pries-tern oder Pfarrern vorgenommenen kultischen Handlungen wie Taufe, Firmung,