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Plenarprotokoll 14/6 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 6. Sitzung Bonn, Freitag, den 13. November 1998 I n h a l t : Änderung einer Ausschußüberweisung ........... 319 A Tagesordnungspunkt 1: Fortsetzung der Aussprache zur Regie- rungserklärung des Bundeskanzlers ...... 319 B in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 10: a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines Steuerentlastungsgesetzes 1999/2002 (Drucksache 14/23) .............................. 319 B b) Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zur Kindergeldauszahlung und zur Erstellung der Lohnsteuertabellen 1999 (Drucksache 14/28) ..................... 319 B c) Antrag der Fraktion der PDS Wiedererhebung der Vermögen- steuer (Drucksache 14/11) ................... 319 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der PDS Besteuerung von Luxusgegenständen (Drucksache 14/27) .................................... 319 C Oskar Lafontaine, Bundesminister BMF ......... 319 C Friedrich Merz CDU/CSU ...................... 326 D, 333 A Joachim Poß SPD ................... 331 A, 331 D, 336 D Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. .................. 331 C Ingrid Matthäus-Maier SPD.................... 332 D, 340 D Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN ................................................................. 333 C Dr. Hermann Otto Solms F.D.P....................... 336 C Dr. Christa Luft PDS ....................................... 338 C Carl-Ludwig Thiele F.D.P. .......................... 341 D Gerda Hasselfeldt CDU/CSU .......................... 345 A Klaus Wolfgang Müller (Kiel) BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN .................................... 346 D Dr. Kurt Faltlhauser, Staatsminister (Bayern) . 348 B Carl-Ludwig Thiele F.D.P. .............................. 350 B Hans Georg Wagner SPD ............................ 352 A Joachim Poß SPD ............................................ 353 A Peter Harald Rauen CDU/CSU........................ 354 D Dr. Barbara Höll PDS ...................................... 356 C Tagesordnungspunkt 11: Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundes- regierung Deutsche Beteiligung an der NATO- Luftüberwachungsoperation über dem Kosovo (Drucksachen 14/16, 14/32) ......... 357 C Hans-Ulrich Klose SPD ................................... 357 D Joseph Fischer, Bundesminister AA ....... 358 B, 364 D Paul Breuer CDU/CSU .................................... 360 A Rudolf Scharping, Bundesminister BMVg ...... 361 C Ulrich Irmer F.D.P........................................... 363 B Heidi Lippmann-Kasten PDS .......................... 364 A Volker Rühe CDU/CSU .................................. 366 A Ernot Erler SPD ............................................... 366 D

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  • Plenarprotokoll 14/6

    Deutscher BundestagStenographischer Bericht

    6. Sitzung

    Bonn, Freitag, den 13. November 1998

    I n h a l t :

    Änderung einer Ausschußüberweisung ........... 319 A

    Tagesordnungspunkt 1:

    Fortsetzung der Aussprache zur Regie-rungserklärung des Bundeskanzlers ...... 319 B

    in Verbindung mit

    Tagesordnungspunkt 10:a) Erste Beratung des von den Fraktionen

    SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN eingebrachten Entwurfs einesSteuerentlastungsgesetzes 1999/2002(Drucksache 14/23) .............................. 319 B

    b) Antrag der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENZur Kindergeldauszahlung und zurErstellung der Lohnsteuertabellen1999 (Drucksache 14/28) ..................... 319 B

    c) Antrag der Fraktion der PDS Wiedererhebung der Vermögen-

    steuer (Drucksache 14/11) ................... 319 C

    in Verbindung mit

    Zusatztagesordnungspunkt 3:

    Antrag der Abgeordneten Dr. BarbaraHöll, Dr. Christa Luft, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der PDS

    Besteuerung von Luxusgegenständen(Drucksache 14/27) .................................... 319 C

    Oskar Lafontaine, Bundesminister BMF ......... 319 C

    Friedrich Merz CDU/CSU ...................... 326 D, 333 A

    Joachim Poß SPD ................... 331 A, 331 D, 336 D

    Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. .................. 331 C

    Ingrid Matthäus-Maier SPD.................... 332 D, 340 D

    Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN................................................................. 333 C

    Dr. Hermann Otto Solms F.D.P....................... 336 C

    Dr. Christa Luft PDS ....................................... 338 C

    Carl-Ludwig Thiele F.D.P. .......................... 341 D

    Gerda Hasselfeldt CDU/CSU .......................... 345 A

    Klaus Wolfgang Müller (Kiel) BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN .................................... 346 D

    Dr. Kurt Faltlhauser, Staatsminister (Bayern) . 348 B

    Carl-Ludwig Thiele F.D.P. .............................. 350 B

    Hans Georg Wagner SPD ............................ 352 A

    Joachim Poß SPD ............................................ 353 A

    Peter Harald Rauen CDU/CSU........................ 354 D

    Dr. Barbara Höll PDS...................................... 356 C

    Tagesordnungspunkt 11:

    Beschlußempfehlung des AuswärtigenAusschusses zu dem Antrag der Bundes-regierungDeutsche Beteiligung an der NATO-Luftüberwachungsoperation über demKosovo (Drucksachen 14/16, 14/32) ......... 357 C

    Hans-Ulrich Klose SPD................................... 357 D

    Joseph Fischer, Bundesminister AA....... 358 B, 364 D

    Paul Breuer CDU/CSU.................................... 360 A

    Rudolf Scharping, Bundesminister BMVg...... 361 C

    Ulrich Irmer F.D.P........................................... 363 B

    Heidi Lippmann-Kasten PDS .......................... 364 A

    Volker Rühe CDU/CSU .................................. 366 A

    Ernot Erler SPD............................................... 366 D

  • II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. November 1998

    Dr. Klaus Kinkel F.D.P.................................... 367 C

    Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 368 B

    Wolfgang Gehrcke PDS................................... 369 A

    Namentliche Abstimmung ............................... 369 D

    Nächste Sitzung ............................................... 372 A

    Anlage 1

    Liste der entschuldigten Abgeordneten ........... 373 A

    Anlage 2

    Erklärung nach § 31 GO der AbgeordnetenAnnelie Buntenbach, Monika Knoche, Chri-stian Simmert, Hans Christian Ströbele undIrmingard Schewe-Gerigk (alle BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmungüber die Beschlußempfehlung des Auswärti-gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundes-regierung: Deutsche Beteiligung an der

    NATO-Luftüberwachungsoperation über demKosovo (Tagesordnungspunkt 11)................... 373 B

    Anlage 3

    Erklärung nach § 31 GO der AbgeordnetenWinfried Nachtwei, Winfried Hermann, Ker-stin Müller (Köln), Gila Altmann (Aurich),Angelika Beer, Volker Beck (Köln), Hans-Josef Fell, Klaus Wolfgang Müller, ClaudiaRoth (Augsburg), Christian Sterzing, SylviaIngeborg Voss (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN) zur Abstimmung über die Be-schlußempfehlung des Auswärtigen Aus-schusses zu dem Antrag der Bundesregierung:Deutsche Beteiligung an der NATO-Luftüberwachungsoperation über dem Koso-vo (Tagesordnungspunkt 11) ........................... 374 A

    Anlage 4

    Amtliche Mitteilungen..................................... 375 A

  • Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. November 1998 319

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    6. Sitzung

    Bonn, Freitag, den 13. November 1998

    Beginn: 10.30 Uhr

    Präsident Wolfgang Thierse: Meine Damen undHerren, die Sitzung ist eröffnet.

    Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, habe ichIhnen noch folgendes mitzuteilen. In der gestrigen Sit-zung wurde der Antrag der Fraktion der PDS zumVermögenszuordnungsgesetz auf Drucksache 14/17zur federführenden Beratung an den Ausschuß für An-gelegenheiten der neuen Länder und zur Mitberatung anden Ausschuß für Wirtschaft und Technologie, an denRechtsausschuß und an den Haushaltsausschuß überwie-sen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll dieFederführung jedoch beim Rechtsausschuß liegen. SindSie mit dieser Änderung einverstanden? – Das ist offen-bar der Fall. Dann ist so beschlossen.

    Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:

    Fortsetzung der Aussprache zur Regierungserklä-rung des Bundeskanzlers

    Die Themenbereiche sind jetzt Finanzen und Steuern.

    Außerdem rufe ich die Tagesordnungspunkte 10 a bis10 c sowie den Zusatzpunkt 3 auf:

    10. a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPDund BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Steuerentlastungsge-setzes 1999/2000/2002

    – Drucksache 14/23 –

    Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß (federführend)Ausschuß für Wirtschaft und TechnologieAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAussschuß für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuß für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuß für Bildung und ForschungAusschuß für TourismusHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO

    b) Beratung des Antrags der Fraktionen SPDund BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

    Zur Kindergeldauszahlung und zur Er-stellung der Lohnsteuertabellen 1999

    – Drucksache 14/28 –

    c) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS

    Wiedererhebung der Vermögensteuer

    – Drucksache 14/11 –

    Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß (federführend)Ausschuß für Wirtschaft und Technologie

    ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Bar-bara Höll, Dr. Christa Luft, Heidemarie Ehlert,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS

    Besteuerung von Luxusgegenständen

    – Drucksache 14/27 –

    Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß

    Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache drei Stunden vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

    Es wird mir gerade mitgeteilt, daß das Plenum nachdieser Debatte für zirka 30 Minuten wegen einer Frakti-onssitzung der SPD unterbrochen werden soll. Ich bitteum Ihr Einverständnis.

    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU], zurSPD gewandt: Habt ihr Probleme?)

    Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bun-desminister der Finanzen, Oskar Lafontaine.

    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das istdie Abschiedsrede!)

    Oskar Lafontaine, Bundesminister der Finanzen:Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärungdas wichtigste Ziel der Bundesregierung deutlich ge-macht: Das ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.Ich glaube, daß alle in diesem Hause zustimmen werden,wenn ich sage, daß wir, solange die Arbeitslosenzahl imJahresdurchschnitt etwa 4 Millionen beträgt, nicht von

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    einer zufriedenstellenden Situation, nicht von einemwohlbestellten Haus sprechen können.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und derPDS)

    Ich möchte ausdrücklich feststellen, daß wir uns auchmit den Oppositionsparteien in dem Ziel einig sind, dieArbeitslosigkeit zurückzuführen. Diese Feststellung istmir wichtig.

    Die Diskussion geht also lediglich um die Frage:Welche Maßnahmen müssen ergriffen werden, um dieArbeitslosigkeit zurückzuführen? Eine der Maßnahmen,die wir ergreifen wollen, ist eine Veränderung desSteuerrechts. Ich möchte aber zu Beginn darauf hin-weisen, daß ich nicht der Auffassung bin, daß man alleinoder auch nur in erster Linie mit dem Steuerrecht dieAufgabe bewältigen kann, die Arbeitslosigkeit zurück-zuführen. Das kann man auch nicht ausschließlich mitMaßnahmen zur Senkung der Lohnnebenkosten. Viel-mehr braucht man, wenn man die Arbeitslosigkeit zu-rückführen will, ein ganzes Bündel von Maßnahmen, dieaufeinander abgestimmt sein müssen. Eine dieser Maß-nahmen ist die Reform des Steuerrechts.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Ich sage das deshalb, weil – sicherlich aus Überzeu-gung – von Vertretern der jetzigen Oppositionsparteienim Bundestagswahlkampf immer wieder geäußert wur-de, das Steuerrecht sei der Schlüssel zur Bekämpfungder Arbeitslosigkeit. Ich werde nachher noch im einzel-nen darauf eingehen.

    Wir sind der Auffassung, daß das Steuerrecht einewichtige Rolle spielt. Aber wir würden das Steuerrechtinsbesondere angesichts der Tatsache, daß wir inDeutschland die niedrigste Steuerquote in Europa haben,überfordern, wenn wir glaubten, das Steuerrecht bietedie Möglichkeit, ganz entscheidende Impulse zu geben,mit denen die Arbeitslosigkeit zurückgeführt werdenkann.

    Die unterschiedlichen Steuerkonzepte standen bei derBundestagswahl zur Diskussion. Die ehemaligen Regie-rungsparteien haben ebenso für ihre Konzepte geworben,wie SPD und Grüne für die ihren geworben haben; dieKonzepte unterscheiden sich deutlich voneinander. Inso-fern kann man wirklich davon sprechen – da die Steuer-politik ein Hauptthema der Bundestagswahl war –, daßdie Mehrheit der Wählerinnen und Wähler die Steuerkon-zeption befürwortet und gutgeheißen hat, die wir Ihnenjetzt in Form eines Gesetzentwurfes vorstellen.

    (Beifall bei der SPD)

    Unsere Steuerpolitik hat einen Ansatz, von dem wirglauben, daß er in den letzten Jahren viel zuwenig be-achtet worden ist, nämlich den Ansatz, daß das Steuer-recht auch Steuergerechtigkeit herstellen muß, um vonder großen Mehrheit der Bevölkerung angenommen zuwerden.

    (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN und der PDS)

    Verstößt man gegen den Grundsatz der Steuergerechtig-keit im Steuerrecht, dann ist das nicht in erster Linieeine ökonomische Frage, sondern betrifft in erster Liniedie Gesamtgesellschaft. Es geht hier um den Zusam-menhalt einer Gesellschaft. Der Zusammenhalt einerGesellschaft wird gestärkt und gefestigt, wenn die Steu-erzahlerinnen und Steuerzahler den Eindruck haben: Esgeht in unserem Staate gerecht zu.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Deshalb haben die Meinungsforschungsinstitute ins-gesamt von der Gerechtigkeitslücke gesprochen, unddiese hat die Diskussion im Vorfeld der Bundestags-wahlen bestimmt. Sie haben festgestellt, daß es Auftragder Wählerinnen und Wähler war, diese Gerechtigkeits-lücke zu schließen. Die Regierung Schröder nimmt dieseAufgabe an und setzt sie jetzt in die Tat um.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Unsere Steuerrechtsvorschläge zielen darauf ab, diegroße Mehrheit der Bevölkerung zu entlasten. Es ist kei-ne Aussage, die nur aus dem Dialog der Parteien ent-standen ist, wenn wir feststellen, daß die Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer in den letzten Jahren überpro-portional belastet worden sind, während andere Gruppenunserer Bevölkerung überproportional entlastet wordensind. Das gilt nach der Statistik insbesondere für dieBelastung der Arbeitnehmerschaft im Verhältnis zuBeamten, zu Selbständigen, zu Unternehmern und ande-ren Gruppen der Bevölkerung. Deshalb war es notwen-dig, gezielt die Arbeitnehmerschaft und die Familien zuentlasten.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. HeidemarieEhlert [PDS])

    Diesem politischen Anliegen trägt dieser GesetzentwurfRechnung.

    Dieser Gesetzentwurf unterscheidet sich an einerwichtigen Stelle von den üblichen Verhaltensweisen vonRegierungen – nicht nur in Deutschland, sondern invielen Staaten der Welt. Häufig sind vor den WahlenSteuersenkungen versprochen worden, während nachden Wahlen die Steuern erhöht wurden.

    (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Bei Ihnenauch!)

    Eine solche Vorgehensweise bevorzugte auch die alteKoalition. Nicht zuletzt deshalb haben Sie in der Bevöl-kerung soviel Vertrauen verloren.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN)

    Wir setzen mit diesem Steuerreformentwurf genau dasum, was wir den Wählerinnen und Wählern vor derWahl versprochen haben. Das ist, so glaube ich, tatsäch-lich ein Neuanfang der Politik in Deutschland.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN)

    Bundesminister Oskar Lafontaine

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    Diese Steuerreform ist arbeitnehmerfreundlich, sie istaber auch familienfreundlich. Ich habe kein Verständ-nis dafür gehabt, daß im Vorfeld der Auseinander-setzungen immer wieder, auch von Industrieverbänden,behauptet wurde – von der Sache her im übrigen fälsch-licherweise –, die Erhöhung des Kindergeldes schaffekeinen einzigen Arbeitsplatz. Der ökonomische Zu-sammenhang ist die eine Sache – klar ist, daß die Fami-lien, die auf jede Mark angewiesen sind, diese auch aus-geben, und somit wird sie in Nachfrage umgesetzt –,

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    aber uns geht es um etwas anderes: Es genügt nicht,immer nur die Bedeutung der Familie zu beschwören;wir müssen auch die materiellen Grundlagen dafürschaffen, daß die Familien in unserem Staate gefördertwerden.

    (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN und der PDS)

    Deshalb haben wir kein Verständnis dafür, daß die Op-positionsparteien so hartnäckig Widerstand gegen dieVerbesserung der Stellung der Familien im Steuerrecht

    (Michael Glos [CDU/CSU]: Kappung desEhegattensplittings!)

    und die Erhöhung des Kindergeldes geleistet haben.

    (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehr wahr!)

    Ich bin der Auffassung: Es wäre auch in Ihrem Interesse,diese Haltung zu korrigieren. Es ist nicht übertrieben,wenn die Familienverbände und die Kirchen feststellen,daß die Familien auch im Steuerrecht in den letzten Jah-ren zu schlecht gestellt worden sind. Deshalb wollen wirdas korrigieren.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN)

    Im Zusammenhang mit einer Steuerreform, die ar-beitnehmerfreundlich und familienfreundlich ist, wirdvon Ihrer Seite, meine Damen und Herren, immer derVorwurf der Umverteilung erhoben. Dies ist ein ganzund gar spaßiger Vorwurf, und zwar deshalb, weil dasSteuerrecht stets – in welcher Form auch immer – eineUmverteilung darstellt. Die Frage ist nur, wem gegebenund wem genommen wird, wer der Nutznießer und werder Benachteiligte der Umverteilung ist.

    (Beifall bei der SPD und der PDS sowie beiAbgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

    Wenn also die einen Umverteiler die anderen Um-verteiler Umverteiler nennen, dann mag das zwar ganzspaßig sein; aber hier wird auch der Unterschied deut-lich: Man kann von unten nach oben umverteilen in demGlauben, daß damit die Wachstumskräfte und die Inve-stitionskräfte gestärkt würden; man kann aber auch fürmehr Steuergerechtigkeit sorgen und Ungerechtigkeitenabbauen im Hinblick darauf, daß wir in der Wirtschafts-politik zwei Augen haben müssen, Angebot und Nach-frage, und unter Beachtung der Tatsache, daß eine stän-

    dige Schwächung der Nachfrage zum Verlust von Ar-beitsplätzen führt.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und derPDS)

    Ihr Vorwurf der Umverteilung trifft uns mitten insHerz. Sie haben recht: Ihre Umverteilung haben wirrückgängig gemacht. Die Umverteilung von unten nachoben ist gestoppt. Jetzt wird der großen Mehrheit desVolkes gegeben. Das ist unser Wählerauftrag; und genauden setzen wir um.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Bei der sogenannten Gegenfinanzierung, meineDamen und Herren, sind natürlich auch die Vertei-lungswirkungen und die ökonomischen Auswirkungenzu beachten. Wir haben Ihrem Steuerkonzept widerspro-chen, weil es einen systematischen Fehler hatte; daßEntlastungswirkungen zwar immer wieder angepriesenworden sind, aber zuwenig darauf geachtet wurde, wasdie Entlastung für den einzelnen bedeutet.

    Es hat keinen Sinn, von Steuerentlastungen zu reden,wenn dabei – wie das in der Debatte immer wieder ge-schehen ist – die Begriffe völlig durcheinandergemengtwerden. Steuerentlastung für die Gesamtheit, also Net-toentlastung, sagt zunächst noch gar nichts darüber aus,wer der Nutznießer und wer der Benachteiligte einersolchen Entlastung ist. Wir haben das durchgerechnet.Im Gegensatz zu Ihrem Steuerkonzept werden bei unsdie Leistungsträger der aktiven Arbeitnehmerschaftnicht belastet, sondern entlastet. Das ist der Unterschiedzwischen Ihrem und unserem Konzept.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und derPDS)

    Sie haben – das ist ja nicht zu bestreiten – mit steuer-systematischen Gründen dafür geworben, die Schichtar-beiter zu besteuern. Sie haben – das ist ja nicht zu be-streiten – mit steuersystematischen Gründen dafür ge-worben, die Kilometerpauschale drastisch zu reduzieren.Sie haben – das ist ja nicht zu bestreiten – auch dafürgeworben – von der Steuerwissenschaft, wie ich meine,falsch beraten –, den Arbeitnehmerpauschbetrag deut-lich zu reduzieren. Aber Sie haben versäumt, durchzu-rechnen, was dies im einzelnen heißt. Dies korrigiert dieBundesregierung. Die Facharbeiter, die Krankenschwe-stern, die Fernfahrer, die Busfahrer, sie dürfen nicht dieVerlierer einer Steuerreform sein; sie sind bei uns dieGewinner der Steuerreform.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und derPDS)

    Natürlich, meine Damen und Herren, würden wirgern auch bei der Nettoentlastung noch größere Schrittemachen. Obwohl sich die Vorurteile hartnäckig halten,obwohl viele meinen, Deutschland sei ein Hochsteuer-land, sind die Tatsachen ganz, ganz andere. Tatsache ist,daß wir die niedrigste Steuerquote in der Europäischen

    Bundesminister Oskar Lafontaine

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    Gemeinschaft haben. Wer in einer solchen Situationsagt, wir müßten die Steuerquote noch weiter zurückfüh-ren, der ist damit auch für schlechtere Schulen, schlech-tere Forschung, schlechtere Straßen, schlechtere Ausbil-dung, schlechtere Krankenhäuser, schlechtere Kinder-gärten usw. Man darf den Leuten doch nicht Dinge er-zählen, die nicht zusammenpassen!

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Wer für ein weiteres Absenken der Steuerquote plä-diert, plädiert auch für ein deutliches Zurückfahren deröffentlichen Infrastrukturleistungen. Das muß einmalgesagt werden, um die Debatte wieder auf eine rationaleGrundlage zu stellen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und derPDS)

    Wenn ich höre, meine Damen und Herren, wie vor-bildlich die Holländer sind, wie vorbildlich die Dänensind, dann bin ich manchmal versucht, in Deutschlanddie Steuer- und Abgabenquote Hollands oder Däne-marks einzuführen. Dann möchte ich das Geschrei der-jenigen hören, die Holland und Dänemark immer alsgroße Vorbilder in der Europäischen Gemeinschaft dar-stellen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN)

    Natürlich entlasten wir nicht nur Arbeitnehmer undFamilien. Vielmehr greifen wir Vorschläge der Wirt-schaftsverbände auf, die darauf abzielten, die nominalenSteuersätze der Wirtschaft zu senken, sie aber gegenzu-finanzieren durch eine Verbreiterung der Bemessungs-grundlage. Darüber diskutieren wir jetzt viele Jahre.Interessanterweise haben eine Reihe von Vorschlägenzur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, die insbe-sondere in Nordrhein-Westfalen entwickelt worden sind,auch in das Steuerkonzept der ehemaligen RegierungEingang gefunden. Daran ist nichts Verwerfliches.Wenn wir da einer Auffassung sind, ist das in Ordnung.

    Nur besteht hier ein Konflikt, den man mit den Wirt-schaftsverbänden austragen muß. Die Wirtschaftsver-bände wollen nämlich in einem falschen Verständnisvon Lobbyismus die Öffentlichkeit glauben machen,man könnte amerikanische Steuersätze und deutscheAbschreibungsmöglichkeiten haben. Das geht nicht. Dasist unehrlich. Deshalb bitten wir hier um etwas mehrWahrhaftigkeit.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN)

    Meine Damen und Herren, es ist immer wieder kriti-siert worden, daß wir die Steuersätze erst schrittweisesenken. Aber das ergibt sich aus der Systematik: Wennwir Steuersubventionen abbauen, dann bauen sich dieMehreinnahmen des Staates erst langsam auf. Wenn wir,wie wir überall lesen, bei der niedrigsten Steuerquote inEuropa – ich wiederhole das – Haushaltsprobleme ha-ben, wäre es fahrlässig und nicht verantwortbar, Steuer-senkungen weiterhin auf Pump zu finanzieren. Deshalbmußten wir diesen Weg gehen und die Steuersätze

    schrittweise in dem Maße senken, in dem der StaatMehreinnahmen hat.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN)

    Im übrigen haben wir 70 Subventionstatbestände inden Gesetzentwurf geschrieben. Selbstverständlich kannan diesen Listen einiges geändert werden. Die Bundes-regierung hätte ein ganz falsches Verständnis von par-lamentarischer Beratung, wenn wir der Auffassung wä-ren: Wir bringen ein solch umfangreiches Gesetz in dieAusschüsse ein, und es kommt genauso aus den Aus-schüssen, wie es in die Ausschüsse hineingegangen ist.Es gibt eine ganze Reihe von sachbezogenen Argumen-ten, bei denen wir nicht sicher sind, ob sie nicht eineÜberprüfung bestimmter Streichtatbestände erfordern.

    Aber eines möchte ich für die Bundesregierung sa-gen: Das Gesamtkonzept muß insoweit durchgehaltenwerden, als nicht in unvertretbarem Ausmaße Einnah-meausfälle beschlossen werden. Denn es ist klar: Steuer-senkungen will jeder, aber bei der Gegenfinanzierungsind dann viele zurückhaltend und zögerlich.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Insoweit glauben wir, eine in sich ausgewogene Vor-lage gemacht zu haben, die wir immer auch – das sageich auch bei allen anderen Maßnahmen, die ich anspre-che – im Hinblick auf die Europäische Gemeinschaftsehen müssen. Das ist vielleicht noch zuwenig bedachtworden. Aber wir müssen uns angewöhnen, fast alleVorlagen, die wir zu Steuer-, Sozial- und ähnlichen Ge-setzen machen, immer auch auf die Vereinbarkeit mitden Zielsetzungen der Europäischen Gemeinschaft hindurchzuchecken. Denn die Europapolitik wird mehr undmehr zur Innenpolitik, und das verlangt eine schrittweiseHarmonisierung der jeweiligen Vorschriften in den ein-zelnen Ländern.

    (Beifall bei der SPD)

    Hier genau ergibt sich auch die Verbindung zu denLohnnebenkosten. Auch bei den Lohnnebenkosten ha-ben wir ein anderes Konzept als Sie. Im ersten Punkt desKonzeptes stimmen wir sicherlich überein. Dieser lautet:Die Lohnnebenkosten sind zu hoch; sie müssen auchdurch strukturelle Reformen gesenkt werden. Ich möchtehier ganz klar sagen – der Bundeskanzler hat es in seinerRegierungserklärung angesprochen –: Wer bei der Höheder Lohnnebenkosten glaubt, man komme ohne struktu-relle Reformen aus, der macht einen Fehler.

    (Beifall des Abg. Volker Kröning [SPD])

    Worüber wir wieder streiten müssen, ist, wie das imeinzelnen aussehen soll. Das hatte ich hier an Hand derRentenformel erläutert. Ich will es wiederholen, damitman mir nicht den Vorwurf macht: Der redet nur so all-gemein daher. Wir haben bei der Rentenformel kritisiert,daß die Kürzungen über den gesamten Rententarif vor-genommen worden sind. Dann wurden wir mitten imWahlkampf mit der jetzt vielleicht schon wieder ver-gessenen Tatsache konfrontiert, daß die Unionsparteieninsbesondere vor der bayerischen Landtagswahl die

    Bundesminister Oskar Lafontaine

  • Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. November 1998 323

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    Rentenkürzung für die Rentnerinnen und Rentnermit mindestens 45 Versicherungsjahren zurücknehmenwollten.

    Das macht nun im Rahmen von Reformvorstellungengar keinen Sinn, nämlich daß die höheren Renten vonKürzungen ausgenommen werden und die kleinstenRenten gekürzt werden. Solche Wege können wir nichtgehen. Deshalb mußten wir hier Ihre sogenannte Reformzurücknehmen,

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN)

    zumal Sie selbst – das möchte ich bei der öffentlichenDiskussion der Redlichkeit halber sagen – Ihre soge-nannte Reform zurücknehmen wollten, allerdings an derfalschen Stelle.

    Bei der Senkung der Lohnnebenkosten wollen wireinem weiteren Prinzip unserer Regierungsarbeit Rech-nung tragen; das ist das Prinzip der Gerechtigkeit. Die-ses gilt auch für das Steuerrecht. Was meine ich da-mit? Auf Grund der Struktur der Zusammensetzung derSozialversicherungsbeiträge nimmt derjenige, der dieSozialkassen über Gebühr in Anspruch nimmt, auchUmverteilungseffekte in Kauf. Er belastet nämlich überGebühr den Teil der Arbeitnehmerschaft, der dieHauptlast der Sozialversicherungsbeiträge trägt. Insofernwar es ein Fehler von Ihnen, zur Finanzierung derdeutschen Einheit nicht in erster Linie die Steuer, son-dern die Sozialabgaben heranzuziehen. Das war einefalsche Umverteilung, die wir schrittweise korrigierenmüssen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Das Gerechtigkeitsempfinden unseres Volkes besagt,daß die Finanzierung des Aufbaus Ost nicht in ersterLinie eine Aufgabe desjenigen Teils der Bevölkerungist, der Sozialversicherungsbeiträge zahlt, natürlich er-gänzt um die Beiträge der Unternehmerschaft; vielmehrist dies eine Aufgabe der Allgemeinheit, also aller Steu-erzahlerinnen und Steuerzahler in Deutschland, nachdem Prinzip der Leistungsfähigkeit. Deshalb war dieseine Fehlentscheidung, die Sie getroffen haben, derenUrsache und Entstehen wir verfolgen konnten. Ichwollte das hier noch einmal anmerken.

    Neben der Gerechtigkeit haben wir bei der Senkungder Lohnnebenkosten noch ein anderes Ziel im Auge,das darin besteht, Arbeit und Umwelt miteinander zuversöhnen. Es ist in der ganzen Europäischen Gemein-schaft nicht mehr streitig, daß es richtig ist, die Besteue-rung der Arbeitsplätze zurückzuführen und die Besteue-rung des Umweltverbrauchs schrittweise und maßvoll zuerhöhen. Deshalb sehen wir diese beiden Reformvor-stellungen im Zusammenhang. Sie dienen der Gerech-tigkeit. Sie entlasten die Arbeit, und sie dienen auch län-gerfristig bei der Neuordnung des Abgabenrechts demUmweltschutz. Insofern handelt es sich um eine wirkli-che Reform, die wir auf den Weg bringen mußten, vonder wir wußten, daß viele von Ihnen hier ähnliche Vor-haben umsetzen wollten, aber Sie konnten sich nichtdarauf verständigen. Deshalb mußte eine neue Regie-

    rung gewählt werden, um jetzt diese Reform in Angriffzu nehmen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN)

    Auch bei den Lohnnebenkosten und der Energiever-brauchsbesteuerung möchten wir auf die Notwendigkeitder europäischen Harmonisierung hinweisen. Es istschlicht und einfach eine Tatsache, daß wir auch beidem Vergleich unserer Steuern und Abgaben mit ande-ren immer wieder die europäischen Nachbarn im Augehaben müssen und daß wir bei der Harmonisierung ei-nen Bedarf haben. Hier ergibt sich insgesamt eine großeAufgabe für die Europäische Gemeinschaft, die heuteangesprochen werden muß. Der Steuerwettbewerb, wirsagen: Steuersenkungswettlauf zwischen den einzelneneuropäischen Mitgliedstaaten, ergänzt um die soge-nannten Steueroasen, hat zu einem nicht haltbaren Zu-stand der Ungerechtigkeit innerhalb der EuropäischenGemeinschaft geführt. Man kann es nicht oft genug sa-gen: Während sich diejenigen, die Geld, hohe Einkom-men und Gewinne haben, durch Wohnsitzverlagerung,Kontoverlagerung, Firmensitzverlagerung oder Gewinn-verlagerung der nationalen Besteuerung entziehenkonnten und noch immer können, mußten die Arbeit-nehmer in ganz Europa immer höhere Lohnsteuern,Verbrauchsteuern und Sozialabgaben zahlen. Das müs-sen wir ändern, um Gerechtigkeit auch auf europäischerEbene herzustellen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und derPDS)

    Im übrigen sind uns bei der Verwirklichung diesesPrinzips andere Staaten vorangegangen, Staaten, die– ich nenne Holland und Dänemark als Beispiele; icherwähne auch den extrem hohen Benzinpreis in Groß-britannien – uns immer wieder als Vorbilder hingestelltwurden. Diese Staaten sind bei der Veränderung derSteuer- und Abgabenstruktur in bezug auf Lohnneben-kosten und die Belastung durch Energieverbrauchsteu-ern vorangeschritten. Insofern sehen wir eine Maßnahmevor, die sich sehr wohl in den Kontext der europäischenZusammenarbeit einbetten läßt.

    Neben der Steuerpolitik und der Politik bei den Sozi-alversicherungsausgaben ist natürlich auch die Haus-haltspolitik stets heranzuziehen, wenn wir über die Be-kämpfung der Arbeitslosigkeit reden. Nur, meine Da-men und Herren, es ist mittlerweile unstreitig in ganzEuropa, daß auf Grund des hohen Schuldenaufbaus derletzten Jahre – das gilt nicht nur für Europa, das giltauch für die großen Industrienationen außerhalb Europas– die Möglichkeiten der Haushaltspolitik, die Arbeitslo-sigkeit zu bekämpfen, immer mehr reduziert wordensind.

    Auch hierzu noch einmal etwas zur Debatte der letz-ten Tage. Es mag ja sein, daß der eine oder andere diegegenwärtige Haushaltssituation als außerordentlich be-friedigend ansieht. Darüber will ich mich gar nichtstreiten. Nur, eine Kennziffer jeden Haushalts ist dieZins-Steuer-Quote. Bei einer Zins-Steuer-Quote von 26Prozent sind wir der Auffassung, daß der Haushalt im

    Bundesminister Oskar Lafontaine

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    Ungleichgewicht ist und daß die Spielräume der Haus-haltspolitik so gering sind, wie sie in der BundesrepublikDeutschland noch nie waren. Das ist doch eine Tatsache.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN)

    Ich wurde in früheren Jahren – wenn Sie mir dieseReminiszenz gestatten – immer mit dem Einwurf„Saarland“ konfrontiert. Das Erbe, das ich dort angetre-ten hatte, war noch relativ gemäßigt, weil die Zins-Steuer-Quote nur bei 19 Prozent lag. Es ist leider nichtgelungen, sie deutlich zu senken – sie liegt jetzt bei 21Prozent.

    (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Aber Ihr Marsch bei der Zins-Steuer-Quote von 12Prozent auf 26 Prozent ist beachtlich und sollte keineSelbstzufriedenheit in Ihren Reihen hervorrufen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN)

    Die Haushaltspolitik hat also keine großen Spielräume.

    Aber eines wollen wir im Bundeshaushalt wirklichwieder einführen, nämlich daß wir uns darum bemühen,auch dem Prinzip der Haushaltswahrheit und derHaushaltsklarheit wieder zum Durchbruch zu verhel-fen; denn dieser Wust von Schatten- und Nebenhaus-halten führt doch dazu, daß die wahre Verschuldung inDeutschland überhaupt nicht mehr bekannt ist.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordnetender PDS)

    Immer wieder geistern unterschiedlichste Zahlen überdie Verschuldung, die Zins-Steuer-Quote und andereMeßziffern des Haushaltes durch die Gegend, weil imHaushaltsbuch nicht mehr das steht, was eigentlich indas Haushaltsbuch hineingehört, nämlich die gesamteLast der Schulden, die gesamte Last der Ausgaben undnatürlich auch das gesamte Bündel der Einnahmen.

    Wenn wir darüber streiten, ob denn die Strukturendes Haushaltes so, wie Sie ihn übergeben, in Ordnungseien, dann ist ein ganz einfacher Sachverhalt Beweisdafür, daß sie eben nicht in Ordnung sind: Sie habensowohl im Haushalt 1998 als auch im Haushalt 1999Veräußerungen von Bundesvermögen in einer Grö-ßenordnung von über 20 Milliarden DM angesetzt. Dasist genau das strukturelle Defizit, das wir festgestellt ha-ben; denn das Tafelsilber steht nicht grenzenlos zur Ver-fügung. Was soll also die Diskussion? Bleiben wir dochbei den Tatsachen. Diese Defizite sind schlicht und ein-fach vorhanden.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Mittlerweile wird dies nicht nur in Deutschland sogesehen, sondern in ganz Europa. Diese Erkenntnisführte zu der Frage, die auch in der letzten Zeit die Ge-müter beschäftigt hat: Welche Politik kann zur schritt-weisen Zurückführung der Arbeitslosigkeit gemachtwerden, wenn die Möglichkeiten der Steuerpolitik, dieMöglichkeiten der Neuordnung der Sozialversiche-

    rungsstrukturen und die Möglichkeiten der Haushalts-politik zwar gegeben, aber begrenzt sind? Es wäre fahr-lässig, zu sagen, allein wegen des Vorhandenseins derMöglichkeiten könnte ein deutlicher und dramatischerAbbau der Arbeitslosigkeit eingeleitet werden.

    Wenn man sich solche Fragen stellt, dann blickt maneben auch über den Zaun zu anderen Ländern. Ich hattevorhin gesagt: Wer das Heil in der Steuerpolitik sucht,der muß schlicht und einfach von der Sache her beant-worten, warum in früheren Jahrzehnten bei höherenGrenzsteuersätzen, etwa bei der privaten Einkommen-steuer, und bei einer höheren Besteuerung der Unter-nehmen gleichwohl ein größeres Wachstum und einstärkerer Abbau der Arbeitslosigkeit oder gar ein Auf-wuchs der Beschäftigung vorzufinden waren. DieserSachfrage muß er sich zunächst einmal stellen.

    Bei den Lohnnebenkosten ist es ohne Zweifel so, daßsie auf Grund der Entscheidungen im Zusammenhangmit der Vereinigung ein Rekordniveau erreicht haben.Dies ist eine strukturelle Fehlentwicklung, insbesondereim Hinblick auf die personalintensiven Betriebe im Ein-zelhandel, im Mittelstand und im Handwerk.

    Bei der Haushaltspolitik sind die Spielräume nichtmehr vorhanden. Das muß man in aller Klarheit sagen.

    Also: Wo und wie kann angesetzt werden, um wiederzu mehr Beschäftigung zu gelangen?

    Wenn wir beispielsweise auf die Vereinigten Staa-ten blicken, dann sehen wir, daß dort eine selbstver-ständliche Diskussion im Gange ist, von der ich mirwünschen würde, daß sie auch in Deutschland in dersel-ben Sachbezogenheit und Unaufgeregtheit in Gangkommen könnte. Es handelt sich um eine Diskussiondarüber, was die Fiskalpolitik, also die Haushalts- undSteuerpolitik, was die Lohn – und Einkommenspolitikund was die Geldpolitik – vielleicht koordiniert – tunkönnen, um Wachstum und Beschäftigung zu erreichenund die Arbeitslosigkeit langsam abzubauen.

    Ich möchte Sie mit einem Zitat konfrontieren, umauch hier einmal etwas von der Debatte, die in anderenLändern stattfindet, einzuführen. Im Hinblick auf dasZusammenwirken von Haushaltspolitik und Geldpolitikhat mein französischer Kollege Dominique Strauss-Kahn kürzlich in einem Vortrag gesagt:

    Wir stehen doch vor verschiedenen Konzepten,entweder das Konzept Reagan/Volcker oder Clin-ton/Greenspan, was das Zusammenwirken vonHaushaltspolitik und Geldpolitik angeht.

    Er hat sich dafür ausgesprochen, daß wir in Zukunft ver-suchen sollten, eher dem Konzept Clinton/Greenspan zufolgen als dem Konzept Reagan/Volcker. Was ist damitgemeint? Damit ist gemeint, daß der Irrglaube, es seinicht notwendig, die Haushaltspolitik und die Geldpoli-tik zu koordinieren, zu erheblichen Beschäftigungsver-lusten führt.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Dieser Irrglaube hat nicht nur in Amerika dazu geführt,sondern auch in Deutschland, wie ich gleich ausführenwerde.

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    Reagan hat eine expansive Haushaltspolitik mitgroßer Staatsverschuldung betrieben. Die Geldpolitikkonnte darauf nur mit Zinsen im zweistelligen Bereichreagieren. Eine solche Konstellation ist auf Grund derHaushaltsentwicklung nicht machbar. Sie ist auch garnicht wünschenswert, weil ein solches Bremsen derGeldpolitik längerfristig zu Beschäftigungsverlustenführen muß, wie sie Anfang der 90er Jahre in den Verei-nigten Staaten zu verzeichnen waren. Auf der anderenSeite besteht jetzt in Amerika eine Situation, in derHaushaltspolitik – in den USA gibt es sogar leichteÜberschüsse – und Geldpolitik so aufeinander abge-stimmt sind, daß, abgesehen von der Rezession zu Be-ginn der 90er Jahre, ein langsames und schrittweisesWachstum mit ständig zunehmenden Beschäftigungser-folgen stattgefunden hat. Was hindert uns eigentlichdaran, in der Zukunft eine ähnliche Abstimmung, undzwar nicht mehr auf nationalstaatlicher Ebene – das gehtjetzt nämlich nicht mehr –, sondern auf europäischerEbene, zu versuchen?

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und derPDS)

    In diesem Zusammenhang möchte ich ein paar Be-merkungen zur Geldpolitik machen, wobei ich wirklichdarum bitten möchte, mich wörtlich zu zitieren und nichtirgendwelche Dinge in die Welt zu setzen, die von derSache her nicht gedeckt sind.

    Erstens. Niemand stellt die Unabhängigkeit der Geld-politik in Frage.

    (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    – Es kann sein, daß Sie nicht lesen oder nicht zuhören;das ist dann Ihre Sache.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Ich muß Ihnen noch einmal sagen: Niemand stellt dieUnabhängigkeit der Geldpolitik in Frage. Die Unab-hängigkeit der Geldpolitik hat einen einfachen Grund,der in den Schwächen all derjenigen liegt, die hier –rechts und links – jetzt zuhören. Wenn die Unabhängig-keit der Geldpolitik nicht gegeben wäre und die Politiküber die Geldpolitik zu entscheiden hätte, dann bestündevor Wahlen immer die Gefahr, daß sachgemäße Ent-scheidungen im Interesse des Hauptziels der Geldpolitik,der Wahrung der Preisstabilität, nicht getroffen würden;deshalb ist es richtig, die Geldpolitik einer unabhängi-gen Instanz zu übertragen und dem politischen Zugriffzu entziehen. Daran gibt es keinen Zweifel.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und derCDU/CSU)

    Wenn wir darin einig sind, dann ist das in Ordnung.

    Kein Zweifel besteht auch daran, daß das vorrangigeZiel der Geldpolitik – so heißt es überall in Amerika undin Europa – die Preisstabilität ist, weil alle ökonomi-schen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte gezeigthaben, daß ohne Einhaltung des Ziels der PreisstabilitätWachstum und Beschäftigung nicht in Gang kommenkönnen. Aber aus dem Begriff „vorrangiges Ziel“ ergibt

    sich schon, daß es daneben weitere Ziele der Geldpolitikgeben muß. Genau darüber diskutiert man in Amerikaund in Gesamteuropa. Die Antwort, die die Mehrheitmittlerweile gibt, ist einfach: In dem Maße, in dem diePreisstabilität gewahrt bleibt und gesichert ist – ich nen-ne einmal die deutschen Zahlen: jetzt beträgt die Inflati-onsrate 0,7 Prozent; die Bundesbank sagt: davon sind0,75 auf Grund von Qualitätssteigerungen überzeichnet;demnach hätten wir, wenn man das so rechnet, ein Mi-nus von 0,05 –, ist die Geldpolitik gehalten, Wachstumund Beschäftigung zu unterstützen. Das kann man fürrichtig oder falsch halten; es ist unsere Auffassung.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN – Ingrid Matthäus-Maier[SPD]: Das steht auch im Vertrag!)

    – Das steht wörtlich auch im Vertrag, Frau KolleginMatthäus-Maier, das ist richtig. In der jetzigen Situationstellt sich die Frage: Was kann die Geldpolitik tun?

    Ich möchte noch einen Irrtum ansprechen. MeineDamen und Herren, es hat keinen Sinn mehr, sich in die-sen drei, vier Wochen noch über die deutsche Geldpoli-tik zu streiten.

    (Widerspruch bei der F.D.P.)

    – Sie müssen zuhören und nachlesen. Ich sage Ihnennoch einmal: Wenn Sie nicht in der Lage sind, wörtlichzu zitieren, zuzuhören und nachzulesen, dann laufen SieGefahr, irgendwelche Märchen in die Welt zu setzen,weil Sie die Zusammenhänge nicht verstanden haben.Das liegt dann aber an Ihnen; es tut mir leid.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer[CDU/CSU]: Das ist die Arroganz einesOberlehrers!)

    Deshalb ist die Frage, ob wir jetzt in Europa Spiel-räume haben, um über die Geldpolitik die Beschäftigungund das Wachstum zu unterstützen. Diese Frage wird inGesamteuropa beantwortet, und zwar auch ohne die De-batte hier. Acht europäische Banken sind dabei, dieGeldmarktzinsen Schritt für Schritt zurückzunehmen.

    (Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Weil siehöher liegen!)

    – Ja, sie liegen höher; ich will das ja gerne aufgreifen.Aber daß es mittlerweile zu einer Veränderung der ge-samteuropäischen Geldpolitik gekommen ist, könnenSie daran erkennen, daß es ursprünglich einmal hieß –das können Sie überall nachlesen –, daß sich die Geld-politik, was die Geldmarktzinsen angeht, schrittweiseeinem höheren Niveau als dem deutschen annähernmüsse. Ursprünglich war einmal ein Ziel von 5 Prozentin der Diskussion. Dann kam ein Ziel von 4 Prozent indie Diskussion. Dann kam vor vielen Monaten die Ent-scheidung, den Repro-Satz um 0,3 Prozent anzuheben.Mittlerweile ist die Preisstabilität so stark, daß man ins-gesamt eine Annäherung nach unten vertreten kann. Ge-nau das ist doch gewollt: daß bei Wahrung der Preissta-bilität sinkende Geldmarktzinsen in Europa günstigereBedingungen für Wachstum und Beschäftigung schaf-fen. Meine Damen und Herren, es war an der Zeit, dieshier noch einmal klarzustellen.

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    Präsident Wolfgang Thierse: Herr Minister La-fontaine, ich muß Sie darauf hinweisen, daß die für Sievereinbarte Redezeit schon überschritten ist. Das weiteregeht auf das Konto der SPD-Fraktion.

    (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: So ist esrichtig! Auf deren Konto wird noch viel ge-hen!)

    Oskar Lafontaine, Bundesminister der Finanzen:Vielen Dank, Herr Präsident. Die Fraktion hat mir in ih-rer Großzügigkeit freigestellt, ruhig zwei, drei Minutenlänger zu sprechen.

    (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Die wirddas noch bereuen!)

    Ich bin jetzt bei der vierten Minute und werde versuchenalsbald zum Ende zu kommen.

    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das istdoch seine Abschiedsrede! Laßt ihn doch nochzehn Minuten reden!)

    Meine Damen und Herren, das Entscheidende ist, daßwir Fehler der 70er und 80er Jahre und auch Fehler, diezu Beginn der 90er Jahre gemacht wurden, nicht wie-derholen. Hier wurde beispielsweise von Herrn Wiss-mann – ich sehe ihn im Moment nicht – gesagt, wir sei-en jetzt dabei, die alten Hüte der 70er Jahre wieder her-vorzunehmen und eine veraltete Politik zu machen. Sol-che Äußerungen finden sich auch in vielfältigen Stel-lungnahmen, die leider eine Auseinandersetzung mit denFakten und Daten vermissen lassen.

    Genau die Konstellation, die wir in den 70er Jahrenhatten, als nämlich die Lohnpolitik weit über das Pro-duktivitätsziel hinausschoß – jeder erinnert sich an diezweistelligen Forderungen der ÖTV –, die Geldpolitikmit einem ganz harten Kurs gegenhalten mußte und da-mit eben auch Wachstum und Beschäftigung ausbrem-ste, müssen wir in Zukunft vermeiden. Deshalb müssenwir über die Frage diskutieren, wie die wesentlichenPolitikbereiche in Deutschland und Europa zusammen-spielen müssen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN)

    Meine Damen und Herren, gerade weil es für unsereDiskussion wichtig ist, möchte ich noch die Situation zuBeginn der 90er Jahre ansprechen. Zu Beginn der 90erJahre haben Sie exakt den gleichen Fehler gemacht, na-türlich gestützt durch eine besondere Situation, ohne ausden früheren Konstellationen die immer zu Beschäfti-gungseinbrüchen geführt haben, zu lernen. Sie habengegen den Rat auch der Bundesbank und der Sachver-ständigen den Aufbau Ost über Gebühr kreditfinanziert,also eine expansive Finanzpolitik betrieben. Auf Grundvon Plakaten, die ich in Berlin gesehen habe – man hörtdiesen Quatsch ja schon wieder: gleicher Lohn für glei-che Arbeit –, setzte man dann auch noch eine Lohndriftin Gang, die weit über das Produktivitätsziel hinaus-schoß. Man hatte genau die Konstellation der 70er Jahre,und die Geldpolitik konnte nur durch scharfes Treten aufdie Bremse mit einem Diskontsatz von 83/4 Prozent ge-

    genhalten. Dieses unabgestimmte Vorgehen, aus demSie offensichtlich immer noch nichts gelernt haben, hatdann zu einem deutlichen Wiederanstieg der Arbeitslo-sigkeit geführt. Ich bitte Sie, einmal über diese Zusam-menhänge nachzudenken und dann vielleicht auch zuden entsprechenden Schlußfolgerungen zu kommen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei derCDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, ich bitte um Entschuldi-gung, daß ich die Redezeit etwas überzogen habe.

    (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Es wurdenicht besser!)

    – Das überlassen wir immer den Wählerinnen undWählern, verehrter Herr, und da haben Sie in letzter Zeitein bißchen schlecht ausgesehen.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir stellen fest, daß die Wählerinnen und Wähler unsden Auftrag gegeben haben, die Wirtschafts- und Fi-nanzpolitik zu ändern.

    (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Nein!)

    Sie haben uns den Auftrag gegeben, die Steuerpolitik zuändern. Sie haben uns den Auftrag gegeben, die Lohn-nebenkosten zu senken und dabei Fehlentwicklungenaus der deutschen Einheit zu korrigieren, und sie habenuns den Auftrag gegeben, eine Wirtschafts- und Finanz-politik zu machen, um die Arbeitslosigkeit abzubauen.

    Ich will an einem Satz noch einmal deutlich machen,warum Ihre Ablösung notwendig war. Wie oft haben Siehier gestanden und gesagt: Beschäftigungspolitik ma-chen wir zu Hause! Die Regierung Schröder sagt: Be-schäftigungspolitik machen wir zu Hause, aber mehrund mehr auch auf europäischer Ebene. Deshalb warteteganz Europa auf eine neue deutsche Regierung.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPDund dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Bei-fall bei Abgeordneten der PDS – Zurufe vonder CDU/CSU: Das war eine billige Vorle-sung! – Steuerpolitik sechs!)

    Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wortdem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion.

    Friedrich Merz (CDU/CSU): Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Herr Lafontaine, Siehaben viel über Europa gesprochen. Das hatte durchauseinen Sinn. Aber wir hätten doch erwartet, daß Sie heutemorgen einmal zu den Spekulationen, die Sie selbst in dieWelt gesetzt haben, ein Wort sagen, nämlich ob Sie nunhier in Deutschland ein Finanzminister auf Abruf sind,

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ihr seid es, die jetzt abberufen sind!)

    ob Sie also die Lage, in der Sie jetzt sind, nämlich dieNummer zwei zu sein, eben nicht so lange ertragen undwieder die Nummer eins werden wollen. Herr Lafontai-

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    ne, dazu hätte von Ihnen heute morgen durchaus ein klä-rendes Wort kommen können.

    (Zurufe von der SPD – Rezzo Schlauch[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hier ist dochkeine Pressekonferenz!)

    – Die Tatsache, daß Sie so unruhig werden, zeigt doch,daß Sie sich offensichtlich mit dem Gedanken anfreun-den, Ihren Parteivorsitzenden zu verlieren.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Meine Damen und Herren, ich will zu Beginn aufeinige Punkte zu sprechen kommen, die Sie, Herr La-fontaine, in Ihrer Einführung dargelegt haben. LassenSie mich zunächst zu dem Thema der Zinsquote imBundeshaushalt etwas sagen. Es ist wahr, die Zinsquotedes Bundeshaushaltes ist relativ hoch. Sie ist aber auchdeshalb so hoch, weil wir die finanziellen Lasten, diemit der Überwindung der deutschen Teilung verbundenwaren, ganz überwiegend über den Bundeshaushalt fi-nanziert haben. Dazu, Herr Lafontaine, haben Sie nichtein einziges Wort gesagt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Beim Bundeshaushalt haben wir schon eine etwas ande-re Lage als beim Haushalt des Saarlandes, den Sie bisvor kurzem noch zu verantworten hatten, Herr Lafontai-ne. Ich werde auch auf die Geldpolitik gleich noch zusprechen kommen.

    Lassen Sie mich vorweg etwas zu den versiche-rungsfremden Leistungen sagen, die Sie angesprochenhaben. Herr Lafontaine, richtig ist, daß auch die Sozial-versicherungssysteme in der Bundesrepublik Deutsch-land über eine gewisse Zeit – wie alle öffentlichenHaushalte – von den Konsequenzen aus der Überwin-dung der deutschen Teilung betroffen waren. Aber Sieselbst, die SPD-Bundestagsfraktion, wir alle haben indiesem Jahr gemeinsam eine Mehrwertsteuererhöhungbeschlossen.

    (Dr. Barbara Höll [PDS]: Wir nicht! Wir wa-ren dagegen!)

    Diese ist am 1. April 1998 in Kraft getreten. Der Bun-desrat hat dem mit der Mehrheit der SPD-geführtenBundesländer zugestimmt. Mit Leistungen aus demBundeshaushalt von jetzt insgesamt gut 100 Milliar-den DM im Jahr 1999 sind sämtliche sogenannten versi-cherungsfremden Leistungen, die die Rentenversiche-rung zu tragen hat, abgegolten. Das Thema versiche-rungsfremde Leistungen, Herr Lafontaine, ist erledigt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Das, was Sie jetzt beginnen, ist eine Umverteilung ausdem Steuerhaushalt in die Sozialhaushalte. Ich zitiere hiereinmal aus dem Buch Ihres Ministerkollegen Bodo Hom-bach – der jetzt gerade nicht da ist –, einem Buch, das ichmit großem Interesse gelesen habe, das ich mir beinahesogar gekauft hätte, um einen Beitrag dazu zu leisten, daßer irgendwann einmal sein Haus bezahlen kann.

    (Detlev von Larcher [SPD]: Typisch Merz! Soist er eben! – Klaus Lennartz [SPD]: Christlichist dein Name!)

    In diesem Buch schreibt Herr Hombach:

    Langfristig darf es aber nicht einfach bedeuten, daßbeitragsfinanzierte Lasten nun auf steuerfinanzierteLasten umgewälzt werden.

    Wörtlich heißt es weiter:

    Das hieße, von einer Tasche in die andere zu wirt-schaften.

    Herr Lafontaine, mit der Umfinanzierung aus dem Steu-erhaushalt in die Sozialhaushalte beginnen Sie genau mitdiesen Umfinanzierung von einer Tasche in die andere.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Er hatauch noch ein Loch in der Tasche!)

    Nachdem Sie, Herr Bundeskanzler, am Dienstag inIhrer Regierungserklärung – man mußte schon ziemlichaufmerksam zuhören, um das auch wahrzunehmen – zuRecht einen Hinweis darauf gegeben haben, daß dieStaatsquote in Deutschland weiter sinken müsse, hättenwir nun von Ihnen, Herr Lafontaine, als dem dafür zu-ständigen Bundesfinanzminister erwartet, daß Sie diesesetwas konkreter darlegen. Denn aus der Summe vonAbgabenquote und Sozialleistungsquote, also aus demStaatsverbrauch, ergibt sich die Staatsquote. Gegenwär-tig sinkt die Staatsquote in der BundesrepublikDeutschland – richtigerweise.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Wenn Sie weitere Umfinanzierungen vornehmen, wirddie Staatsquote steigen. Nun sagen Sie bitte nicht, diessei nur eine akademische Größe, über die sich vielleichtirgendwelche Finanzpolitiker unterhalten, die aber ge-samtwirtschaftlich keine Bedeutung habe. Das Gegenteilist richtig.

    Die Bundesregierung unter Helmut Kohl hat in denJahren von 1982 bis 1991 die Staatsquote in der Bundes-republik Deutschland von den gut 51 Prozent, die sievon Helmut Schmidt übernommen hatte, auf gut 46 Pro-zent abgesenkt. Das Ergebnis war, daß in diesen Jahrenin Deutschland 3,2 Millionen neue Arbeitsplätze entste-hen konnten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Wenn Sie, Herr Lafontaine, ohne Rückführung der ge-samten Abgabenbelastung eine reine Umfinanzierungdurch Umschichtung von Geldern aus den Steuerhaus-halten in die Sozialhaushalte vornehmen, werden Sie dasZiel, das Sie sich gesetzt haben und das wir teilen, näm-lich die Absenkung der Arbeitslosigkeit, nicht erreichen.

    Damit schon zu Beginn – wir reden ja über dieSchluß- und die Eröffnungsbilanz – die richtigen Zahlenunserer weiteren Diskussion zugrunde gelegt werden,will ich nicht nur die Arbeitslosenzahlen, sondern vor-dringlich noch einmal die Beschäftigtenzahlen nennen.In der Zeit zwischen Dezember 1982 – das war der Be-ginn der 16jährigen Amtszeit von Helmut Kohl – undHerbst 1992 – das war der Höhepunkt des Aufbaus anneuer Beschäftigung – haben wir eine Zunahme der Zahlder sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von 20,1Millionen auf 23,3 Millionen erlebt. Die Zahl der sozi-

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    alversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschlandist also um 3,2 Millionen gestiegen. Von diesen 3,2Millionen zusätzlichen sozialversicherungspflichtigenBeschäftigungsverhältnissen gibt es heute in den altenBundesländern immer noch 1,8 Millionen.

    Damit wir von den richtigen und den gleichen Zahlenausgehen, Herr Lafontaine, wenn wir uns in den näch-sten Jahren hier im Hause häufiger über Mißerfolge undErfolge der Politik Ihrer Regierung unterhalten, halte ichfest: Wir haben heute in den alten Bundesländern immernoch 21,9 Millionen Beschäftigte. Ich nenne diese Zah-len deswegen und lasse sie auch im Protokoll festhalten,damit Sie nicht in einem Jahr herkommen und sagen:Wir haben dadurch, daß wir mehrere hunderttausendMenschen in die Frühverrentung oder in die Rente ge-schickt und ein paar hunderttausend Jugendlichen neueArbeit verschafft haben, das Problem der Arbeitslosig-keit gelöst. Herr Lafontaine, das Problem der Arbeitslo-sigkeit in Deutschland werden Sie nur lösen, wenn dieArbeitslosenquote sinkt und die Beschäftigtenquote inDeutschland steigt. Anderes lassen wir nicht durchge-hen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Sie haben erfreulicherweise – ich sage das wirklichohne irgendwelche Hintergedanken – im wesentlichendarauf verzichtet, eine Rede über die Erblast zu halten,die Sie von Helmut Kohl und Theo Waigel übernommenhaben.

    (Joachim Poß [SPD]: Das machen wir beimBundeshaushalt! Das kommt noch!)

    – Herr Poß, ich komme auf die Haushaltszahlen gleichnoch zu sprechen. Aber, Herr Bundeskanzler, diesenHinweis kann ich mir nicht verkneifen: Der einzige Teilihrer Regierungserklärung, den Sie am Dienstag in freierRede gehalten haben und in dem eine gewisse Emotionbei Ihnen zu erkennen war – ansonsten war Ihre Redevöllig emotionslos, wie das die Presse zutreffend be-schrieb –, war der Teil, in dem Sie sich mit der Ju-gendarbeitslosigkeit beschäftigt haben.

    (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: So ein Emotionsbolzen sind Sie auchnicht!)

    Herr Schröder und Herr Lafontaine, es ist in der Tatwahr: Wir haben in Deutschland ein Problem im Bereichder Jugendarbeitslosigkeit.

    (Zurufe von der SPD: Ach!)

    Dieses Problem stellt sich in den einzelnen Bundeslän-dern aber höchst unterschiedlich dar.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Ich will Ihnen die Zahlen der Bundesanstalt für Arbeitnicht vorenthalten: Wir haben im Saarland eine Ju-gendarbeitslosigkeit von 11,2 Prozent, in Niedersachsenvon 11,5 Prozent, in Hamburg von 14,2 Prozent, inBrandenburg von 15,7 Prozent und in Sachsen-Anhalt,wo jetzt die DVU im Landtag sitzt – das eine hat etwasmit dem anderen zu tun –, von 16,5 Prozent.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

    Das ist in der Tat für die neue rotgrüne Regierungunter Oskar Lafontaine eine Erblast, die Sie mit nachBonn bringen. In Bayern liegt die Jugendarbeitslosigkeitbei 5,8 Prozent und in Baden-Württemberg bei7 Prozent.

    (Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: So ist es!)

    In diesen Ländern gibt es das Problem in dem von Ihnenso emotional beschriebenen Umfang nicht, Herr Bun-deskanzler.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Lassen Sie mich noch einmal auf die Ausgangslagezu sprechen kommen, die Sie vorfinden. Zur Schlußbi-lanz der Regierung Helmut Kohl und zur Eröffnungsbi-lanz der Regierung Lafontaine

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    – Entschuldigung: der Regierung Schröder – gehört:

    (Michael Glos [CDU/CSU]: Eine Entschuldi-gung ist doch nicht nötig!)

    Die Währung ist stabil, die Arbeitslosigkeit sinkt, dieGesamtverschuldung ist rückläufig, das Staatsdefizitwird in diesem Jahr weit unter dem Maastricht-Kriterium von 3 Prozent, nämlich bei ungefähr 2,5 Pro-zent liegen. Damit liegen alle gesamtwirtschaftlichenRahmendaten und Plandaten für den Bundeshaushalt aufdem Tisch – und nicht erst seit dieser Woche, Herr La-fontaine, sondern schon seit drei oder vier Wochen. Esgab zu keinem Zeitpunkt irgendeine Zahl, die Sie nichtkennen konnten und die Ihnen die Beamten Ihres Hauses– Sie haben aus der gesamten Führungsetage nur einenBeamten übernommen – nicht vorgelegt haben. AlleRahmendaten und alle Plandaten liegen Ihnen vor.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Das Fazit lautet: Die neue Bundesregierung übernimmtnicht eine Erblast, sondern sie trifft auf alle Vorausset-zungen für einen dauerhaften wirtschaftlichen Auf-schwung in Deutschland in den nächsten Jahren.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Dies wird durch die gestern veröffentlichte Steuer-schätzung eindrucksvoll belegt.

    (Joachim Poß [SPD]: Sie hat überhaupt nichtsbelegt! Es hat sich doch überhaupt nichts ver-ändert!)

    Im Jahre 1998, im ersten Jahr eines beginnendenwirtschaftlichen Aufschwungs in Deutschland, werdendie Staatseinnahmen aller Gebietskörperschaften, alsodes Bundes, der Länder und der Gemeinden, um7,8 Milliarden DM höher sein, als noch im Mai diesesJahres geschätzt. Davon entfallen – ich will diesen Punktnur der Vollständigkeit halber erwähnen, weil an unshäufig die Kritik geübt worden ist, wir ließen die Ge-meinden allein – über 5 Milliarden DM auf die Kommu-nen. Dies ist ein großartiger Erfolg der Finanz- undWirtschaftspolitik des Jahres 1998, die wir noch zu ver-antworten hatten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Friedrich Merz

  • Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. November 1998 329

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    Herr Lafontaine, es gibt im nächsten Jahr nicht etwaeine große Lücke und Defizite auf Grund der Verhält-nisse, die Sie vorgefunden haben. Vielmehr werden dieGebietskörperschaften insgesamt im nächsten Jahr höhe-re Steuereinnahmen von insgesamt 38 Milliarden DMgegenüber dem laufenden Jahr 1998 haben. Davon ent-fallen mehr als 26 Milliarden DM auf den Bund. Sie fin-den einen Haushaltsplan und einen Etat für das nächsteJahr vor, Herr Lafontaine, der Ihnen 26 Milliarden DMhöhere Einnahmen als im laufenden Haushaltsjahr 1998bringt. Das heißt im Klartext: Der Bund hat gegenüberdem laufenden Jahr 1998 um 7,5 Prozent höhere Steuer-einnahmen. Ich komme auf dieses Thema noch zu spre-chen.

    Diese Zahlen zeigen zweierlei: Erstens. Die von Ih-nen häufig zitierte Steuerquote steigt. Zweitens. Sie fin-den im Bundeshaushalt den Spielraum für eine durch-greifende Steuerreform mit Nettoentlastungen beigleichzeitiger Verbreiterung der steuerlichen Bemes-sungsgrundlage vor.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr richtig!)

    Herr Minister Lafontaine, wenn Sie jetzt bestreiten,daß Sie bei diesen Steuermehreinnahmen des kommen-den Jahres den Spielraum für eine durchgreifende Steu-erreform haben, dann haben Sie mit den Steuereinnah-men, die Sie im nächsten Jahr zusätzlich haben werden,etwas anderes vor als eine vernünftige Steuerpolitik.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Genau dasist der richtige Rückschluß!)

    Ich sage Ihnen vorsorglich – denn es gab heute in denZeitungen wieder Hinweise auf Art. 115 des Grundge-setzes, der die Grenze der Neuverschuldung des Bun-deshaushaltes bestimmt –:

    (Joachim Poß [SPD]: Das ist voll an der Sachevorbei!)

    Die steigenden Steuereinnahmen, die sich langsam ab-bauende Arbeitslosigkeit in Deutschland, die zurückge-hende Verschuldung der öffentlichen Haushalte und dieanhaltende Preisstabilität verbieten Ihnen schon jetzt fürdas gesamte nächste Jahr die Feststellung der Störungdes gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Herr Lafontaine, es gibt jetzt im übrigen überhauptkeinen Grund mehr dafür, daß Sie dem Bundestag denEntwurf des Haushaltsplanes für das Jahr 1999 vorent-halten. Wir erwarten, daß Sie spätestens in der erstenDezemberwoche den Etatentwurf für das Jahr 1999vorlegen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Nun lassen Sie mich noch einmal auf die Steuerpoli-tik im engeren Sinne zurückkommen und auf einigegrundlegende Unterschiede hinweisen, die uns in der Tattrennen. Zunächst zu dem von Ihnen immer wieder an-gesprochenen Begriff der Steuerquote. Herr Lafontaine,Sie wissen genauso gut wie wir, daß die volkswirt-

    schaftliche Steuerquote überhaupt nichts darüber aus-sagt, wie hoch die tatsächliche Steuerbelastung der ein-zelnen Steuerzahler ist. Ich will Ihnen auch sagen, war-um die Steuerquote kein Parameter für eine gute undvernünftige Steuerpolitik ist. Wir haben durch die An-hebung bzw. Verdoppelung des Grundfreibetrages, dieim Jahre 1996 – ich gebe zu, durch das Bundesverfas-sungsgericht erzwungen – vom Gesetzgeber durchge-setzt worden ist, und durch die Neuregelung beim Kin-dergeld rund 30 Prozent der Arbeitnehmerhaushalte inDeutschland steuerfrei gestellt. Das betrifft die von Ih-nen immer wieder zitierten unteren Einkommen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Herr Lafontaine, Arbeitnehmer mit niedrigen Einkom-men zahlen also seit 1996 praktisch keine Steuern mehr.

    (Bundesminister Oskar Lafontaine: AußerMehrwertsteuer und Verbrauchsteuern! Es istunglaublich!)

    Ich will Ihnen in diesem Zusammenhang noch etwaszu Ihrer im wesentlichen nachfrageorientierten Steuer-und Finanzpolitik sagen: Wenn Ihre Theorie stimmenwürde, daß durch eine Stärkung der Massenkaufkraft,wie Sie das im Wahlkampf immer ausgeführt haben, dieProbleme auf dem Arbeitsmarkt zu lösen seien, dannhätte es im Jahre 1996 eine durchgreifende Veränderungauf dem Arbeitsmarkt geben müssen.

    (Zuruf von der F.D.P.: So ist es! Genau richtig!)

    Denn, Herr Lafontaine, im Jahre 1996 hat es durchdie Verdoppelung des Grundfreibetrages und durch dieAnhebung des Kindergeldes eine Entlastung der Arbeit-nehmer in Deutschland in Höhe von netto 12 MilliardenDM gegeben. Die Wahrheit ist – wir haben das nicht an-ders erwartet –, daß im Jahre 1996 durch diese Maß-nahmen praktisch keine Veränderungen auf dem Ar-beitsmarkt eingetreten sind. Sie sagen jetzt ja noch nichteinmal eine Nettoentlastung für die Jahre 1999 ff. vor-aus, sondern Sie nehmen eine reine Umfinanzierung vor,wobei für die Steuerzahler netto keine D-Mark mehrherauskommt.

    Wir sagen Ihnen, Herr Lafontaine, voraus: Diese ein-seitig auf die Nachfragekraft konzentrierte Steuerpolitikder Bundesregierung wird auf dem Arbeitsmarkt keinepositiven Ergebnisse bringen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Wenn Sie sich einmal über die Wirkungen einer so ein-seitig nachfrageorientierten Steuer- und Finanzpoli-tik informieren wollen, dann können Sie meinetwegendarauf verzichten, alle diesbezüglichen Dokumente deralten Regierung zu lesen. Sie brauchen nur ein Doku-ment der neuen Regierung heranzuziehen. Ich zitierenoch einmal aus dem Buch Ihres Kabinettskollegen Bo-do Hombach, der richtigerweise darauf hingewiesen hat– ich habe es gestern noch einmal nachgelesen, daß beieiner Zunahme des verfügbaren Einkommens einer Ar-beitnehmerfamilie um 100 DM für den Binnenmarkt27,23 DM übrigbleiben.

    (Zuruf von der F.D.P.: So ist es!)

    Friedrich Merz

  • 330 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. November 1998

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    Er weist zudem darauf hin, daß aus der Sicht des Unter-nehmers eigentlich nicht 100 DM, sondern 121 DM auf-gewendet werden müssen, weil der Arbeitgeber natür-lich einen zusätzlichen Anteil an Sozialversicherungs-beiträgen zu zahlen hat.

    (Michael Glos [CDU/CSU]: Er scheint einkluges Kerlchen zu sein!)

    Also, Herr Lafontaine, die Arbeitskosten und dieSteuerquote und damit die Steuerbelastung in Deutsch-land müssen gesenkt werden, damit wir zu einer durch-greifenden Entlastung der Familien und der Betriebekommen.

    Damit hier gar keine Mißverständnisse auftreten:Niemand von uns widerspricht der Anhebung des Kin-dergeldes.

    (Bundesminister Oskar Lafontaine: Das istschon mal gut! – Ingrid Matthäus-Maier[SPD]: Sie waren immer dagegen!)

    Jeder von uns wünscht sich, daß wir noch höhere Lei-stungen an die Familien zahlen könnten. Aber was nütztes einem Familienvater, wenn er am 1. Januar 1999 einhöheres Kindergeld bekommt und am 1. Juli 1999 ar-beitslos wird? Das nützt ihm überhaupt nichts, Herr La-fontaine.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Entscheidend ist, daß wir die strukturellen Problemeauf dem Arbeitsmarkt – das sind die strukturellen Pro-bleme unseres Steuersystems und unserer Sozialversi-cherung – lösen. Hier sage ich Ihnen noch einmal: Wirvertreten eine völlig andere Philosophie.

    Das Problem, das die Bundesrepublik Deutschland iminternational sich verschärfenden Wettbewerb hat, istnicht in erster Linie eine Nachfrageschwäche, sonderndas Problem, das wir in der Bundesrepublik Deutschlandhaben, ist eine trotz aller Bemühungen der letzten Jahreanhaltende Investitions- und Wachstumsschwäche derdeutschen Volkswirtschaft.

    Ich will Ihnen das an einem ganz einfachen Beispielnachweisen, einem Beispiel, das nun wirklich nichts mitungezügeltem Shareholder-Kapitalismus zu tun hat,sondern es sind Fakten, die noch nicht einmal Ihre Ehe-frau in Frage stellen dürfte, Herr Lafontaine.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Zurufe vonder SPD: Oh!)

    Wir in der Bundesrepublik Deutschland haben im in-ternationalen Vergleich mit die geringste Risikoprämiefür eingesetzes Eigenkapital. Diese Risikoprämie, diesich als der Abstand zwischen den Zinsen definiert, dieSie für risikolose Staatsanleihen bekommen, und denZinsen, die Sie für risikobehaftetes Eigenkapital in un-ternehmerischer Tätigkeit bekommen, beträgt in derBundesrepublik Deutschland gegenwärtig zwischen 0,5und 1 Prozent.

    Das heißt im Klartext: Ein Unternehmer in Deutsch-land, der sein Geld nicht zur Bank trägt, sondern es alsInvestitionskapital in das Unternehmen steckt – risiko-behaftet, mit vollem persönlichen Risiko – hat in

    Deutschland gegenwärtig die Chance, 0,5 bis 1 Prozentmit Arbeit mehr zu verdienen, als wenn er es – ohne Ar-beit – auf der Bank ließe.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder F.D.P.)

    Die Risikoprämie in den wichtigsten Wettbewerbs-ländern der Bundesrepublik Deutschland – ich nenne nureinmal zwei: Großbritannien und die Vereinigten Staa-ten von Amerika – beträgt 10 Prozent.

    Jetzt lassen Sie mich, weil Sie es angesprochen ha-ben, noch ein Wort zu Amerika sagen. Sie können sichnatürlich nicht immer nur die Rosinen herauspicken undsagen: „Was dort in Amerika so gut ist, übernehmenwir,“ aber den Rest verschweigen Sie großzügig. HerrLafontaine, Sie wissen es, – und der Bundeswirt-schaftsminister wird es vielleicht aus eigener Anschau-ung noch besser wissen –, daß die Amerikaner die not-wendige Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die wirhier von dieser Stelle aus immer wieder angemahnt unddie Sie immer wieder blockiert haben, längst hinter sichhaben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –Joachim Poß [SPD]: Wo haben wir bei derFlexibilisierung blockiert?)

    Herr Lafontaine, das konnten Sie jetzt nicht sehen.Ich will fair bleiben, aber beim Bundeswirtschaftsmi-nister war ein leichtes Nicken zu erkennen.

    Die Amerikaner haben die strukturellen Reformendes Arbeitsmarktes und der Sozialversicherungssysteme– soweit man in Amerika überhaupt von Sozialversiche-rung sprechen kann – längst gemacht. Wenn Sie also mitAmerika vergleichen, Herr Lafontaine, dann bitte dochnur dann, wenn Sie gleichzeitig zugestehen, daß wir ei-nige grundlegende Reformen unseres Sozial- und Steu-ersystems zusätzlich brauchen.

    Da offensichtlich Tony Blair – lassen Sie mich nunetwas zu Großbritannien sagen – eines Ihrer großenVorbilder ist, lassen Sie mich anmerken, daß der Pre-mierminister von Großbritannien bereits zweimal nachseiner erfolgreichen Wahl die Körperschaftsteuersätzegesenkt hat. Herr Lafontaine, Sie stellen die Senkungder Körperschaftsteuersätze für das Jahr 2002 in Aus-sicht.

    (Joachim Poß [SPD]: Das ist doch unwahr!Schon für das Jahr 99 auf 40 Prozent! LesenSie das Gesetz! Das ist nicht die Wahrheit!Das ist eine Lüge!)

    Bis dahin werden Sie durch die Verbreiterung dersteuerlichen Bemessungsgrundlage die Unternehmen inder Bundesrepublik Deutschland mit höheren Steuernmassiv belasten. Das ist die Wahrheit in Deutschland.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –Joachim Poß [SPD]: Der erste Schritt erfolgt99! Das ist eine Lüge!)

    Ich will wegen der Kürze der Zeit darauf verzichten,zu einzelnen Aspekten – wir werden dazu noch Gele-genheit haben – Ihrer steuerpolitischen Vorschläge

    Friedrich Merz

  • Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. November 1998 331

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    Stellung zu nehmen. Ich hätte gerne noch etwas zumThema steuerliche Bemessungsgrundlage, Teilwertab-schreibung und all diesen Dingen gesagt. Sie haben aberzugesichert – dafür bedanke ich mich –, daß darüber imLaufe des Gesetzgebungsverfahrens noch einmal geredetwerden kann. Darüber muß geredet werden, weil es eineReihe von höchst problematischen Vorschlägen gibt, dieSie hier gemacht haben.

    Lassen Sie mich noch etwas Grundsätzliches sagen.

    Präsident Wolfgang Thierse: Herr Kollege Merz,gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Poß?

    Friedrich Merz (CDU/CSU): Das tue ich deswegengern, weil er dann aufhören kann, zu schreien.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU undder F.D.P.)

    Joachim Poß (SPD): Herr Kollege Merz, ich höregern auf, zu schreien, wenn Sie aufhören, die Unwahr-heit zu sagen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Könnten Sie dem Hohen Hause bitte bestätigen – Siesind doch sicher in der Lage, Gesetzentwürfe zu lesen –,daß die Körperschaftsteuer nach unserem Gesetzentwurfim ersten Schritt schon im Jahre 1999 von 45 auf40 Prozent gesenkt wird? Das Ziel von 35 Prozent ist fürdas Jahr 2002 – wenn möglich, schon früher – angepeilt.Könnten Sie dem Hohen Hause bitte bestätigen, daß da-durch eine nachhaltige Entlastung der Wirtschaft er-folgt?

    Friedrich Merz (CDU/CSU): Herr Poß, wenn es zuIhrer Beruhigung beiträgt, bestätige ich Ihnen gern, daßSie eine marginale Absenkung

    (Lachen bei der SPD – Joachim Poß [SPD]:Was? Um 5 Prozent! – Peter Dreßen [SPD]:Das ist die Hälfte des Ziels, das Sie selbst ver-folgen!)

    – lassen Sie mich doch wenigstens aussprechen – desSteuersatzes für die betrieblichen Einkünfte im Ein-kommensteuergesetz und eine geringfügige Absenkungdes Körperschaftsteuersatzes zum 1. Januar 1999 vor-schlagen. Gleichzeitig treten fast alle Maßnahmen inKraft, die zur Verbreiterung der Steuerbemessungs-grundlage herangezogen werden. Dies heißt im Klartext:Sie werden in den Jahren 1999, 2000 und 2001 die Be-triebe in Deutschland mit erheblich höheren Steuern be-lasten, als sie im laufenden Jahr 1998 belastet wurden.Das ist die Wahrheit.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)Herr Poß, wenn Sie uns nicht glauben, dann lesen Sie

    doch die frei gehaltene Rede des Bundesfinanzministers,dem ich gut zugehört habe!

    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Er hatdas bestätigt!)

    Er hat sich ausdrücklich dazu bekannt, daß die Steuer-belastung für die Betriebe steigen und für die Arbeit-nehmer sinken muß. Das ist seine Philosophie.

    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: So istes!)

    Das ist die Wahrheit, Herr Poß.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Präsident Wolfgang Thierse: Herr Poß möchtenoch einmal nachfragen.

    Friedrich Merz (CDU/CSU): Nein, ich möchte jetztgern zum Schluß kommen.

    Präsident Wolfgang Thierse: Gestatten Sie eineZwischenfrage des Kollegen Solms?

    Friedrich Merz (CDU/CSU): Dann lasse ich auchnoch eine weitere Zwischenfrage von Herrn Poß zu.

    Herr Solms, bitte schön.

    Dr. Hermann Otto Solms (F.D.P.): Herr Kollege,würden Sie bitte, um die Fakten richtigzustellen, demKollegen Poß mitteilen, daß von der rotgrünen Regie-rung geplant ist, den Körperschaftsteuersatz erst zum1. Januar 2000 in einer ersten Stufe zu senken.

    (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

    Ich habe es hier: Die gewerblichen Einkünfte für Perso-nengesellschaften werden zum 1. Januar 1999 gesenkt,die Körperschaftsteuersätze zum 1. Januar 2000 in einerersten Stufe.

    (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

    Ich habe es nun wirklich schriftlich hier. Ich bitte, esentgegenzunehmen.

    Friedrich Merz (CDU/CSU): Herr Poß, möchten Sieeine weitere Zwischenfrage stellen?

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU undder F.D.P.)

    Präsident Wolfgang Thierse: Bitte, Herr Poß.

    Joachim Poß (SPD): Herr Kollege Merz,

    (Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Ohne An-walt würde ich mich nicht mehr melden, HerrPoß! Nehmen Sie sich einen Anwalt!)

    können Sie dem Hohen Hause bestätigen, daß Sie vorhinwahrheitswidrig behauptet haben, wir würden die Un-ternehmensteuersätze nicht vor dem Jahre 2002 senken?Das können wir ja dann dem Protokoll entnehmen.

    Friedrich Merz

  • 332 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. November 1998

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    Friedrich Merz (CDU/CSU): Herr Kollege Poß,wenn es denn zur Klarheit beiträgt

    (Klaus Lennartz [SPD]: Zur Wahrheit vor al-len Dingen!)

    – und zur Wahrheit –, will ich Ihnen gerne noch einmalbestätigen, daß Ihre steuerpolitische Konzeption vorsieht– das ist auch gar nicht ehrenrührig;

    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das istnicht ehrenrührig, aber falsch!)

    das haben Sie ausdrücklich so gewollt, ich habe Sie nurauf die Konsequenzen hingewiesen –, daß die Steuerbe-lastungen zuerst eintreten und die Steuerentlastungenspäter. Das ist die Konsequenz.

    (Joachim Poß [SPD]: Das ist falsch! Sie blei-ben bei der Unwahrheit!)

    Das, was der Kollege Solms gerade zitiert hat, ist dieWahrheit. Sie planen zuerst die Steuererhöhungen undstellen für das Wahljahr 2002 geringfügige Steuerentla-stungen in Aussicht. Das ist die Wahrheit.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schlußnoch einmal auf die Geld- und Zinspolitik zu sprechenkommen. Herr Lafontaine, die Zeit reicht jetzt nichtmehr aus, um ausführlich über diese Frage zu diskutie-ren. Ich will nur den wesentlichen Kernpunkt unsererKritik an Ihren Äußerungen der letzten Wochen wieder-holen. Man kann sich über die Funktion von Geldpolitikund Notenbankentscheidungen durchaus unterhalten.Aber wenn Sie ein Ergebnis in Ihrem Sinne gewollthätten, dann hätten Sie nicht mit diesen maßlosen An-griffen die Deutsche Bundesbank in die Rolle hinein-versetzen sollen, überhaupt nicht anders entscheiden zukönnen, als sie in der letzten Woche entschieden hat.Herr Lafontaine, das Ergebnis Ihrer Attacken – Sie ha-ben in Wahrheit die Europäische Zentralbank und nichtdie Deutsche Bundesbank gemeint – ist heute in denZeitungen nachzulesen. Das erste Ergebnis ist nicht, daßdie Geldmarktzinsen sinken, sondern das erste Ergebnisist, daß es einen massiven Vertrauensschwund der Öf-fentlichkeit in die Stabilität des Euro gibt. Das ist dasErgebnis Ihrer Attacken auf die Notenbank.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Geldwertstabilität ist kein Selbstzweck und ist nichtetwas, was irgendwo in den Büchern steht und was dun-kel gekleidete Herren in den Elfenbeintürmen der No-tenbanken für sich entscheiden. Geldwertstabilität – dasist die Erfahrung von 50 Jahren Geldpolitik in der Bun-desrepublik Deutschland – ist die Grundlage für dieDauerhaftigkeit und Verläßlichkeit von Investitionen,sie ist die Grundlage für wirtschaftliches Wachstum undneue Arbeitsplätze, und, Herr Lafontaine, sie ist dieGrundlage für die Sicherheit von Renten, von kleinenEinkommen und von kleinen Ersparnissen. Inflation istder Taschendieb des kleinen Mannes.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Wir werden Ihnen nicht durchgehen lassen, daß Sieein Ablenkungsmanöver starten, indem Sie es zulassen,

    daß die zwei neuen beamteten Staatssekretäre IhresHauses ständig über Deflation in Deutschland reden,und damit eine höhere Geldentwertung in Deutschlandfür die Zukunft billigend in Kauf nehmen. Mit uns wirdein solcher Weg nicht zu machen sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Herr Präsident, meine Damen und Herren, lassen Siemich zum Schluß etwas sagen, weil es notwendig ist, ineiner solchen grundsätzlichen ersten Aussprache überdie zukünftige Wirtschafts- und Finanzpolitik darüber zusprechen. Sie werden sich auch mit der Flucht in eine,wie Sie es formuliert haben, Politik der Wechselkurs-zielzonen nicht den Erfordernissen in der Bundesrepu-blik Deutschland entziehen können. Ich sage es sogarumgekehrt: Die Erfahrungen, die die asiatischen Ländergemacht haben – Indonesien, Malaysia, Korea, Thailand–, Länder, die zum Teil seit Anfang der 80er Jahre einefeste Wechselkursbindung an den Dollar vorgenommenhaben, sind genau andersherum gewesen. Dort, wo eseine zu lange Bindung an Währungen gegeben hat, sindSpekulationsblasen entstanden. Es war mit eine Ursachefür die Finanzkrise in Asien, daß die Wechselkurse nichtdie realen Austauschverhältnisse dargestellt haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-ordneten der F.D.P.)

    Dies ist der falsche Weg. Die Ursachen für Kriseninternationaler, europäischer und auch nationaler Artliegen nicht in den Wechselkursentwicklungen, sondernin den entscheidenden politischen Weichenstellungen inden nationalen Volkswirtschaften. Zu diesen Weichen-stellungen, im Sinne des Arbeitsmarktes, im Sinne dergesunden Entwicklung der Volkswirtschaft der Bundes-republik Deutschland, Herr Lafontaine, fordern wir Sieauf. Wenn Sie auf dem Weg, den Sie heute morgen be-schrieben haben, weiter voranschreiten, wird es nichtmehr Beschäftigung, sondern weniger Beschäftigung,und nicht weniger Arbeitslose, sondern mehr Arbeitslosein Deutschland geben. Dies wird unseren entschiedenenWiderspruch zu jeder Zeit herausfordern.

    (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU undder F.D.P.)

    Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort zu einerKurzintervention erteile ich der Kollegin Ingrid Matt-häus-Maier, SPD.

    Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Meine sehr verehrtenDamen und Herren, der Kollege Merz hat behauptet, imJahr 1999, also im nächsten Jahr, werde der Körper-schaftsteuersatz nicht gesenkt,

    (Zurufe von der CDU/CSU: Nein! Nein!)

    sondern erst im Jahre 2002. Der Kollege Solms hat diesnoch ausdrücklich unterstützt. Ich weise darauf hin: Indem hier auf den Tischen liegenden Gesetzentwurf stehtauf Seite 2: Senkung des Körperschaftsteuersatzes füreinbehaltene Gewinne auf 40 Prozent ab 1. Januar 1999.Das gleiche steht im Gesetzestext auf Seite 137, und essteht in der Begründung zum Gesetzestext auf Seite 278.

  • Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. November 1998 333

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    Ich gehe davon aus, daß Sie vielleicht nicht bewußt dieUnwahrheit gesagt haben. Allerdings kommt es mir vor,als wäre es so, weil der Kollege Poß Sie darauf hinge-wiesen hat. Ich fordere Sie hiermit offiziell auf,

    (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie habengar nichts zu fordern!)

    hier heute morgen Ihre unwahre Behauptung zurückzu-nehmen und zu bestätigen, daß der Körperschaftsteuer-satz sinkt.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Präsident Wolfgang Thierse: Herr Kollege Merz,Sie haben Gelegenheit zu einer Antwort.

    (Zurufe von der SPD: Auf nach Canossa! –Auf die Knie!)

    Friedrich Merz (CDU/CSU): Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Es ist immer so,wenn man frei spricht und kein ausformuliertes Manu-skript hat

    (Zurufe von der SPD)– Entschuldigung –, daß man Gefahr läuft, mißverstan-den zu werden. Ich will das noch einmal ausdrücklichklarstellen: Ich bezweifle nicht, daß Sie nach dem Ge-setzestext, der uns gegenwärtig vorliegt – das ändert sichja immer wieder –,

    (Widerspruch bei der SPD)die Absicht haben, die Steuersätze des Körper-schaftsteuergesetzes bereits im nächsten Jahr zu senken.

    (Klaus Lennartz [SPD]: Ist das so schwer,einen Fehler zuzugeben?)

    Ich lege aber Wert auf die Feststellung – ich bleibedabei –, daß die Bilanz zwischen Entlastung und Bela-stung – –

    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das hater gesagt! Das ist der Punkt!)

    – Wir können das ja gemeinsam, Frau Matthäus-Maier,im Protokoll noch einmal nachlesen. Ich habe gesagtund bleibe auch dabei, daß für das Jahr 1999, für dasJahr 2000 und für das Jahr 2001 – vor dem Zeitpunkt,für den Sie eine weitere Absenkung der Körper-schaftsteuersätze vage in Aussicht stellen; das steht nichtin diesem Gesetzentwurf –, für diese drei Jahre, für dieWirtschaft und damit für die Arbeitsplätze in Deutsch-land nicht eine geringere, sondern eine höhere Steuer-belastung kommt. Das ist die Konsequenz Ihres Gesetz-entwurfes.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)Davon, Frau Matthäus-Maier, habe ich nicht nur nichtszurückzunehmen, sondern den Nachweis, daß dies so ist,werden wir Ihnen Jahr für Jahr in den nächsten drei Jah-ren von dieser Stelle aus führen.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-ordneten der F.D.P. – Joachim Poß [SPD]:

    Solms! Er hat noch nicht einmal den Gesetz-entwurf gelesen! Er hat lesen lassen! HerrSolms, lesen Sie mal selbst!)

    Präsident Wolfgang Thierse: Liebe Kolleginnenund Kollegen, um die Atmosphäre ein wenig zu besänf-tigen, erlaube ich mir, der Kollegin Kerstin Müller herz-lich zu ihrem 35. Geburtstag zu gratulieren.

    (Beifall)

    Ich freue mich, daß Sie Ihren Geburtstag mit uns zu-sammen verbringen. Alles Gute für Sie!

    Nun erteile ich das Wort der Kollegin ChristineScheel, Bündnis 90/Die Grünen.

    Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Nachdemwir ja jetzt geklärt haben, wer lesen oder wer nicht lesenkann, Herr Solms, denke ich, daß wir zur Senkung vonUnternehmensteuern 1999 an dieser Stelle zumindestkeine so klaren Aussagen mehr zu machen brauchen. Ichbrauche das alles nicht noch einmal vorzulesen. Ich den-ke, Sie wissen jetzt mittlerweile, wo es steht.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Herr Merz, ich finde es allerdings etwas eigenartig,wenn Sie sagen, Sie hätten hier in freier Rede natürlichSchwierigkeiten gehabt, die Zuordnung der Steuersatz-senkungen auf die nächsten Jahre klar vorzutragen oderdas klar im Hinterkopf zu haben. Wir waren ja auch lan-ge genug in der Opposition. Jetzt sind wir Regierungs-parteien. Man sollte doch einmal von folgendem ausge-hen – das muß man wirklich einmal sagen, gerade an dieAdresse der Steuerfachleute; das gilt für Herrn Solmsgenauso, wie es für Herrn Merz gilt –: Die Leute, diesich hier hinstellen und zu einer Steuerreform reden, diejetzt von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorgelegtworden ist und die in kürzester Zeit zuwege gebrachtworden ist, sollten wenigstens wissen, wie die Steuersät-ze in den nächsten Jahren aussehen.

    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derPDS)

    Mit einem Punkt, Herr Merz, ist es mir als Frau – ichsage das wirklich bewußt – sehr ernst: Sie haben in Ih-ren Ausführungen Herrn Lafontaines Ehefrau, ChristaMüller, angesprochen. Anscheinend ist es für Sie uner-träglich, daß eine Frau so denken kann.

    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

    Eine weitere Bemerkung vorab: Ich dachte eigentlich,die CDU habe gelernt, daß die Vergleiche der Bundes-länder, mit denen Sie durch alle Lande gezogen sind,

    (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Die tun weh,Frau Scheel!)

    Ihnen im Wahlkampf nicht dienlich waren. Dennschließlich haben sie nicht dazu geführt, daß Sie dieWahl gewonnen haben. Ich glaube, auch in dieser De-

    Ingrid Matthäus-Maier

  • 334 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. November 1998

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    batte nutzen sie nichts; denn sie bringen uns in keinerWeise weiter.

    Zum Gesetzentwurf selbst: Dieser Gesetzentwurf istsolide durchgerechnet und sauber finanziert. Das ist dergroße Unterschied zu den Entwürfen, mit denen wir esin der Vergangenheit, in der letzten Legislaturperiode,zu tun hatten.

    (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES90/DIE GRÜNEN und der SPD)

    Mit diesem Gesetzentwurf wird die Investitionskraft derUnternehmen gestärkt, und die Binnennachfrage wirdentsprechend nachhaltig belebt. Es ist, Herr Merz, inkeiner Weise richtig, wenn Sie sagen, damit werde nurNachfragepolitik betrieben. In diesem Gesetzentwurf istvielmehr ein ausgewogenes Verhältnis von angebots-und nachfrageorientierter Politik verankert.

    Wir haben im Wahlkampf immer gesagt, daß wir dieBezieher kleiner und mittlerer Einkommen entlastenwollen, daß wir das Zusammenleben mit Kindern be-günstigen wollen. Das haben wir hier umgesetzt. Zudemwurde – dies ist für die Ländervertreter, Herr Faltlhau-ser, sehr wichtig – der sehr schwierigen Situation der öf-fentlichen Haushalte Rechnung getragen. Auf Grunddieser angespannten Haushaltslagen mußte in der erstenund zweiten Stufe eine strikte Aufkommensneutralitätgewahrt werden, und erst in der dritten Stufe konnte eineNettoentlastung von rund 15 Milliarden DM vorgesehenwerden. Das ist richtig und finanzpolitisch äußerst ver-nünftig.

    Nun zu dem Punkt, der immer wieder angesprochenwird, nämlich inwiefern die Entlastung bei der Ein-kommensteuer mit dem Ziel der Senkung der Lohnne-benkosten und der Erhebung von Ökosteuern vereinbarist. Ich finde, diese Bereiche müssen zumindest punktu-ell in Verbindung gesehen werden. Schließlich kommtes doch darauf an, was den Leuten am Schluß bleibt.Das ist es, was interessiert. Die Zahlen aus bestimmtenTeilbereichen, die irgendwo herumschwirren, verunsi-chern die Leute nur.

    Alleinerziehende mit zwei Kindern und 2 500 DMbrutto im Monat werden, Stand 1998, insgesamt mit 277DM an Steuern und Abgaben belastet. Nach der Umset-zung der ökologisch-sozialen Steuerreform und derEinkommensteuerreform wird ebendiese alleinerzie-hende Mutter oder dieser alleinerziehende Vater mitzwei Kindern um monatlich 127 DM entlastet. Ich den-