Deutschland Morgen

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    Fachhochschule der Diakonie

    Deutschland morgenVisionen unserer Zukunft 

    herausgegeben vonTim Hagemann

    P ABST SCIENCE PUBLISHERSLengerich, Berlin, Bremen, Miami,Riga, Viernheim, Wien, Zagreb

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    © 2010 Pabst Science Publishers, D-49525 Lengerich

    Konvertierung: Claudia Döring Titelbild: Sandra KörmannDruck: KM Druck, D-64823 Groß-Umstadt

    ISBN 978-3-89967-629-7

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    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11Einleitung durch den Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

    Allgemeine Visionen für Deutschland

    Katrin Göring-Eckardt Die Zeit der Krise als Chance begreifen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

    Lena StrothmannGemeinsame Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

    Guido Westerwelle  Wer die Zukunft gut gestalten will, sollte die Erfahrungen derVergangenheit sorgsam beachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

     Jürgen Rüttgers Meine Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

    Studierende der FHdD Der medienfreie Sonntag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

    Ralf Brauksiepe Visionen für die zukünftige Gestaltung unserer Gesellschaft –die Sichtweise eines Politikers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

    Bürgerliches Engagement

    Kurt Beck 

    Vision einer zukünftigen Gesellschaft:eine aktive Bürgergesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

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    Henrik van Gellekom12 für MICH und für ALLE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

    Christiane Görres Die Initiative „startsocial“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

    Kai Gehring Bürgerschaftliches Engagement junger Menschen gezielterfördern! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

    Studierende der FHdD 

    Sozialkonten für Ehrenamtliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

     Jürgen HerrmannGesellschaft des Miteinanders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

    Familie

    Hans-Ulrich Klose Unsere Zukunft sind Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

    Edelgard BulmahnEine lebendige Demokratie braucht Solidarität,Chancengleichheit und Teilhabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

    Ursula von der Leyen

    Meine Vision ist es, dass die Politik bessere Rahmenbedingungenschafft, um Menschen Zeit für Familie zu geben . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

    Renate Schmidt  Wir stehen vor der Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

    Nicolette Kressel Vision Vereinbarkeit – Die Kleinkindbetreuung als Schnittstelle

    zwischen moderner Familienpolitik undGleichberechtigungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

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    Diakonisches Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz Projekt Känguru . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

     Margrit Wetzel Vision „Gerechte Arbeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

    Bildung

    Christian Lange Bildung macht stark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

    René Röspel Bildung als Menschenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

    Katja UrbatschInitiative ArbeiterKind.de . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

    Dominik Esch, Nina Schomborg, Hildegard Müller-Kohlenberg 

    Das ehrenamtliche Mentorenprojekt „Balu und Du“ . . . . . . . . . . . . . 117

    Studierende der FHdD  Junge Menschen für Wissenschaft begeistern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

    Harald Terpe Meine Vision: Ein Bildungsgeld für alle jungen Menschen . . . . . . . . 126

    Dieter Althaus Das Solidarische Bürgergeld –ein Konzept für den Sozialstaat von morgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

    Jugendarbeit

    Elvira Berndt 

    Es ist genug für alle da . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

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    Roswitha Strüber Sport um Mitternacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

     Mandy Hering  Job Tiger – Potentiale entdecken und Kompetenzen stärken . . . . . . . 152

     Mathias Kaps, Katharina Göbel-Groß Starke Macker stark machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

    Silke Baer, Harald Weilnböck, Peer WiechmannCultures Interactive e.V. und Social Entrepreneurship –Eine konkrete Vision von blühenden sozialen Landschaftender neuen Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

    Das „UZ“-TeamMehr als ein Wunder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

    Teilhabe

    Dierk StarnitzkeDie christliche Vision einer inklusiven Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . 187

    Rolf Keicher „Der Verbogene Paragraf“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

    Christian Schmidt 

    Die Veeh-Harfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

     Michael Dreiucker GO! unlimited –Existenzgründung durch Menschen mit Behinderung . . . . . . . . . . . . 204

    Ruth Holzheimer, Michael Dreiucker Der richtige Schlüssel öffnet die Tür . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

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     Anette Borgstedt Kinderlachen hinter hohen Mauern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

    Wirtschaft und Umwelt

    Peter FriedrichUnsere Gesellschaft nachhaltiger und generationengerechtermachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

     Michael Meister 

    Vision „Internationale Soziale Marktwirtschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . 229

    Heiner Geißler Die Utopie einer neuen Weltwirtschaftsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 232

    Gerhard Schick  Anders wirtschaften! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

     Axel Berg Von der Verschwendungswirtschaft zur solaren Weltwirtschaft . . . . . 243

    Engelbert Wistuba Vision für die zukünftige Gestaltung unserer Gesellschaft . . . . . . . . . 247

    Ute Koczy Gerechtigkeit zur Rettung des Planeten Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

    Studierende der FHdD Länderpartnerschaftenen zur Entwicklung gemeinsamerLösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

    Steffen Reiche Meine Vision für eine zufriedenere Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

    Christine Wimberger Klimaschutz geht alle etwas an . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

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    Miteinander leben

    Susanne Kastner Vision: Demokratie braucht Demokraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

    Grietje Staffelt Langsamer, bewusster und mit mehr Lebensqualität! . . . . . . . . . . . . . 268

     Josef Winkler Projekt Vision: „Above us only sky?” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

    Susanne Vaudt Vision betrieblicher Erfolgsmessung„vom Output zum Outcome“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274

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    Vorwort

     „Viele Menschen erleben die Gleichzeitigkeit von Enttäuschun- gen: in Wirtschaft, Finanzen, Politik, Medien – sogar im Sport.Es fällt schwer, irgendeinen gesellschaftlichen Bereich zu finden,wo es in den vergangenen Monaten keine Frustrationserfahrun-

     gen gab.“ (Bundestagspräsident Lammert1)

    Täglich lesen wir über ausufernde Sozialkosten, Finanz- und Wirtschafts-krise, Werteverluste, Erderwärmung, Pflegenotstand und demographi-schen Wandel. Zahlreiche Menschen haben inzwischen das Gefühl, den Ei-gendynamiken einer Welt ausgeliefert zu sein, in der uns die Behebung dervon uns selbst erzeugten Probleme schlicht überfordert.Und doch müssen wir zuversichtlich in die Zukunft blicken.Langfristig ist ein Ende der hohen Arbeitslosigkeit möglich, ein ökologi-sches Umdenken findet statt, eine motivierte, gut ausgebildete Generationmit Kinderwunsch steht in den Startlöchern, und wir verfügen in Deutsch-land auch über Mittel, den Auswirkungen des Klimawandels zu begegnenoder den zukünftigen Betreuungs- und Pflegebedarf zu meistern.

     Wir haben als Gesellschaft zudem keine Alternative, als zuversichtlich indie Zukunft zu schauen. Unsere Zukunft ist offen. Unsere Entwicklung war weder bisher vorherbestimmt, noch wird sie dies zukünftig sein. At-traktive Visionen, getragen von einer breiten Mehrheit, können Ressour-

    cen mobilisieren, um notwendige Reformen und Veränderungen anzuge-hen. Nicht unsere gegenwärtigen Schwierigkeiten, sondern deren Lösun-gen müssen stärker in den Fokus unserer Aufmerksamkeit rücken. Hoff-nung ist der Nährboden, auf dem sich Optimismus und die erstaunlicheKreativität des Menschen entfalten können.

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    1 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 23.03.08

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    Die Beiträge in diesem Buch sollen dazu beitragen, Zukunftsbilder zuschaffen, die anregen und motivieren, das Leben kreativ und in Gemein-schaft zu gestalten.

     Als Fachhochschule der Diakonie konnten wir zahlreiche persönliche Ide-en, Vorstellungen oder Träume – gezeichnet als eine Vision – sammeln.Gemeinsam mit unseren Studierenden versuchen wir, in verschiedenen be-rufsbegleitenden Studiengängen vielerlei neue Wege und Lösungen zu fin-den und in die Praxis zu tragen.Im Folgenden können Sie eine Vielzahl von Visionen lesen, von Menschenaus ganz unterschiedlichen Bereichen unserer Gesellschaft. Diese Visionenberühren Lebens-, Wohn-, Lern- und Arbeitsformen und geben teilweisebereits konkrete Lösungswege vor, wie man den bestimmten Herausforde-rungen begegnen kann. Einige dieser Visionen sind bereits Realität gewor-den, andere sind bisher nur „innere Bilder“ und warten auf ihre Umset-zung.Neben den Visionen von unseren Studierenden und anderen sozial Enga-gierten konnten wir eine Vielzahl von Bundes- und Landespolitikern/in-nen als maßgebliche Gestalter unserer Zukunft gewinnen, ihre konkreteVision von der Zukunft zu beschreiben.

     Wir wünschen Ihnen beim Lesen viel Spaß und würden uns freuen, wennauch Sie uns Ihre Vision zusenden ([email protected]), die wir gerneauf der Internetseite www.fh-diakonie.de veröffentlichen.

     An dieser Stelle sei noch einmal ein Dank an die Gesellschafter der Fach-hochschule der Diakonie und insbesondere an Herrn Kottnik, den Präsi-denten des Diakonischen Werkes der EKD gerichtet, die dieses Projekt tat-kräftig unterstützt haben:Diakonisches Werk der EKD, Westfälische Diakonenanstalt Nazareth, Ev.

     Johanneswerk e. V., Augustinum gGmbH, Ev. Perthes-Werk e. V., Stif-tung Wittekindshof, Hoffnungsthaler Anstalten Lobetal, Diakonie Neuen-dettelsau, Rummelsberger Anstalten, Mariaberg e. V., Johanniter-Unfall-Hilfe e. V., Johannes Seniorendienste e. V., Diakonisches Werk – InnereMission – im Kirchenkreis Minden e. V., Diakonisches Werk im Kirchen-kreis Recklinghausen e.V., Diakonisches Werk im Kirchenkreis Hagen undDiakonisches Werk Gladbeck-Bottrop-Dorsten e.V.

    Tim Hagemann

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    Vorwort 

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    Einleitung

    I. Hoffnung

    Es bedarf Mut, um Romantiker zu sein, denn es muss viel aufs Spiel gesetzt werden.(Stendhal)

     Wohlstand und Freiheit allein machen nicht glücklich, der Mensch benö-tigt für ein gelungenes Leben einen optimistischen Entwurf seiner Zu-kunft. Für jede Gemeinschaft besteht somit ein kostbares Gut darin, Hoff-nung zu geben, dass in einer Vielzahl von Handlungsspielräumen ein at-traktives Leben in der Zukunft möglich ist. Sei dies aufgrund einer besse-ren Lebensqualität oder aufgrund von mehr Freiheit oder finanzieller Si-cherheit. „Mit der Hoffnung steht und fällt Sinn oder Unsinn der mensch-lichen Existenz.“1

     Aber worin liegt unsere Hoffnung heute?Unser Wohlstandsniveau scheint für einen großen Teil unserer Gesellschafteinen vorläufigen Höhepunkt erreicht zu haben. Heute blickt man realis-tisch pessimistisch in sein Portmonee und ist froh, wenn Gehaltserhöhun-gen Inflationsraten ausgleichen. Und auch der Enthusiasmus, der unsereGegenwart geprägt hat, bezüglich neuer, unser Leben bereichernder Tech-nologien verblasst. Auf den Fortschritt fällt der Schatten eines ökologischeund ethische Bedenken ignorierenden Kommerzes. Fragen bezüglich einer

    gerechten Verteilung von Ressourcen und Chancengleichheit sowie derUmgang mit unserer Umwelt sind ungelöst. Trotz unserer großen Freiheitüberkommt uns ein Gefühl der Ohnmacht – Ohnmacht gegenüber denEntwicklungen und den nicht verstehbaren und unvorhersehbaren Dyna-miken, die über unsere Zukunft bestimmen.Dabei vergessen wir gern, dass unser Leben das Ergebnis unserer bisher ge-fällten Entscheidungen und Handlungen als Staatsbürger, Konsument, Be-

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    1 Walter Kardinal Casper, Vorlesung an der Humboldt Universität zu Berlin

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    schäftigter oder Elternteil ist. Aber das Gefühl einer Selbstbestimmtheitüber das Leben schwindet und wird zu einem diffusen Gefühl, einer unbe-rechenbaren Eigendynamik der uns umgebenden Welt ausgeliefert zu sein.

     Wirtschaft und Politik wirken dabei als losgelöste Systeme, die in fernenGremien aufgrund übergeordneter, taktischer Interessen beraten und ent-scheiden. Traditionen und gewachsene Identitäten großer Konzerne ver-schwimmen in einem kosmoökonomischen Streben nach Profit. Eine Ver-lagerung der Firmensitze von Deutscher Post oder Lufthansa ins Auslandwird vorstellbar. Und die Politik steht im Verdacht, einer parteibezogenenTaktik den Vorrang gegenüber einer zielgerichteten, langfristigen Strategiezu geben.In der Öffentlichkeit zeichnet sich somit ein Bild, in dem Politik und Wirt-schaft aus einer eigenen Logik heraus funktionieren, in der der Bürger ei-ne Statistenrolle als Konsument oder in der Wahlkabine einnimmt. Wirt-schaftliche Erfolge assoziieren viele eher mit traumhaften Renditen für Ma-nager und Aktienhändler als mit einer individuellen Besserstellung. DasGefühl, ein wertgeschätztes Mitglied der Gesellschaft zu sein, schwindet.Viele Menschen verlieren das Gefühl, tatsächlich gebraucht zu werden.Mit solch einem Bild wird die Zukunft schnell mit negativen Konnotatio-nen belegt: Für viele Menschen geht der Begriff mit Unsicherheit, Unge-wissheit, Risiko und damit Angst einher.

    Heute sieht es so aus, als seien die utopischen Energien aufge-zehrt, als hätten sie sich vom geschichtlichen Denken zurückge-zogen. Der Horizont der Zukunft hat sich zusammengezogenund den Zeitgeist wie die Politik gründlich verändert. Die Zu-kunft ist negativ besetzt. […] Die Antworten der Intellektuellen

    spiegeln nicht weniger als die der Politiker Ratlosigkeit. Es ist kei-neswegs nur Realismus, wenn eine forsch akzeptierte Ratlosigkeit mehr und mehr an die Stelle von zukunftsgerichteten Orientie-rungsversuchen tritt. Die Lage mag objektiv unübersichtlich sein.Unübersichtlich ist indessen auch eine Funktion der Handlungs-bereitschaft, die sich eine Gesellschaft zutraut. Es geht um das Vertrauen der westlichen Kultur in sich selbst.(Jürgen Habermas, 2003)

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    Einleitung 

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     Wir benötigen das Vertrauen, dass wir auch zukünftig unseren Staat, dieÖkonomie und unsere Gemeinschaft so gestalten können, dass die Hoff-nung jedes Einzelnen auf einen positiven Lebensentwurf gewährleistet wer-den kann.

    II. Vertrauen

    Hoffnung auf eine bessere Zukunft benötigt vielfältiges Vertrauen. Wirmüssen Vertrauen haben, zukünftig durch unsere Handlungen den Lauf der Dinge beeinflussen zu können. Wir müssen darauf vertrauen, dass die-ses Selbstvertrauen auch andere teilen und so Probleme gemeinschaftlichangegangen werden können. Und wir müssen Entscheidungsträgern in Po-litik und Wirtschaft vertrauen, dass sie uns darin unterstützen.Vertrauen heißt, positive Erwartungen an Ereignisse in der Zukunft zu ha-ben. Dabei schwingt stets eine Unsicherheit mit, da das Ereignis, auf dassich die auf Vertrauen basierte Erwartung bezieht, in der Zukunft liegt undes keine Garantie für einen positiven Ausgang gibt.

     Aber wie können wir notwendiges Vertrauen in uns selbst und unsere Zu-kunft erhöhen?Das Vertrauen in uns selbst beschreibt den Glauben an eine eigene Selbst-wirksamkeit – also an die Fähigkeit, Herausforderungen durch eigenesHandeln zu meistern. Der Psychologe Albert Bandura hat beschrieben, wiesich Vertrauen in die Wirksamkeit des eigenen Handelns erhöhen lässt.Verbale Bekräftigung durch Mitmenschen ist ein Weg, die Beobachtung von (wirksamen) Mitmenschen ein anderer. Aber entscheidend sind Erfah-rungen. Nur wer erlebt, dass es sich lohnt zu handeln, wird in Zukunft zu-

    versichtlich sein. Mehr noch, wir verlernen zu handeln, wenn wir in ähn-lichen Situationen zuvor nicht handeln konnten.2 Vergebliches Bemühentrübt nachhaltig unsere Sicht auf die Veränderbarkeit der Welt. Auch wenndurch neue Umstände unser Handeln nun Erfolg verspräche, bleiben wirfatalerweise passiv. Ein „Teufelskreis“ sich verfestigender Resignationnimmt seinen Lauf.

    15

    Einleitung 

    2 Vgl. Seligmann, Konzept der erlernten Hilflosigkeit

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    Dieser Kreislauf der „erlernten Hilflosigkeit“ hat nicht nur Konsequenzenfür unser gemeinschaftliches Miteinander. Vertrauen darauf, die Widrig-keiten des Lebens erklären, vorhersehen und lösen zu können, ist heuteauch ein wichtiges Konzept in der Medizin. Für die Aufrechterhaltung derGesundheit wird ein ausgeprägtes Kohärenzgefühl vorausgesetzt. Das Ko-härenzgefühl beschreibt …

    … eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Aus-maß man ein durchdringendes, dynamisches Gefühl des Vertrau-ens hat, dass die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorher-sehbar und erklärbar sind; einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu be-

     gegnen; diese Anforderungen Herausforderungen sind, die An-strengung und Engagement lohnen.(Antonovsky, 1997)

    Mit Anstrengung und Engagement Herausforderungen zu begegnen, be-darf einer gewissen Naivität – einer Naivität im Sinne einer Unvoreinge-nommenheit, frei von vorweggenommenen und beschränkenden Annah-men zu handeln. Der Pragmatismus Nordamerikas beruht darauf, dass invielen Bereichen traditionelle Denk- und Vorstellungsweisen weniger wirk-sam und die Widerstände gegen neue und ungewöhnliche Möglichkeitengeringer sind. Der sprichwörtliche Glaube an die unbegrenzten Möglich-keiten des Einzelnen hat dort für viele Menschen im Sinne einer selbster-füllenden Prophezeiung außergewöhnliche Möglichkeiten eröffnet. Einesich selbst erfüllende Prophezeiung beschreibt eine vorweggenommene In-

    terpretation einer Situation, die ein Verhalten bewirkt, welches Annahmenzur Wirklichkeit werden lässt. Wir lassen mit diesen Interpretationen alsoeine von uns angenommene Zukunft zur Wirklichkeit werden – und diesim Schlechten wie im Guten.

     Jede Gesellschaft benötigt für ihre Entwicklung einen solch „naiven Grün-dergeist“. Studien zeigen, dass Vertrauen in andere und die Zukunft dieProsperität und Reformfähigkeit einer Gesellschaft fördert.3 Misstrauen

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    Einleitung 

    3 Heinemann, Traut-Mattausch, Förg, E. Jonas & Frey, 2007

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    wiederum führt zu Leistungszurückhaltung, Bürokratie, Stagnation undzur Verhinderung notwendiger Reformen. „Vertrauen fördert kooperativesVerhalten, Solidarität und Sozialverhalten“ – mit dem Effekt, dass „Bürgernicht lediglich enge eigennützige Ziele verfolgen. Damit begünstigt Ver-trauen die Bereitschaft zur Kompromissfindung, um gesellschaftlich vor-teilhafte Entscheidungen zu treffen.“Vertrauen kann aber nicht von oben verordnet werden, Vertrauen entstehtvon innen heraus. Menschen vertrauen und verhalten sich entsprechendihrer eigenen Theorie zur Realität. Menschen müssen in unserer Gesell-schaft das Gefühl haben, wirkliche Handlungsspielräume zu haben und anpolitischen Meinungs- und Entscheidungsprozessen teilzuhaben.

    III. Partizipation

    Die Grundidee einer parlamentarischen, repräsentativen Demokratie ist es,Mitbürger und Mitbürgerinnen zu ermächtigen, im Sinne der MehrheitEntscheidungen zu treffen, die in Gesetze münden und unser Zusammen-leben regeln. Damit Mandatsträger die Interessen und Wünsche der Ge-sellschaft – im Sinne des Allgemeinwohls – erfolgreich vertreten können,muss es erst einmal zu einer gesellschaftlichen Willensbildung kommen.Nur wenn die Gesellschaft ein konkretes Ziel vor Augen hat, kann der vonihr gewählte Vertreter in ihrem Sinne handeln und wird diesbezüglich be-urteilbar.Parteien und Verbände, die diesen äußerst schwierigen Kommunikations-prozess moderieren sollen, verlieren aber ihre breite gesellschaftliche Veran-kerung. Die Kommunikationsfäden zwischen „Auftraggeber“ und „Man-

    datsträger“ drohen zu reißen. Politiker müssen als Sündenböcke herhalten,die aus Sicht des Bürgers zwischen Lobbyisten und innerparteilichenZwängen hin- und hergerissen die Bedürfnisse der Menschen aus den Au-gen verlieren, und zu Recht verweisen Politiker darauf, dass die vorgesehe-nen Wege zur politischen Teilnahme und Gestaltung nur noch von Weni-gen beschritten werden. Das Prinzip, dass die Repräsentanten den mehr-heitlichen Willen der Bevölkerung in Politik umsetzen, scheint sich ausSicht des Bürgers dahingehend zu verkehren, dass diese Repräsentanten

    nun die Richtlinien fest- und dem Volk lediglich zur Abstimmung vorle-gen. Aussagen nach Wahlen, „Wir müssen in Zukunft stärkere Überzeu-

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    Einleitung 

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    gungsarbeit für unsere Politik leisten“, nähren diesen Eindruck. Trotz allerErrungenschaften unserer Demokratie wird diese in der Öffentlichkeit zu-nehmend als „ausgehöhlt“ und von vorhersehbaren Ritualen geprägt wahr-genommen.

     Aber nicht nur das Vertrauen in die Politik droht zu sinken, sondern auchder Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Die gefühlte Gemeinschaft inunserer Gesellschaft ist Ausdruck „eines schöpferischen, sich entfaltendenSozialbewusstseins“, welches sich durch die Verschmelzung unserer indivi-duellen Vorstellungen bildet.4 Zunehmend lösen sich jedoch diese Bindun-gen: Produktionsverlagerungen ins Ausland, Zahnsanierungen im Urlaub,Internetshopping – das Gefühl, auf unsere unmittelbare soziale Umweltangewiesen zu sein, schwindet. Diese Bindungen sind aber der notwendi-ge „Kitt“ einer Gemeinschaft und die Grundlage solidarischen Verhaltens.In unserer sich „individualisierenden“ Gesellschaft wird die Förderung po-litischen und sozialen Engagements, sei es privat, im Beruf oder im Ehren-amt, ein dringendes Thema. Dies ist aber nur zu erreichen, wenn Men-schen wissen, wofür sie sich engagieren sollen, und sie daran glauben, mitihrem Engagement etwas Positives für sich und andere bewirken zu kön-nen.Der Glaube an eine individuelle oder gesellschaftliche Selbstwirksamkeit,der das Fundament jeglicher Selbstverantwortung und Eigeninitiative ist,wird durch Politikverdrossenheit und gefühlte bürokratische Fesseln ge-schwächt. Bürger und Politiker müssen aufeinander zugehen: Entschei-dungsträger/innen in Politik und Verwaltung, indem sie Verantwortung abgeben, und Bürgerinnen und Bürger, indem sie diese ausfüllen. Verände-rungen können kaum erfolgreich „von oben“ durch Ansprachen angesto-ßen werden, sondern nur durch konsequente Einbindung und Mitgestal-

    tung der Beteiligten.Um mehr Menschen teilhaben zu lassen, ist eine Stärkung des kommuna-len Gedankens wichtig. Die Europäische Union sieht vor, dass alles, wasvor Ort zu regeln ist, vor Ort geregelt werden sollte. Insbesondere als Ge-gengewicht europäischer Zentralgewalt muss der Handlungsspielraum auf kommunaler Ebene ausgespielt werden. Die Stärkung des Subsidiaritäts-prinzips ist ein Weg. Dem Subsidiaritätsprinzip liegt ein einfaches Prinzip

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    Einleitung 

    4 Vgl. Durkheim, 1991

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    zugrunde: Nur Zuständigkeiten, die Bürger, Kommunen, Unternehmenund lokale oder regionale Gebietskörperschaften nicht allein ausüben kön-nen, ohne dem allgemeinen Interesse zu schaden, sollten zentral von höhe-ren Instanzen geregelt werden. Wenn es auf unterster Ebene möglich ist,

     Aufgaben eigenständig zu lösen, sollte dies geschehen. Gleichwohl solltedie übergeordnete Ebene Unterstützung, nicht im Sinne von Verordnun-gen, sondern als „helfende Hand“, gewähren. In dem Maastrichter EU-Vertrag wird die Achtung des Subsidiaritätsprinzips ausdrücklich betont.Es besteht also stets ein „Handlungsvorrang“ für die unterste und eine„Unterstützungspflicht“ für die übergeordnete Ebene. Das Subsidiaritäts-prinzip sollte konsequent, kreativ und unbürokratisch gelebt werden.Die Erklärungen der Parteien über „modernes Regieren“ und Diskussionenüber „Dritte Wege“ und „Kommunitarismus“ konnten bisher keine ausrei-chenden Veränderungen herbeiführen. Ein Grund liegt darin, dass zu-nächst langfristige Ziele bestimmt werden müssen, bevor Handlungsmög-lichkeiten überhaupt erst wahrgenommen werden können. Nur wenn in-haltlich geklärt ist, welche Visionen und Ziele verfolgt werden sollen, sinddazugehörige Aufgaben und förderliche Strukturen sinnvoll festzulegen.„Wir brauchen wieder eine VISION: Visionen sind nichts anderes als Stra-tegien des Handelns. Wir brauchen aber nicht nur den Mut zu solchen Vi-sionen, wir brauchen auch die Kraft und die Bereitschaft, sie zu verwirkli-chen“.5

    IV. Visionen

    Wenn die utopischen Oasen austrocknen, breitet sich eine Wüste 

    von Banalität und Ratlosigkeit aus.(Jürgen Habermas)

    Der Neurobiologe Gerald Hüther hat in seinem Buch, „Die Macht der in-neren Bilder – wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt ver-ändern“, eindringlich dargestellt, dass ohne die Fähigkeiten des Menschen,solche inneren Bilder seiner Zukunft zu entwerfen, die menschliche Ge-

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    Einleitung 

    5 Roman Herzog 

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    schichte nicht denkbar wäre. Innere Bilder sind für Hüther Vorstellungen,die wir in uns tragen und die unser Denken, Fühlen und Handeln bestim-men. Er betont, dass Menschen gemeinsame Bilder brauchen, um Hand-lungen zu planen, Herausforderungen anzunehmen und auf Bedrohungenzu reagieren.

     Aber wie entstehen unsere gemeinsamen inneren Bilder heute? Man musswohl annehmen, dass diese vor allem in der von uns geschaffenen Medien-welt entstehen. Die Werbung hat den Prozess, attraktive Bilder im Men-schen zu verankern, für ihre Zwecke perfektioniert. Aber die Interessen der

     Werbe- und Mediengestalter liegen wohl weniger in der langfristigen Ent-wicklung unserer Gesellschaft als vielmehr in Auflagen, Einschaltquotenund Konsum.Zur Gestaltung unserer Zukunft benötigen wir aber eine gemeinsame,greifbare, attraktive Vorstellung. Keine Trugbilder von träumerischen Zu-kunftsphantasien oder weltfremden Utopien, sondern „handfeste“ Visio-nen. Ansprachen, Parteiprogramme oder Grundsatzpapiere allein reichennicht aus.Visionen geben Orientierung und helfen, wichtige Ziele zu formulieren.Eine Vision sollte ein klares und glaubwürdiges Bild von der Zukunft ent-werfen, welches man erschaffen möchte.6 Visionen müssen so anziehendsein, dass sie eine Gesellschaft aus einem chaotischen Miteinander in demBild einer gemeinsamen Zukunft vereinen. Visionen sollten auch außer-halb vertrauter Pfade liegen und mit lieb gewonnenen Gewohnheiten bre-chen.

     Wir haben alle Mittel in unserer Hand, um die Zukunft zu gestalten. Wasuns fehlt, sind weitere Ideen, neue Konzepte und Visionen. Wir bleibenweit unter unseren Möglichkeiten dessen, was wir erreichen könnten,

    wenn wir den Mut und Willen dazu hätten. Wir brauchen die Einbeziehung vieler, wir brauchen gute, kreative, ja viel-leicht auch revolutionäre Ideen. Trotz aller Individualisierungstendenzengibt es in Deutschland erfreulicherweise ein hohes bürgerliches Engage-ment. Es gibt zahlreiche wunderbare Beispiele, wie Menschen mit ihrenIdeen und ihrer Beharrlichkeit erstaunliche Veränderungen herbeiführen.Staatliche Schulen, die mit der Auflösung ihrer Klassenverbände neue We-

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    Einleitung 

    6 Dehlers, 1997.

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    ge beschreiten. Arbeitsagenturen, deren Mitarbeiter mit unorthodoxenMethoden die Jugendarbeitslosigkeit rapide senken, oder eine Vielzahl vonMehrgenerationenhäusern und ambulant betreuten Wohnmöglichkeiten,die vielen Menschen neue Lebensformen bieten.

     Anders als vielleicht in den USA wird es in Deutschland nicht reichen, ei-nen emotionalen Rahmen des Optimismus und der Hoffnung zu setzenund darauf zu vertrauen, dass ein Gründungsmythos und Pragmatismusein unerschöpfliches Potential an Krisenbewältigung freisetzen. Wir müs-sen in Deutschland stärker die Bereitschaft und das Ideenpotential derMenschen vor Ort anregen und aufgreifen und mithilfe einer langfristigenVision Aufbruch und Begeisterung entfachen. Wir müssen die Angst vorKlimawandel und Pflegenotstand überwinden und mit Zuversicht undFreude unkonventionelle Lösungen erarbeiten und ausprobieren.Und schließlich brauchen wir Geduld, denn „… was die Welt verwirrt, istdas Missverhältnis, das zwischen der Geschwindigkeit des Geistes und derungeheuren Unbeholfenheit, Langsamkeit, Beharrungsträgheit und Kraftder Materie besteht“1. Dieses Missverhältnis wächst in einer Zeit, in deruns unsere zeitlichen Ressourcen zu schwinden scheinen.

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    Einleitung 

    1 Quelle: Thomas Mann, Der Zauberberg.

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    Allgemeine Visionen für

    Deutschland

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    Die Zeit der Krise als ChancebegreifenKatrin Göring-Eckardt

     Wir leben in Krisenzeiten. Wirtschafts- und Finanzkrise und mehr nochdie Umweltkrise stellen uns vor immense Herausforderungen. Die vorge-legten Konzepte und ergriffenen Maßnahmen entfalten in Teilen ihre Wir-kung. Aber sie kranken vor allem an zweierlei: An der Annahme, man müs-se nur ein wenig an den Stellschrauben drehen und könne sonst alles beim

     Alten belassen. Und an der Erwartung, dass ein oben ausgeschüttetes Ret-tungspaket die Dinge wieder in Ordnung bringt, ohne dass es den oder dieEinzelne selbst anginge.Ich habe die Vision, dass wir die Zeit der Krise als Chance begreifen. Alseinen Moment, in dem wir erkennen, dass es nicht weitergehen kann wiebisher. Denken wir darüber nach, wie unser anderes Leben ein besseres wä-re, ein im Wortsinne leichteres, eines, das sich lohnt. Erst einmal: für wen,außer für uns selbst? Viele erschreckt in diesen Tagen erneut: Es sind unse-re Kinder, die mit der ausgebeuteten Schöpfung, mit Fluten und Dürre,mit weniger von allem leben müssen. Es sind nicht erst die Ururenkel, vondenen wir nur wissen, dass wir sie lieben würden. Es sind unsere Kinder,von denen wir schon genau wissen, warum wir sie lieben!Stellen wir uns unser Leben vor, jenseits von Schirmen und Pakten, von Pa-

    keten und unvorstellbaren Milliarden, die in Maßnahmen und Programmefließen. Hatten wir nicht gerade noch darüber gesprochen, dass wir weni-ger Ressourcen verbrauchen müssen? Hatten wir nicht gerade noch dafürgekämpft, dass wir nicht auf Kosten der kommenden Generationen lebendürfen – weder finanziell noch was die Rohstoffe angeht? Hatten wir unsnicht gerade eben noch verpflichtet, für mehr Gerechtigkeit in der Welt zusorgen? Und in der Tat würden wir wohl mehr haben. Mehr Zeit zuersteinmal. Zeit, die uns verloren geht, während wir uns den Konsum an al-

    lem Möglichen organisieren. Zeit, die wir bisher dafür brauchen, das ge-nau richtige Neue, was man unbedingt haben muss, zu besorgen. Zeit, die

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    es kostet, dafür immer noch einmal loszugehen. Stellen wir uns das Lebenim Weniger vor, ohne spartanisch zu denken. Ein Leben, das eines ist, indem wir ein Leben in Fülle haben. Wir könnten wohl ausschweifendereFeste feiern, wenn wir uns aufs Feiern konzentrieren und auf die Men-schen, mit denen wir das tun wollen – mehr als auf die Farbe des Buffets.

     Wir könnten wohl großartig miteinander reden, wenn uns nicht Power-point und Hintergrundmusik stören würden. Wir könnten so viel mehrUrlaub haben, wenn wir weniger Zeit im Stau verbringen würden. Wirkönnten uns sogar entscheiden, nicht ins Flugzeug zu steigen, jedenfallsnicht immerzu, und vielleicht sogar auf dem Landwege Dinge entdecken,die wir sonst nur überflogen hätten.Nennen wir es Wende zum Weniger, nennen wir es die Grenzen des

     Wachstums. Nennen wir es aber beim Namen! Wer glaubt, alles wird ein-fach wieder gut, wenn wir nur hoffen und warten, wird sich irgendwannwundern, dass sich das Wetter durch den Schirm nicht geändert hat, son-dern, dass der nur vorübergehend dafür gesorgt hat, dass die Haare nichtnass werden.Eine friedliche Revolution für das Klima steht aus. Sie muss groß sein undweit. Für unsere Kinder und die ihrigen. Für unsere Nachbarn in der Fer-ne, die schon heute aller Möglichkeiten beraubt sind. Für diesen blauenPlaneten, der uns Heimat ist. Sagen wir doch: Es ist uns egal, was die an-deren denken. Wir fangen an! Wir fangen an mit dem anderen, dem gutenLeben: für uns, für die, die am anderen Ende der Welt leben, für die, dienach uns kommen. Gehen wir los!

    Frau Katrin Göring-Eckardt ist seit 1998 Mitglied des Deutschen Bun-destages und in Thüringen im Landesvorstand Vorstand Bündnis 90/

    Die Grünen. Darüber hinaus ist sie Präses der Synode der EKD undMitglied im Vorstand des Deutschen Evangelischen Kirchentags.

    … Frau Göring-Eckhardt betont, dass ein wichtiger Moment für eine po-sitiv gefühlte Zukunft, und damit auch für Optimismus, darin besteht, ei-ne „Wende zum Weniger“ einzuleiten. Eine Verringerung des materiellen

     Wohlstands muss nicht zu erhöhter Unzufriedenheit führen. Studien zei-

    gen, dass finanzielle Not zwar zur Unzufriedenheit, aber mehr Reichtumnicht zu mehr Glück führt. Der wichtigste Faktor für Glück sind für den

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    K. Göring-Eckardt 

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    Menschen stabile soziale Beziehungen. Die Bundestagsabgeordnete Lena Strothmann betrachtet die Weltwirtschaftskrise ebenfalls als Chance, einengesellschaftlichen Wandel einzuleiten. Sie verweist in ihrer Vision auf die

     Wichtigkeit eines Ordnungsrahmens und eines Wertegefüges, den sie in ei-ner Besinnung auf unsere christlichen Werte sieht …

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    Die Zeit der Krise als Chance begreifen

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    Gemeinsame WerteLena Strothmann

    In meiner Tätigkeit als Bundestagsabgeordnete begegne ich als Ansprech-partnerin vielen Bürgerinnen und Bürgern. Dabei werden mir schriftlichoder mündlich Sorgen und Nöte vorgetragen, aber auch viele Verbesse-rungsvorschläge für die vielseitigen Herausforderungen der Gesellschaftund unseres Lebens mit auf den Weg gegeben. Meine Aufgabe als Abgeord-nete ist es, diese Anfragen, die Anregungen und natürlich auch die Kritik aufzunehmen und entsprechende Antworten zu geben. Nicht immer istmir eine direkte Hilfe möglich, denn oftmals werden Wünsche und Hoff-nungen laut, die nicht ohne enorme gesellschaftliche Veränderungen oderneue Gesetze zu erfüllen sind. Entgegen der Erwartung reagieren die Men-schen auf die „schlechte“ Nachricht, dass eine schnelle Hilfe nicht möglichist, sehr gelassen. Es war ihnen wichtiger, dass sie angehört wurden und ei-ne ehrliche Antwort bekamen.

     Anders sind derzeit die Gespräche, die ich im Zusammenhang mit der ak-tuellen Weltwirtschafts- und Finanzkrise führe. Die Tatsache, dass der Ego-ismus und die Habsucht weniger Menschen derart große finanzielle Notfür eine Vielzahl von Menschen ausgelöst hat, schürt nachvollziehbar denZorn und lässt verzweifeln. Vertrauen wurde zerrüttet und oftmals höre ichdie Frage: „Wie soll es weitergehen?“

    Visionen sind in diesem Zusammenhang eine Möglichkeit, Orientierung zu geben und vor allem Hoffnung und Optimismus zu vermitteln. Visio-nen bestimmen ein Ziel und geben uns eine Richtung im täglichen Han-deln. Die Vision ist ein Bild unserer Zukunft, das nur gezeichnet werdenkann, wenn einem seine Werte bzw. seine Grundüberzeugungen stets ge-genwärtig sind. Meine Vision unserer Gesellschafts- und Wirtschaftsord-nung ist die Vision, die einst Ludwig Erhard definiert hat: die Vision vonder Sozialen Marktwirtschaft mit dem Ziel des „Wohlstands für alle“. Da-

    bei müssen die Bürgerinnen und Bürger den Unternehmern und demStaat, der als Hüter der Marktwirtschaft den Ordnungsrahmen setzt, wie-

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    der vertrauen können. Der zerrüttete Glaube an die Funktionsfähigkeit derFinanzmärkte ist wiederherzustellen. Dies kann nur gelingen, indem mandie gesellschaftlichen Neuerungen anerkennt, während man die bewährteVision Ludwig Erhards beibehält: Die Wirtschaft hat dem Menschen zudienen, nicht der Mensch der Wirtschaft. Maßlose Machtgier getragen vonegozentrischem Denken, das sich nur an eigenen Interessen orientiert, istdabei fehl am Platz.Mein persönliches Anliegen ist die Besinnung darauf, dass das christlicheMenschenbild in diesem Wertegefüge eine tragende Rolle spielt. Nichtgrundlos sind die Werte, für die das christliche Menschenbild stehen – al-len voran die Unantastbarkeit der menschlichen Würde – in den Grund-rechten unserer Verfassung wiederzufinden. Der Einzelne handelt eigen-ständig für sich – aber auch und gerade für seine Mitmenschen. DerMensch ist kein Einzelgänger, sondern Teilhaber an einer Gesellschaft, diezu zerbrechen droht, wenn soziale Belange immer weiter an Bedeutung ver-lieren.Die Finanzkrise hat uns deutlich gezeigt, wie wichtig ein Ordnungsrahmenund ein Wertegefüge für die Marktwirtschaft sind. Im Rahmen eines Aus-gleichs – zwischen dem Grundsatz der Privatautonomie und der staatlichenPflicht zur Bewahrung des aus der Sozialen Marktwirtschaft resultierenden

     Wertegefüges – wurde deswegen beispielsweise ein gesetzlicher Rahmen zurweiteren Beschränkungsmöglichkeit von Managergehältern in Krisenzeitendurch das Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung geschaffen,das am 05.08.2009 in Kraft trat. Denn die Soziale Marktwirtschaft ver-steht sich als Wettbewerbsordnung, die sich am Leistungsprinzip orientiert,aber auch Teilhabe ermöglicht und sich schlussendlich als Sozialstaat defi-niert.

    Nicht nur im nationalen Raum spielen diese Grundsätze eine tragendeRolle. Der Staatenverbund der Europäischen Union gewinnt zunehmendan Bedeutung. Mehr als zwei Drittel aller wirtschaftsrelevanten Gesetze inder Bundesrepublik entsprechen der Umsetzung von Richtlinien oder sindin sonstiger Weise durch die Europäische Union beeinflusst. Die Werte derSozialen Marktwirtschaft sind demnach nicht aus einer „nationalen Scheu-klappe“ heraus zu betrachten, sondern im europäischen Gesamtgefüge:Gemäß der Präambel des Grundgesetzes, „Im Bewusstsein seiner Verant-

    wortung vor Gott und den Menschen, von dem beseelt, als gleichberech-tigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen

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    Gemeinsame Werte

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    ...“, sind wir und damit auch Europa Dienstleister für die Menschen. EinEuropa im Bewusstsein der Sozialen Marktwirtschaft. Ein Europa, in demFreiheit, Verantwortung und Wohlstand auf den elementaren christlichen

     Werten beruhen. Ein Europa, das Freiraum bietet und Selbstständigkeitfördert. Ein Europa, das dem Menschen zu dienen hat und nicht derMensch Europa. Europa als Vorbild und Strahlkraft für den weltumspan-nenden Handel.Deutschland wird bei diesem Prozess als gleichberechtigtes Glied eine gro-ße Rolle spielen. Wir in Deutschland müssen unsere Werte wieder lebenund unsere Gemeinschaft stärken, dann schaffen wir es, gestärkt aus derKrise hervorzugehen.

    Frau Lena Strothmann ist seit 2003 für die CDU Mitglied des Deut-schen Bundestages.

    … auf den europäischen Raum verweist ebenfalls der Bundesaußenminis-ter Guido Westerwelle. Er befasst sich in seiner Vision mit der Einbindung Deutschlands in den internationalen Staatenverbund …

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    Lena Strothmann

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    Wer die Zukunft gut gestalten will,sollte die Erfahrungen der

    Vergangenheit sorgsam beachtenGuido Westerwelle

     Wenn ich an die Welt von morgen denke, sehe ich vor allem die Notwen-digkeit, neues Vertrauen unter den Ländern und Völkern zu schaffen undzu pflegen. Wer diese Zukunft gut gestalten möchte, sollte die Erfahrun-gen der Vergangenheit sorgsam beachten.Der 11. September 2001 war acht Jahre lang die entscheidende Bezugs-größe für die internationale Agenda. Heute sind wir an einem Punkt ange-kommen, an dem wir uns vom 11. September 2001 als entscheidendemDreh- und Angelpunkt der internationalen Politik emanzipieren müssen.Es geht nicht darum, den 11. September vergessen zu machen. AuchDeutschland hat daraus zu Recht Konsequenzen gezogen. Der Anti-Terror-Kampf wird eine wichtige Aufgabe bleiben. In Afghanistan brauchen wiraus wohlverstandenem Eigeninteresse den Erfolg. Aber die letzten Jahre ha-ben eben auch gezeigt, dass die Fokussierung auf den sogenannten „Krieg gegen den Terror“ den Blick auf vieles verstellt hat: auf Themen jenseits derTerrorfrage, die für die Zukunft unseres Zusammenlebens von entschei-dender Bedeutung sein werden. Auf notwendige Grundsätze und Mecha-

    nismen der internationalen Zusammenarbeit. Und selbst auf die ethischenGrundlagen des eigenen inneren Zusammenhalts.

     Am Ende jener Phase, die durch den 11. September 2001 definiert wur-de, bekommen wir eine zweite Chance. Es geht um nicht weniger, als daspolitische Vermächtnis der Entspannungspolitik, also die Verpflichtung füreine auf Kooperation angelegte Weltordnung, in das Zeitalter der Globali-sierung zu übersetzen. In einer Welt, in der Multipolarität längst Realitätgeworden ist, ist der kooperative Ansatz der beste Weg, um Sicherheit und

    Stabilität im globalen Maßstab zu erreichen.

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     Wir brauchen den Westen gerade im Zeitalter der Globalisierung. Wirbrauchen den Westen nicht als Burg, sondern als Leuchtturm. Als Orien-tierungspunkt für alle, die nach Freiheit streben, nach der Herrschaft desRechts und nach Toleranz. Und wir brauchen den Westen zur Selbstbe-hauptung im globalen Wettbewerb.Unser Interesse an einer globalisierten Welt verbindet sich für mich als Li-beralen mit einer klaren Werteorientierung, deren Inhalte zurückgehen auf die Errungenschaften der Aufklärung. Zu diesem Wertespektrum gehörtals unveräußerlicher und universell gültiger Kern unser Bekenntnis zu denMenschenrechten, das keinem Relativismus unterliegen darf. Westliche To-leranz und aufgeklärter Liberalismus funktionieren nur, wenn sie der Into-leranz mit klarer Ablehnung begegnen. Regime, die Bürger steinigen oderihren Mädchen Bildung verweigern, die Gefangene foltern oder unliebsa-me Nachbarn erpressen, die Glaubens- und Gewissensfreiheit mit Füßentreten oder Terror exportieren, müssen unseren Druck spüren. Die univer-sell anerkannten Werte – wie der Respekt vor der Würde des Menschen –sind jene Grenze, ab der aus dem Prinzip der Nichteinmischung gemeinsa-me Verantwortung wird.

     Auch innerhalb Europas ist die Arbeit nicht beendet. Die Idee des gemein-samen Europas hat uns 60 Jahre Freiheit in Frieden und Wohlstand ge-bracht. Auf unserem Kontinent begann nach einer unfassbaren Katastro-phe so etwas wie eine „Globalisierung im Kleinen“. Die Ausgangssituationfür ein erfolgreiches Zusammenwachsen der Völker, Staaten und Kulturenauf unserem Kontinent war denkbar schlecht. Bevor der Weg des gemein-samen Europas begann, gehörten übersteigerter Nationalismus, politischeSystemgegensätze, Menschenrechtsverbrechen und Protektionismus mehrzur Regel als zur Ausnahme. Anders als wir es heute meist empfinden, wa-

    ren Demokratie und Freiheit für die Menschen alles andere als selbstver-ständliche Realität. Weniger als die Hälfte der Staaten der heutigen EU wa-ren 1945 souverän und demokratisch verfasst. Freiheit, Rechtsstaat undDemokratie mussten sich auch in Europa erst Bahn brechen.Meine Eltern sind Jahrgang 1930. Ihnen sollte in jungen Jahren beige-bracht werden, dass Frankreich nichts anderes sei als Deutschlands natür-licher Erzfeind. Es wurde der Versuch gemacht, eine ganze Generation mitderartigen Weltbildern zu beeinflussen.

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    G. Westerwelle

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    Ich selbst entstamme einer Generation, die noch gespürt hat, welch tiefe Wunden die katastrophalen Verirrungen der deutschen Geschichte im kol-lektiven Gedächtnis unsere Nachbarn hinterlassen haben.

     Aufgabe der Generationen vor uns war es, die Aussöhnung mit unserenNachbarn und die Integration Deutschlands in den Westen voranzubrin-gen. Die Aufgabe meiner Generation ist es, die Aussöhnung und Überwin-dung der Teilung Europas auch Richtung Osten zu vollenden. Es ist eineunübersehbare Tatsache, dass das Verhältnis zu unseren östlichen Nachbarnder weiteren Vertiefung dringend bedarf. Das Projekt, das Walter Scheelund Willy Brandt mit ihrer Ostpolitik 1969 begonnen haben, bedarf nochgenauso der Vollendung, wie dies mit der seit 1949 von Konrad Adenauerund Theodor Heuss verfolgten Politik in Richtung Westen gelungen ist.“

    Herr Guido Westerwelle ist Bundesaußenminister, Bundesvorsitzenderder FDP und Vizekanzler der Bundesregierung. Er sitzt seit 1996 für dieFDP im Deutschen Bundestag.

    … Herr Westerwelle betont in seiner Vision die Aufgaben der Gestaltung,die jeder Generation obliegen. Nach den vielen verheerenden Entwicklun-gen des 20. Jahrhunderts kann die jetzige Generation in Europa zum ers-ten Mal gemeinsam von Ost bis West eine gemeinsame friedliche Zukunftgestalten. Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rütt-gers, richtet seinen Blick ebenfalls auf seine Jugend und beschreibt seineVision von einem Staat und einer heutigen Gesellschaft, von der er uns al-lerdings noch entfernt sieht …

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    Wer die Zukunft gut gestalten will, sollte die Erfahrung der Vergangenheit ...

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    Meine GesellschaftJürgen Rüttgers

     Woran wollen wir Maß nehmen, wenn wir über unsere Zukunft reden? Wenn ich auf meine Jugend zurückblicke und sie vergleiche mit der jungerMänner und Frauen von heute, dann fällt mir auf: Meine Generation istgroß geworden mit einem Versprechen, das uns unsere Eltern gegeben ha-ben. Sie haben uns gesagt: „Lernt und seid anständig. Wisst um Eure Mög-lichkeiten – und kennt Eure Grenzen. Strebt nach Wissen – und bewahrtdabei Haltung. Nutzt Eure Rechte – und erkennt Eure Pflichten an. Schautnach vorne – und lasst keinen zurück. Dann wird alles gut. Dann werdetihr in bescheidenem Wohlstand leben.“Mit dem Schlaraffenland, das uns die Werbung und mancher populistischePolitiker heute vorgaukeln, hatte das nichts zu tun. Das war eine harte An-sage damals – aber eine ehrliche. Ich bin überzeugt: Es mangelt heute nichtan der Ehrlichkeit der Eltern, dass sie dieses Versprechen nicht mehr soleicht abgeben. Im Gegenteil. Sie wollen und können es nicht mehr abge-ben, weil sie ehrlich sein wollen. Denn wir alle haben mittlerweile dochgroße Zweifel, ob dieses Versprechen von damals heute überhaupt nochGültigkeit beanspruchen kann.Meine Antwort auf diese Zweifel ist aber: Doch – das Versprechen unsererEltern gilt auch noch für unsere Kinder. Nur ist es unsere Aufgabe, in Po-

    litik, Wirtschaft, Kirche und Gesellschaft deutlicher als bisher zu sagen, inwelcher Gesellschaft wir künftig leben können und leben wollen. Denn ei-ne Gesellschaft, die kein gemeinsames Ziel mehr hat, kann dem Einzelnenauch keinen Grund mehr liefern, seine eigenen Vorstellungen diesem ge-meinsamen Ziel unterzuordnen. Ein notwendiger, guter und legitimer Plu-ralismus darf eben nicht verwechselt werden mit einer Beliebigkeit ingrundsätzlichen Fragen. Und wer eine Antwort auf die Frage sucht, wasdiese Grundsätze sind, der braucht dabei das Rad nicht neu zu erfinden. Es

    bedarf keiner neuen Visionen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir unsauf unsere Grundlagen besinnen – auf die Grundlagen der Sozialen Markt-

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    wirtschaft und auf die inneren Wahrheiten der Christlichen Soziallehre. Wer das macht, bekommt eine sehr deutliche Vorstellung davon, wie dieGesellschaft der Zukunft aussehen kann und aussehen soll: Es ist eine Ge-sellschaft, in der Menschen von ihrer Hände Arbeit leben können. Nicht,weil es einen Mindestlohn gibt. Sondern weil wir uns von Geschäftsmodel-len verabschiedet haben, die nur deshalb funktionieren, weil sie auf der

     Ausbeutung des Menschen aufbauen.Es ist eine Gesellschaft, in der sich Menschen schämen müssen, für die dereinzige Anreiz bei der Übernahme von Verantwortung in der Höhe des Ge-halts begründet liegt. Die nach Führungspositionen streben, weil sie aus-schließlich das eigene Konto im Blick haben – nicht mehr den Dienst ander Sache. Und schon gar nicht mehr den Dienst am Menschen.Es ist eine Gesellschaft, für die Wirtschaft mehr ist als Geld und die sichdarauf besinnt, dass Kredit nicht nur etymologisch etwas mit Glaubwür-digkeit zu tun hat.Es ist eine Gesellschaft, in der Macht nicht an Posten und Stühle gebun-den ist, sondern an Verantwortung. In der Freiheit nicht nur als Freiheitvon Zwängen, sondern auch als Freiheit zur Pflicht begriffen wird und ei-ne Richtung hat.Es ist vor allem eine Gesellschaft, in der all zu lautes Rufen nach dem Staatzumindest irritiert, wenn nicht gar verpönt ist. Und in der es umgekehrtselbstverständlich ist, zu sagen: „Du, Staat, kümmere dich nicht um meine

     Angelegenheiten. Sondern gib mir so viel Freiheit und lass mir von demErtrag meiner Arbeit so viel, dass ich meine Existenz, mein Schicksal unddasjenige meiner Familie selbst zu gestalten in der Lage bin.“Es ist eine Gesellschaft, die einen starken Staat hat. Einen Staat, der überden Interessen und den Gruppen steht. Der sich nicht in Wirtschaftsinte-

    ressen verstrickt. Der niemandes Büttel ist – der Arbeitgeber nicht, aberauch nicht der Arbeitnehmer. Es ist ein Staat, der unabhängig ist und derseine Stärke und Autorität aus eben dieser Unabhängigkeit zieht.Von dieser Gesellschaft sind wir heute noch weit entfernt. Und ich binüberzeugt, dass das eng zusammenhängt mit dem, was wir tun, was wirnicht tun und vor allem: mit dem, was wir nicht tun sollten. Denn die Kri-se unserer Tage hat zwar viel zu tun mit Strukturen und Rahmenbedingun-gen. Sie hat viel zu tun mit dem, was wir die „Spielregeln“ nennen – den

    geschriebenen wie den ungeschriebenen. Vor allem, und zu allererst, aberhat sie etwas mit den Spielzügen zu tun. Und das heißt: Sie hat etwas da-

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    Meine Gesellschaft 

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    mit zu tun, wie sich der Einzelne verhält. Mit dem, was er achtet. Undmehr noch vielleicht mit dem, was er missachtet. Sie hat zu tun mit derVerankerung der Menschen. Und mehr noch mit dem Lösen aus dieserVerankerung. Sie hat zu tun mit dem, was gelegentlich überhandzunehmenscheint in unserer Zeit: mit Wissen ohne Haltung. Mit Streben ohne Mit-te. Und mit Können ohne Maß. Unser Vermögen ist von anderer Güte. Esist ein Vermögen, das angelegt ist in der Ablehnung eines freibeuterischenKapitalismus ebenso wie in der Ablehnung eines entmündigenden Sozialis-mus. Vor allem aber ist es ein Vermögen, das investiert ist in die Funda-mente der Christlichen Soziallehre. Dieses Kapital, diese Soziale Markt-wirtschaft, war schon immer mehr als eine ökonomische Alternative. Siewar vor allem eine moralische Alternative. Und das ist sie heute noch. DieSoziale Marktwirtschaft war früher schon mehr als ein Jobben in einemabstrakten System. Sie war vor allem ein Arbeiten an einer gemeinsamenZukunft. Auch das ist sie heute noch. Und die Soziale Marktwirtschaft warimmer auch mehr als ein Nebeneinander, wo jeder nur den eigenen Nut-zen im Blick hatte. Sie war vor allem ein Miteinander, in dem jedem klarwar: Dem Einzelnen kann es nur gut gehen, wenn es auch der Gemein-schaft gut geht. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Das in der Ver-gangenheit erkannt zu haben, danach gehandelt zu haben – darauf dürfenwir stolz sein. Und deshalb haben wir keinen Grund zu verzagen. Deshalbkönnen wir den Blick zuversichtlich nach vorn richten. Und deshalb kön-nen wir guten Mutes aufrecht gehen.Die Autorität der Politik speist sich aus der besonderen Verantwortung, diesie dafür hat, dass es der Gemeinschaft gut geht. Dabei heißt „gut gehen“mehr als „gut haben“. Auch dieser Unterschied ist vielen nicht mehr klar.Denn wenn jemand etwas hat, dann gibt ihm das nicht das Recht, von an-

    deren mehr zu verlangen. Sondern dann steht er in der Pflicht, mehr zusein für andere! In der Sozialen Marktwirtschaft, in der Christlichen Sozi-allehre zumal, ist der Mensch niemals nur ein „etwas“. Er ist immer ein „je-mand“. Wir brauchen deshalb mehr Menschen, die sich zu dem bekennen,was die Soziale Marktwirtschaft zu ihrem Funktionieren braucht und wassie selbst nicht schaffen kann – geschweige denn garantieren. Wir brauchenMenschen mit Maß und Mitte. Wo das vergessen wird – sei es in den Vor-standszimmern, sei es an den Drehbänken – gerät der Grund ins Wanken.

    Der kulturelle Grund vor allem. Aber auch der materielle. Wir brauchendeshalb Maß und Mitte: eine Mitte, die uns ein Maß gibt. Nicht als Maß

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    J. Rüttgers

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    für den Superlativ, aber um in einer materialistischer werdenden Welt zuermessen, was wichtig ist, was den Menschen würdig ist und was men-schenwürdig ist.

    Herr Jürgen Rüttgers ist Ministerpräsident des Bundeslandes Nord-rhein-Westfalen, Landesvorsitzender der CDU Nordrhein-Westfalenund stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU.

    … Herr Rüttgers hält ein klares Plädoyer für die Soziale Marktwirtschaftbundesrepublikanischer Prägung. Durch die Rückbesinnung auf die Maxi-men der Christlichen Soziallehre seien die Herausforderungen angesichtsder Weltwirtschaftskrise am besten zu meistern. Die nachhaltige Veranke-rung eines solchen werteverbundenen Denkens muss sicherlich früh ange-stoßen werden. Und viele Visionen, wie man weiter unten lesen kann, be-fassen sich in der Tat mit dem Thema Bildung. Die nun folgende Visionwurde von Studierenden der Fachhochschule der Diakonie entworfen. DasBeispiel zeigt, dass schon kleine Initiativen ein großes positives gesellschaft-liches Veränderungspotential haben können …

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    Meine Gesellschaft 

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    Der medienfreie SonntagStudierende der Fachhochschule der Diakonie

    Einmal im Jahr, bevorzugt im Sommer, findet ein medienfreier Sonntag –ein Tag der individuellen Achtsamkeit, aber auch der Solidarität und Ge-meinschaft – statt. Sowohl die staatlichen als auch die privaten Fernseh-und Radiosender, Sonntagszeitungen und Internetportale unterbrechen für24 Stunden ihre Veröffentlichungen. Außerdem sollten alle Mitbürger auf-gerufen werden, möglichst ihr Auto stehen sowie ihre Arbeit soweit wiemöglich ruhen zu lassen. Ziel wäre es, einen Tag innezuhalten und sich sei-ner direkten Lebensumwelt zuzuwenden.

     An diesem Tage sollte Achtsamkeit auf sich, seine Umgebung und die Ge-meinschaft, in der man lebt, im Vordergrund stehen. Mit Achtsamkeit istgemeint, alle Reize aus der Umgebung sowie aus dem eigenen Körperinne-ren bewusst wahrzunehmen. Man sollte also vermeiden, routinierte Tätig-keiten wie gewohnt und automatisiert zu erledigen, sich die Zeit nehmen,seine nähere Umgebung neu zu entdecken, und man sollte alltägliche Din-ge in veränderter und somit in bewusster Form durchführen.Und alle Mitbürger sind aufgerufen, diesen Tag für ein vielfältiges Engage-ment in der Nachbarschaft zu nutzen. Im Vorfeld könnten dazu beispiels-weise über Internetplattformen Ideen gesammelt und gemeinsame Aktio-nen geplant und verabredet werden. Diese können beinhalten, dass man

    gemeinsam etwas in seiner Nachbarschaft unternimmt, renoviert, verbes-sert oder auch neu gestaltet, beispielsweise Blumenbeete anlegt, Kinder-spielplätze umgestaltet, Bänke aufstellt, Säuberungen an Gebäuden vor-nimmt usw. Aber auch individuelle Hilfestellungen in Krankenhäusernund Pflegeeinrichtungen wären denkbar.Insbesondere in den Städten ließe sich dadurch das Gefühl der sozialenEingebundenheit und Sicherheit stärken, welches für die Lebenszufrieden-heit von Menschen von großer Bedeutung ist. Nicht zuletzt die Fußball-

    weltmeisterschaft hat gezeigt, welche Begeisterung und positive Emotionenaus gemeinschaftlichen Erlebnissen heraus entstehen können. Solch ein

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    medienfreier Tag könnte an vielen Orten Auslöser dafür sein, tragfähigenachbarschaftliche Netzwerke zu etablieren, die den sozialen Zusammen-halt stärken und für viele Angelegenheiten unbürokratische und schnelleLösungen herbeiführen können.Die gemeinschaftlichen Aktionen könnten mit gemeinsamen Essenstafelnauf der Straße, die zu diesem Zweck für den Autoverkehr gesperrt werden,oder gemeinsamem Grillen in benachbarten Parkanlagen oder Ähnlichemausklingen.Die bundesweit zahlreichen Nachbarschaftsaktivitäten werden natürlichvon Fernsehkameras und Zeitungsreporten eingefangen und am nächstenTag in quotenträchtigen Sendungen ausgestrahlt und auflagenstarken Zei-tungen dokumentiert!

    … die von den Studierenden geschilderte Vision erinnert an Ansätze einesQuartiersmanagements und aktuelle Sozialraumdiskussionen. Im Folgen-den beschreibt der Bundestagsabgeordnete Ralf Brauksiepe verschiedeneVisionen für die zukünftige Gestaltung unserer Gesellschaft. Er betont indiesem Zusammenhang, dass es gerade für Bundespolitiker nicht einfachist, konkrete Visionen „im Kleinen“, zu regionalen und lokalen Angelegen-heiten und Gegebenheiten zu entwerfen. Herr Brauksiepe hat sich achtFelder herausgesucht, in denen er seine Visionen zeichnet …

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    Der medienfreie Sonntag 

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    Visionen für die zukünftigeGestaltung unserer Gesellschaft –

    die Sichtweise eines PolitikersRalf Brauksiepe

    Seit jeher haben Visionen die Entwicklung und die Geschichte derMenschheit geprägt. Durch Visionen wurden neue Bilder der Zukunft ent-worfen und Ideen geboren, deren Umsetzung schließlich die Fortentwick-lung der Gesellschaft ausmachte.

     Auch für die Politik sind Visionen von großer Bedeutung. Sie spendennicht nur Hoffnung und Orientierung, sondern liefern auch neuartigeDenkanstöße und Zielsetzungen und dienen somit als wichtiger Motor desFortschritts. Als Politiker ist es unsere Aufgabe und Pflicht, einen moder-nen Staat zum Wohle der Bürger zu gestalten. Dazu bedarf es stets neuerIdeen und Gedanken, die in der Folge eines außer- und innerparlamenta-rischen Diskussionsprozesses in die Veränderung überkommener Struktu-ren münden können.„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Mit dieser in Richtung seinesParteifreundes Willy Brandt gerichteten, sicherlich zugespitzten Bemer-kung wollte Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt zum Ausdruck bringen,dass die besondere Herausforderung und Sinnhaftigkeit einer politischen

    Vision in ihrer Realitätsnähe und ihrer zeitnahen Umsetzbarkeit liegt. Ge-rade bei einer Vision im bundespolitischen Kontext muss gewährleistetsein, dass sie sich an den Zuständigkeiten des Deutschen Bundestages ori-entiert. Dementsprechend ist es der Bundespolitik nicht möglich, konkre-te Visionen „im Kleinen“, zu regionalen und lokalen Angelegenheiten undGegebenheiten für ganz Deutschland zu entwerfen. Andererseits kann esaber auch nicht ihr Anspruch sein, lediglich allgemeine und abstrakte

     Wunschvorstellungen zu formulieren. Vielmehr besteht dieser Anspruch

    darin, dass sie umfassende und grundsätzliche Ziele für verschiedene poli-tische und gesellschaftliche Bereiche erklärt, realisierbare Umsetzungskon-

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    zepte entwickelt und so einen neuen Rahmen für weitere Ideen und Ge-danken vorgibt.Im Folgenden schildere ich meine auf die Bundespolitik bezogene Vision.

     Acht zentrale Themenbereiche sind dabei von besonderer Bedeutung.

    1. Arbeitsmarkt

    Es ist das Ziel von Politik, möglichst allen erwerbsfähigen Menschen dieTeilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen. Um dieses Ziel zu erreichen,muss die Tarifautonomie als Garant für die Stabilität des StandortesDeutschland weiter gewahrt bleiben, sodass Lohnfindung nicht verstaat-licht wird, sondern Aufgabe der Tarifpartner bleibt. Jeder, der Vollzeit ar-beitet, soll in der Regel von seinem Einkommen leben können. Ist diesnicht der Fall, garantiert der Staat ein gesetzliches Mindesteinkommen, zu-sammengesetzt aus fairen Löhnen und staatlichen Leistungen, sodass Ar-beit auch für geringer qualifizierte Arbeitssuchende attraktiv ist.

     Arbeitslose werden von einer kundenorientierten Bundesagentur für Arbeitmit verbesserter Arbeitsvermittlung effizient dabei unterstützt, rasch wie-der eine Arbeitsstelle zu finden. Dabei spielt das Prinzip des „Förderns undForderns“ eine zentrale Rolle. So werden den Menschen die Sorgen vordem Abstieg genommen und die soziale Stabilität des Staates gewährleistet.

     Auch die Programme zur Eingliederung älterer Menschen in den Arbeits-markt werden konsequent fortgeführt und weiterentwickelt.Ein weiterer Schwerpunkt besteht in der beruflichen Ausbildung in Schu-len und Betrieben. Eine gute Ausbildung ist nicht nur die beste Vorsorgegegen Arbeitslosigkeit, sondern bietet jungen Menschen Einstiegs- und

     Aufstiegsmöglichkeiten. Deshalb muss jeder junge Mensch auch in schwie-rigen wirtschaftlichen Zeiten die Chance auf einen Ausbildungsplatz ha-ben.

    2. Alterssicherung

    Politik muss ihren Beitrag dazu leisten, dass möglichst alle Menschen nach

    Beendigung ihres Erwerbslebens finanziell abgesichert sind. Wichtig ist da-bei der Gedanke der Leistungsgerechtigkeit: Wer sich während seines Ar-

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    beitslebens besonders angestrengt und/oder sparsam gelebt hat, muss im Alter anders behandelt werden als jemand, der dies nicht getan hat.Vor diesem Hintergrund muss auch die Alterssicherung der Zukunft auf den drei Säulen gesetzliche Rente sowie private und betriebliche Vorsorgeruhen. Die Rentenversicherung ist finanziell konsolidiert und der Genera-tionenvertrag auf eine solide Basis gestellt. Langjährige Vollzeitbeschäfti-gung wird dadurch belohnt, dass eine Rente oberhalb der heutigen Grund-sicherung garantiert wird.Die zukünftige Rentenentwicklung gewährleistet auch weiterhin eine ge-rechte und verlässliche Beteiligung der Rentner an der allgemeinen Ein-kommensentwicklung, ohne die jüngeren Generationen zu sehr zu belas-ten und ihr Chancen auf Entfaltung zu nehmen. Bestehende Gerechtig-keitslücken in der Rente sind bereits geschlossen worden und sind weiterzu schließen. Ein wichtiger Punkt dabei ist, dass die Kindererziehung oderdie Pflege Familienangehöriger stärker als bisher in der Rente berücksich-tigt wird.

     Wer während seines Erwerbslebens privat für das Alter vorgesorgt hat,muss besser gestellt werden als jemand, der dies nicht getan hat. Vor die-sem Hintergrund ist der Freibetrag beim Schonvermögen für Altersvorsor-ge im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende deutlich zu erhö-hen.

    3. Gesundheit und Pflege

    Ein angemessener Schutz bei Eintreten einer gesundheitlichen Beeinträch-tigung oder des Pflegerisikos ist eine der zentralen Herausforderungen

    staatlicher Aktivität. Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel von Politik, al-len Menschen unabhängig von Alter, sozialer Herkunft, Wohnort, Ein-kommen oder gesundheitlichem Risiko eine qualitativ hochwertige medi-zinische Versorgung zu garantieren und sie am medizinischen Fortschrittteilhaben zu lassen.Zur Erreichung dieses Zieles bedarf es eines selbstverwalteten Gesundheits-wesens, das auf Therapiefreiheit, eine freie Arzt- und Krankenhauswahl so-wie freien Gesundheitsberufen basiert. Die Stärkung von Eigenverantwor-

    tung, Vorsorge und Prävention, die Ausschöpfung von Effizienz und Wirt-schaftlichkeitspotenzialen sowie die Ausweitung von Wahlmöglichkeiten

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    R. Brauksiepe

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    und Entscheidungsspielräumen sind die Grundprinzipien, an denen sicheine zukünftige Gesundheitspolitik orientieren muss.

     Angesichts des demographischen Wandels kommt auch der Pflege eine im-mer größere Bedeutung zu. Um dem Rechnung zu tragen, muss der Beruf des Kranken- und Altenpflegers attraktiver gestaltet und die Pflege weiterprofessionalisiert werden. Durch spezielle Programme zur Vereinbarkeitvon Pflege und Beruf, an denen sich Unternehmen und Tagespflegeeinrich-tungen beteiligen, kann die Leistung pflegender Angehöriger noch stärkeranerkannt und die Pflege in der Familie weiter gestärkt werden.

    4. Familie und Kinder 

    Zum Wohle der Gesellschaft erbringen die Mitglieder von Familien unver-zichtbare Leistungen, für die der Staat niemals Sorge tragen kann. Vor die-sem Hintergrund sind Familien (insbesondere jene mit Kindern) besonderszu fördern und finanziell zu entlasten.So ist z. B. der Grundfreibetrag für Kinder und das Kindergeld, insbeson-dere für das dritte und jedes weitere Kind, anzuheben. Das Elterngeld, dasvielen Familien die Entscheidung für Kinder erleichtert, sollte durch dieEinführung eines Teilelterngeldes fortentwickelt werden. Dadurch verbes-sern sich die Möglichkeiten zur Kombination von Erziehungs- und Er-werbsarbeit über das bislang erreichte Ausmaß hinaus.Damit die Eltern in der Lage sind, ihr Lebensmodell frei zu wählen undselbst zu entscheiden, wie sie ihr Kind erziehen, müssen die Quantität undQualität von Betreuungsangeboten (gerade für Kinder unter drei Jahren)weiter erhöht werden. Der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab

    dem ersten Jahr ist in diesem Zusammenhang ein erstrebenswertes Ziel.Eine besondere Unterstützung des Staates muss Alleinerziehenden zuteil-werden, da sie den Alltag mit ihren Kindern allein meistern müssen unddadurch in besonderer Weise auf Hilfe von außen angewiesen sind.

    5. Bildung und Forschung

    Gerade ein rohstoffarmes Land wie Deutschland, das insbesondere qualita-tiv hochwertige Waren und Dienstleistungen für die Weltmärkte produ-

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    ziert, muss zukünftig mehr in die Köpfe der Menschen investieren. Mittel-fristig ist es daher unser Ziel, 10 % des Bruttoinlandsproduktes für Bil-dung und Forschung zu verwenden, damit die Bundesrepublik zur Bil-dungsrepublik wird.

     Weil sich das gegliederte Schulsystem bewährt hat, ist daran festzuhalten.Mittels bundesweiter Leistungsmaßstäbe für die Bildungseinrichtungenund die Bildungsabschlüsse muss ein ehrlicher und transparenter Leis-tungsvergleich zwischen den Schulen in Deutschland möglich werden.Stärker als heute sollen Schulen über das bloße Unterrichten von Wissenhinaus Werte und soziale Tugenden vermitteln.Berufliche Weiterqualifikation und lebenslanges Lernen sind – unabhängig von finanzieller Lage oder sozialer Herkunft – Möglichkeiten für einen

     Aufstieg. Insofern müssen ihre Rahmenbedingungen weiter verbessert wer-den. Wichtig sind in diesem Zusammenhang insbesondere die Möglichkei-ten zur verlässlichen Planung sowie eine angemessene finanzielle Förde-rung des Staates. Im Bereich der Hochschulen müssen diese mehr Autono-mie erhalten, damit Forschung und Lehre hierzulande attraktivere Rah-menbedingungen vorfinden. Ein stärkerer Wettbewerb zwischen denHochschulen wird zu besseren Ergebnissen beitragen. Die Internationali-sierung von Studiengängen und Studienabschlüssen muss genauso weitervorangetrieben werden wie die verstärkte Zusammenarbeit der Hochschu-len mit Forschungsinstituten und mit der Wirtschaft. Letzteres ermöglichtdie schnelle und effiziente Umsetzung neuer Forschungsergebnisse in Pro-dukte und Dienstleistungen.

    6. Umwelt und Energie

    Der Schutz der Umwelt und des Klimas insbesondere zum Wohle kom-mender Generationen sowie eine kostengünstige und zuverlässige Versor-gung der Bevölkerung mit Energie – diesen Herausforderungen muss sichdie Politik in den nächsten Jahrzehnten noch stärker als bislang stellen. Da-bei setzt Deutschland auf einen breiten, klimafreundlichen Energiemix,der Energie-Importe auf möglichst viele Länder verteilt. Damit werdeneinseitige Abhängigkeiten vermieden und eine wirksamere Einbindung er-

    neuerbarer Energien gewährleistet. Die erneuerbaren Energien bieten zu-sätzliche Chancen im Hinblick auf ein klimaschonendes, umweltverträgli-

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    R. Brauksiepe

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    ches Wachstum, auf innovative Geschäftsfelder und auf neue Arbeitsplät-ze. Deshalb ist ihr Ausbau weiter voranzutreiben.

     Weitere Potenziale müssen durch die Stärkung der dezentralen Stromver-sorgung und eine generelle Steigerung der Energieeffizienz genutzt werden.So könnte die Entwicklung des wirtschaftlichen Wachstums zunehmendvom Ressourcenverbrauch abgekoppelt und als Folge die Nachhaltigkeitdes Wirtschaftens gewährleistet werden.Der weltweite Klimaschutz muss weiter vorangetrieben werden, indem einverbindliches Kyoto-Plus-Abkommen verabschiedet wird. Gemeinsamemit den USA vereinbarte Klimaschutzziele können darüber hinaus dazubeitragen, die Erwärmung der Erdatmosphäre im Vergleich zur vorindus-triellen Ausgangssituation zu begrenzen. Hierbei sind auch Entwicklungs-und Schwellenländer angemessen zu beteiligen.

    7. Globalisierung und Europa

    In der Globalisierung liegen für Deutschland, als einem stark nach außenorientierten Land, viele Chancen. Die weltweite Wirtschafts- und Finanz-marktkrise hat allerdings deutlich gezeigt, dass die internationalen Märkteeinen besseren globalen ordnungspolitischen Rahmen benötigen, als esheute der Fall ist. Vor diesem Hintergrund muss die Politik einen Beitrag leisten, dass unser Wirtschaftsmodell der Sozialen Marktwirtschaft derweltweiten Finanz- und Wirtschaftsordnung als Grundlage dient. Interna-tional einheitliche Regulierungsstandards sowie die intensive Zusammen-arbeit der Aufsichtsbehörden müssen zukünftig für eine effiziente, gemein-same Krisenprävention und Krisenbewältigung sorgen.

    Voraussetzung für Wachstum, die Schaffung und Sicherung von Arbeits-plätzen und soziale Sicherheit in Deutschland ist insbesondere eine starkeund bürgernahe Europäische Union, deren Binnenmarkt wirtschaftlicheFreiheit und soziale Gerechtigkeit gewährleistet. In einer immer komplexe-ren Welt gewinnt die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zunehmend anBedeutung: Die EU darf nur tätig werden, wenn ein Vorgehen auf bun-des-, landes- oder kommunalpolitischer Ebene schlechtere Ergebnisse er-warten lässt. Im Hinblick auf ihre Erweiterung steht die EU vor einer Kon-

    solidierungsphase.

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    Im Hinblick auf den internationalen Handel muss die WTO zukünftig ei-nen noch größeren Beitrag für einen fairen Ausgleich zwischen Industrie-und Entwicklungsländern leisten. Deren Teilhabe am Welthandel ist si-cherzustellen. Dabei ist die Einhaltung sozialer Mindeststandards sowiewirksamer Regeln zum Schutze von geistigem Eigentum und angemesse-nen Gesundheit-, Tierschutz- und Umweltstandards zu gewährleisten.

    8. Ehrenamt

    Ehrenamtliches Engagement bereichert unsere Gesellschaft. Ohne die Leis-tungen, die viele Millionen Bürger in ihrer Freizeit weitestgehend ohne fi-nanzielle Gegenleistung erbringen, sähe Deutschland ganz anders aus undwäre ein Leben hierzulande bei Weitem nicht so lebenswert wie heute. Vordiesem Hintergrund sind die Rahmenbedingungen für das Ehrenamt wei-ter zu verbessern.So können die Einrichtung von Ehrenamtsbörsen und Freiwilligenagentu-ren Bürgern das ehrenamtliche Engagement erleichtern und zu weiterenfreiwilligen Tätigkeiten ermuntern. Der konsequente Abbau von Bürokra-tie erleichtert zudem die Finanzierung und die Ausführung ehrenamtlicher

     Aktivität.Eine besondere, dauerhafte Förderung kommt den ehrenamtlichen Kräftenbei Feuerwehr, Rettungsdiensten, Hilfsorganisationen und TechnischemHilfswerk zugute. Diese setzen sich unentgeltlich rund um die Uhr für dieSicherheit ihrer Mitmenschen ein und schaffen so ein flexibles System ef-fizienter Gefahrenabwehr und Hilfeleistung. Deshalb müssen zukünftig die Investitionen in Ausstattung, Aus- und Fortbildung der Angehörigen

    von Feuerwehren, Hilfsorganisationen und Rettungsdiensten ausgebautwerden.

     Weitere Anreize, sich ehrenamtlich zu engagieren, bieten die öffentliche Würdigung und die Anerkennung von ehrenamtlicher Arbeit in den Be-rufsbiografien. Eine weiter zu entwickelnde Ehrenamtscard schafft außer-dem verschiedene Vergünstigungen für ehrenamtlich Tätige und belohntden tatkräftigen Einsatz der Freiwilligen.

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    R. Brauksiepe

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    Herr Dr. Ralf Brauksiepe ist seit 1998 für die CDU Mitglied des Deut-schen Bundestages und Vorsitzender der Arbeitsgruppe „Arbeit und So-ziales“ der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

    … des 8. Punktes, also des ehrenamtlichen Engagements, hat sich ebenfallsder Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz angenommen. Er beschreibtdie verschiedenen Formen bürgerlichen Engagements und beschwört diezukünftige Gesellschaft als eine aktive Bürgergesellschaft …

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    Visionen für die zukünftige Gestaltung unserer Gesellschaft 

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    Bürgerliches Engagement

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    Meine Vision einer zukünftigenGesellschaft:

    eine aktive BürgergesellschaftKurt Beck

    Bürgerschaftliches Engagement ist die Basis einer freiheitlichen, gerechtenund solidarischen Gesellschaft. Es sichert den gesellschaftlichen Zusam-menhalt, schafft Vertrauen und soziales Kapital, ohne das keine Gesell-schaft bestehen kann. Bürgerschaftliches Engagement meint dabei heutemehr als das klassische Ehrenamt. Es schließt ganz unterschiedliche For-men von freiwilligen, nicht auf materiellen Gewinn ausgerichteten, ge-meinwohlorientierten Tätigkeiten ein. Dazu gehören natürlich traditionel-le ehrenamtliche Tätigkeiten in Kirchen und Religionsgemeinschaften, inden Vereinen des Sports, des Sozialen, der Kultur, des Natur- und Umwelt-schutzes, in den Hilfs- und Rettungsdiensten, projektförmige und zeitlichbefristete Formen von Freiwilligenarbeit, die vielfältigen Ansätze im Be-reich der Selbsthilfe, aber auch das Engagement in Parteien und politischenVereinigungen, das kommunalpolitische Ehrenamt ebenso wie Formen derpolitischen Mitwirkung in Bürgerinitiativen oder Bürgervereinen. Bürger-schaftliches Engagement in seinen unterschiedlichen Facetten zeichnet sich

    dadurch aus, dass es zwischen den Sphären Staat, Markt und Privatlebenstattfindet, Öffentlichkeit einschließt, also transparent und anschlussfähig für andere Bürger und Partner ist, und in seinen Wirkungen nicht nur auf die unmittelbar Beteiligten zielt, sondern zugleich einen Beitrag zur Förde-rung des Gemeinwohls leistet. Vom bürgerschaftlichen Engagement profi-tieren also sowohl die beteiligten Bürgerinnen und Bürger selbst als auchdie gesamte Gesellschaft. Aktive Menschen machen bei ihrem Engagementneue Erfahrungen, knüpfen soziale Kontakte, bringen ihre Fähigkeiten ein

    oder erwerben zusätzliche Kompetenzen. Das hierbei gebildete Sozialkapi-tal hat aber auch einen demokratiepolitischen Mehrwert; es ist ein unent-

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    behrlicher Nährboden für eine demokratische Beteiligungskultur und fürlebendige Gemeinschaftsbezüge.Bürgerschaftliches Engagement knüpft an grundlegende Bedürfnisse desMenschen an. Die oder der Einzelne erfährt sich als selbstverantwortlichund wirkungsmächtig in einer auf Gegenseitigkeit und Vertrautheit ange-legten Situation. Im bürgerschaftlichen Engagement liegen Fragmente ei-ner „Idee des guten Lebens“ beschlossen, denn es erlaubt die für jedenMenschen so wichtige Erfahrung von Autonomie, Reziprozität und Empa-thie.Unabhängig davon, ob die oder der Einzelne sein