Diagnostik und Klassifikation der distalen Radiusfraktur ... · begleitende Fraktur des Proc....

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Epidemiologische Betrachtung Die handgelenksnahen Frakturen der Speiche sowie Verletzungen in Kombina- tion mit einem Bruch der körperfernen Elle stellen eine der häufigsten Bruchfor- men des Menschen dar. Bis zu 25% aller Frakturen des Erwachsenenalters betref- fen diese Region. Besonders häufig sind Kinder im Alter von 610 Jahren betrof- fen, wobei in der Gruppe der Adoleszen- ten die männlichen Patienten überwie- gen [3]. Dies ergibt sich aus der bislang noch be- stehenden Dominanz der männlichen Sportler in Risiko- und Kontaktsport- arten. Die meisten Frakturen im jugend- lichen Alter ereignen sich im Rahmen von Rasanztraumata, Stürzen aus großer Höhe und Sportunfällen. In den letzten Jahren ist es insbesondere in der Gruppe der 1014-Jährigen zu einem Anstieg der Inzidenz im Rahmen von Sportver- letzungen gekommen. Die Unfälle ereig- nen sich gehäuft im Rahmen des Schul- sports beim Turnen und Fußballspielen [5]. Ein 2. Gipfel in der Altersverteilung fin- det sich zwischen dem 6. und 8. Lebens- jahrzehnt. In dieser Altersgruppe sind insbesondere Frauen betroffen, über dem 50. Lebensjahr haben diese gegen- über Männern ein ca. 7-fach höheres Risiko, eine distale Radiusfraktur zu er- leiden. In den meisten Fällen handelt es sich um ein Niedrigenergietrauma, wie etwa ein Stolpersturz auf die ausge- streckte Hand. Besondere Risikofaktoren für das Auftreten von Knochenbrüchen sind eine begleitende postmenopausale Osteoporose oder eine aufgrund von In- aktivität geringe Knochendichte. Die Pa- tienten werden im Alter unsicherer, we- niger agil und können Stürze schlechter abfangen. Ätiologie Anatomisch gesehen bildet der distale Radius das radiokarpale sowie radio- ulnare Gelenk und steht mit der Hand- wurzel über die kräftigen dorsalen und palmaren extrinsischen Bänder in Ver- bindung. Er ist dadurch Hauptpfeiler der karpalen Kraftu bertragung und nimmt bei einer Traumatisierung ca. 80% der einwirkenden Kraft auf. Der Processus styloideus radii und die Fossa scapho- idea formen die radiale Säule. Zentral werden die Kräfte u ber die Fossa lunata und Anteile des distalen Radioulnar- gelenks aufgenommen; die ulnare Säule umfasst den ulnokarpalen Komplex. Dieser wird durch den triangulären fi- brokartilaginären Komplex (TFCC), ex- trinsische Bänder und die distale Ulna Zusammenfassung Die distale Radiusfraktur ist eine der häufigsten Bruchformen und betrifft insbesondere Adoleszente und ältere Menschen. Die Standarddiagnostik umfasst neben der klinischen Unter- suchung die Röntgenaufnahme in 2 Ebenen, welche bei spezifischen Fra- gestellungen durch eine CT- oder MRT-Untersuchung des Handgelenks ergänzt wird. Den Goldstandard zur Beurteilung der intrinsischen Bänder stellt die Handgelenksarthroskopie dar, die unter therapeutischem Ansatz erfolgen sollte. Das Ziel der Diagnostik ist eine eindeutige Klassifikation der Fraktur, wonach eine adäquate The- rapie eingeleitet werden kann. Ein gutes System zur Einteilung distaler Radiusfrakturen sollte deswegen be- schreibend und gleichzeitig auch vo- raussagend sein und die Auswahl der geeigneten Behandlungsform wie ge- schlossene oder offene Reposition, transkutane oder offene Osteosynthe- severfahren ermöglichen. Die Arbeit soll einen Überblick über die diagnos- tischen Standards und die aktuellen Frakturklassifikationen geben und de- ren Stellenwert im Gesamtbehand- lungskonzept der distalen Radiusfrak- tur herausstellen. Am weitesten ver- breitet ist die Klassifikation der AO un- ter Berücksichtigung der Stabilitätskri- terien nach Jupiter. Initial Diagnosis and Classification of Distal Radial Fractures A Guideline for Further Treatment Distal radial fractures are common in- juries with a high prevalence among adolescent and elderly osteoporotic women. Besides the clinical examina- tion in most cases the diagnosis can be confirmed by radiographs in two plains. The visualisation of a complex fragmentation of the distal radial ar- ticular surface is improved by CT-scan, MRI should be regarded as an option to identify suspected injuries to the in- trinsic ligaments. To detect ligament injuries of the wrist, the arthroscopy is the gold standard and should be performed with the intention to treat. The aim of the diagnostic process is to clearly identify and classify the frac- ture before the adequate treatment is initiated. The systems used to classify the displaced distal radial fractures are supposed to ensure the 3-dimen- sional assessment of the fracture and provide a high inter- and intra-observ- er agreement. This article summarises the diagnostic procedures and estab- lished classifications. Most common is the Müller-AO classification, the sta- bility is evaluated according to Ju- piterʼs criteria. Diagnostik und Klassifikation der distalen Radiusfraktur Die Grundlage der Behandlungsstrategie & n Markus Schubert, Andreas Dávid OP-JOURNAL 2012; 28: 228233 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0032-1327995 228 Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages.

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arten. Die meisten Frakturen im jugend-lichen Alter ereignen sich im Rahmenvon Rasanztraumata, Stürzen aus großerHöhe und Sportunfällen. In den letztenJahren ist es insbesondere in der Gruppeder 10–14-Jährigen zu einem Anstiegder Inzidenz im Rahmen von Sportver-letzungen gekommen. Die Unfälle ereig-nen sich gehäuft im Rahmen des Schul-sports beim Turnen und Fußballspielen[5].

Ein 2. Gipfel in der Altersverteilung fin-det sich zwischen dem 6. und 8. Lebens-jahrzehnt. In dieser Altersgruppe sindinsbesondere Frauen betroffen, überdem 50. Lebensjahr haben diese gegen-über Männern ein ca. 7-fach höheresRisiko, eine distale Radiusfraktur zu er-leiden. In den meisten Fällen handelt essich um ein Niedrigenergietrauma, wieetwa ein Stolpersturz auf die ausge-streckte Hand. Besondere Risikofaktorenfür das Auftreten von Knochenbrüchensind eine begleitende postmenopausaleOsteoporose oder eine aufgrund von In-aktivität geringe Knochendichte. Die Pa-tienten werden im Alter unsicherer, we-niger agil und können Stürze schlechterabfangen.

Ätiologie

Anatomisch gesehen bildet der distaleRadius das radiokarpale sowie radio-ulnare Gelenk und steht mit der Hand-wurzel über die kräftigen dorsalen und

Diagnostik und Klassifikation der distalen Radiusfraktur –Die Grundlage der Behandlungsstrategie

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Zusammenfassung

Die distale Radiusfraktur ist eine derhäufigsten Bruchformen und betrifftinsbesondere Adoleszente und ältereMenschen. Die Standarddiagnostikumfasst neben der klinischen Unter-suchung die Röntgenaufnahme in 2Ebenen, welche bei spezifischen Fra-gestellungen durch eine CT- oderMRT-Untersuchung des Handgelenksergänzt wird. Den Goldstandard zurBeurteilung der intrinsischen Bänderstellt die Handgelenksarthroskopiedar, die unter therapeutischem Ansatzerfolgen sollte. Das Ziel der Diagnostikist eine eindeutige Klassifikation derFraktur, wonach eine adäquate The-rapie eingeleitet werden kann. Eingutes System zur Einteilung distalerRadiusfrakturen sollte deswegen be-schreibend und gleichzeitig auch vo-raussagend sein und die Auswahl dergeeigneten Behandlungsform wie ge-schlossene oder offene Reposition,transkutane oder offene Osteosynthe-severfahren ermöglichen. Die Arbeitsoll einen Überblick über die diagnos-tischen Standards und die aktuellenFrakturklassifikationen geben und de-ren Stellenwert im Gesamtbehand-lungskonzept der distalen Radiusfrak-tur herausstellen. Am weitesten ver-breitet ist die Klassifikation der AO un-ter Berücksichtigung der Stabilitätskri-terien nach Jupiter.

idemiologische Betrachtung

ie handgelenksnahen Frakturen dereiche sowie Verletzungen in Kombina-on mit einem Bruch der körperfernenle stellen eine der häufigsten Bruchfor-

-JOURNAL 2012; 28: 228–233Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New YorkI http://dx.doi.org/10.1055/s-0032-1327995

Initial Diagnosis and Classificationof Distal Radial Fractures –A Guideline for Further Treatment

Distal radial fractures are common in-juries with a high prevalence amongadolescent and elderly osteoporoticwomen. Besides the clinical examina-tion in most cases the diagnosis canbe confirmed by radiographs in twoplains. The visualisation of a complexfragmentation of the distal radial ar-ticular surface is improved by CT-scan,MRI should be regarded as an optionto identify suspected injuries to the in-trinsic ligaments. To detect ligamentinjuries of the wrist, the arthroscopyis the gold standard and should beperformed with the intention to treat.The aim of the diagnostic process is toclearly identify and classify the frac-ture before the adequate treatment isinitiated. The systems used to classifythe displaced distal radial fracturesare supposed to ensure the 3-dimen-sional assessment of the fracture andprovide a high inter- and intra-observ-er agreement. This article summarisesthe diagnostic procedures and estab-lished classifications. Most common isthe Müller-AO classification, the sta-bility is evaluated according to Ju-piterʼs criteria.

men des Menschen dar. Bis zu 25% allerFrakturen des Erwachsenenalters betref-fen diese Region. Besonders häufig sindKinder im Alter von 6–10 Jahren betrof-fen, wobei in der Gruppe der Adoleszen-ten die männlichen Patienten überwie-gen [3].

Dies ergibt sich aus der bislang noch be-stehenden Dominanz der männlichenSportler in Risiko- und Kontaktsport-

palmaren extrinsischen Bänder in Ver-bindung. Er ist dadurch Hauptpfeiler derkarpalen Kraftubertragung und nimmtbei einer Traumatisierung ca. 80% dereinwirkenden Kraft auf. Der Processusstyloideus radii und die Fossa scapho-idea formen die radiale Säule. Zentralwerden die Kräfte uber die Fossa lunataund Anteile des distalen Radioulnar-gelenks aufgenommen; die ulnare Säuleumfasst den ulnokarpalen Komplex.Dieser wird durch den triangulären fi-brokartilaginären Komplex (TFCC), ex-trinsische Bänder und die distale Ulna

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gebildet. Die radiokarpale Gelenkflächebesitzt eine Ulnarneigung mit einem ra-dioulnaren Winkel von ca. 25° und einePalmarneigung mit einem dorsopalma-ren Winkel von 10° (Abb. 1 und 2).

n Die meisten Radiusfrakturen entstehendurch einen Sturz auf die ausgestreckteHand. Die Stellung des Handgelenkszum Zeitpunkt der Gewalteinwirkungbestimmt ganz erheblich die resultieren-de Frakturform.

Befindet sich das Handgelenk in einerStreckstellung, so entstehen regelhaftExtensionsfrakturen. Dieser Verlet-zungsmechanismus findet sich bei 90%der Frakturen. Befindet sich das Hand-gelenk zum Unfallzeitpunkt zwischen40° und 90° Extension frakturiert derdistale Radius in loco typico etwa 1,5 bis2 cm proximal der Radiusgelenkfläche.Bei geringerer Streckung kommt es zueiner Unterarmfraktur, darüber zu Luxa-tionen und Frakturen im Handwurzel-bereich. Durch dorsale Dislokation ent-steht die typische Gabelstellung desHandgelenks. Häufig ist bei einer Frakturdes Proc. styloideus ulnae der Discus ar-ticularis mit verletzt [15] (Abb. 3).

In 10% ist das Handgelenk zum Unfall-zeitpunkt gebeugt, es resultieren dannFlexionsfrakturen. Bei einem Sturz aufden flektierten Handrücken kommt esdagegen zu einer volaren Absprengung.

Diagnostik

Oftmals erhält der behandelnde Arzt ausder Anamnese des Sturzes bereits Hin-weise auf die erlittene Verletzung. Dersynkopale Sturz muss vom reinen Stol-persturz differenziert werden. Ebensosind Begleiterkrankungen zu erfragen.Ein Bagatelltrauma kann bei begleiten-der Osteoporose möglicherweise füreine komplexe Unterarm- oder Radius-fraktur ausreichen. Auch neurologischeErkrankungen, ein Karpaltunnelsyn-drom und vorausgegangene Verletzun-gen müssen erfasst werden.

Inspektorisch ist die Deformierung desHandgelenksbereichs sichtbar, es liegteine schmerzhafte Schwellung und Ver-breiterung vor. Durch die Verschiebungder Frakturfragmente kommt es zur ty-pischen Fehlstellung der Hand gegen-über dem Unterarm. Eine Verschiebungzur Streckseite hin wird als Fourchette-

Stellung, die Dislokation des frakturier-ten Radius zum Daumen hin als Bajo-nett-Stellung bezeichnet. Bei der kli-nischen Untersuchung lassen sich Prell-marken, Hämatome, Druckschmerzenund Bewegungsschmerzen feststellen.Die Funktion der angrenzenden Gelenkeund der lokale Druckschmerz über demdistalen Radioulnargelenk, über der dis-talen Ulna und in der Tabatiere sind fürdifferenzialdiagnostische Überlegungenvon Relevanz.

n Es ist notwendig, die aktive Funktionder Fingergelenke und die Daumenstre-ckerfunktion zu überprüfen sowie evtl.neurologische Ausfälle und Durchblu-tungsstörungen zu erkennen. Bei schwe-ren Verletzungen mit höhergradigemWeichteilschaden muss an ein Kompart-mentsyndrom gedacht werden.

Bildgebende Diagnostik

Das Standardverfahren ist die Röntgen-aufnahme des Handgelenks in 2 Ebenen.Insbesondere extraartikuläre Frakturfor-men lassen sich so sicher beurteilen. Beidem Verdacht auf eine ligamentäre Ver-letzung mit karpaler Instabilität sind dy-namische Untersuchungen unter Durch-leuchtung möglich [12] (Abb. 4).

Bei bereits einliegendem Osteosynthese-material ist eine orthograde Darstellungdes Gelenkspalts notwendig, um eine

Abb. 1 Anatomie des Handgelenks und Darstellung des 3-Säulen-Modells (Anlehnung an:Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus: LernAtlas der Anatomie. Illustration von M.Voll und K. Wesker. 3. Auflage Stuttgart: Thieme; 2011).

UI A

B

dorsal

palmar

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B

a

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Abb. 2 Bestimmung der ulnaren und palma-ren Inklination des distalen Radius [13].

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Überlagerung der Gelenkfläche durchSchrauben- oder Plattenanteile zu ver-meiden. Dies lässt sich durch 10° ange-hobene Aufnahmen bewerkstelligen.

Liegt ein komplexer, intraartikulärerFrakturverlauf vor, empfiehlt sich eineAnalyse des Verletzungsmusters auf-grund der Computertomografie. Mithilfeder CT-Aufnahmen ist eine zuverlässige-re Klassifikation der Verletzung möglich,anhand derer die adäquate Therapieformgewählt wird [4]. Knöcherne Begleitver-letzungen im Bereich der Handwurzelwerden abgebildet, ggf. kann eine 3-D‑Rekonstruktion für die Therapiepla-nung hilfreich sein. Bei initial ausgepräg-ter Fragmentdislokation empfiehlt sicheine CT-Diagnostik nach der Anlageeines Fixateur externe (Abb. 5).

Da zugangsbedingt eine Visualisierungder Gelenkflächen intraoperativ nichtmöglich ist, kann die Anwendung einesisozentrischen C-Bogens mit 3-D‑Dar-stellung zusätzliche Informationen lie-fern. Meier et al. [9] konnten neben einerOptimierung der Fragmentrepositionund Schraubenlage eine Verbesserungdes postoperativen radiologischen Er-gebnisses erzielen. In anderen Studientraten in der Therapiegruppe mit 3-D‑Darstellung weniger Implantatfehlla-gen auf [1]. Gerade bei der Verwendungvon polyaxial-winkelstabilen Implanta-ten können einzelne Fragmente nach Re-position exakt adressiert werden. Obdiese zusätzliche Option im späteren kli-nischen Outcome zu einer Funktionsver-besserung führt, bleibt abzuwarten und

ist Gegenstand aktueller prospektiverVergleichsuntersuchungen.

Klassifikation

Die Differenzierung der Radiusfrakturenanhand einer Klassifikation sollte dembehandelnden Arzt die Beschreibungder Verletzung erleichtern und wesentli-che Aspekte erfassen, anhand derer eineTherapieentscheidung getroffen werdenkann. Die erste Einteilung der distalenRadiusextensionsfrakturen erfolgte 1783durch Pouteau und 1814 durch Colles[8]. Die Frakturen werden nach Colles in4 Klassen unterteilt. Man spricht auchvon der „fractura loco typico sive classi-co“. Bei dieser Einteilung werden nur Ex-tensionsfrakturen berücksichtigt. Dahierbei der exakte Frakturverlauf oderdas etwaige Vorliegen einer mehrfrag-mentären Bruchform nicht erfasst wird,lässt sich aus der Einteilung kein Be-handlungskonzept ableiten (Tab. 1).

Eine weitere Einteilung der Extensions-frakturen nahm Frykman 1967 vor. Erunterscheidet extra- und intraartikuläreFrakturen mit und ohne Beteiligung desProc. styloideus ulnae. Diese Einteilunggeht nicht darauf ein, ob eine palmareoder dorsale Abkippung vorliegt, da siesich am posterior–anterioren Strahlen-gang orientiert. Außerdem geht sie nichtauf Ausdehnung und Richtung einer Dis-lokation der Frakturfragmente ein. Eben-so werden die dorsale Trümmerzoneund die Radiusverkürzung nicht berück-sichtigt. Aus der Frykman-Klassifikation

lässt sich eine Behandlungsindikationnur eingeschränkt ableiten (Abb. 6).

Die Flexionsfrakturen wurden initial1847 durch Smith beschrieben, er setztdie Lage des dislozierten volaren Kanten-fragments in Bezug zur radialen Gelenk-fläche. Weiterhin existiert eine Differen-zierung der Smith-Frakturen nach Tho-mas, wobei hier der Verlauf der Fraktur-linie von entscheidender Bedeutung ist.Thomas Typ II wird auch als Reversed-Barton-Fraktur bezeichnet, bei der esnach volarem Kantenabriss zur vorderenSubluxation des Karpus kommt (Abb. 7).

1984 klassifiziertenMelone und Isani dieintraartikulären 4-Fragment-Frakturenbasierend auf der Analyse radiokarpalerund radioulnarer Schlüsselfragmente[7]. Der Radiusschaft bildet das 1. Frag-ment, das 2. der Proc. styloideus radii.Das 3. dorsoulnare und das 4. palmar-ul-nare Fragment bilden zusammen mitden ligamentären Verbindungen zumProc. styloideus ulnae und der proxima-len Reihe der Handwurzelknochen densog. medialen Komplex. Die häufigsteFrakturform stellen die Typ-II-Frakturenmit Einstauchung des dorsoulnarenFragments durch das Os lunatum dar(Tab. 2, Abb. 8).

Die einzige Klassifikation neben der AO-Klassifikation, die auch Mehrfragment-brüche kategorisiert und gleichzeitig de-ren Dislokationsgrad berücksichtigt, istdie Einteilung nach Older [11]. Die Ein-

90°

40°

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B

C

D

Abb. 3a bis d Stellung der Hand zum Unfall-zeitpunkt und resultierender Frakturtyp:a Luxation/Luxationsfraktur, b Extensions-fraktur, c Unterarmfraktur, d Flexionsfraktur.(aus: Uzdil T, Winker KH. Distale Radiusfrak-turen. Orthopädie und Unfallchirurgie up2da-te 2007; 2: 1–20) [15].

Abb. 4 Beispiel einer distalen RadiusfrakturTyp 23-C2 nach AO.

Abb. 5 CT des Handgelenks mit koronarerMPR 3-D‑Rekonstruktion.

Tab. 1 Einteilung der distalen Radiusex-tensionsfrakturen nach Colles [8].

Colles I extraartikulär, nicht disloziert

Colles II extraartikulär, disloziert

Colles III intraartikulär, nicht disloziert

Colles IV intraartikulär, disloziert

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teilung erfolgt nach dem Grad der dorsa-len Abkippung, der Dislokation, der Ra-diusverkürzung und dorsaler metaphy-särer Einstauchung (Tab. 3).

Fernandez [6] bezog bei seiner Klassifi-kation den Unfallmechanismus mit ein,sodass der Zusammenhang zwischen Pa-thomechanismus und Frakturmorpholo-gie berücksichtigt wird (Abb. 9).

n Neben der Beschreibung der knöcher-nen Läsion sollte eine Aussage zur Stabi-lität nach Reposition abgeleitet werdenkönnen. Jupiter und Mitarbeiter [8] ha-ben Kriterien abgeleitet, welche regel-mäßig zur Stabilitätsbeurteilung heran-gezogen werden und inzwischen etab-liert sind.

Als prädisponierend für eine hohe Insta-bilität wird eine Dorsalabkippung über20°, die axiale Einstauchung um mehrals 5mm und das Vorhandensein einermetaphysären Trümmerzone angesehen.Weitere Instabilitätskriterien sind einebegleitende Fraktur des Proc. styloideusulnae, eine dislozierte intraartikuläreFraktur und die radioulnare Instabilität.

AO-Klassifikation

n Im klinischen Alltag ist die Klassifikationder AO (Arbeitsgemeinschaft für Osteo-synthesefragen) nach Müller etabliert[10].

Tab. 2 Frakturklassifikation nach Melone.

Typ I stabil, wenig eingestaucht

Typ II instabil, medialer Komplex imVerbund disloziert

Typ III instabil, medialer Komplex imVerbund disloziert, zusätzlichesvolares Schaftfragment

Typ IV instabil, ausgeprägte Dislokationdes dorsalen und volaren Schlüs-selfragments

Abb. 6 Klassifikation nach Frykman (1967): Unterteilt wird in extra- und intraartikuläre Frakturen mit und ohne Beteiligung des Proc. styloideusulnae. Die Komplexität der Fraktur nimmt mit steigender Typenbezeichnung zu [14].

Abb. 7a bis c Klas-sifikation der Smith-Frakturen: a extraar-tikuläre Smith-Frak-tur mit horizontalemBruchverlauf (TypThomas I). b Intra-artikuläre Smith-Frak-tur (Typ Thomas IIbzw. Reversed Bar-ton). c Extraartiku-läre Smith-Frakturmit schräg verlaufen-dem Bruchspalt(Typ Thomas III) [14].

medialerKomplex

3

4

2

1

Typ IITyp I

Typ IVTyp III

Abb. 8 Die frakturierte Gelenkfläche wirdnach Melone in 4 Schlüsselfragmente unter-teilt. (1) Radiusschaft, (2) radiales Styloidfrag-ment, (3) dorsoulnares Fragment, (4) palmar-ulnares Fragment. Die dislozierte Fraktur desmedialen Komplexes betrifft sowohl das Ra-diokarpalgelenk als auch das DRUG und führtzu einer Zerstörung des Gelenkverbunds [14].

Tab. 3 Klassifikation nach Older.

Typ I dorsale Abkippung < 5°, Radius-verkürzung 7mm

Typ II dorsale Abkippung > 5°, Radius-verkürzung 1–7mm

Typ III Abkippung > 5°, Radiusverkür-zung 4mm, wenig eingestaucht

Typ IV dorsale Abkippung > 5°, Radius-verkürzung neg., deutlich einge-staucht mit intraartikulärer Be-teiligung

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Aus der korrekten Einteilung der Frakturin das Klassifikationsschema nach Mül-ler von 1990 erwachsen direkte Kon-sequenzen für das therapeutische Vor-gehen. Jeder lange Röhrenknochen oderSkelettabschnitt wird mit einer Zifferversehen und jeder Knochen in 3 Seg-mente unterteilt.

Man unterscheidet zwischen dem pro-ximalen Segment 1, dem diaphysären

Segment 2 und dem distalen Segment 3.Die Lage der Fraktur ist für die Zuord-nung entscheidend. So ergibt sich fürden distalen Unterarm die 23. Des Wei-teren wird zwischen extraartikulärenBruchformen (Typ A), partiell intraarti-kulären (Typ B) und komplett intraarti-kulären Brüchen (Typ C) unterschieden.Jeder Frakturtyp A–C wird weiter diffe-renziert und besteht aus 3 Gruppen mitje 3 Untergruppen. So sind insgesamt 27

Frakturtypen des distalen Unterarms be-rücksichtigt.

Die Gruppe A1 bilden die isolierten Ul-nafrakturen. Die Gruppe A2 beinhalteteinfache extraartikuläre Frakturen ohneTrümmerzone, die Gruppe A3 diejenigenmit Trümmerzone. Die Gruppe B1 bein-haltet Frakturen des Proc. styloideus ra-dii, die sog. Chauffeur-Frakturen. B2-Frakturen weisen ein dorsales Kanten-fragment auf und werden als Barton-Frakturen bezeichnet. Frakturen mit vo-larem Kantenfragment (Reversed-Bar-ton) bilden die Gruppe B3. Typ C stellendie vollständig artikulären Frakturendar. Die Gruppe C1 beinhaltet Frakturenmit einfacher artikulärer und metaphy-särer Beteiligung, die Gruppe C2 die arti-kulär einfachen und metaphysär mehr-fragmentären Frakturen. Die Gruppe C3beinhaltet sowohl artikulär als auch me-taphysär mehrfragmentäre Frakturen(Abb. 10).

Die AO-Klassifikation erlaubt die Zuord-nung einer Fraktur in eine der oben ge-nannten Gruppen anhand von Röntgen-aufnahmen in 2 Ebenen. Darüber hinauslässt sich eine Differenzialindikation fürdie weitere Therapie stellen, hieraufwird in den nachfolgenden Artikeln die-ser Ausgabe differenziert eingegangen.

Die Frakturen der Gruppe A2 sind imWesentlichen einer konservativen The-rapie zugängig, in den letzten Jahren hatsich in der Gruppe der A3-Verletzungendas Therapieregime von einem konser-vativen Vorgehen zur operativen Versor-gung verlagert. Für C-Frakturen kommtje nach Weichteilstatus die primäre Sta-bilisation mittels Fixateur externe in Be-tracht, der im Verlauf durch eine winkel-stabile Plattenosteosynthese ersetztwird

Schlussfolgerung

Um eine Entscheidung für ein adäquatesTherapieverfahren treffen zu können, istes wichtig, das Ausmaß der Verletzungdes Radiokarpalgelenks richtig ein-zuschätzen. Im deutschsprachigen Raumhat sich die Einteilung der handgelenks-nahen Unterarmfrakturen anhand derAO-Klassifikation durchgesetzt. Idealer-weise ist eine Frakturklassifikation um-fassend, eindeutig, anwendbar undüberschaubar [16]. Zudem sollten sichprognostische Aussagen über den Heil-verlauf ableiten lassen.

I

II

III

IV

V

Abb. 9 Klassifika-tion der distalen Ra-diusfraktur nach Fer-nandez. Typ I: Bie-gungsfraktur: DieMetaphyse kippt inBelastungsrichtung.Typ II: Abscherfrak-tur: Absprengungeiner dorsalen oderpalmaren Gelenklip-pe. Typ III: Kompres-sionsfraktur: Gelenk-flächenbeteiligungmit Einstauchung dessubchondralen Kno-chens. Typ IV: Abriss-fraktur: Avulsions-frakturen und radio-karpale Luxations-frakturen. Typ V:Kombinationsverlet-zung: Mischformenaus den FrakturtypenI–IV [14].

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n Da von keiner Fraktureinteilung alleindiese Aspekte in gleicher Weise berück-sichtigt werden, sollte die Therapie derdistalen Radiusfraktur die Differenzie-rung zwischen intra- und extraartikulä-ren Frakturen, die Beurteilung von Dis-lokationen sowie das Vorhandenseinvon Instabilitätskriterien berücksichti-gen und gegebenenfalls ligamentäreund knöcherne Begleitverletzungenadressieren.

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12 S2-Leitlinie „Distale Radiusfraktur“; Arbeits-gemeinschaft der Wissenschaftlichen Medi-zinischen Fachgesellschaften, Leitlinien derDeutschen Gesellschaft für Unfallchirurgiee.V. (DGU); Stand: 01.05.2008

13 Frank J, Pralle H, Marzi I. Funktionelle Anato-mie und Biomechanik des Handgelenkes unddistalen Radioulnargelenkes. OP-JOURNAL2003; 19: 4–9

14 Schmidt S, Heinz T, David A. Häufigkeit, Ent-stehung und Klassifikation der distalen Ra-diusfraktur. OP-JOURNAL 2003; 19: 10–15

15 Uzdil T, Winker KH. Distale Radiusfrakturen.Orthopädie und Unfallchirurgie up2date2007; 2: 1–20

16 Wittner B, Holz U. General classification ofdistal radius fractures and treatment of ex-traarticular distal radius fractures (Type A2and A3). Chirurg 1993; 64: 880–888

Dr. med. Markus SchubertOberarztProf. Dr. med. Andreas DávidChefarzt

Helios Klinikum WuppertalHeusner Straße 4042283 Wuppertal

[email protected]

23 – B = Radius/Ulna distal, partielle Gelenkfraktur des Radius

23 – B1 B2 B3

B1= Sagitalebene B2 = dorsale Kante(Barton)

B3 = palmare Kante(reversed Sarton, Goyrand-Smith II)

A1 = der Ulna, Radius intakt

A2 = des Radius,einfach und impaktiert

A3 = Radius, mehrfachfragmentär

C1 = articulär einfach,metaphysär einfach

C2 = articulär einfach,metaphysär mehrfachfragmentär

C3 = mehrfragmentär

23 – A = Radius/Ulna distal, extraarticuläre Fraktur23 – A1 A2 A3

23 – C = Radius/Ulna, vollständige Gelenkfraktur des Radius

23 – C1 C2 C3

Abb. 10 AO-Klassi-fikation nach Müller:23-A ExtraartikuläreFrakturen. 23-B Par-tielle Gelenkfraktu-ren. 23-C Vollständigartikuläre Frakturen[14].

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OP-JOURNAL 3/2012

Markus Schubert und Andreas Dávid: Diagnostik und Klassifikation der distalen Radiusfraktur

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