Diakonie magazin spezial 2010: Jugend

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2010 Mama waschen, anziehen, ausfahren Wenn Kinder ihre kranken Eltern pflegen müssen Keine Gewalt! Wenn Mädchen von zu Hause fliehen Seite 32 Mehr Verständnis! Ein Zentrum für arabische Familien in Berlin Seite 18 Mehr Zeit! Pflegeschüler wissen, was sie wollen Seite 28 Spezial Jugend

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Mama waschen, anziehen, ausfahren - Wenn Kinder ihre kranken Eltern pflegen müssen

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2010

Mama waschen, anziehen, ausfahrenWenn Kinder ihre kranken Eltern pflegen müssen

Keine Gewalt! Wenn Mädchen von zu Hause fliehen

Seite 32

Mehr Verständnis!Ein Zentrum für arabische Familien in Berlin

Seite 18

Mehr Zeit!Pflegeschüler wissen, was sie wollen

Seite 28

Spezial Jugend

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Herausgeber: Diakonisches Werk der EKD, Stafflenbergstraße 76, 70184 Stuttgart, Telefon (0711) 2 15 90Redaktion: Andreas Wagner (Chefredaktion), Barbara-Maria Vahl (verantwortlich), Telefon (030) 83001 136, E-Mail: [email protected]: Hansisches Druck- und Verlagshaus GmbH, Emil-von-Behring-Str. 3, 60439 Frankfurt, Geschäftsführer: Jörg Bollmann, Arnd Brummer, Verlagsleitung: Frank Hinte, Layout: Hansisches Druck- und Verlagshaus GmbHAboservice: bruderhausDIAKONIE, Gustav-Werner-Straße 24, 72762 Reutlingen, Telefon (07121) 27 88 60, E-Mail: [email protected]: m-public Medien Services GmbH, Georgenkirchstr. 69/70, 10249 Berlin, Telefon (030) 28 87 48 35, E-Mail: [email protected]. Zzt. gilt Anzeigenpreisliste 4/2010. Mediaberatung: Susanne ZurgeisselDruck: Bechtle Druck & Service GmbH & CoKG, EsslingenBezugs- und Lieferbedingungen: Das Diakonie Magazin erscheint viermal jährlich. Der Bezug der Zeitschrift Diakonie Magazin ist im Mitgliedsbeitrag des Diakonischen Werkes der EKD e.V. enthalten.

Impressum

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Inhalt

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PanoramaBesuch in einer Integrationsschule

TitelthemaErst Krankenpflege, dann HausaufgabenZehntausende Kinder versorgen ihre chronisch kranken ElternInterviewUte Meybohm, Psychologische Psychotherapeutin in Berlin, warnt: „Jugendliche können sich nicht vor Überforderung schützen“

Spektrum DiakonieBesuch in einer Einrichtung Kosmetikkurse, Kaffee und Männer, die weinen – im Deutsch-Arabischen Zentrum BerlinMeinungDr. Gabriele Kees: „Die Mütter baden es aus“ – das neue UnterhaltsgesetzReportageZeit für die Patienten! – Pflegeschülerinnen und -schüler mit klaren Vorstellungen von ihrem BerufEine Welt„Der Mut der Verzweiflung treibt sie her“ Papatya in Berlin schützt junge Frauen vor GewaltMeine GeschichteReligiöser geworden auf Evangelischer Schule in Hannover

Lebenskunst„Die ganze Welt will Geld von dir“ – Jugendliche in der SchuldenfalleTeenagermütter„Gut, dass Mama noch so jung ist!“ Ihre Ausbildung kann sie trotzdem machen . . .

Impressum

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Reportage

Lebenskunst

Besuch einer Einrichtung

Titelthema

Statt Freundinnen treffen: Fensterputzen. Kinder, die kranke Eltern versorgen, brauchen mehr Hilfe

Das DAZ in Berlin mit breiter Angebotspalette für arabische Jugendliche, Frauen und Männer

Das Projekt „Junge Mütter auf dem Weg“ unterstützt Teenagermütter

Pflegeschülerinnen und Pflegeschüler voller Optimismus und Gestaltungswillen

Diakonie magazin Spezial 2010

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Die anderen basteln noch an ihren Pappmachéhasen, Ange­lina ist schon fertig. In ihrer Schule bekommt jede Schülerin, jeder Schüler einen Lern­ und Entwicklungsplan, der regel­mäßig weitergeschrieben und mit den Eltern abgestimmt wird. Der Spaß an der Schule und die Neugier zählen hier ebenso wie individuelle Entfaltungs­möglichkeiten.

Diakonie ist dort,

wo Menschen sie

brauchen. Diakonie

hilft Menschen

in Not und in sozial

ungerechten

Verhältnissen.

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Tom und Tobias, ebenfalls Klasse 4, verstehen sich gut. 2003 hat die Waldhofschule in Templin begonnen, „inklusiven“ Unterricht für alle Kinder zu gestalten. In jeder Klasse mit maximal 18 Schülern sind bis zu 50 Prozent Kinder mit Förderbedarf. „Gemeinsames Lernen fördert das soziale Lernen und führt zu höheren Leistungen“, sagen Fachleute.

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� Diakonie magazin X/20XX Rubrik

„Zwischen geistiger Behinde-rung und Hochbegabung gestalten wir Lernlandschaften, in denen die Kinder voneinander profitieren und optimal lernen können. Verschiedenheit wird als Bereicherung erlebt“, sagt Schulleiter Wilfried Steinert. Die integrative Schule der Stephanus-Stiftung ist bundes-weit die erste mit diesem Kon-zept. www.waldhofschule.de

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�X/20XXDiakonie magazinRubrik

Im Februar 2009 trat die UN-Konvention in Deutschland in Kraft, die das Recht aller Schüler bekräftigt, unabhängig von Fähigkeiten oder Beeinträchtigungen sowie von ethnischer, kultureller oder sozialer Herkunft miteinander zu lernen. Kim (rechts, mit Kalimba), Konrad, Hanna und Tim aus Klasse 3 finden das ganz selbstverständlich.

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PanoramaSpezial 2010Diakonie magazin�

Einblicke in eine fremde Welt

Etwa 1,1 Millionen Menschen in der Bundesrepublik lei-den an Demenz, und bis 2050 wird sich ihre Zahl wahr-

scheinlich verdoppeln. Das Kuratorium Deutscher Altershilfe (KDA) erweitert deshalb jetzt sein umfangreiches Informati-onsangebot zum Thema Demenz um etliche Videofilme, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit den Auswirkungen der Krankheit auf Betroffene und deren Angehörige beschäfti-gen. Ergänzt werden die Filme durch eine Info-CD mit zahl-reichen weiterführenden Informationen.

„Solange es keine Chance auf Heilung gibt, müssen wir alles tun, Menschen mit einer Demenz ein würdevolles Leben zu er-möglichen, deren Angehörige unterstützen und Fachleute wie Ärzte und Pflegekräfte, aber auch ehrenamtliche Betreuer um-fassend beraten“, betont das KDA. Die DVD-Box „Demenz – Filmratgeber für Angehörige“ beinhaltet den Spielfilm „Eines Tages . . .“, zwei weitere DVDs mit zwölf Themenfilmen (insge-samt 360 Minuten) sowie eine CD-ROM. Ziel ist es, Angehöri-gen von Demenzkranken, aber auch ehrenamtlich und profes-sionell Betreuenden konkrete Hilfestellung zu bieten. Ärzte, Pflegekräfte, Experten und Angehörige geben ihre Erfahrungen mit dem Thema in zahlreichen Interviews weiter. Dazwischen zeigen Spielfilmszenen typisches Verhalten, bringen Konflikte auf den Punkt und weisen Lösungswege.

Die Mischung aus Fiktion und realen Erlebnisberichten er-möglicht vielschichtige Einblicke in den Alltag mit Demenz und gibt wertvolle Hinweise für die häusliche Betreuung. Medizinische und rechtliche Informationen ergänzen die Themenpalette. Die CD-ROM gibt Textinformationen zu den Themenfilmen, enthält Dokumente, Checklisten, wichtige Adressen und Links. Die DVD-Box ist zum Preis von 19,90 € zzgl. Porto erhältlich im KDA-Onlineshop unter www.kda.de

Panorama

in Zahlen

Quelle: Einrichtungsstatistikzum 01.01.2008, in: Diakonie Texte, Statistische Informa-tionen 09 / 2009

Junge Migrantinnen helfen sich gegenseitig

Menschen mit Demenz brauchen eine sensible und umfassende Begleitung

Junge Migranten helfen Gleichaltrigen

Im Freiwilligendienstprojekt „Engagiert? - Was sonst! Jun-ge MigrantInnen als Lotsen“ (JuMiLo) stehen junge Men-

schen mit Migrationshintergrund anderen zur Seite. Das Ange-bot richtet sich vor allem an gleichaltrige MigrantInnen. Die Freiwilligen leiten zum Beispiel Konversationsgruppen in un-terschiedlichen Sprachen, Sport- und Kunstkurse, sie geben in-dividuelle Nachhilfe oder engagieren sich als persönliche Paten. Während ihres meist ein- bis zweijährigen Einsatzes, der min-destens drei Wochenstunden umfasst, werden die Freiwilligen geschult und begleitet. Das Projekt, das 15 Standorte der Träger-organisationen der Jugendsozialarbeit hat, wird auf Bundes-ebene von der Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Ju-gendsozialarbeit (BAG EJSA) geleitet und koordiniert.

Im neu gestalteten Onlineauftritt finden Besucher der Web-site nun gezielt Informationen zu den Themen, die für sie rele-vant sind: www.engagiert-was-sonst.de

teilstationär

stationär

10 %

ambulant

7 %Angebote in der Jugendhilfe

83 %

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Machen Sie das Beste draus!

Vermögensaufbau und Altersvorsorge sind nicht nur et-was für Großverdiener. Wer wenig Geld hat, muss seinen

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Mayrs Spitze

Helden treffen bei den Special Olympics

Im Jahr 2009 haben weniger Jugendliche eine Lehre be-gonnen als 2008. Nach Angaben des Statistischen Bun-

desamtes in Wiesbaden wurden im vergangenen Jahr rund 561.000 Ausbildungsverträge abgeschlossen – das sind rund 7,6 Prozent weniger als im Vorjahr. Überdurchschnittlich stark war der Rückgang in den neuen Bundesländern. Als mögliche Gründe für die Entwicklung nennt die Behörde die Wirtschafts-krise, die gesunkene Zahl von Jugendlichen in Ostdeutschland und die verstärkte Neigung zum Studium bei Schulabsol-venten mit Hochschulreife.F

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In der Zeit vom 14. bis 19. Juni 2010 finden in Bremen die Nationalen Spiele für Menschen mit geistiger Behin-

derung statt. Veranstalter ist Special Olympics Deutschland, die deutsche Organisation der weltweit größten Sportbewe-gung für Menschen mit geistiger Behinderung. Schirmherr der Special Olympics National Games ist Bundespräsident Horst Köhler.

An der Weser werden sich 4500 Athletinnen und Athleten, darunter auch zahlreiche Teilnehmer aus bremischen Einrich-tungen der Diakonie, in 20 Sportarten messen. Die Special Olympics geben ihnen die Chance, „Helden“ zu werden und persönliche Bestleistungen vor einem begeisterten Publikum zu erbringen. Seit 1998 werden die Special Olympics mit stetig wachsender Teilnehmerzahl alle zwei Jahre in Deutschland ausgerichtet.

Immer weniger Auszubildende

Panorama

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Titelthema

Fotos: Sibilla Calzolari

Julia, 15, muss ihre Mutter waschen und ihr beim Haarekämmen helfen, sie muss sich um die kleine Schwester kümmern und

den Haushalt im Griff haben. Wie sie versorgen Zehntausende von Kindern ihre chronisch kranken Eltern – oft ohne weitere Hilfe

Erst Krankenpflege, dann Hausaufgaben

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Der Tag von Julia beginnt um sechs Uhr morgens. Julia, die das Gymnasium besucht, steht als Erste auf und

macht sich fertig, bevor sie nach ihrer Mutter sieht. Ihren Ta-gesablauf beschreibt die 15-Jährige in abgeklärter Distanz ebenso kurz wie nüchtern: „Dann helfe ich meiner Mutter aus dem Bett und helf ihr im Bad und zieh sie an. Kämm ihr die Haare und mach das Frühstück auch für die Schwester. Und dann geh ich selbst zur Schule, und nachmittags räum ich die Wohnung auf, geh einkaufen, hol Medikamente aus der Apo-theke und pass auf, dass meine jüngere Schwester auch ihre Hausaufgaben macht.“

Julias Mutter Astrid, 47, weiß, dass sie ohne die Hilfe ihrer Tochter im Alltag nicht mehr zurechtkäme. Die gelernte Arzt-helferin aus Essen und Mutter von zwei Töchtern leidet seit fünf Jahren an fortschreitender Multipler Sklerose.

„Als mir der Arzt sagte, welche Krankheit ich habe und wie sich die Krankheit entwickeln wird, da hatte ich das Gefühl, dass mir der Boden unter den Füßen wegbricht. Am schlimms-ten fand ich, auf Hilfe angewiesen zu sein, nicht mehr selbst die Familie versorgen zu können. Ohne meine ältere Tochter könnte ich vielleicht nicht mehr in unserer Wohnung leben – und das ist für mich eine schreckliche Vorstellung.“

Wenn Menschen in Deutschland chronisch erkranken, dann bedürfen sie täglich der fürsorgenden Hilfe. Aber nicht immer kommt ein Pflegedienst ins Haus. Dennoch werden die-se Kranken versorgt. Und zwar oft von ihren minderjährigen Kindern. Aus englischen Studien wissen Pflegeexperten, dass dort rund zwei Prozent aller Minderjährigen die pflegende Verantwortung für ihre kranken Eltern übernommen haben. Also fast 180.000 Kinder. Überträgt man diesen Schnitt auf Deutschland, dann wären das etwa 230.000 Kinder und Ju-gendliche. Eine Gruppe, die so bisher nicht erfasst ist und die im öffentlichen Bewusstsein quasi nicht existiert. Doch in der Realität stellen mehrere zehntausend Kinder die Versorgung ihrer chronisch kranken Eltern sicher, oft ohne Hilfe von au-ßen. Womöglich fehlt im Umfeld dieser Familien der Mut, die Situation zu erkennen, in der sich die Kinder befinden – vom Nachbarn bis zum Hausarzt. Andererseits schotten sich die betroffenen Familien nicht selten von ihrer Umwelt ab. Ent-weder aus Scham oder aus Furcht, ihre Familie könnte ausein-andergerissen werden. So wie im Fall der 47-jährigen Astrid.

Astrid will ihre Kinder nicht verlieren, möchte sie um sich ha-ben, auch wenn sie weiß, dass der Verlauf ihrer Krankheit für ihre Töchter das, was man eine unbeschwerte Kindheit nennt, im Grunde ausschließt. Doch zusammen, sagt sie, sei man stark, und das gebe ihr Zuversicht. Bislang wusste man in Deutschland über pflegende Kinder so gut wie gar nichts. Die Bundesrepublik, stellt Dr. Sabine Metzing-Blau vom Institut für Pflegewissenschaft an der Privatuniversität Witten/Herdecke nüchtern fest, war in dieser Hinsicht ein weißer Fleck auf der Forschungskarte. In einer bundesweiten Studie führten die Pflegewissenschaftler der Uni Witten/Herdecke darum über 80 Interviews mit 34 Familien, in denen ein Angehöriger an einer chronischen Krankheit leidet. In den meisten Fällen waren es

die Mütter, die sich bereiterklärten, an dieser Studie teilzuneh-men. Nicht um ihretwillen, sondern um ihren Kindern die Chance zu geben, einmal über ihre Situation zu reden. Dass man nur die Spitze eines Eisbergs gefunden hat, das steht für Metzing-Blau außer Frage. Anhand der Verteilung der Familien über das gesamte Bundesgebiet und der vorgefundenen Krank-heitsbilder geht sie davon aus, dass womöglich weit mehr als 200.000 Kinder im Alter zwischen fünf und 18 Jahren tagtäg-lich für die Betreuung ihrer chronisch kranken Eltern sorgen.

Dabei gilt es, zwischen körperlichen und psychischen Er-krankungen zu unterscheiden. Zu den häufigsten körper-lichen chronischen Erkrankungen, unter denen ein Elternteil leidet, zählen nach Erkenntnis der Wittener Pflegewissen-schaftler rheumatische Erkrankungen, Krebserkrankungen, Asthma und, wie im Fall von Astrid, Multiple Sklerose. Eine Er-krankung, so Dr. Sabine Metzing-Blau, die schon in jungen Jahren auftreten kann, also bereits dann, wenn Menschen eine Familie gründen oder sogar früher. Bei den psychischen Er-krankungen handelt es sich meist um bipolare Störungen. Mit anderen Worten: ein Elternteil ist manisch-depressiv. Selbst wenn bei solchen Familien ein Pflegedienst in die Wohnung kommt, können damit höchstens 1,5 Stunden am Tag abge-deckt werden. In der verbleibenden Zeit übernehmen dann oft

Titelthema

Julia deckt den Frühstücks-tisch und fährt an schönen Tagen mit ihrer Mutter in den Stadtwald. Auf unseren Fotos ist ein anderes Mädchen zu sehen, denn Julia und ihre Mutter wollten sich lieber nicht fotografieren lassen. Deshalb hat die Redaktion die Bilder mit anderen Personen nachgestellt

Ein Pflegedienst deckt anderthalb Stunden ab – wenn überhaupt

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die Kinder die Verantwortung. Eine Entscheidung, die den Eltern nicht leicht fällt. Aber so manche Familie verzichtet so-gar auf einen Pflegedienst, weil das Geld, das er kosten würde, zum täglichen Leben gebraucht wird.

Am stärksten gefordert sind bei mehreren Kindern die älteren Geschwister. Diese Kinder tun alles, was erwachsene pflegende Angehörige auch tun – vom Rollstuhlschieben bis zur Körperpflege. Sie kümmern sich darum, dass ihre Eltern regelmäßig die verordneten Medikamente einnehmen, und sie versorgen die Wunden. Doch Kinder übernehmen in solchen Fällen noch weitaus mehr Aufgaben, die eine kranke Mutter nicht mehr erfüllen kann. Dr. Sabine Metzing-Blau: „Die Ältesten helfen viel im Haushalt. Oder sie führen den Haushalt ganz allein. Sie kümmern sich um ihre jüngeren

Geschwister, übernehmen da sehr viel Verantwortung. Und selbst wenn einer der Eltern gesund ist, dann kümmern sie sich auch noch um den und versuchen zu trösten.“

Schließlich kommt es nicht selten vor, dass sich bei fort-schreitender Krankheit der Mutter die Männer von Frau und Familie trennen. Für die Kinder bedeutet das, dass sie ihren Müttern noch mehr Zuwendung widmen.

Ob ihren Familien nicht auch andere Hilfen zustehen wür-den, das vermögen chronisch Kranke, hat Pflegewissenschaft-lerin Metzing-Blau in den Einzelgesprächen erfahren, im Paragrafendschungel des Gesundheitswesens kaum zu durch-schauen. Also vertrauen sie sich zuerst denen an, die ihnen am nächsten stehen: ihren Kindern. Pflegende Kinder gibt es nach der Wittener Studie in allen sozialen Schichten. Gleich-

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wohl konstatiert Sabine Metzing-Blau nach der Auswertung der Interviews: „Was man sicher sagen kann: je kleiner das familiale oder soziale Netz dieser Familien ist, je weniger Res-sourcen sie zur Verfügung haben, desto größer ist die Wahr-scheinlichkeit, dass Kinder in diesen Familien Verantwortung mit übernehmen müssen.“

Julia wirkt denn auch schon ziemlich erwachsen. Bei schö-nem Wetter, erzählt sie, setzt sie ihre Mutter in den Rollstuhl und fährt mit ihr in den nahegelegenen Stadtwald. Mutti müsse doch auch einmal raus, andere Menschen sehen. Astrid lächelt, streichelt Julia die Wange. Während dieser Spazier-gänge redet sie mit ihrer Tochter über Gott und die Welt. Nur nicht, schränkt sie ein, über ihre Krankheit. Über ihre mütter-liche Liebe hinaus sei Julia für sie auch Vertraute und Freun-

din geworden, die ihr die Tür zum Leben außerhalb der Woh-nung offen halte.

Für Unternehmungen im Freundeskreis bleibt Julia kaum noch Zeit. Dass sie nicht mehr so viel raus kann wie früher, das fehle ihr schon, sagt sie. Am Wochenende mal ein paar Stunden wegbleiben, mit Freunden in die Stadt gehen, das funktioniert nun einmal nicht, weil sie ihre Mutter nicht so lange allein lassen kann. Auf der anderen Seite möchte sie ihre Freundinnen auch nicht mit nach Hause bringen. Nicht aus falsch verstandener Scham, sondern aus Rücksicht auf die häusliche Situation. Trotzdem fühlt sich Julia nicht ausge-grenzt. Was sie mit ihren Freundinnen nicht während der Pau-sen auf dem Schulhof besprechen kann, das holt sie am Abend in langen Telefonaten nach. In der Schule kommt Julia übri-

Titelthema

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Klaus Deuse

Titelthema

gens gut mit, sie gehört zum oberen Leistungsdrittel. Astrid findet die Disziplin, mit der ihre Julia die Herausforderungen meistert, mehr als bewundernswert.

Doch nicht jedes Kind zeigt sich einer solchen Situation ge-wachsen. Je länger die Pflege eines Elternteils dauert, desto eher kann es dazu kommen, dass die Kinder isoliert leben. Es gibt Kinder, hat Dr. Metzing-Blau erlebt, „die einfach sehr trau-rig sind, die einsam sind und so gut wie nie über ihre Situati-on sprechen. Sie fressen diesen Kummer in sich hinein.“

Gerade chronische Erkrankungen entstehen nicht von heu-te auf morgen. Es handelt sich um einen schleichenden Pro-zess, in den die Familienmitglieder allmählich hineinwachsen und dabei immer mehr Aufgaben übernehmen. Wie schwer die Last auf den Schultern der Kinder wiegt, das überblicken die Betroffenen dann oft nicht mehr. Und mitunter bleibt die häusliche Belastung auch nicht ohne Auswirkungen auf die schulischen Leistungen der Kinder. Sabine Metzing-Blau be-richtet von Schlafstörungen und von Konzentrationsschwä-chen im Unterricht, weil die Kinder mit den Gedanken zu Hause bei ihren kranken Eltern sind. Die Belastung kann dazu führen, dass die Kinder in der Schule einfach nicht mehr mit-kommen und sitzenbleiben.

Dennoch hat sich keines der Kinder, die die Pflegewissen-schaftler befragen konnten, beklagt. Sie erfüllen ihre Aufga-ben aus Zuneigung, auch wenn sie ihnen manchmal über den Kopf zu wachsen drohen. Aber für den familiären Zusammen-halt geben sie alles. Manchmal bis zur Erschöpfung. Kranke Eltern wiederum, hat Metzing-Blau festgestellt, haben Angst, „dass ihnen die Kinder weggenommen werden, wenn sie sich nach außen wenden und dort Hilfe in Anspruch nehmen wol-len. Das führt häufig dazu, dass sie sich abschotten.“

Nicht nur gegenüber Nachbarn und Freunden. Selbst Ärzten, die zu Hausbesuchen kommen, erschließen sich in vielen Fällen nicht die Zusammenhänge, oder sie verschließen davor die Augen. Sicher gibt es engagierte Hausärzte – aber auch, als Folge der Gesundheitsreform, immer weniger Haus-besuche. Unabhängig davon weiß Metzing-Blau von Ärzten, denen bei ihren Visiten sogar klar ist, dass Kinder zu Hause pflegen. „Denen klopfen sie dann auf die Schulter und sagen: Machste prima so!“ Andere Ärzte versuchen, über Pflegediens-te Entlastung zu erreichen. Aber ganz oft sei es so, dass die Fa-

milien sich sehr zurückhaltend zu ihrer Situationen äußern, so dass Außenstehende, auch Ärzte, die Lage nicht genau erkennen und durchschauen. „Die sehen dann: die Wunde ist prima verbunden, oder der Haushalt ist schön geführt. Aber wer dafür verantwortlich ist, wird nicht hinterfragt.“

Darum hat das Pflegeinstitut der Uni Witten/Herdecke in-zwischen mit www.kinder-kranker-eltern.de eine Seite ins In-ternet gestellt, die betroffenen Kindern Gelegenheit zum Aus-tausch bieten soll – quasi als ein Ventil zur Regulierung des psychischen Überdrucks. Sabine Metzing-Blau erklärt: „ Das ist das Erste, weil wir aus unseren Studienergebnissen ganz klar sagen können: Es ist ein zentrales Bedürfnis aller Betroffenen, jemand zum Reden zu haben.“

Der Erfahrungsaustausch hilft, die eigene Situation besser einzuordnen und damit umzugehen. Darüber hinaus enthält das Internetangebot Hinweise auf Hilfsprojekte.

Julia ist für ihre schwerkranke Mutter unersetzlich – als Kind sowieso, aber auch als Pflegerin, glaubt Astrid. Auch wenn es sie schmerzt, so macht Astrid keinen Hehl daraus, ihren zwei Töchtern nicht mehr die Mutter sein zu können, die sie aus Überzeugung sein wollte, bis die Krankheit ihr einen Strich durch die Lebensplanung machte.

„Ich weiß, was meine Tochter alles leistet. All das, was ich nicht mehr kann. Eigentlich sollte ich doch für sie da sein. Mich bedrückt das manchmal sehr. Doch ohne sie wüsste ich auch nicht, was ich machen sollte. Und noch nie hat sie mir das Gefühl gegeben, dass ich für sie eine Last bin. Dafür bin ich ihr von Herzen dankbar.“

So geht es vielen anderen chronisch Kranken, die ohne die tägliche Versorgung durch ihre Kinder nicht zurechtkämen. Für die Pflegeversicherungsträger ist das allerdings kein The-ma. Denn nach geltender Gesetzeslage stehen Minderjährigen keine Leistungen aus der Pflegeversicherung zu. Egal, wie aufopferungsvoll sie sich um ihre erkrankten Eltern und die Versorgung der Familie kümmern.

Fensterputzen, Einkaufen, Fußpflege – Julia hat viel mehr Pflichten als ihre Freundinnen. Trotzdem gehört sie in der Schule zu den Besten

„ Das Wichtigste für die Kinder: Sie brauchen jemanden zum Reden“

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„�Es�ist�wichtig,�dass�die�Kinder�Kinder�bleiben�können.“

Frau Meybohm, Kinder und Jugendliche, die sich um ihre kran-ken Eltern kümmern, die den Haushalt führen, die Körperpflege übernehmen, einkaufen gehen – das wirkt sehr solidarisch und stark. Aber wie geht es diesen Kindern wirklich?Es kommt drauf an, wie alt die Kinder sind. Es ist sicher eine sehr große Belastung für sie. Wie sich das auf sie auswirkt, hängt davon ab: Wie geht die Familie mit der Krankheit um, gibt es Netzwerke, gibt es für die Kinder trotzdem eine kindge-rechte Umgebung, wird berücksichtigt, was die Kinder in der Situation leisten können und wann sie überfordert sind? Wird respektiert, was das Kind braucht?Auf welchen Ebenen, in welcher Form findet hier Überforderung statt?Entscheidend ist, ob die Familie sowieso isoliert ist, ob die Verantwortung für ein krankes Elternteil und womöglich noch Geschwister im Wesentlichen bei dem pubertierenden Kind liegt, ob es sein eigenes Leben irgendwie noch führen kann, und natürlich: wie hoch der Grad der Hinfälligkeit der Eltern ist. Kinder haben auch sehr unterschiedliche eigene Ressourcen. Wenn es keine Hilfe von außen gibt und das her-anwachsende Kind das Management für die Familie über-nimmt, kann man aber davon ausgehen, dass es kaum eine Möglichkeit für eine individuelle altersgerechte Entwicklung gibt.Ab wann würden Sie sagen, ist eine rote Linie überschritten: Wenn ein Kind keine Zeit mehr hat für Schulaufgaben oder seine Peergroup zu treffen, viel physische Arbeit verrichten muss . . .

Ein wichtiges Kriterium ist: Liegt die Verantwortung bei den Kindern und nicht mehr bei den Eltern? Und wieweit kann das erkrankte Elternteil seine Erziehungsfunktion wahrnehmen, ein soziales Netzwerk aufbauen? Wenn es das nicht kann und die Erwartung besteht, dass Kinder diese Rolle übernehmen, die Kinder aber selber nicht gelernt haben, sich Hilfe von au-ßen zu holen, dann entsteht mit Sicherheit eine Überforde-rungssituation, die dazu führt, dass eine gesunde Persönlich-keitsentwicklung nicht möglich ist. Problematisch ist, dass viele der betroffenen Kinder nicht gelernt haben, ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen wahrzunehmen, dass sie sich nicht selber schützen können.Warum übernehmen Kinder offenbar widerspruchslos Aufgaben, die sie fast erdrücken? Was ist ihr Motiv?Das ist geschlechtsspezifisch unterschiedlich: Mädchen sind bereit, mehr zu übernehmen als Jungen. Und wenn Kinder re-lativ isoliert aufgewachsen sind, die Erkrankung schon lange besteht, dann ist das Familiensystem ihr Halt. Sie lieben ihre Eltern, sie möchten, dass die noch lange leben und dass sie zu-sammenbleiben, und sie haben Angst vor Trennung. Damit bleiben sie natürlich manchmal auch in Situationen, in denen sie sagen müssten: Ich kann nicht mehr. Kinder übernehmen die Rolle der Eltern. Zugleich können sie sich oft nicht ausreichend abgrenzen – was bedeutet das für die Zukunft der Kinder?Auch das ist unterschiedlich. Vielfach ist es so, dass solche Kinder in soziale Berufe gehen, Verantwortung übernehmen

Jugendliche können sich selbst oft nicht vor Überforderung schützen

InterviewUte Meybohm, Geschäftsführerin von Allgemeine Jugendberatung e. V., ist Diplom-Psychologin und Psychologische Psycho-therapeutin in Berlin.

Titelthema

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Die Fragen stellte Barbara-Maria VahlFo

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und oft auch erfolgreich sind. Viele machen aus dem Helfen eine Art von Stärke. Das Problem ist nur, dass sie sich dann über ihre Helferfunktion definieren und nicht über ihre eige­nen Bedürfnisse. So können sie über die Überforderungssitua­tion selber in eine Krankheit hineinkommen, je nachdem, wie weit sie sich selber überhaupt noch spüren können. Ein ande­res Problem taucht oft auf, wenn sie aus der akuten Stresssitu­ation heraus sind. Es gab oft niemanden, der auf ihren Körper, auf ihre Bedürfnisse, auf ihre eigene Entwicklung geachtet hat. Je nach Erkrankung der Eltern, zum Beispiel bei Alkohol­erkrankung, werden diese Kinder auch missbraucht: Es ent­steht ein System der Abhängigkeit, und dann geraten die Kin­der, wenn sie erwachsen sind, oft in Beziehungen hinein, wo wieder Abhängigkeit entsteht. Das ist dann eine Weiterfüh­rung ihrer kindlichen Situation. Wie stark ist die Gefahr, ein „Co-Dependent“ zu werden, früh ein Burn-out zu bekommen, in eine Depression zu rutschen?Das hängt vom sozialen Netzwerk ab. Gibt es Nachbarn, Groß­eltern, Freunde, Lehrer oder Sozialarbeiter, die sie stützen, dann können die ihnen zu einer guten Entwicklung verhelfen. Das muss nicht zu einer Koabhängigkeit führen. Wenn es kein Netz gibt, keine Schutzfaktoren, dann ist die Wahrscheinlich­keit negativer Folgewirkungen relativ hoch. Weiter spielt eine Rolle, ob es sich um eine psychische oder um eine körperliche chronische Erkrankung handelt. Und: Spielt das Thema Tod eine Rolle? Haben wir es mit einer Suchterkrankung zu tun? Wenn die Eltern Verantwortung für ihre Krankheit überneh­men in dem Sinne, dass sie sich Hilfe organisieren und acht­sam mit ihren Kindern umgehen, ist eine große Gefahr ge­bannt. Was macht es denn für Unterschiede für ein Kind, ob die Eltern an einer psychischen Erkrankung leiden oder ob sie körperliche Probleme haben, die womöglich mit gewissem Verfall einherge-hen, der Unfähigkeit, rein physisch Dinge zu tun?Eine psychische Erkrankung führt oft dazu, dass die Familie sehr isoliert ist, das ist bei körperlichen Erkrankungen nicht so der Fall. Besonders problematisch ist es, wenn die Kinder über die Auswirkungen einer psychischen Erkrankung nicht informiert sind. Eltern können starke depressive oder auch aggressive Phasen haben, und die Kinder erleben diese Pha­sen, ohne sie deuten zu können. Oft haben sie das Gefühl, sie sind daran schuld, wenn die Mutter krank ist. Dann entstehen Ängste: Habe ich das vielleicht auch in mir, oder ist es anste­ckend? Und muss ich mich einfach lieb verhalten, damit Mut­ter nicht krank wird, muss ich unauffällig sein, damit sie mich nicht schlägt? Mit Psychosen und mit Alkoholabhängigkeit umzugehen, ist für Kinder ganz schwer. Was heißt es für Kinder, wenn ihre alleinerziehende Mutter ins Krankenhaus eingewiesen wird? Das macht ihnen natürlich Angst. Die Kinder müssen sich dann von ihrer engsten Bezugsperson trennen und womög­lich in eine Pflegefamilie gehen, die sie nicht kennen. Deshalb ist es so immens wichtig, dass es Netzwerke gibt und Vertrau­enspersonen, die in solchen Situationen die Bedürfnisse des

Kindes im Blick haben und als Paten die Familie stützen. Es ist wichtig, dass die Kinder Kinder bleiben können und diese Per­son des Vertrauens den Kindern sagen kann: „Pass auf, du bist jetzt nicht zuständig. Deiner Mama geht es schlecht, aber ich bin jetzt da.“ Das gilt auch für die Fälle rein körperlicher Er­krankungen, wo die Jugendlichen oft schlicht zeitlich und kräf­temäßig überfordert sind. Kinder sollten auch wissen: Was macht die Krankheit, wie ist der Verlauf, was kann man beein­flussen und was nicht, und sie müssen ermuntert werden, auch zu sagen: „Es tut mir leid, ich kann nicht mehr.“Wer könnten diese „Personen des Vertrauens“ sein?Das müssen nicht immer Professionelle sein, es können auch Ehrenamtliche sein. Es gibt Ambulanzen für Kinder psychisch kranker Eltern, aber auch Ambulanzen und Kliniken, die sich um chronisch kranke Eltern und Kinder kümmern. Einmal sind die Kinder in kritischen Phasen dringend auf Hilfe ange­wiesen, zum anderen brauchen sie diese kontinuierlich bis zu ihrem 18. Lebensjahr. Das ist bisher meist nicht organisiert. Die Systeme von Jugendhilfe und Gesundheit müssen mitein­ander arbeiten, damit die Kinder einen Schutz haben. Familien­zentren müssten sich viel stärker dieses Themas annehmen

und sowohl im präventiven Bereich mehr anbieten als auch zu den ernsten Fragen von schwerer Krankheit und Tod. Aber Kinderschutz heißt für mich nicht immer, dass die Kinder von ihren Eltern wegkommen.Bedeutet es eine Traumatisierung für ein Kind, wenn es erfährt, dass seine Mutter an einer unheilbaren Krankheit leidet und sich zum Beispiel nie mehr richtig bewegen können wird?Eine traumatische Situation ist das immer, da kann ein Kind vorher total gesund und stabil gewesen sein. Die Frage ist im­mer, wird etwas tabuisiert, müssen die Kinder viel tragen, ha­ben sie diesen Unfall oder die Geschichte selber miterlebt? Eine Traumatisierung bedeutet, dass das Kind oder am besten die gesamte Familie begleitet werden muss. Kinder sind stark, schaffen eine ganze Menge, Krisen und Krankheit gehören zum Leben dazu. Aber dass so etwas eine schwierige Situation ist und traumatisierend, das ist keine Frage. Wer sorgt dafür, dass Familien wissen, wo sie Hilfe finden kön-nen, dass erkannt wird, wenn Kinder überfordert sind?Das Problem ist: die Helfersysteme sind völlig unkoordiniert. Es gibt das medizinische System über die Krankenkasse, den ganzen Bereich der öffentlichen Gesundheitspflege, und es gibt das Jugendhilfesystem. Ärzte, die sich um den Patienten kümmern, denken oft nicht an die Kinder. Wichtig wäre aber ein funktionierendes Netzwerk, wären Schnittstellen zwi­schen den Systemen. Bisher wird das System der Familie nicht ausreichend gestützt, sondern die Unterstützung bezieht sich ausschließlich auf die Einzelperson, die krank ist.

„ Bisher wird das System der Familie nicht ausreichend gestützt.“

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Besuch in einer Einrichtung

Am Anfang stand der Rütli-Schock. 2006 hatten die Leh-rer einer Hauptschule im Berliner Bezirk Neukölln einen

„Brandbrief“ an den Senat gerichtet und die Auflösung der Hauptschule „in dieser Zusammensetzung“ gefordert. 83 Pro-zent Schüler mit Migrationshintergrund, 35 Prozent aus ara-bischen Familien, die Atmosphäre aggressiv – die Lehrer an der Rütli-Schule waren am Ende ihrer Kraft. So rückten die Probleme mit arabischen Jugendlichen wieder in den Blick. Denn der große Teil der jugendlichen Intensivtäter, die immer wieder klauen, andere „abziehen“ oder massiv gewalttätig werden, ist arabischer Herkunft. Aber wie sollte man diese Fa-milien erreichen? Das Evangelische Jugend- und Fürsorgewerk (EJF) Lazarus, in Berlin größter freier Träger in der Behinder-tenhilfe und einer der größten in der Jugendarbeit, wandte sich an die jordanische Gemeinde um Hilfe – und schon bald zeigten auch weitere arabische Vereine Interesse.

Ali Maarouf, gebürtiger Palästinenser, der 1977 als Bürger-kriegsflüchtling aus dem Libanon nach Berlin kam, war da- F

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Kosmetikkurse, Kaffee und Männer, die weinenDas Deutsch-Arabische Zentrum in Berlin betreut jugendliche Straftäter und ihre Familien

„Die Mehrheit in der arabischen Gemeinde in Berlin sind gut integrierte Akademiker und Fachleute, viele Intellektuelle“, sagt Michael Piekara. Er ist Referent für Jugendhilfe in der Geschäftsleitung des Evangelischen Jugend- und Fürsorge-werks (EJF) und hat das „Deutsch-Arabische Zentrum für Bil-dung und Integration“ in Berlin-Neukölln mit aufgebaut. Dort kümmert man sich meist um den kleineren, aber auffälligeren Teil der Community: jugendliche Straftäter, Schulabbrecher und ihre Familien. Das Zentrum wird in Kooperation vom EJF und den Berliner arabischen Vereinen – inzwischen sind es 14 – getragen. Das EJF kommt für Miete und Betriebskosten auf, ein kleines Budget für Veranstaltungen wird durch Spen-den und EJF-Eigenmittel gedeckt. Öffentliches Geld gibt es für einzelne Angebote: Einzelbetreuung von straffälligen Ju-gendlichen etwa oder für den interkulturellen Erziehungslosen.

Deutsch-Arabisches Zentrum für Bildung und Integration

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19Spezial 2010Diakonie magazin

mals in der arabischen Kulturgesellschaft aktiv: „Uns war klar, dass jetzt etwas geschehen musste.“ Schließlich kannte man in der arabischen Community die Verhältnisse nur zu gut, aus denen viele junge Gewalttäter hervorgehen: Große Familien, die in Berlin auf engstem Raum leben müssen, wo die Aggres-sionen wie im Treibhaus wachsen. Menschen, die auf die Ent-scheidung über ihr Asylverfahren warten oder hier als „Gedul-dete“ leben, von einer Verlängerung der Papiere zur nächsten. „Viele der Eltern dürfen nicht arbeiten, die Koffer stehen in Türnähe. Das macht psychisch instabil, das ist eine ganz ande-re Welt als die der türkischen Jugendlichen, der Gastarbeiter-kinder“, sagt Ali Maarouf.

Den üblichen Weg in die Straffälligkeit kann sein Kollege Is-mail Ünsal mit wenigen Worten beschreiben: „Sobald sie etwa zehn sind, leben vor allem die Jungs draußen. Aber anders als in arabischen Dörfern fehlt das stabile Netz der älteren Ver-wandten, die sich kümmern und auf sie aufpassen. Das Netz dieser Kinder sind Schulschwänzer.“ Und deren Freizeitgestal-tung geht, anders als im Dorf, rasch ins Geld – so rutschen die Jungen umstandslos in die Beschaffungskriminalität.

Hier setzt seit dem vergangenen Jahr das Deutsch-Arabi-sche Zentrum an, das aus der Zusammenarbeit des EJF Lazarus mit den arabischen Vereinen – mittlerweile sind es vierzehn – hervorging. „Wir wollen hier die Gemeinde stärken“, sagt Is-mail Ünsal. Ünsal, der sich besonders um junge Straftäter kümmert, Maarouf, der als interkultureller Erziehungslotse tätig ist, und seine Kolleginnen und Kollegen begleiten Eltern zum Jugendamt, dessen Logik und Formulare nicht leicht zu verstehen sind, zu den Lehrern ihrer Kinder, sogar zu Klassen-elternversammlungen. Sie sprechen arabisch, die Sprache ih-rer Klientel, sie kennen deren Lebensumstände; so bildet sich Vertrauen. Und sie sind da, wenn sich Schulen melden, weil Konflikte entschärft werden müssen, für die es kulturelles Fin-gerspitzengefühl braucht.

Die beteiligten Vereine haben sich zudem eigene Aufgaben gesetzt: So macht die Jordanische Gemeinde Väterarbeit, die palästinensischen Landsleute geben Nachhilfe für Grund-schüler, die Arabische Kulturgesellschaft nennt ihr Projekt „Abschluss schaffen“ und gleich drei Partner kümmern sich um das Mädchenprojekt „Al-Banat“ („Das Mädchen“). Und wenn die jungen Mütter und Mädchen der Meinung sind, dass sie einen Näh- und einen Kosmetikkurs brauchen, dann darf auch das sein, ebenso wie das „Projekt Folklore“, für das der Wohltätigkeitsverein Al-Huleh verantwortlich zeichnet. Dazu gibt es Vorträge und Diskussionsveranstaltungen: Eine arabischstämmige Berliner Ärztin informierte kürzlich über Schwangerschaft, Stillen und Ernährung, die palästinensische Wissenschaftlerin und Friedensaktivistin Sumaya Farhat- Naser berichtete über Konfliktbewältigungsarbeit von Frauen in Palästina. Aber vor allem ist das Deutsch-Arabische Zentrum, ein vierstöckiges Wohnhaus in der Neuköllner Uthmann-straße, täglich von zehn bis 18 Uhr offen. Und wer kommt, wird nicht sofort mit einem Beratungsgespräch überfallen. „Wir beginnen immer mit viel Kaffee“, sagt Ismail Ünsal.

Spektrum

Andrea Dernbach

Miteinander reden, voneinander lernen – und die Beratungs­angebote annehmen. Letzteres­ gelingt im Deuts­ch-Arabis­chen Zentrum Berlin- Neukölln den Frauen bes­s­er als­ den Männern

Etwa achtzig arabische Familien betreut das DAZ inzwischen, sechs von ihnen besonders intensiv. Die, die kommen, sagt Ali Maarouf, sind zu achtzig Prozent Frauen. Die meisten von ihnen seien geschieden oder lebten von ihren Männern ge-trennt. Und er hat auch bemerkt: „Es ändert sich etwas.“ Die Frauen seien es eben, die sich um die Kinder kümmerten und irgendwann feststellten, dass sie allein und ohne den Pascha an ihrer Seite besser lebten, der nur vorgebe, das Geld für die Familie heranzuschaffen. „Die Frauen sagen sich schließlich: Ins Jobcenter kann ich auch selbst gehen.“ Anders als die Män-ner seien sie auch bereit, sich in schwierigen Situationen hel-fen zu lassen. Mit dem, was ihnen das Leben in Deutschland abfordert – aushandeln, kommunizieren, Lösungen suchen – „kommen die Frauen besser klar“. Natürlich kommen auch Männer. Aber, so Ismail Ünsal: „Die Männer, die hierherkom-men, die weinen.“

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Ralf* ist 19 Jahre alt, er hat keinen Job, keine Ausbildung und schuldet seinen Freunden schon 350 Euro – weil

er, wie er selbst sagt, einfach gern und oft „Party macht“. Die gleichaltrige Sarah* hat eine dreijährige Tochter und muss jetzt Privatinsolvenz anmelden. Sven*, 27, und derzeit in Aus-bildung, zahlt in winzigen Raten 15.000 Euro mit Zins und Zinseszins zurück – diese Schulden entstanden vor drei Jah-ren nach einem Unfall mit einem Mietwagen, bei dem er nicht ausreichend versichert war.

Die drei jungen Leute sitzen mit etwa 50 Gleichaltrigen in einer Informationsveranstaltung der Gate-Schuldnerbera-tung des Diakonischen Werks in Lübeck. Sozialpädagoge Rü-diger Hinke erklärt an echten Beispielen, wie schnell Schul-den entstehen, was Überschuldung ist und welche Hilfen die Schuldnerberatung geben kann – oder eben auch nicht, etwa bei Schulden aus kriminellen (Drogen-) Geschäften oder den finanziellen Folgen von Schlägereien mit Körperver-letzung.

Das Publikum weiß, wovon Hinke spricht – hier haben viele noch keine Erfahrung mit Beruf und Geldverdienen, aber trotz ihres jugendlichen Alters Erfahrungen darin, ein finanzielles Loch zu stopfen, indem man ein anderes aufreißt. „Und auf einmal will die ganze Welt von dir Geld!“, entfährt es einem Teilnehmer so spontan wie deutlich. Das ist der Punkt, von dem an nichts mehr so ist wie vorher, nun dreht sich der halbe

„�Die�ganze�Welt��will�Geld�von�dir“Mit Handy und Partymachen können Jugendliche schnell in die Schuldenspirale geraten. Die Schuldnerberatung zeigt Auswege

Rund 1,8 bis 2,5 Millionen Haushalte in Deutschland sind überschuldet, Fachleute rechnen mit einem weiteren Anstieg. Erkennbar ist dies auch an einer erhöhten Zahl Hilfesuchen-der unter 25-Jährigen sowie von Rentnern. Die Diakonischen Werke der Landeskirchen geben Auskunft über die Schuld-nerberatungsstellen der Diakonie.

www.diakonie.de/landesverbaende-1323.htm

Ein�Loch�stopfen,�ein�anderes�aufreißen

Lebenskunst

*Namen von der Redaktion geändert

Alltag darum, dem Drängen der Gläubiger irgendwie nach-zukommen. „Überschuldung“, erklärt Hinke, „bedeutet eine komplette Änderung der Lebenssituation, wenn Verpflich-tungen nicht mehr schnell genug reduziert werden können und die Banken Geld sehen wollen.“ Bei überschuldeten Privatpersonen und Haushalten seien in der Regel Banken die Gläubiger (53 Prozent), aber oft auch Gewerbetreibende (fast 23 Prozent). Viele geraten in die Schuldenfalle, weil sie teure Dispo-Kredite in Anspruch nehmen, Ratenkäufe oder Internet-geschäfte tätigen. Junge Leuten wohnen in der Ausbildung oft noch bei den Eltern und kommen dann mit ihrem Geld zu-recht. Die erste eigene Wohnung und alle damit einhergehen-den Verpflichtungen erfordern dann plötzlich eine völlig andere Finanzplanung, da kommt so manchem die Übersicht abhanden. Da werden Möbel gekauft, das Auto kostet Geld, und auch der Kühlschrank will erstens angeschafft und zwei-tens gefüllt sein.

„Mangelnde Finanzkompetenz“, nennt das Luisa Braun-gardt von der Schuldnerberatung des Diakonischen Werks Fürth in Bayern. „Geld ist immer noch ein Tabuthema in vie-len Familien“, weiß sie aus jahrelanger Praxis. Als häufigen Einstieg in eine Schuldenspirale erkennen sie und ihre Kolle-gen nach wie vor Handys. „Mit der Volljährigkeit wird die eigene Unterschrift plötzlich wertvoll – das begreifen viele zu spät.“ Und wenn erst der zweite oder gar dritte Handyvertrag „für Freunde“ abgeschlossen ist, geht finanziell schnell gar nichts mehr.

Etwa ein Zehntel der Klienten in Fürth sind jünger als 25 Jahre. Wie ihr Kollege Hinke in Lübeck sieht Braungardt des-halb in der Prävention, in der Vermittlung von Basiswissen über den Umgang mit Geld einen zentralen Hilfsansatz. Luisa Braungardt geht auf Anfrage in Schulen, für Veranstaltungen oder Informationsgespräche. Aus ihrer Praxis hat sie außer-dem ein Buch mit Arbeitsmaterialien für Schule und Jugend-arbeit zum Erlernen des richtigen Umgangs mit Geld verfasst. Zielgruppen der Präventionsarbeit sind hier – wie auch in Lübeck – Schüler ab der 7. Klasse und Auszubildende, im Nor-

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den auch Eltern von Kindergartenkindern, alleinerziehende Mütter und andere Gruppen. „Denn“, so Rüdiger Hinke, „es geht zwar ‚nur‘ um Geld, aber in unserer Gesellschaft wird nun mal alles vom Geld bestimmt!“

Ralf hat demnächst ein Vorstellungsgespräch zur Ausbil­dung als Bürokaufmann; außerdem will er seinen Zigaretten­konsum einschränken, um Geld zu sparen. Sven hat Glück: Er hat auf den Rat der Beratungsstelle gehört und sich bei seiner Familie geoutet: Durch ein zinsloses Darlehen aus dem Ver­

wandtenkreis kann er die Schulden jetzt auf einen Schlag be­gleichen und bei der Tilgung zügiger vorankommen als bis­her. Die alleinerziehende Sarah hat sieben lange Jahre vor sich, bis ihre Schulden durch eine Verbraucherinsolvenz getilgt sein werden. Sie wird jetzt zunächst ihren Realschulabschluss nachholen und blickt wieder etwas gelassener in die Zukunft für sich und ihr Kind; die Schuldnerberatung wird sie auf dem Weg in ein Leben mit geregelten Finanzen begleiten.

Susanne Hassen

Super, die neuen Tops, und eigentlich nicht teuer! Da kann man doch gleich eins mehr mitnehmen . . .Die Verführung, schnell mal Geld auszugeben, lauert überall, und Bares gibt’s schnell und unkompliziert am Auto-maten. Am Computer genügt ein Klick, um zu kaufen und zu bezahlen . . .

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Gut, dass Mama noch so jung ist! Gut aber auch, dass die jungen Mamas von Andrew und Jerome Menschen haben, die ihnen helfen, Arbeit und Kinderbetreuung zu finden, durchzuhalten und Klarheit zu gewinnen. Das Projekt „Junge Mütter auf dem Weg“ in Berlin unterstützt Teenagermütter – und wurde beim Ideenwettbewerb des Bundesarbeitsministeriums „Gute Arbeit für Alleinerziehende“ ausgezeichnet

Vorstellung eines Projekts

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Es ist Spätnachmittag, die meisten Kindergartenfreunde sind schon weg, ein paar andere fädeln sich gerade in

ihre Mäntelchen, Anoraks und Schuhe. Der kleine Junge steht erwartungsvoll im Flur. Und da ist sie. „Hallo Mama!“, sagt er und lächelt. Die junge Frau läuft auf ihn zu und nimmt ihn in den Arm.

Eine Szene, wie sie sich täglich zigtausendfach in Kitas und Kindergärten abspielt. Nur, dass Mama in diesem Fall auch ohne weiteres als große Schwester ihres Sohnes durchginge. Nathalie Kortebusch ist erst 23 Jahre alt. Jerome bekam sie mit 19. Ein Wunschkind. Mit seinem Vater ist sie seit neun Jahren zusammen. Und wer glaubt, eine Teenagerschwanger-

schaft könne nur in einer Elendsgeschichte enden, den be-lehrt sie gern eines Besseren: „So wie ich jetzt bin, bin ich durch meinen Sohn. Er hat mir geholfen, auf allen Ebenen.“

Dabei hat Nathalie Kortebusch einiges erlebt, seit es Je-rome gibt. Tatsächlich vom ersten Tag an. Als sie den Schwan-gerschaftstest gemacht hatte und abends nach Hause kam, war der Mann nicht da, mit dem sie die Freude über die Nach-richt teilen und das gemeinsame Kind großziehen wollte. Er saß im Abschiebegewahrsam. Nathalie Kortebuschs Freund ist Nigerianer, er hat seit 2001 eine Aufenthaltsgenehmigung für Portugal, ein EU-Land wie Deutschland, aber hier galt das portugiesische Papier nicht. Er wurde nach Portugal abge-

Simona Dewitz und ihr Sohn Andrew (links) haben Nathalie Kortebusch und den kleinen Jerome im Evangelischen Johan­nesstift kennengelernt. Beide Mütter machen dort eine Aus­bildung – und schaffen es trotz­dem, Zeit mit ihren Söhnen zu verbringen

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Das Programm „Junge Mütter auf dem Weg“ des Evangeli-schen Johannesstifts in Berlin-Spandau startete im Oktober 2007 mit 20 jungen Müttern zwischen 18 und 25 Jahren – die meisten in Elternzeit –, die ihren Lebensunterhalt vom Job-center Spandau erhielten. Es zielt darauf, den jungen, meist alleinerziehenden Frauen bis zum Ende der Elternzeit den Weg zur Berufstätigkeit zu ebnen – die meisten hatten für die Zeit danach keine Vorstellungen. Zu Beginn des Projekts steht eine Standortbestimmung: Die jungen Frauen sollen sich über ihre Wünsche für die Zukunft und ihre Stärken und Schwächen klar werden. Das Projekt bietet ihnen danach Be-werbungstraining und PC-Kurse, vermittelt Praktika, hilft bei der Stellensuche und stellt während der ganzen Zeit die Be-treuung ihrer Kinder sicher. Kurse und Seminare sind auf täg-lich fünf Stunden begrenzt. Regelmäßige Treffen der gesamt-en Gruppe sollen den jungen Müttern helfen, ihre sozialen Fähigkeiten zu stärken und Netze zu bilden. Daneben bekom-men sie bei Bedarf Termine für individuelle Beratung und Hilfe. Der erste Durchgang von „Junge Mütter auf dem Weg“ wurde zur Hälfte vom Europäischen Sozialfonds, zu 30 Pro-zent mit Geldern des Bundes und zu einem Fünftel vom Job-center Spandau finanziert; er endete im Sommer 2008.

Projekt „Junge Mütter auf dem Weg“

schoben, während seine Freundin in Berlin alle Hebel in Be­wegung setzte, um ihn zurückzubekommen. Selbst nach Lis­sabon flog sie. „Für uns war klar, dass wir zusammenbleiben. In der deutschen Botschaft haben sie mir gesagt, das solle ich mir gut überlegen.“ Das meinte auch das Jugendamt. Das junge Paar setzte sich durch – wenn auch spät: Der Vater sah den Sohn zum ersten Mal, als er schon sechs Monate war. Jetzt lebt die junge Familie zusammen in einer kleinen Woh­nung in Spandau.

Und Nathalie Kortebusch hat Arbeit. Das wollte sie von An­fang an, aber auch darum musste sie kämpfen. In die Praxis des Arztes, der mit seinen Angestellten rüde umsprang, wollte die gelernte Arzthelferin nach der Elternzeit nicht zurück, aber: „Vom Arbeitsamt kam erst mal wenig.“ Erst als sie dort mit einem neuen Berufsberater sprach, konnte der weiter­helfen – er brachte sie mit dem Evangelischen Johannesstift und dessen Programm „Junge Mütter auf dem Weg“ in Kon­takt. Dort macht sie jetzt eine Ausbildung zur Bürokauffrau und hofft, danach übernommen zu werden.

Im Johannesstift fand auch Simona Dewitz Hilfe. Sie ist im zweiten Ausbildungsjahr in der Abteilung Kommunikation. Der Arbeitsplatz der angehenden Kauffrau für Marketing ist ein geradezu lauschiges Büro auf dem parkartigen Gelände; das Licht, das durch die altmodischen Fenster fällt, filtern große alte Bäume. Dewitz ist ebenso jung wie Kortebusch und ebenfalls Mutter, aber mit dem Vater des vierjährigen Andrew hatte sie weniger Glück. Schon während der Schwangerschaft – Simona stand ein Jahr vor dem Abitur – beichtete er ihr Affä­ren mit anderen Frauen. „Er hat sich anfangs auf das Kind gefreut, sich dann aber von mir distanziert und sich später nicht genug um Andrew gekümmert“, sagt sie. Das Seminar, das sie damals im Diakonieprogramm besuchte, habe sie überhaupt erst dazu gebracht, sich über ihre Lage klarzuwer­den – und auch den Vater ihres Kindes zu fragen, wo er sich sehe. Das Ergebnis war die Trennung – aber für Dewitz war das auch ein Neuanfang: „Ich habe mich auf einmal wie befreit gefühlt und gemerkt, jetzt geht’s weiter.“

Ein typischer Fall für Karin Hofert. Wichtigster Punkt ihrer Arbeit mit den jungen Müttern sei „auf jeden Fall die sozial­pädagogische Betreuung“, sagt die stellvertretende Leiterin der Jugendhilfe im Evangelischen Johannesstift in Berlin­Spandau, das das Programm „Junge Mütter auf dem Weg“ ent­wickelt hat. In deren Leben sei „so viel zu klären und zu puz­zeln“. Das können die Probleme mit dem Freund sein, aber auch „die enorme soziale Isolation, in die junge Mütter oft geraten“, sagt Hofer. „Das hat uns selbst überrascht.“ Stress in der Schule und in der Familie. Oder die Freundinnen, die in die Disko wollen – aber das Baby will versorgt sein. Das hält nicht jeder Freundeskreis aus. „Man ist out als Mutter.“ Und während die meisten jungen Frauen die Geburt ihres Kindes als Höhepunkt ihres bisherigen Lebens beschreiben, geht es danach oft rapide bergab, oft noch einmal durch die Trennung vom Freund. Dass nämlich die jungen Väter sich ihrer Verant­wortung nicht stellen, sei „ein durchgängiges Muster“.

Simona Dewitz wird Marketing-kauffrau. Mit dem Vater von Andrew lebt sie schon lange nicht mehr zusammen. Die Tren-nung war für sie auch ein Neu-anfang: „Ich habe mich auf einmal wie befreit gefühlt und gemerkt: Jetzt geht’s weiter!“

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Bei Nathalie Kortebusch und Simona Dewitz ist das längst geschehen. Dewitz hat es geholfen, im Projekt immer offene Ohren zu finden und dort andere „sehr entschlossene Mütter“ kennenzulernen, die wie sie ihrem Kind etwas anderes bieten wollten als eine arbeitslose Mutter. Die Ausbildung macht ihr großen Spaß, sagt sie, so sehr, dass sie sie nicht einmal ab­kürzen möchte, obwohl sie das könnte.

Der kleine Andrew ist glücklich in der Kita, die Mutter mit ihrer Arbeit – zumal sie während des Praktikums in einer Wer­beagentur auch feststellen musste, dass sie mit dem Johannes­stift Glück gehabt hat, weil nicht jeder Arbeitsplatz so ein­gerichtet wird, dass er auch zu jungen Eltern passt. „Ich fühle mich inzwischen sehr wohl“, sagte Simona Dewitz. Inzwischen ist für sie auch eine weitere Liebesbeziehung in die Brüche gegangen. Doch das konnte am guten Grundgefühl nichts ändern.

Nein, erklärt Nathalie Kortebusch, jung ein Kind zu haben und zu arbeiten, „das ist überhaupt nicht leicht“. Aber seit es Jerome gibt, habe sie auch viel mehr Klarheit darüber gefun­den, was sie aus ihrem Leben machen will – und dabei fest­gestellt: „Es ist vieles machbar. Man darf nur nicht einfach die Hände im Schoß falten.“

Andrea Dernbach

Den Anstoß für das Mütterprojekt gab allerdings kein Sozial­pädagoge, sondern das Spandauer Jobcenter. Für die spezi­ellen Probleme der Teenagermütter habe man leider weder ge­nug Zeit noch Know­how, hieß es dort, und im Johannesstift gebe es doch schon Erfahrung mit jungen Müttern. Ob man nicht mal aufschreiben könne, wie sich Hilfe organisieren las­se und wie man die hinbekomme? Man konnte. Und entwarf das Programm von „Junge Mütter auf dem Weg“. Das Ziel: Den jungen Frauen möglichst schon während der Elternzeit den Weg ins Erwerbsleben bahnen und verhindern, dass sie auf Dauer auf Geld vom Staat angewiesen sind. Der Weg dahin: Kinderbetreuung organisieren, die jungen Frauen be­raten, welche Möglichkeiten sie später selbst dafür haben, ihnen helfen, ihre Stärken, Schwächen, Berufswünsche her­auszufinden und sie bei Praktika, Bewerbungen und im Be­hördendschungel zu unterstützen. Und ihnen Möglichkeiten aufzeigen, wie sich Kind und Beruf auch jenseits der be­kannten Wege vereinbaren lassen, zum Beispiel durch eine Teilzeitausbildung. Sechs statt acht Stunden täglich – das dürfte jeder Betrieb anbieten, sagt Karin Hofert. Manchmal müsse man den jungen Frauen auch einen gesunden Ego­ismus zurückgeben, ihnen sagen: „Eure Kinder wachsen und gedeihen, jetzt seid ihr wieder dran.“

Das Projekt lief 2007 bis 2008 zehn Monate lang. „Das Job­center war sehr zufrieden“, sagt Karin Hofert, „aber schließlich gab es keine Projektmittel mehr.“ Doch die gute Idee hat über­lebt: „Junge Mütter auf dem Weg“ wurde im Ideenwettbewerb „Gute Arbeit für Alleinerziehende“ des Bundesarbeitsminis­teriums ausgezeichnet und läuft jetzt für weitere drei Jahre. Anfangs mit zehn Müttern, jetzt sind es 21. Das Projekt ist be­kannter geworden, es spricht sich auch unter den jungen Müttern selbst herum, dass es Hilfe für sie gibt. Und davon jetzt sogar mehr: Statt der beiden halben Stellen stehen nun eine Ganztags­ und eine Dreiviertelstelle zur Verfügung – und damit mehr Zeit für die Frauen. Das hatte sich Karin Hofert nach den Anfangserfahrungen am meisten gewünscht. Es sei eben manchmal nötig, dass sich jemand Zeit nimmt zum Zuhören, „auch mal eine Stunde lang“.

Einige der Frauen haben eine Menge hinter sich, eine belas­tende Familiengeschichte, eine Schullaufbahn, die nur bergab führte. Oder sie haben bereits so viele Schulden, dass sie nicht mehr glauben, sie jemals wieder loswerden zu können. Einen typischen Verlauf gibt es aber nicht. Womit sich sehr junge Mütter herumschlagen müssten, sei auch nicht zwingend ein Bildungsproblem – einige aus Hoferts Klientel haben, wie Si­mona Dewitz, Abitur. Deswegen sei es wichtig, auf jede einzel­ne Frau zuzugehen. Dass sich selbst dann nicht alles erreichen lässt, weiß sie auch. Zu Beginn erschienen einige der jungen Mütter gar nicht erst oder brachen das Programm bald ab: „Natürlich gibt es die, die schlicht keine Lust haben zu arbei­ten. Andere finden es auch in Ordnung, einfach das nächste Kind zu bekommen. Manche stecken schon tief in Schulden und haben sich praktisch aufgegeben. Und bei anderen platzt der Knoten vielleicht auch erst später.“

Nathalie Kortebusch wollte nach Jeromes Geburt nicht zurück in ihren Beruf als Zahn-arzthelferin. Jetzt macht sie eine Ausbildung als Bürokauf-frau, um Jerome kümmert sie sich zusammen mit dessen Vater. „Es ist vieles machbar“, sagt die 23-Jährige. „Man darf nur nicht einfach die Hände im Schoß falten“

Lebenskunst

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Frau Dr. Kees, das neue Unterhaltsrecht ist vor zwei Jah-ren in Kraft getreten. Mütter müssen nun viel früher als zu-

vor ihren eigenen Unterhalt bestreiten, auch wenn sie mehrere kleine Kinder erziehen. Ist das ein Thema für die Frauen, die Sie beraten?In unserer Beratungsstelle kaum. Das hat aber damit zu tun, dass die Menschen hier in Brandenburg und im Landkreis Dah-me-Spreewald sowieso sehr wenig Geld haben. Wenn es zur Scheidung kommt, müssen ja meistens die Männer den Unter-halt zahlen, da die Kinder bei der Mutter bleiben. Die Väter aber haben meist gerade mal das Geld, um den Kindesunter-halt zu finanzieren, und oft gibt es nicht einmal hier befriedi-gende Lösungen, denn die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch, die Verdienstmöglichkeiten sind begrenzt. Arbeiten gehen, womöglich sogar ganztags, wenn das jüngste Kind drei Jahre ist: Können die Frauen das überhaupt leisten?Leider ist noch nicht wirklich klar, wie das Gesetz gemeint ist. Klar ist immerhin, dass die Frau angehalten wird, ab dem drit-ten Geburtstag des jüngsten Kindes arbeiten zu gehen. Es wird durchaus eingeräumt, dass angemessene Betreuungsmög-lichkeiten gewährleistet sein müssen. Wenn es die nicht gibt, soll der Ehegattenunterhalt verlängert werden. Definitiv hat aber das neue Gesetz den Druck auf die Frauen erhöht, früh in den Beruf zu gehen und so viel wie möglich zu arbeiten. So-fern sie das nicht ohnehin schon mussten, weil die Finanz-mittel knapp sind.Eine Mutter, die mehrere Kinder hat, mit altersabhängig sehr un-terschiedlichen Bedürfnissen, steht ja ohnehin vor vielen Her-

ausforderungen. Was bedeutet es für die Kinder, wenn die Mut-ter zusätzlich durch einen Beruf voll gefordert ist?Alleinerziehende sind ohnehin schon sehr belastet. Mit Multi-tasking ist das beschönigend umschrieben. Das verstärkt sich jetzt sicher, wenn sie noch früher in die Berufstätigkeit zu-rückmüssen. Natürlich hat Unterhalt für die Frauen, also Ehegattenunterhalt, immer positive Auswirkungen für die Kinder. Wenn eine Mutter mehr finanzielle Möglichkeiten durch den Ehegattenunterhalt hat, kann sie ihren Kindern mehr bieten. Sie kann zum Beispiel eine bessere Wohnung mieten oder mehr Freizeitangebote machen, mehr Sportun-terricht, musischen Unterricht, Nachhilfe finanzieren. Das könnte sich jetzt verschieben, wenn die Frauen noch weniger finanzielle Möglichkeiten haben.Eine Frau hat also den ganzen Tag gearbeitet, auch da ist sie ge-fordert. Dann kommt sie nach Hause, dort warten Wäsche, Woh-nung, Einkaufen, Essenzubereiten; und es warten die Kinder, die ihrerseits anstrengende Tage in Hort und Schule hatten. Es gibt rein rechnerisch nur noch wenig „Familienzeit“, alle sind ange-spannt, die Kinder sind müde, sie haben Redebedarf, Fragen, brauchen Hausaufgabenhilfe . . . Wie viel Sicherheit, Ruhe, Stabi-lität und Geborgenheit können Kinder in einer solchen Situation erfahren?Das hängt sehr stark von der Persönlichkeit der Mutter ab. Wenn eine Mutter zum Beispiel sagt: Ich komme von der Ar-beit, ich bin erschöpft, der Haushalt wartet, aber ich nehme mir jetzt erst mal in Ruhe Zeit für mein Kind, meine Kinder, dann tut das den Kindern gut. Hat eine Mutter diese Ruhe

Dr. Gabriele Kees, Diplompäda-gogin und ausgebildete Ehe-, Lebens- und Schwangerschafts-konfliktberaterin, ist im Diako-nischen Werk des Kirchenkreises Lübben als Beraterin tätig. Zu-gleich ist sie am Evangelischen Zentralinstitut in Berlin Gast-dozentin in der Ausbildung künf-tiger Schwangerschaftskonflikt-beraterinnen

Die Mütter baden es aus Das neue Unterhaltsrecht zwingt auch Frauen mit kleinen Kinder zur Berufstätigkeit. Dabei zeigt die Beratungspraxis: Alleinerziehende sind ohnehin zu stark belastet

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nicht oder setzt sie ihre Schwerpunkte anders, dann bleibt für die Kinder wenig Zeit. Es spielt auch das Alter der Kinder eine Rolle sowie ihre Art der Betreuung. Kommt ein Kind aus einer guten Kindertagesstätte und die Mutter kann nachmittags deutlich machen: Auch hier bist du erst mal das Wichtigste – dann hat das Kind es gut. Schwieriger ist es, wenn ein Kind aus einem vollen, lauten Hort kommt, die Wohnverhältnisse be­engt sind und die Mutter zu erschöpft ist, um sich ihrem Kind in Ruhe zu widmen. Besonders belastend ist es, wenn die Frau­en noch gerichtlich klären lassen müssen, ob ihnen Ehegatten­unterhalt zusteht oder nicht. Das wirkt sich natürlich auf die Kinder aus.Was könnte das Gesetz für junge, glücklich berufstätige Frauen bedeuten, die sich binden wollen, womöglich eine Familie pla-nen und jetzt vor der Frage stehen: Kinder ja oder nein? Junge Frauen müssen sich heute sehr klarmachen, dass sie im Falle einer Trennung – von der ein Paar natürlich erst mal nicht ausgeht – möglichst schnell in ihren Beruf zurückkeh­ren müssen, wollen sie Nachteile für sich vermeiden. Sich eine längere Karriereunterbrechung zu leisten, ist im Hin­blick auf ihre Einkommensmöglichkeiten und Rentenanwart­schaften nicht mehr sinnvoll und nicht empfehlenswert. Es gibt natürlich die Möglichkeit, dass Paare unabhängig vom Gesetz per Ehevertrag regeln, wer wie lange aus dem Beruf aussteigt und wie im Zweifelsfall der Ehegattenunterhalt aus­sieht. Als das neue Gesetz verabschiedet wurde, gab es noch gar kein flächendeckendes Netz an adäquater Frühbetreuung, die Vor-

aussetzungen für die eingeforderte Berufstätigkeit der Mütter waren also gar nicht geschaffen . . .Das hätte gekoppelt werden müssen. Das Ehegattenunterhalts­gesetz hätte erst verabschiedet werden sollen, nachdem ein engmaschiges Kinderbetreuungsnetz sichergestellt ist. Auch sonst geht das Gesetz ziemlich an den gesellschaftlichen Reali­täten vorbei. In der Region zum Beispiel, in der ich arbeite, ist es für Frauen schwer, eine Arbeit zu finden. Und da Frauen ja oft im Dienstleistungssektor arbeiten – als Friseurin, als Ver­käuferin – ist es sowieso ganz unrealistisch, dass sie voll ein­steigen. Wer nimmt denn eine Frau mit zwei, drei kleinen Kin­dern als Verkäuferin, wenn klar ist, die wird immer wieder mal ausfallen, weil ein Kind krank ist? Und sie kann die geforder­ten Arbeitszeiten gar nicht abdecken, weil es Kindereinrich­tungen mit solchen Zeiten gar nicht gibt. Das alles knirscht, das ist nicht aufeinander abgestimmt.Wer ist am Ende der Leidtragende?Na, das sind die Mütter mit den Kindern, weil die sich am Ende immer finanziell einschränken müssen. Es ist ja auch gar nicht so, dass Frauen nicht arbeiten wollen, die meisten würden ja gern arbeiten, in Teilzeit zum Beispiel. Und wenn sie das dürf­ten, würden sie auch emotional besser mit der Situation klar­kommen. Mein Eindruck ist, dass es für junge Frauen, die in der ehemaligen DDR sozialisiert worden sind, und auch für Frauen, die in der alten Bundesrepublik aufwuchsen, selbst­verständlich ist, berufstätig zu sein. Die wollen gar nicht redu­ziert werden auf das Mutterdasein. Sich immer nur als Geld­empfängerin sehen müssen, ist ja nicht gerade toll, auch wenn man einen Anspruch darauf hat. Natürlich ist es besser, wenn man stolz und selbstbewusst sagen kann: Ich schaff das auch alleine. Und es ist positiv, dass das Gesetz Frauen ermuntert, aus dieser Falle herauszukommen. Die meisten Frauen müs­sen das sowieso. Wie kommen alleinerziehende Frauen damit zurecht, wenn sie in schlecht bezahlten Jobs arbeiten und zusätzlich Hartz IV bean-tragen müssen?Das sind die sogenannten Aufstocker, und ich weiß, dass es in unserer Region sehr viele davon gibt. Es ist oft so, dass in einer Familie wirklich alle sehr arm sind, so dass die Frauen auch aus ihrer Familie keine Unterstützung erwarten können, weil nie­mand etwas übrig hat. Die Zahl dieser Familien steigt, die Rück­lagen sind aufgebraucht. Was würden Sie einer Mutter empfehlen, die sich nach neuer Rechtslage trennen will oder muss?Erstmal würde ich jede Frau ermuntern zu arbeiten, weil ich glaube, dass es ganz wichtig für das Selbstbewusstsein ist, für das Selbstwertgefühl und für die eigene Identität, sich nicht nur über das Muttersein zu identifizieren. Über die Arbeit kann man Kontakte knüpfen, man erfährt hier Wertschätzung. Aus meiner Berufstätigkeit heraus mit Blick auf die Kinder würde ich immer sagen, es ist wichtig zu schauen, was das für die Kin­der bedeutet.

Die Fragen stellte Barbara-Maria Vahl

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Pflegeschülerinnen und -schüler sind voller Elan und Optimismus – und sie haben einen klaren Blick für das, was auf den Stationen gebraucht wird

„Zeit für die Patienten!“

Reportage

„Einfühlungsvermögen braucht man“, sagt Samson. „Teamfähig muss man sein“, sagt Tabea. „Man muss mit

Nähe und Distanz umgehen können“, findet Laura. „Pflegebe-rufe gehören zu den anstrengendsten Berufen überhaupt“, er-klärt Rebecca. „Und wenn man dann erlebt, dass die notwen-dige Anerkennung ausbleibt, dann ist das demütigend.“Sie mischen sich mit ihren orangefarbenen T-Shirts unter die Menge der 1.300 anderen jugendlichen Kongressteilnehmer und fragen nach, sie klinken sich ein in Diskussionen, sie brin-gen mit ihren Forderungen Leben in eingefahrene Debatten: die zwanzig Pflegeschülerinnnen und -schüler, die auf dem 2. Deutschen DiakonieKongress „zukunft:pflegen“ in die PR-Gruppe gegangen sind, um Erfahrungen darin zu sammeln, wie man seine Anliegen wirkungsvoll vorbringt.

Im Obergeschoss des Berliner Kongresszentrums liegt das für sie eingerichtete Pressezentrum und Redaktionsbüro, hier können sie sich aus dem bunten Kongressgewusel zum Arti-kel- und Nachrichtenschreiben zurückziehen. „Weil wir es wert sind“, heißt die Kampagne, mit der sie für ihre speziellen An-liegen werben.

Sechs von ihnen, Rebecca, Tabea und Laura, Alexandra, Domi-nique und Samson setzten sich ihrerseits in die kleinen Small-Talk-Sessel, um Fragen zu ihrer Berufswahl zu beantworten. Sie sind Überzeugungstäter. Daran, dass sie die richtige Be-rufswahl getroffen haben, gibt es für sie keinen Zweifel. „Ich gehe jeden Morgen mit einem Lächeln zur Arbeit“, sagt Re-becca Nuske aus Xanten, im ersten Ausbildungsjahr zur Alten-pflegerin in einem katholischen Haus in Kevelaer. Der Beruf sei zwar anstrengend, aber ihre Beziehung zu alten Menschen so eng, die seien ihr so nahe, dass sie sich gar nichts anderes vorstellen könne. „Die Tätigkeit einer Krankenschwester ist sehr vielschichtig“, so Dominique Hähnel-Kästner (zweites Ausbildungsjahr im Evangelischen Diakonissenkrankenhaus in Leipzig), „mich interessiert das Medizinische, aber ebenso die Arbeit mit den Menschen.“ Laura Darsow, im dritten Lehr-jahr „Gesundheits- und Krankenpflege“ im Friederikenstift in Hannover, will Menschen Unterstützung geben, sie mag Team-arbeit, die Kommunikation und dass man immer in Bewe-gung ist. Tabea Jakob, ebenfalls im dritten Ausbildungsjahr als Gesundheits- und Krankenpflegeschülerin im Friederikenstift

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in Hannover, begeistert sich für ihren Beruf, „weil man jeden Tag mit neuen Menschen zu tun hat, das ist so abwechslungs-reich, und es gibt immer neue wissenschaftliche Erkenntnisse, die man in die Praxis umsetzen kann“.

Zugleich hebt sie die vielfältigen Arbeits- und Weiter-bildungsmöglichkeiten hervor: „Als Krankenschwester kann ich auch in anderen Pflegeeinrichtungen arbeiten, ich kann in beratender Tätigkeit aktiv werden oder in die Entwicklungs-hilfe gehen.“ Für sich selber sieht sie zwei mögliche Wege. Sie könne den Bachelor of Art Nurse machen, damit könne sie ins Ausland gehen, oder aber sie werde sich so fortbilden, dass sie als Lehrerin in die Krankenpflegeschule gehen könne. Die Entwicklungsmöglichkeiten in ihrem Berufsfeld sieht auch Rebecca. „Was ich gern für mich erreichen würde, das sind Pflegedienstleitung, Wohnbereichsleitung oder auch Palliativ-Care, also Sterbebegleitung“, führt sie auf, aber: „Das ist immer ein Kostenfaktor. Nicht alle Arbeitgeber zahlen die Fortbil-dungen, so hängt es immer davon ab, wo man gerade ist, oder ob man ein Stipendium erhält.“ Fortbildungen sollten öffent-lich gefördert werden, wünscht sie sich.

Alle Pflegeschüler sind sich einig über Grundqualifikati-onen, die man mitbringen sollte. Rebecca findet vor allem wichtig, dass man „Spaß daran hat“, mit älteren Menschen zu sprechen, mit ihnen zu arbeiten. Denn: „Die haben gute Men-schenkenntnis, die bekommen es mit, wenn man selber nicht gut drauf ist.“ Körperlich fit und lernbereit müsse man sein, sagt der 28-jährige Samson, der in Nigeria als Sohn einer Kran-kenschwester aufwuchs und nach zwei Semestern Physik-studium in Heidelberg derzeit seine Ausbildung als Gesund-heits- und Krankenpfleger im Psychiatrischen Zentrum in Wiesloch macht.

Ärgerlich finden die Pflegeschülerinnen und -schüler, dass ihr Beruf ein eher mäßiges Image hat. Sie führen das auf den Schichtdienst und die „nicht so üppige Bezahlung“ zurück. „Frust“ verursacht bei ihnen die gesellschaftliche Einschät-zung aber dort, wo die eigene Leistung unterschätzt wird und die nötige Anerkennung ausbleibt. Die Bezahlung reiche für die Zeit der Ausbildung völlig aus, meinen sie, doch für exami-nierte Kräfte seien höhere Gehälter angemessen.

Durch den Schichtdienst steigen auch die potenziellen Kin-derbetreuungskosten, gibt Alexandra Holst zu bedenken, die wie Dominique im zweiten Ausbildungsjahr im Evangelischen Diakonissenkrankenhaus in Leipzig ist. Und, denkt Laura wei-ter: „Wie deckt man zum Beispiel als Alleinerziehende die not-wendige Kinderbetreuung ab, wenn man morgens um fünf Uhr ins Krankenhaus muss?“

Die Vereinbarkeit des Berufes mit Familie ist ein Thema, das die jungen Frauen beschäftigt. Ganz unterschiedlich be-werten sie die. Es gebe ja Häuser, die sehr flexibel seien. Und von Vorteil sei, dass man nach der Familienpause immer wie-der zurück in den Beruf könne, da der Bedarf so hoch sei.

Dominique Hähnel-Kästner und Alexandra Holst (oberes Foto) sind im zweiten Ausbildungsjahr am Evangelischen Diakonissen-krankenhaus in Leipzig. Beiden ist die spirituelle Dimension ihrer Arbeit sehr wichtig. Laura Darsow (Foto darunter) und Tabea Jakob (re. unten) absol-vieren zum Zeitpunkt des Kon-gresses ihr drittes Lehrjahr im Friederikenstift in Hannover

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Dennoch: Am besten sorge man dafür, dass man für die Kin-der einen Partner mit geregelten Arbeitszeiten zu Hause habe. Aber was ihnen im Hinblick auf ihre künftige Berufstätigkeit wirklich Kopfzerbrechen bereitet, ist die Zeit. Zeit, die fehlt. Ein Mangel, der sich überall bemerkbar macht.

Wenn sie Politiker wären, die auf nichts Rücksicht nehmen müssten, – was würden sie an der aktuellen Situation in ihren Berufssparten verändern? Da fällt ihnen allen dasselbe ein: „Neue Arbeitskräfte rein!“ Aber die gibt es ja nicht, wissen sie, selbst, wenn das Geld da wäre. Eine generelle Umstrukturie-rung sei vonnöten, so Tabea. „Es gibt Tage, die stechen raus, und die machen meinen Beruf wirklich wertvoll. Das sind die, wo ich ein bisschen Zeit hatte, wo ich Patienten, die im Bett liegen, an die Bettkante mobilisiert habe, ihnen geholfen habe, ihr Essen selber zu essen, wo ich mit ihnen reden konn-te“, sagt Tabea. Leider seien diese Tage selten. Alexandra: „Man muss gut abwägen, was man als Erstes macht und wo man mal fünf Minuten abknapsen kann, um mit Leuten zu reden.“

Die schon länger examinierten Kolleginnen, so Tabeas Be-obachtung, erlebten die durch zunehmenden Zeitmangel ent-stehenden Veränderungen im Pflegealltag am intensivsten und litten besonders darunter. Manche von ihnen sagten auch: „Wenn ich meinen Job mache, mache ich ihn auch rich-tig“, und sie nähmen sich Zeit. Mit dem Erfolg, so Tabea, dass dann die anderen das, was liegenbleibt, mitmachen müssen. „Was man sich mal vorgestellt hat unter dem Beruf, das geht verloren“, ergänzt Alexandra. „Man arbeitet nur noch unter Zeitdruck, aber man wollte ja Zeit für Patienten haben.“

Die Zeitnot kann auch das Klima auf der Station beein-trächtigen, haben einige erfahren. „Konkurrenz, Zickenthea-ter, Mobbing, all das kann man erleben“, konstatiert Laura.

Eine kleine Ausstellung als Eye-catcher auf dem Diakonie-Kongress „zukunft:pflegen“. Viele Alltagsgegenstände aus der Pflege von vor 80 Jahren wirken heute skurril

Dominique fürchtet: „Das wirkt sich negativ auf die Arbeit mit dem Patienten aus. Man arbeitet dann im Team nicht so zu-sammen, wie es eigentlich sein sollte.“ Wie auch ihre Mitschü-lerinnen hielte sie regelmäßige Supervisionen auf den Stati-onen für hilfreich. Denn Patienten und Angehörige spürten die Belastung der Mitarbeitenden und das Klima genau, hat Alexandra beobachtet. „Und ein Krankenhaus lebt ganz stark davon, was die Leute darüber sagen!“

Auch für die Ausbildung haben die Pflegeschülerinnen und -schüler Verbesserungsvorschläge. Darüber auf ihren Stati-onen zu sprechen, trauen sich indes die wenigsten: „Man hat da eine Hemmschwelle“, erklären Alexandra und Dominique, denn „von der Beurteilung, die man bekommt, hängt so viel ab“. Die meisten hätten mal mit der Hoffnung angefangen, et-was zu verändern, dann aber mit Blick auf erhoffte gute Noten lieber Zurückhaltung geübt. Nur Tabea sagt: „Wenn ich eine Plattform bekomme, sage ich immer, was ich nötig finde.“ Und was findet sie nötig? „Die große Kluft zwischen Theorie und Praxis muss überbrückt werden. Das, was wir in der Schule an wissenschaftlichen Erkenntnissen lernen, können wir auf Station nicht umsetzen, weil es an Zeit fehlt und weil die Exa-minierten, die uns vorgesetzt sind, mit diesem Neuen nichts anfangen können, es gibt keine Offenheit dafür.“

Unter Zeitdruck machten alle alles so, wie sie es schon im-mer gemacht haben. „Und ganz wichtig fände ich Mentoren auf Station, Lehrkräfte, die uns Schüler an die Hand nehmen und zeigen, wie was geht.“ Auch Alexandra bedauert, dass viele Schwestern keine Zeit für die Auszubildenden haben. „Es ist oft so, dass man einfach reingeworfen wird, man muss funktionieren, irgendetwas machen, fühlt sich oft überfordert und hat Angst nachzufragen, weil es dann heißt: Das musst du

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■ Der Beitrag, den Pflegende für unsere Gesellschaft leisten, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es ist nötig, dass anerkennend über die Pflege gesprochen wird, dass der Beruf auch durch bessere Rahmenbedingungen aufgewertet, das Profil geschärft wird. Pflegende sollten sich weiterent­wickeln und Karriere machen können. Es darf nicht sein, dass in diesem Bereich gespart wird, dass zu viel von zu wenigen erwartet wird. Wir brauchen dringend mehr Mitarbeitende und eine stabile Refinanzierung der Personalkosten.

■ Es steht eine Neuorganisation der Aufgaben und Kompe­tenzen im Krankenhaus an. Wir brauchen einen Professio­nenmix in der praktischen Arbeit. Komplizierte Steuerungs­ und Koordinierungsaufgaben müssen neu geordnet und verteilt werden. Es gilt, das Gespräch mit anderen Berufs­gruppen im Krankenhaus zu suchen, auch mit denen, die für die wirtschaftliche Steuerung verantwortlich sind.

■ Das evangelische Profil hat durchaus etwas mit Zeit zu tun, mit Freiraum, sich Patienten zuzuwenden, um auch über existenzielle Fragen zu sprechen. Man muss die Rahmenbe­dingungen dafür schaffen und die Menschen dafür qualifizie­ren. Es geht darum, dass ein Patient von denen, die um ihn herum sind, wahrgenommen wird mit dem, was er jetzt gera­de braucht und die Zuwendung erfährt, die er benötigt. Das ist eine Frage an die Organisation, an die Kultur der Wahr­nehmung. In einer kirchlichen Einrichtung sollte es ein Pro­gramm geben, das die gesamte Mitarbeiterschaft dafür sen­sibilisiert und Strukturen schafft, in denen das möglich ist.

Norbert Groß, Verbandsdirektor Deutscher Evangelischer Krankenhausverband

„Wir brauchen eine Kultur der Wahrnehmung!“

doch schon können! Aber niemand hat es uns bisher gezeigt.“ Rebeccas Wunschliste: „Mehr Personal, mehr Fortbildungen – und Alltagsbegleiter für Demenzkranke.“ Zusätzliche Hilfs-kräfte einzustellen, die einfachere Tätigkeiten übernehmen, das aber sei keine Lösung, das führe zu geringeren Einstel-lungschancen für Schwestern und Pfleger und womöglich zu einem Mangel an Kontakt zum Patienten, so sehen es alle: „Man muss ja den Patienten als Ganzes betrachten, und gera-de bei der Grundpflege lernt man Patienten gut kennen, da kann man gut mit ihnen sprechen“, erklärt Alexandra. Nicht zuletzt seien solche Gelegenheiten auch eine Möglichkeit, mit Kranken über spirituelle Themen ins Gespräch zukommen.

Denn das ist Laura, Rebecca und Alexandra, Samson, Domi-nique und Tabea gleichermaßen wichtig. „Ich habe schon Sterbefälle miterlebt“, berichtet Rebecca, „ich wurde von den Schwestern supergut eingewiesen, wie man sich da verhält. Das hat mich im Glauben gestärkt und mir die Angst genom-men, mit dem Tod umzugehen.“ Alexandra ist überzeugt da-von, dass man Patienten besser helfen kann, „wenn man weiß, wo sie stehen, was sie glauben. Ich kann ihnen dann viel bes-ser ein Wort mitgeben, aus dem sie Hoffnung ziehen, Kraft schöpfen können.“ Dominique: „Viele müssen sich mit dem Tod auseinandersetzen. Und dann kommt ganz oft die Frage nach dem Sinn, und: Gibt es Gott? Oder sie wollen ein Gebet. Viele sind auch absolut allein, sie haben großen Redebedarf, darauf sollte man sich einlassen.“ Oftmals sei es gut, den Seelsorger oder die leitende Schwester zu informieren. „Es ist schwierig, immer Antworten zu finden. Manchmal braucht man die aber auch gar nicht, da kommt es vor allem drauf an zuzuhören, zu reagieren, einfach zu zeigen, dass man da ist.“

Rebecca Nuske erzählt, sie sei „quasi im Altenheim großgewor­den“, denn auch ihre Mutter sei Altenpflegerin. Alte Menschen seien ihr sehr nah. Auch der in Nigeria aufgewachsene Samson Igboanusi ist durch positives Rollenbild geprägt: seine Mutter ist Krankenschwester in Nigeria. Samson erhielt keine Zulassung zum Wunschstudium Medizin, jetzt begeistert ihn die Pflege.

Barbara­Maria Vahl

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Ihr eigenes Zuhause ist der gefährlichste Ort für eine Frau. Was haben die jungen Mädchen erlebt, wenn sie zu Ihnen

kommen?Es geht immer um massive Gewalt, die hauptsächlich von den männlichen Angehörigen der Familie, mitunter aber auch von der Mutter ausgeübt wird. Alle Mädchen sind heftig geprügelt worden, eine Ohrfeige ist völlig normal für sie. Es gibt Schläge mit dem Stock, mit der Steckdosenleiste, mit Schuhen, mit

einem Stuhl, einem Kabel. Mädchen werden auf die Herdplat-te gesetzt, oder es wird ihnen mit einem heißen Spieß für Fleischstücke die Haut verbrannt. Diese Mädchen sind gewal-tiger Aggression ausgesetzt, manches verdient durchaus die Bezeichnung Folter. Immer geht es angeblich um die Ehre. Das sind Familien, in denen der Vater trinkt, die Brüder Drogen verkaufen, aber die Ehre wird als Vorwand benutzt, um die Tochter kleinzuhalten, ihre Selbstständigkeit zu beschneiden,

„�Der�Mut�der�Verzweiflung�treibt�sie�her.“Papatya in Berlin bietet jungen Frauen mit Migrationshintergrund Schutz vor Gewalt. Ein Gespräch mit der Geschäftsführerin, die aus Sicherheitsgründen anonym bleibt

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ihren Willen zu brechen. Auslöser für die Flucht ist oft die dro­hende Zwangsverheiratung. Mädchen haben erfahren, dass sie den Cousin aus der Türkei oder sonst einen Verwandten heiraten sollen, den sie nicht haben wollen, die Vorberei­tungen laufen schon, und im letzten Moment fliehen sie. Viele Mädchen haben auch heimlich einen Freund, und wenn der Bruder oder Cousin das mitkriegt, dann haben sie Angst um ihr Leben.Wie vielen Mädchen und Frauen können Sie helfen?Wir haben acht Plätze in unserer Einrichtung, der einzigen in Berlin und bundesweit. Die Erfahrung zeigt, dass das so reicht. Es kommen pro Jahr zwischen 60 und 70 Mädchen zu uns, manche bleiben nur zwei Tage und andere sieben Monate. Die meisten Mädchen sind zwischen 16 und 19 Jahre alt, und etwa die Hälfte geht anschließend nicht mehr nach Hause zurück. Manche kommen später zum zweiten und dritten Mal zu uns, andere resignieren und fügen sich.Frauen, die in ihrer Familie misshandelt werden, haben eine stän-dige Infragestellung ihres Wertes erlebt, Demütigungen. Woher nehmen sie den Mut, sich an eine Hilfseinrichtung zu wenden?Der Mut der Verzweiflung treibt sie hierher. Aber es gibt auch viele, die nicht den Mut haben, und die werden nicht weglau­fen. Sie werden zwangsverheiratet werden, geprügelt werden, sie werden womöglich im Frauenhaus landen, und ihre Kinder werden zusehen müssen, wie ihre Mutter geprügelt wird. Der Kreislauf der Gewalt geht da weiter. Zu uns kommen nur die, die am schlimmsten leiden und die ein gewisses Rückgrat ha­ben, um daraus auszubrechen. Wie finden die Frauen Sie, Sie arbeiten ja streng anonym . . . Zu uns kommen die Mädchen über den Jugendnotdienst. Das ist die Verteilerstelle, wo die Kollegen Bescheid wissen, welche Kriterien für uns wichtig sind, welche Mädchen wir aufneh­men, ob wir Platz haben und so weiter. Auch die Polizei bringt die Mädchen zum Jugendnotdienst. Dort erfahren die Mäd­chen meistens erst, dass es uns gibt. Manche allerdings haben uns auch online gefunden.Was treibt die Familien an, die ihre Töchter zwangsverheiraten wollen?

Die Fragen stellte Barbara-Maria Vahl

PAPATYA ist eine Kriseneinrichtung für junge Frauen mit Mig-rationshintergrund, die aus den unterschiedlichsten Gründen Schutz benötigen. Papatya war 25 Jahre lang bundesweit die einzige derartige Schutzeinrichtung, seit kurzem gibt es ein ähnliches Angebot in Hamburg. Mehr Informationen zu Papatya, die im Vorfeld Wege zeigen und Hilfestellung geben, auf der Webseite: www.papatya.org

Junge Mädchen und Frauen können sich auch online beraten lassen. Kontakt: [email protected]

Telefon: Jugendnotdienst, Mindener Straße 14, 10589 Berlin, 030 / 61 00 62 oder 61 00 63

Ein sicherer Platz und Hilfe für eine sichere Zukunft

Ich glaube, die meisten Eltern machen sich da gar keine gro­ßen Gedanken, die sind genauso verheiratet worden. Es sind diese starren patriarchalen Strukturen, wo die Männer ent­scheiden und die Frauen gehorchen. Man sucht meist inner­halb der Familie einen Mann, denn das ist auch ein Weg, je­manden aus der Familie aus der Türkei oder den arabischen Ländern nach Deutschland zu holen. Für jemanden einen Auf­enthalt zu erwirken, ist auch ein Stück Dienst an der großen Verwandtschaft, damit kann man seine Position aufbessern. Was haben die jungen Frauen auszustehen – von dem Moment an, wo sie zeigen: Das lasse ich mir nicht mehr gefallen?Es heißt relativ häufig: Wenn du wegläufst, bringe ich dich um. Nun wissen wir, dass es viele Familien gibt, die es bei der Dro­hung belassen, aber wir wissen leider auch, dass manche Fami­lien tatsächlich so weit gehen. Das ist vorher nicht klar abzuse­hen. Insofern muss man diese Drohung ernst nehmen, ohne zu dramatisieren. Was die Mädchen noch viel mehr verletzt, ist, wenn gesagt wird: Das ist nicht mehr unsere Tochter, kei­ner darf mehr mit ihr Kontakt haben. Eigentlich wollen sie ja geliebt werden. Auch die Mutter wird unter Druck gesetzt, wenn die Tochter wegläuft. Sie muß die Tochter zu Hause hal­ten, damit sie nicht ihr Ansehen in der gesamten Verwandt­schaft verliert. Welche Angebote können Sie den jungen Frauen machen? Als Erstes merken sie, und das ist für sie das Allererstaunlichs­te, dass sie nicht die einzigen „schwarzen Schafe“ sind – das ist für sie eine ganz große Stärkung. Wir bieten sehr viel Ge­spräche an; zum Team gehören eine Psychologin sowie kur­dische, türkische und deutsche Mitarbeiterinnen. Wir sind rund um die Uhr da, um all die Fragen zu klären: Welche Per­spektive kann es geben, wo sind die Interessen, die Ressourcen. Das ist für die Mädchen oft das erste Mal, dass sie überhaupt jemand fragt: „Was willst DU?“ Wir unterstützen sie darin, rea­listische Pläne für ihre Zukunft zu entwickeln. Wir versuchen, das Rückgrat zu stärken. Alle reden auf das Mädchen ein, aber wir sagen: Du entscheidest.

Mädchen, die Angst haben, vor Zwangsverheiratung und Schlägen, brauchen Unter-stützung – und Anonymität

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Als ich vor sechs Jahren von der Grundschule in die fünfte Klasse der Freien Evangelischen Schule Hannover

wechselte, habe ich mir wenig Gedanken darüber gemacht, dass sie evangelisch ist. Meine Eltern wollten, dass ich auf eine Gesamtschule gehe, weil ich keine klare Empfehlung für das Gymnasium hatte. Meine Mutter und mein Vater sind Natur-wissenschaftler und arbeiten als Biologen. Vor allem meine Mutter legt aber auch Wert darauf, dass ich christliche Werte vermittelt bekomme. Ich hatte früher zwar viel in der Kinder-

bibel gelesen, war aber nicht besonders religiös. Heute denke ich, das Religiöse hat mir an meiner Grundschule gefehlt.

In der Freien Evangelischen Schule gibt es jeden Tag einen Morgenkreis, in dem gebetet wird. Außerdem können die Schüler darüber reden, was sie gerade bewegt. In der Mittel-stufe werden im Morgenkreis auch Themen behandelt wie die Geschichte von David und Goliath. Wir haben das ganze Jahr hindurch zweimal wöchentlich Religionsunterricht. Zu Weihnachten und Ostern werden von einem Jahrgang Gottes-dienste gestaltet. In den meisten Fächern spielt Religion nur manchmal eine Rolle. Wir haben zum Beispiel Facharbeiten über den Islam, das Judentum oder den Hinduismus geschrie-ben. Außerdem haben wir uns mit einer Internetseite beschäf-tigt, die den Umgang der Menschen mit Gottes Schöpfung untersucht, und haben dann selbst eine ähnliche Homepage entworfen.

Religion ist eines meiner Lieblingsfächer, weil ich schon im-mer gerne Texte interpretiert habe. Wir setzen uns durchaus kritisch mit der Bibel auseinander, das hängt aber vom Lehrer ab. Einige Schüler an der Schule sind sehr religiös, andere be-

Meine Geschichte

„Das Religiöse hat mir gefehlt“Der 16-jährige Jacob Hilfiker besucht die 10. Klasse der Freien Evangelischen Schule Hannover

„ Die lutherische Kirche gefällt mir besser, weil sie nicht so streng ist.“

Protokoll: Sebastian Hoff

trachten alles Religiöse eher distanziert. Ich glaube an Gott, lebe meinen Glauben aber nicht so extrem.

Außerhalb der Schule beschäftige ich mich nicht so häufig mit der Religion, ich gehe auch selten in die Kirche. Während meines Konfirmationsunterrichtes habe ich einmal selbst eine Predigt gehalten. Weil meine Familie aus der Schweiz kommt, gehörten wir bisher den Zwinglianern an. Die luthe-rische Kirche gefällt mir besser, weil sie nicht so streng ist. Über die Schule bin ich toleranter geworden gegenüber ande-ren Religionen. Ich interessiere mich sehr für Theologie, viel-leicht will ich später aber auch als Naturwissenschaftler arbei-ten. Nach diesem Schuljahr möchte ich zunächst auf ein Gymnasium wechseln, das einen naturwissenschaftlichen Schwerpunkt hat. Dort kann ich auch eine andere Vorliebe ausleben: das Schauspiel. Es gibt dort nämlich ein biblisches Theater. Ich denke, ich werde auch später noch meine derzei-tige Schule regelmäßig besuchen. Jeden Montag hält mein Klassenlehrer einen Gottesdienst ab, an dem auch Ehemalige teilnehmen können.

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Die staatlich anerkannte Schule wurde 1989 als Grundschule gegründet und 2002 um eine Kooperative Gesamtschule (KGS) erweitert. Mittlerweile besuchen rund 500 Schüler die Klassen 1 bis 10. Das biblische Menschenbild und die Orien-tierung an christlichen Werten bilden die Grundlage des pädagogischen Konzepts. Elternmitarbeit, offene Unterrichts-formen sowie leistungsdifferenzierte Angebote prägen den Charakter der Schule. Die Freie Evangelische Schule Hanno-ver ist eine von gut 1.200 evangelischen Schulen.

www.schulen.evangelischer-bildungsserver.de

Freie Evangelische Schule Hannover (FESH)

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Herausgeber: Diakonisches Werk der EKD, Stafflenbergstraße 76, 70184 Stuttgart, Telefon (0711) 2 15 90Redaktion: Andreas Wagner (Chefredaktion), Barbara-Maria Vahl (verantwortlich), Telefon (030) 83001 136, E-Mail: [email protected]: Hansisches Druck- und Verlagshaus GmbH, Emil-von-Behring-Str. 3, 60439 Frankfurt, Geschäftsführer: Jörg Bollmann, Arnd Brummer, Verlagsleitung: Frank Hinte, Layout: Hansisches Druck- und Verlagshaus GmbHAboservice: bruderhausDIAKONIE, Gustav-Werner-Straße 24, 72762 Reutlingen, Telefon (07121) 27 88 60, E-Mail: [email protected]: m-public Medien Services GmbH, Georgenkirchstr. 69/70, 10249 Berlin, Telefon (030) 28 87 48 35, E-Mail: [email protected]. Zzt. gilt Anzeigenpreisliste 4/2010. Mediaberatung: Susanne ZurgeisselDruck: Bechtle Druck & Service GmbH & CoKG, EsslingenBezugs- und Lieferbedingungen: Das Diakonie Magazin erscheint viermal jährlich. Der Bezug der Zeitschrift Diakonie Magazin ist im Mitgliedsbeitrag des Diakonischen Werkes der EKD e.V. enthalten.

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