Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

36
2011 Ich bleibe ich! Wie sich demenzkranke Menschen ihre Würde und ihre Freude bewahren – und in welchen Lebensmodellen das am besten geht Auf der Höhe des Vergnügens Der Walzer geht von ganz allein Seite 22 Auf der Höhe der Zeit Kommunen stellen sich auf Menschen mit Demenz ein Seite 10 Auf der Höhe des Lebens Zurück in die WG! Seite 28 Spezial Demenz

description

Ich bleibe ich! - Wie sich demenzkranke Menschen ihre Würde und Freude bewahren - und in welchen Lebensmodellen das am besten geht

Transcript of Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

Page 1: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

2011

Ich bleibe ich!Wie sich demenzkranke Menschen ihre Würde und ihre Freude bewahren – und in welchen Lebensmodellen das am besten geht

Auf der Höhe des Vergnügens Der Walzer geht von ganz allein

Seite 22

Auf der Höhe der ZeitKommunen stellen sich auf Menschen mit Demenz ein

Seite 10

Auf der Höhe des Lebens Zurück in die WG!

Seite 28

Spezial Demenz

Page 2: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

Wendet sich die Erde gegen uns?

Naturkatastrophe, atomarer GAU und Gottesglaube

Wer die Bilder aus Japan im März dieses Jahres verfolgt hat, ist zutiefst erschüttert. Ist das jetzt die

Apokalypse?, so fragte nicht nur die Boulevardpresse. Der Glaube, dass die Natur, weil Gottes Schöpfung, gut sei, ist ebenso ins Wanken geraten wie die Zuversicht, technischer Fortschritt könne eines Tages eine befriedete Welt erzeugen. Die beliebte Grünen-Politikerin und die profunde Theologin stellen sich den Fragen der Journalisten Amet Bick („die Kirche“) und Andreas Lehmann (u. a. „Das Magazin“).

112 Seiten, geb., 13 x 18 cm, Bestellnr. 2074 12,90 €

Die Grünen-Politikerin Katrin GörinG-EcKarDt und die theologin EllEn UEbErschär im interview

NAch dEr

kAtAstrophE

iN JApAN

Wie viel Leid lässt Gott zu?

Bestellen sie jetzt! Telefon  0800/247 47 66 (gebührenfrei), Fax  069/580 98-226, E-Mail  [email protected], oder im Internet unter www.chrismonshop.de

Page 3: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

Inhalt

4

8

16

18

26

28

32

34

20

24

35

PanoramaBegegnungen mit demenzkranken Menschen

TitelthemaIn Familien und Kommunen steigt die Zahl Demenzkranker„Wir müssen lernen, damit zu leben.“ Interview„Mehr Wärme!“ An Demenz Erkrankte brauchen vor allem Zuwendung, mahnen Experten

Spektrum DiakonieKonzepte im Heim Immer so wie immerRoutinen geben demenzkranken Menschen SicherheitAlltagTipps für den Alltag mit DemenzkrankenReportage„Und donnerstags wird gekocht!“Mit viel gutem Willen und guter Organisation klappen Wohngemeinschaften im AlterSelbsthilfeAufstehen und RedenMeine Geschichte„Manchmal muss ich sie schütteln“

LebenskunstSchuld war nur der Bossanova Monatliches Highlight ist der Besuch im Tanzcafé ZehlendorfMeinungDie Haltestelle, an der nie ein Bus vorbeikommt:Ist es moralisch und gut, in die Welt der Demenz-kranken einzusteigen?

Impressum

32

10

Selbsthilfe

An Demenz Erkrankte beginnen, offen über ihre Situation zu reden - gegen das Ausgeschlossenwerden

20

Lebenskunst

Die Beine wissen noch, was Jugend ist . . . Tanzcafé tut gut

28

Reportage

Zusammen kochen, zusammen leben: in einer WG für Ältere

Titelthema

Kommunen beginnen, sich auf eine wachsende Zahl demenzkranker Menschen einzustellen

Page 4: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

Demenz, was für ein trauriges Thema. Wie gut, dass die Er-krankten selbst gar nicht immer traurig sind. Gerda Vollmer aus dem Altenpflegezentrum Stadt-domizil in Hamburg hat viel Sinn für Humor, hier bei der Garten-arbeit auf dem Balkon. Ihr Wohnbereich heißt „Tulpe“.

Diakonie ist die

soziale Arbeit der

evangelischen

Kirchen. Sie hilft

Menschen in Not und

in sozial ungerechten

Verhältnissen.

Page 5: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

Klaus Busch machte zusammen mit anderen Dementen Urlaub auf der Insel Poel, als dieses Foto entstand. Heute wird er wieder von seiner Frau Renate zu Hause in Garbsen bei Han-nover gepflegt und betreut.

Page 6: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

� Diakonie magazin X/20XX Rubrik

Fo

tos:

Mic

hael

Hag

edo

rn

Für den dreijährigen Linus ist Frieda Wittfoth (78) wie eine richtige Uroma. Sie lebt seit drei Jahren in einer Gastfamilie - dank eines Projektes, das Menschen mit Demenz in Fami-lien vermittelt. Betty Glanz (rechts) im Rehazentrum Isar-winkel in Bad Tölz darf sein, wie sie ist.

Page 7: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

�X/20XXDiakonie magazinRubrik

Fast alle Fotos in diesem Heft stammen von Michael Hage-dorn. Der Fotojournalist arbeitet seit 2005 am weltweit größten Fotografie- und Multimedia-projekt zum Thema Demenz. Er ist Initiator und Co-Organisator der preisgekrönten Demenz-kampagne KONFETTI IM KOPF (www.konfetti-im-kopf.de)

Page 8: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

� Diakonie magazin Spezial 2011 Panorama

Glücklich, wer im Alter nicht allein ist . . .

Aktuelles

Gießen ist ein Ort der IdeenDie Aktion Demenz aus Gießen wird als »Ausgewählter

Ort 2011« ausgezeichnet und ist damit ein Preisträger im bun-desweiten Wettbewerb »365 Orte im Land der Ideen«. Die Standortinitiative »Deutschland - Land der Ideen« hat beson-ders anerkannt, dass die Aktion »Impulse für demenzfreund-liche Kommunen in ganz Deutschland gegeben hat und im-mer noch gibt«.

Pflegebranche beklagt Fachkräftemangel Zur Eröffnung der Messe »Altenpflege 2011« in Nürnberg

am 11. April forderte der Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes Pflege, Thomas Greiner, Pflegehilfskräfte sollten möglichst schnell berufsbegleitend zu Fachkräften umgeschult werden können. Außerdem sollten Fachabschlüsse von Kranken-schwestern aus EU-Ländern in der Pflege anerkannt werden. Experten schätzen, dass bis zum Jahr 2030 etwa 124.000 zu-sätzliche Vollzeitkräfte in der Pflege nötig sind.

Terminhinweise

Tagung in Berlin„Demenz und Palliativ Care – zwischen Fürsorge, Fremd-

und Selbstbestimmung“ heißt eine Tagung am 30. September 2011, von 10.00 bis 18.00 Uhr in der Auenkirche in Berlin Wil-mersdorf, Referenten sind unter anderen Prof. Dr. Katharina Heimerl und Prof. Dr. Dr. Reimer Gronemeyer

„Lern-Werkstadt“ Demenz in ArnsbergAm 6. Juni, 15.00 bis 17.00 Uhr, wird im Kaiserhaus Arns-

berg, Möhnestraße 55, das Handbuch zur „Lern-Werkstadt“ De-menz vorgestellt. Es enthält Erfahrungen aus über drei Jahren als Modellprojekt Demenz. Zielgruppe sind Entscheidungsträ-ger und Praktiker aus Städten und Gemeinden sowie zivilge-sellschaftliche Initiativen. Anmeldung: [email protected], Tel.: 02932-2010

Ökumenischer GottesdienstZum Welt-Alzheimer-Tag lädt die Kaiser-Wilhelm-Ge-

dächtniskirche in Berlin, Breitscheidplatz, zu einem ökume-nischen Gottesdienst: am Sonntag, 18. September, 15.00 Uhr

Workshop in Plön„Mit Klang und Rhythmus durch den Tag“: Um Musik in

der Begleitung von Menschen mit Demenz geht es im Work-shop von Jan Sonntag (Diplom-Musiktherapeut/ Buchautor) am 13. September von 14.00 bis 18.00 Uhr; Ort: „Altes E-Werk“, Vierschlingsberg 21, 24306 Plön

11. DEVAP-BundeskongressDer Deutsche Evangelische Verband für Altenarbeit und

Pflege lädt zu einem Leitkongress unter dem Titel „Weil wir es wert sind – vom Wert der Pflege“ am 21. und 22. September in Berlin. Themen: Quartiersorientierte Konzepte, angewandte Ethik und innovatives Personalmanagement. Weitere Infor-mationen: www.devap.de F

oto

s: M

icha

el H

aged

orn

Panorama

in Zahlen

Quelle: Einrich-tungsstatistik zum 1.1.2008, in: Diako-nie Texte, statisti-sche Informationen 09/2009, S. 34

Altenpflegerinnen und Altenpfleger befanden sich 2010 in der Ausbildung

ca.

6 000

Diakonie vorn in Ausbildung Altenpflege 46 174

von ihnen lernen in den 113 Fachschulen für Alten-pflege der Diakonie, wie sie demenzkranke Menschen unterstützen können.

Page 9: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

�Spezial 2011Diakonie magazinPanorama

„In Erwägung, dass“ – so werden Resolutionen formuliert seit den Tagen der Pariser Kommune. Der Gesundheits-

ausschuss des Europäischen Parlaments hat im Dezember 2010 einen „Bericht über eine europäische Initiative zur Alz-heimer-Krankheit und zu anderen Demenzerkrankungen“ (A7-0366/ 2010) vorgelegt, in dem eine lange Reihe von Fakten er-wogen wird, die in Forderungen münden.

Zu den Fakten, die der Ausschuss festgestellt hat, gehört un-ter anderem, “. . . dass schätzungsweise 9,9 Millionen Men-schen in Europa an Demenz leiden, die meisten davon an Alz-heimer“, dass „Westeuropa weltweit die Region mit der höchsten Quote an Demenzkranken (19 Prozent) ist“, dass „die Ernährungsweise möglicherweise ursächlich an der Entste-hung von Alzheimer beteiligt ist“, dass „in jeder Familie, in der ein Mitglied an Alzheimer erkrankt ist, durchschnittlich drei Personen direkt mit dieser Belastung konfrontiert sind“, dass es „einen Mangel an stationären Pflegekräften sowie an Fach-kräften im Gesundheits-und Sozialdienst gibt, der sich weiter verschärfen wird“, dass „erforscht werden muss, wie soziale Ausgrenzung verhindert“ werden kann. Auch die Liste der For-derungen ist lang. Im wesentlichen soll das Parlament den Rat auffordern, das Demenzthema zu einer gesundheitspoli-tischen Priorität der Europäischen Union zu erklären.

Mayrs SpitzeDie Brücke finden„Wie die meisten habe ich sofort, nachdem ich die Dia-gnose Demenz erhielt, eine Wand um mich hochgezo-

gen und mich eingeschlossen. Ich wollte mich nicht damit aus-einandersetzen, meine Familie wollte sich nicht damit auseinandersetzen. Ich wollte nicht, dass mein Arbeitgeber sich damit auseinandersetzen muss. ...Ich habe auf eine Brücke gewartet, über die ich gehen konnte.“ Was die „Brücke“ war, entdeckte der Psychologieprofessor Richard Taylor erst später: „Die Tatsache anzunehmen, dass ich eine Demenz habe.“ Er war 58, als er die Diagnose bekam und damit begann, seine Ge-danken und Erfahrungen aufzuschreiben. Daraus entstand sein Buch „Alzheimer und Ich“. Richard Taylor ist heute, zehn Jahre später, der prominenteste Alzheimer-Aktivist der USA. Eine Auswahl seiner Texte und Interviews bildet die Grundlage eines neuen Bild-Text-Bandes. Die Texte beschreiben, wie Richard Taylor Symptome seiner Demenz-Erkrankung erlebt, wie seine Umgebung auf ihn reagiert, und sie bringen seine Wünsche und Forderungen zum Umgang mit Menschen mit Demenz auf den Punkt. Bilder und Texte wurden von Jürgen Georg zusammengestellt.

Richard Taylor«Im Dunkeln würfeln»Portraits, Bilder und Geschichten einer Demenz. Zusammenge-stellt und fotografiert von Jürgen Georg. Hans Huber Verlag, 128 Seiten, 60 farbige Fotos, € 24.95ISBN 978-3-456-84968-3Das Buch wird im Juli 2011 er-scheinen

Priorität für Thema Demenz in der EU

Der Krieg dauert anWilhelmine ist über neunzig und pflegebedürftig, Jelisa-weta, 23, ist für drei Monate aus Smolensk gekommen,

um sie zu pflegen. Ein günstiges Arrangement, von dem beide Seiten zu profitieren scheinen. Aber als die alte Dame die jun-ge auf russisch telefonieren hört, brechen sich die Erinne-rungen Bahn. Auch Jelisaweta hat ein Geheimnis, dessen Ursa-chen in den Zeiten des Zweiten Weltkriegs liegen, auch sie hat eine Wut mitgebracht. Die Autorin Eva Baronsky schildert in „Magnolienschlaf“, wie sich die beiden Frauen in eine schier erbarmunglose Auseinandersetzung verwickeln. Schuld und Traumatisierung auf der einen Seite, Vorwurf und Familienge-heimnisse auf der anderen – eine spannende Konstellation. Eva Baronsky: «Magnolienschlaf». Aufbau 2011, 185 Seiten, € 17,95

Page 10: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

10 Diakonie magazin Spezial 2011 Titelthema

Titelthema

Page 11: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

11Spezial 2011Diakonie magazinTitelthema

Fotos: Michael Hagedorn

Ein langes Leben, das wünscht man sich doch. Aber zum Altwerden gehört auch oft eine andere Realität: Das Thema Demenz müssen wir annehmen - und in der Familie, in der Gemeinde einen pragmatischen und lebensnahen Umgang damit finden.

Wir müssen lernen, damit zu leben.

Marion Bayer (li.), die an vasku-lärer Demenz litt, wurde bis zu ihrem Tod von ihrem Lebensge-fährten gepflegt. Ehepaar Bischof (re.) sieht sich täglich im Pflege-heim Alpenhof in Bad Heilbrunn, wo sie lebt. - Für jeden einzelnen Betroffenen gilt es das beste Pflegemodell zu finden.

Page 12: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

12 Diakonie magazin Spezial 2011 Titelthema

Die Frage ist, wie künftig die älteren Mitbürger auf gute Art leben werden. Experten wie der Gießener Soziologieprofessor Reimer Gronemeyer, Vorsitzender der Aktion Demenz, war-nen, dass die gesellschaftliche Solidarität brüchig werden könnte. In Zeiten, als die Alten weniger waren und in familiale Strukturen eingebettet, konnte man ihnen noch mit Ehrfurcht begegnen. Treten sie in größerer Zahl auf, gelten sie als Pro-blem. In den vergangenen Jahren ist ein großer Teil der alten Generation aus den zerfallenden Familienstrukturen ausgela-gert und professionellen Helfern überantwortet worden.

Gleich aber, ob sie nun in Familien, in Pflegeeinrichtungen oder alternativen Wohnformen leben - der kontinuierlich steigende Anteil der über 65Jährigen in unserer Gesellschaft (im Jahr 2000 13,7 Prozent, 2020 18,2 Prozent, 2040 voraus-sichtlich 20,8 Prozent), darunter auch die der Menschen mit Demenz, erfordert es, in der Politik, in der Kirchengemein-de, in der Kommune Konzepte zu entwickeln, wie mit dem Phänomen einer alternden Gesellschaft umgegangen werden soll. Konkret, anständig – und bezahlbar.

Es gibt viele Beispiele, eine Reihe von ihnen unterstützt die Robert Bosch Stiftung, die das Förderprogramm „Menschen mit Demenz in der Kommune“ auflegte. Für 37 Projekte, die das Thema Demenz in zivilgesellschaftlichem oder kommu-nalem Rahmen aufgreifen, wurden jeweils bis zu 15000 Euro Fördermittel zugesagt. Alltagspraktische Hilfe, Begegnung zwischen Menschen mit und ohne Demenz sowie die Verbes-serung der Teilhabe am kommunalen Leben sollen erreicht werden. Inzwischen beteiligen sich Städte aus nahezu allen Bundesländern mit kreativen Ideen.

Arnsberg, zum Beispiel, eine Stadt im Sauerland, 76000 Einwohner, davon viele Alte. Stadtverordnete und Verwaltung hatten ihre Gemeinde zur „seniorenfreundlichen“ erklärt und die üblichen ersten Schritte unternommen: die Bürgersteige abgesenkt, die Grünphasen der Fußgängerampeln verlängert und das kulturelle Angebot auf die Älteren zugeschnitten. Dann rechnete der damalige Sozialdezernent aus, was man brauchen würde an Pflegediensten und Heimen, um alle Seni-oren zu versorgen, wenn sie mal nicht mehr aktiv sein werden oder gar eine Demenz entwickeln. Man würde mehr brauchen, als man sich leisten kann.

So hat sich die Verwaltung mit Bürgermeister Hans-Josef Vogel an der Spitze aufgemacht, ihre Stadt auf andere Weise „demenzfreundlich“ zu gestalten. Hier waren zuerst die „Pro-fis“ gefragt. Die sollten sich untereinander nicht mehr nur als Konkurrenten auf einem lukrativen Markt sehen, sondern sich vernetzen und ihre Angebote transparent gestalten. Zu-gleich setzte Bürgermeister Vogel auf bürgerschaftliches Enga-gement – und auf die Unterstützung der Robert Bosch Stif-tung.

Else W. lächelt leicht, an ihrem Schwiegersohn vorbei. Sie ist schon seit Jahren „nicht von dieser Welt“, wie

Thomas es ausdrückt, abgedriftet in eine andere. Trotzdem sucht Thomas immer wieder nach einer Verbindung. „Wie hat dein Mann dich eigentlich früher genannt?“, will er wissen. „Liebling? Liebste?“ Keine Antwort. „Schatz?“ Else schaut dumpf nach innen. „Feinsliebchen?“ Und da plötzlich geht ein Licht an in ihrem Gesicht; sie strahlt. Richtet sich auf in ihrem Fernsehsessel und fängt an zu singen, ein immer noch er-staunlich klarer Sopran: „Feinsliebchen, du sollst mir nicht barfuß gehn, zertrittst dir die zarten Füßlein schön . . .“

Else W. ist vor ein paar Tagen gestorben. Bis zuletzt hat ihr krebskranker Mann sie zu Hause gepflegt. Im letzten Jahr kam erst ein ambulanter Pflegedienst, dann zusätzlich die „24-Stunden-Polin“, die Töchter und der Sohn beteiligten sich auch. Leicht war es nicht. Am schönsten war es immer dann, wenn Else W. und ihr Mann zusammen sangen – das taten sie jeden Tag, auch dann, als das Sprechen schon lange nicht mehr möglich war.

Auch heute noch leben etwa zwei Drittel aller Pflegebedürf-tigen zu Hause. Nur, dass die Angehörigen immer schneller überfordert sind. Neben der Erwerbsarbeit noch den alten Va-ter versorgen, das fällt schwer. Wer es versucht, der tut das oft am Rande seiner Möglichkeiten und auf Kosten der eigenen Gesundheit; neben die körperlichen Belastungen treten die psychischen. Aber ein guter Heimplatz ist teuer.

„Wir brauchen Konzepte – konkret, anständig und bezahlbar.“

„Sie werden nicht ewig leben“, fasst der Hausarzt das Ergeb-nis der Vorsorge-Untersuchung zusammen, „aber noch sehr, sehr lange.“ Der Patient ist erleichtert. Das hört man gern, wenn man um die 60 ist. Andererseits zieht auch gleich ein wenig Skepsis auf. Der Gedanke an die Schwiegermutter viel-leicht, die mit fast neunzig noch ganz rüstig, aber schon ver-wirrt war. Und wie verhält es sich mit der eigenen Orientie-rung? Erschrocken denkt der Patient an die jungen Kollegen, die sich in irgendwelchen Netzwerken tummeln, Facebook-Freunde sammeln und sich mit Software auskennen, deren Namen er noch nicht mal gehört hat. Vielleicht brauchen die seine Fähigkeiten gar nicht mehr... Die bange Frage stellt sich: Passen wir überhaupt noch in die Zeit? Überfordert schauen heute viele Mittsechziger auf all die technischen Neuerungen, verfolgen eine sich rasant verändernde Arbeitswelt, die aller-dings auch manch Jüngeren aus der Bahn wirft.

Und wie gucken die Jungen auf die Alten? Da geht noch was, sagen sie. Die Erwartung, dass jemand jenseits der 65 sich aufs Altenteil zurückzieht, ist zu Recht passé. Aber wie ist es mit der Haltung der Großzügigkeit und Toleranz gegenüber den Alten, die mal wunderlich und gebrechlich, mal geistig rege bis ins hohe Alter in der Nähe ihrer Kinder leben? Das Thema Altwerden ist unseres – egal, wie alt wir sind.

Demenz - was hat das mit mir zu tun?

Page 13: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

13Spezial 2011Diakonie magazinTitelthema

In jedem Alter macht es Spaß, Situationen auf Schnappschüs-sen festzuhalten. Fotos sind Zeu-gen der kleinen Erlebnisse un-seres Alltags. Auch an Gerüche sind oft Erinnerungen geknüpft.

Page 14: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

14 Diakonie magazin Spezial 2011 Titelthema

„Pflegeheime außerhalb von Wohnquartieren“, ist der der Lokalpolitiker überzeugt, „sind eine Idee von gestern. Heute braucht man eine ambulante Betreuung im Wohnviertel.“ In Arnsberg gehen engagierte ältere Leute mit Dementen spazie-ren. Andere organisieren Musiknachmittage. Handwerker und Architekten helfen, eine Wohnung altersgerecht umzubauen. Inzwischen gibt es kundige Freiwillige, die Familien beraten, Stadtteiltreffs und Beratungseinrichtungen unterstützen. Ki-tas besuchen demente Nachbarn – jede Menge Projekte, und auch auf die kleinsten ist der Bürgermeister stolz. Alles wird von Anfang an durch intensive Öffentlichkeitsarbeit begleitet.

Wirklich neu ist für eine demenzfreundliche Kommune vor allem ein Wechsel der Perspektive, betonen die Mitglieder der Aktion Demenz: nicht die Defizite in den Vordergrund rücken, sondern die Möglichkeiten. Nicht die Hoffnung auf medizinischen Fortschritt setzen, sondern für ein fürsorg-liches Umfeld sorgen - das hat auch einen positiven Einfluss auf die Entwicklung der Krankheit. Darum geht es auch den Mitglieder der Aktion Demenz in ihrem Aufruf „Gemeinsam

für ein besseres Leben mit Demenz“ (siehe Kasten). Ihr Ziel ist es, das Schlagwort von der gesellschaftlichen Teilhabe kon-kret im Alltag erlebbar zu machen.

Es klingt banal: Menschen mit Demenz sind und bleiben Bürgerinnen und Bürger. Ihre Mitmenschen sollten beginnen, sich auf sie einzustellen. Jeder sollte wissen, was Demenz ist, es möglichst richtig einordnen, wenn jemand offensichtlich „neben der Spur“ ist: Der Kassiererin im Supermarkt sollte ge-

Mutter hält Kleinkind - eine so archetypische Situation, dass sie bei alten Menschen das frühere Geborgensein in der Fa-milie wieder wachruft. Auch Puppen oder Kuscheltiere führen tief ins Erleben der Kindheit zurück. Edith Raupers (Lübeck) liebt ihr Kaninchen.

Page 15: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

15Spezial 2011Diakonie magazinTitelthema

gebenenfalls klar sein, dass ein alter Mensch, der ohne zu zahlen hinausläuft, dies vielleicht einfach vergessen hat. Der Bankangestellten sollte auffallen, wenn ein alter Mensch wiederholt größere Geldsummen abhebt. Der Busfahrer muss wissen, dass er nachts an der Endhaltestelle eine leicht be-kleidete Dame nicht ins Dunkel ziehen lassen darf, sondern Hilfe zu holen hat. Die herbeigerufenen Polizisten müssen darauf vorbereitet sein, einen verwirrten Menschen anzuspre-chen und zu beruhigen.

Letztlich aber ist jeder in seinem privaten oder beruflichen Umfeld irgendwann einmal mit jemand konfrontiert, der an Demenz erkrankt ist. Viele fühlen sich damit überfordert, wissen nicht damit umzugehen, weichen aus, grenzen sich ab - zum Nachteil der Betroffenen. Ziel fast aller Projekte ist es deshalb auch, zu mehr Kenntnis, zu mehr Verständnis, zu einem selbstverständlicheren Umgang mit Betroffenen beizu-tragen. Auch Augsburg, Berlin-Buch, Greifswald, Wittenberg,

Kiel, Friedrichshafen und etliche andere Kommunen geben ein gutes Beispiel hierfür ab.

Demenz geht alle an, Zwar erkranken nur etwa fünf Prozent aller über 65Jährigen schwer daran und etwa 19 Prozent an leichteren Formen, treffen aber kann sie jeden. So schaffen viele Initiativen vielfältige Möglichkeiten der Begegnung. Wer sich stundenweise um einen Menschen kümmert, der nicht mehr allein sein kann, lernt ihn dabei gut kennen. Wer Cafés einrichtet, in denen Menschen mit und ohne Demenz Kaffee trinken, schafft Begegnungsmöglichkeiten.

Dieses Prinzip lässt sich auch auf die Versorgung von Men-schen mit Demenz in einem fortgeschrittenen Stadium über-tragen, betont der emeritierte Psychiatrieprofessor Klaus Dörner. Früher plädierte er dafür, die Heime abzuschaffen. Heute erkennt er an, dass auch in den Heimen neue Konzepte ausprobiert, dass alle möglichen Varianten zwischen Heim und Zuhausebleiben entwickelt werden, Wohnpflegegruppen zum Beispiel, in denen Junge und Alte zusammenleben und die Nachbarn in die tägliche Arbeit einbezogen sind. In einem Interview mit der Zeitschrift „chrismon“ zeigt sich Dörner überzeugt, dass sich Engagierte finden werden. „Die Leute sa-gen: Wenn ich nicht für das Elend der ganzen Welt zuständig sein muss, sondern nur für die Dementen, die da wohnen, wo ich auch wohne, dann kann ich mir das vorstellen.“

Reimer Gronemeyer, Vorsitzender der Aktion Demenz, sieht in einem solchen Engagement die Chance, die „wärmenden Dimensionen unserer Gesellschaft“ neu zu entdecken (s. In-terview S. 17). Das ist etwas ganz anderes, als die Bürger aufzu-fordern, aktiv zu werden, um die Ausgaben der sozialen Siche-rungssysteme und der Kommunen zu reduzieren; es ist Ausdruck der viel beschworenen Zivilgesellschaft. Die braucht Strukturen, die zu schaffen Aufgabe der Kommunen ist.

Kommunen brauchen zivilgesellschaftliches Engagement. Und engagierte Bürger benötigen die Unterstützung der Kom-mune und der „Profis“, wo sie selber an ihre Grenzen stoßen. Oftmals sind Fortbildungen sinnvoll. Es kommt jedoch darauf an, nicht alles für Menschen mit Demenz zu tun, sondern sie vieles im Rahmen ihrer Möglichkeiten selbst tun zu lassen. Das erfordert ein ständiges Abwägen, Aushandeln, auch Bereit-schaft zum Risiko. Letztlich ist es schlimmer, jemanden nicht mehr vor die Tür zu lassen aus Furcht, er könnte sich verirren, als dies einzukalkulieren und Vorsorge zu treffen.

Menschen mit Demenz wollen gehört werden. Einige (we-nige) von ihnen melden sich selbstbewusst zu Wort, in einer frühen Phase, in der es ihnen zwar mitunter die Sprache ver-schlägt, sie aber genau fühlen, ob ihr Gegenüber mit echtem Interesse oder aber mit Gleichgültigkeit oder Ablehnung rea-giert. Ihre Würde zu wahren heißt, sie ernstzunehmen.

Burkhard Plemper

Menschen mit Demenz sind Bürger! Bislang haben wir Menschen mit Demenz vor allem als Kran-ke behandelt und versorgt. Das ist nicht genug. Ihnen als Bür-gerinnen und Bürger zu begegnen, fällt uns aber oftmals schwer.

Menschen mit Demenz gehören dazu! Wir können und müssen viel mehr tun, dass Menschen mit Demenz und ihre Familien sich nicht zurückziehen und in die Isolation gedrängt werden.

Menschen mit Demenz haben Rechte! Die Rechte von Menschen mit Demenz werden im Alltag - oft aus Fürsorglichkeit - eingeschränkt. Achten wir darauf, dass sie weiterhin können, was ihnen möglich ist.

Menschen mit Demenz gehen uns alle an! Wie wir im Alter leben, wie wir pflegen und betreuen, ob wir die Verantwortung teilen und unser soziales Miteinander neu beleben - das ist Angelegenheit aller in dieser Gesell-schaft: der Jungen und Alten, der Politik und Verwaltung, der Kunst und Kultur, der pflegenden Angehörigen und beruflich Pflegenden, der Kirchen, Unternehmen, Gewerkschaften, des Sports und aller anderen bürgerschaftlich engagierten Men-schen.

Menschen mit Demenz brauchen unsere Phantasie! Wir wollen ein Gemeinwesen, in dem alle Verantwortung für-einander tragen. Dafür werden wir eingefahrene Wege verlas-sen müssen . . .

Aufruf, verabschiedet am 21. November 2008 zum Abschluss der Veranstaltung „Aufbruch“ in Esslingen am Neckar

Aktion Demenz e. V., www.aktion-demenz.de

Aufruf In unserer Kommune - gemeinsam für ein besseres Leben mit Demenz

„Die Dementen in der Nachbarschaft sind okay, um die kümmert man sich.“

Page 16: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

16 Diakonie magazin Spezial 2011 Titelthema

Mehr Wärme!

Ist eine Demenz, speziell eine Demenz vom Typ Alzheimer, eine Krankheit, oder ist es eine normale, wenn auch unangenehme Form des Alterns?förstl: Eigentlich kann man nicht als Krankheit bezeichnen, was so regelhaft im Alter auftritt. Andererseits ist es natürlich so, dass nicht alle Menschen ihre Demenz erleben. Und ich sehe Chancen, dass man es eines Tages wird verhindern oder noch besser behandeln können. Was man behandeln kann, hinsichtlich der Symptome und Ursachen, das darf ruhig als Krankheit gelten.Gronemeyer: Wenn ich 85 bin und „was mit der Hüfte“ habe, dann kann ich sagen, das ist nun mal so, so etwas kommt mit dem Alter. Oder es ist etwas, was man operieren könnte und was eine Krankheit ist. Die öffentliche Hysterie im Blick auf Alzheimer, verbunden mit der Frage, wie man ihn erkennen und was man vorbeugend tun kann, ist etwas, das ganz viele Ängste auslöst. Wir sollten das alles ein Stück weit entdrama-tisieren und sagen: Demenz ist etwas, was in einer alternden Gesellschaft nicht sehr überraschend ist.Es kommt also, so kann man es sehen, eine Flut dementer Alter auf uns zu. Keiner kann sich mehr um sie kümmern – ist das Pa-nikmache, oder ist das eine realistische Einschätzung?förstl: Angst ist niemals gut, aber die generelle Furcht vor dem Problem kann produktiv sein. Wenn sie uns dazu bringt, noch gesünder zu leben, noch intensiver zu gucken, wie man dementen Menschen helfen kann, oder zu forschen, wie man die Entwicklung der Demenz medizinisch verhindern kann. Man braucht das Demenzproblem nicht zu dramatisieren, es ist riesengroß. Vielleicht müsste man fragen, wodurch der Mensch so alt wird in unserer westlichen Gesellschaft. Die Antwort gibt dann auch wieder etwas Hoffnung: Denn wir werden so alt, weil wir so lange so gesund bleiben – davon pro-

fitiert natürlich auch das Gehirn. Das zeigt sich an den Zahlen aus der Epidemiologie: Die Demenzrate pro Altersstufe sinkt etwas ab. Dieser Effekt konkurriert damit, dass die Lebenser-wartung steigt. Wie das ausgeht zwischen diesen beiden Re-chengrößen, ist heute noch nicht entscheidbar. Der amerikanische Neurologe Peter Whitehouse behauptet, dass die sogenannte Alzheimerkrankheit sich vom normalen Alte-rungsprozess nicht wirklich unterscheiden lässt und dass kein Krankheitsverlauf mit einem anderen identisch ist. Er bezweifelt auch, dass es eine medizinisch fassbare Ursache gibt.förstl: Natürlich ist die Demenz bei jedem Individuum etwas anderes. Vollkommen richtig, dass ein Mensch, der in einer wohlgeordneten Gesellschaft mit intakten Familienstruktu-ren kognitive Einbußen entwickelt, nicht weiter auffällt, weil er bestimmten Tätigkeiten weiter nachgehen kann und von der Enkel- und Urenkelgeneration noch sehr gebraucht wird. In einer Gesellschaft, die sehr stark auf das Kognitive, Intellek-tuelle des Homo sapiens fokussiert ist, fallen Einbußen von Gedächtnis und anderen Bereichen erheblich früher auf und werden entsprechend stärker als Defizit vom Betroffenen empfunden. Und wie stark es empfunden wird, unterscheidet sich sehr stark zwischen den Patienten.Gronemeyer: Ja, wir leben in einem Zeitalter, in dem kogni-tive Elemente besonders wichtig sind. Und in einer Gesell-schaft, in der das Hirn mehr als das Herz ins Zentrum gerückt ist, ist natürlich die Anfälligkeit dieses Organs größer. Inter-net, Telefonieren, Autofahren – all diese Dinge wirken auf das Individuum wie eine Strahlung. In einer Gesellschaft, in der man barfuß geht, spielt der Dorn im Fuß eine größere Rolle. Heißt das, wenn jemand viel am Computer und im Internet arbei-tet, entwickelt er eher eine Demenz? Gronemeyer: Eine Gesellschaft, die ihren Alten systematisch

Demenz ist ein medizinisches Problem – aber vor allem brauchen die Betroffenen Zuwendung.

InterviewDer Psychiater und Neurologe Hans Förstl ist Professor an der TU München. Reimer Gronemeyer ist Professor für Soziologie, promovierter Theologe und Vor-sitzender der „Aktion Demenz“.

Fo

tos:

Mic

hael

Hag

edo

rn

Page 17: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

17Spezial 2011Diakonie magazinTitelthema

mitteilt, dass ihre Erfahrungen nichts mehr zählen, trifft den Menschen in einem Kernpunkt. Ich glaube, dass wir noch viel zu wenig wissen über das, was eigentlich den Absturz auslöst. Wenn der Partner wegfällt, dann dürfte die Wahrscheinlich-keit groß sein, dass es schnell schlimmer wird. Wir müssen uns um die, die allein sind oder die in einer Zweier-Isolations-situation leben, besser kümmern. Das ist entscheidend.Die Medizin kennt Risiken und Schadensereignisse, die eintreten – etwa beim Rauchen. Trifft das auch für Demenzen zu?förstl: Gehirnveränderungen, die mit den Jahrzehnten ein-fach ablaufen, können beschleunigt werden durch bestimmte Erkrankungen, sie können gebremst werden durch andere – und die Folgen gewisser krankhafter Veränderungen können durch eine geistige Reservekapazität teilweise abgepuffert werden. Man weiß, dass jemand, der die Chance genutzt hat, sich weiterzubilden und beruflich sehr aktiv zu sein, etwas günstigere Ausgangsbedingungen hat. Das kann auch für ei-nen Installateur gelten, der sehr anspruchsvolle Dinge tun muss, oder für die Frau im Metzgerladen, die im guten Kon-takt mit der Kundschaft und gut im Kopfrechnen ist. Wir Ärzte tun uns schwer, derartige Erkenntnisse über Risiken und Schutzfaktoren in Empfehlungen umzuwandeln: Es fällt schwer, die Menschen in die Volkshochschule zu schicken oder zum Abnehmen zu bewegen, weil da einfach nicht mehr jeder mitmachen kann und manche darunter extrem leiden würden. Das noch größere Problem für einen praktisch täti-gen Arzt besteht natürlich darin, dass er das Wetterleuchten sozusagen schon sieht, aber nicht genau weiß, wann die Re-genwolke über den Acker zieht: Man kann heute sehr früh die-se Alzheimer- und andere Hirnveränderungen erkennen und weiß, da ist Gefahr im Verzug. Aber man kann im Einzelfall nicht genau vorhersagen, ob und wann dieser Mensch seine Demenz entwickeln und erleben wird.Hilft es denn, sich eine Demenz diagnostizieren zu lassen?förstl: Viele Patienten und Familien sind heilfroh, wenn sie endlich eine Diagnose erfahren. Die Angehörigen können den Betroffenen besser in Schutz nehmen, ihn gezielter fördern und unterstützen. Die anderen sagen, um Gottes Willen, hätte ich das zwei Jahre lang nicht gewusst, dann hätte ich mich wohlgefühlt und wäre nicht so depressiv gewesen, das hat mich zusätzlich belastet. Das ist sehr, sehr unterschiedlich. Gronemeyer: Es nützt einem 80-Jährigen, der alleine lebt, we-nig, dass er dieses Phänomen an sich wahrnimmt und dass es diagnostiziert ist, wenn es nicht eine entweder medizinisch- Die Fragen stellte Burkhard Plemper

pharmakologische Antwort darauf gibt oder eine soziale. Et-was pathetisch gesagt: Es ist eine Frage nach den Strukturen und den wärmenden Dimensionen unserer Gesellschaft.Die Vereinzelung in der Gesellschaft nimmt zu. Und jetzt sagen Sie, wir brauchen mehr soziale Wärme. Woher soll die kommen?Gronemeyer: Mir ist völlig klar, dass wir jetzt nicht einfach den Schalter umlegen können. Aber die Entwicklung der De-menz stellt uns vor die Frage: Wollt ihr eigentlich so weiter-machen? Mit der Vereinzelung? Mit dem Zerfall von Familien und einem Leben, das im Alter darauf hinausläuft, dass man für sich allein dahindümpelt? Wenn man jetzt noch an die Al-tersarmut denkt, wird die Frage noch einmal drastischer. Der Taxifahrer kann sich das Einzimmerapartment in Frankfurt nicht leisten. Wie also wird er dann leben? Das klopft an die Tür. Es kann jeden treffen, und es geht nicht nur um Demenz, sondern es kann auch die kaputte Hüfte sein. In den letzten 20, 30 Jahren haben wir das Problem in die Ver-sorgungsmaschinerie geschoben. Das wird nicht mehr gehen. Es wird nicht so viel Geld für so viele alte Menschen da sein, und deswegen brauchen wir andere Antworten. Dass das kein einfaches Unternehmen ist, ist völlig klar. Aber wir werden es lernen müssen oder wir werden sehr einsam sein. Das alles ist überhaupt nicht mehr bezahlbar ohne Ehrenamtlichkeit, ohne Freiwilligkeit, ohne soziales Engagement.Herr Förstl, das finden Sie als Mediziner sicher auch wünschens-wert, aber einstweilen forschen Sie dann doch lieber, ob es nicht die Wunderpille gibt, die das Problem beheben kann, oder?förstl: Ja, aber ich sehe frühestens ab dem Jahr 2030 eine Chance, dass so etwas für die übernächste Generation zur Verfügung steht. Also müssen wir schon am Gronemeyer’schen Modell weiterarbeiten . . .

Als wenn sie nicht darauf vertraut, dass sie, in welcher Verfassung

auch immer, immer sie selbst sein und bleiben wird, als habe sie

Angst, man könne sie sonst nicht erkennen, verweist eine Demenz-patientin auf ein früheres Foto . . .

Page 18: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

18 Diakonie magazin Spezial 2011 Spektrum

Konzepte im Heim

Ein Foto aus vergangenen Tagen hat Erinnerungen bei dem älteren Herrn ausgelöst. Mit zitternder Hand zeigt

Herr W. den Besuchern das Motiv und will etwas erzählen, doch die Wörter kommen nur noch in Bruchstücken aus ihm heraus. Pfleger Markus Preuß sieht sich das Foto mit ihm an, legt tröstend einen Arm um ihn und spricht in ruhigen Worten. W. entspannt sich sichtlich und schaut zufriedener.

W. ist einer von 61 Bewohnerinnen und Bewohnern im Haus Schwansen, einer auf Demenzkranke spezialisierten Pflegeeinrichtung an der schleswig-holsteinischen Ostsee-küste. Im Dorf Rieseby muss man nicht lange nach dem Weg zum Haus Schwansen fragen. Jeder kennt hier die Einrichtung, die zugleich größter Arbeitgeber im Dorf ist. 107 Mitarbeiten-de kümmern sich um die Demenzkranken in unterschied-lichen Stadien. Manche von ihnen können sich verbal nicht mehr verständlich machen. Freude oder Ablehnung vermit-teln sie ihrer Umwelt dennoch. Wenn Frau M. etwa abends zu Bett gebracht wird, ist ihr ein Ritual ganz wichtig. Sie schläft nur gut, wenn sie die Bettdecke zwischen den Beinen spürt. Ihre Pflegekräfte kann sie darum nicht mehr bitten. Wenn Markus Preuß aber die Bettdecke wie gewünscht aus-richtet, erhellt ein Strahlen ihr verschlossenes Gesicht.

Frau M. bekommt ihre Decke immer wie gewünscht gefal-tet, auch wenn Markus Preuß keinen Dienst hat. Die Pflege-kräfte besprechen solche Vorlieben der Bewohner, außerdem sind sie in jedem Zimmer zusammen mit den Tagesabläufen an der Pinnwand festgehalten. Hier steht etwa, wenn ein Bewohner sich vor dem Waschen immer erst die Zähne putzt. F

oto

s: M

icha

el H

aged

orn

Immer so wie immerIm Haus Schwansen geben Rituale den demenz­kranken Menschen Sicherheit

Demenzkranke Menschen leiden häufig an seelischer Ver­stimmung, Traurigkeit, wissen nicht, wohin – oder wohin mit sich. Liebevolle Ansprache, ge­halten werden, ein paar ruhige Sätze können oft helfen, die Seele oder die Situation wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Kaum etwas trägt so sehr zum Wohlbefinden bei wie Natur erleben.

Page 19: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

19Spezial 2011Diakonie magazinSpektrum

Solche Kleinigkeiten können für die Kommunikation zwi-schen Pflegekräften und Bewohnern entscheidend sein. Wenn ein neuer Pfleger die gewünschte Reihenfolge nicht kennt, würde er vielleicht erleben, dass sich der Bewohner gegen das Waschen wehrt. Der Pfleger könnte den Widerstand nicht deu-ten, würde den Dementen vielleicht zur Hygiene zwingen und verstört ins Bett bringen. Auch im Haus Schwansen nehmen Heimleitern Christine Petersen und ihre Mitarbeiter nicht für sich in Anspruch, alles richtig zu machen. Aber die jahrelange Spezialisierung und die positive Resonanz von Bewohnern und Angehörigen stärken sie in ihrer Überzeugung, mit ihrer Arbeit richtigzuliegen. Ihre Grundhaltung fasst Petersen so zusammen: „Auch wenn Bewohner auffälliges Verhalten zeigen, werden wir sie nicht mit ihren Unzulänglichkeiten konfrontieren oder korrigieren.“ Wenn Frau M. etwa nach dem Abendbrot ihren Platz ordnet, Krümel unter den Tisch fegt und alles umräumt, sagt niemand zu ihr: „Lassen Sie das doch liegen. Das mache ich gleich, Sie sollen jetzt zu Bett.“ Statt-dessen richten sich die Pflegekräfte darauf ein, Frau M. heute als Letzte ins Bett zu bringen. Ein aufmunternder Spruch wie „Ordnung ist das halbe Leben“ bestärkt Frau M. darin, dass sie das Richtige getan hat – so kann sie besser schlafen.

In Rieseby setzt man auf eine Kultur der Wertschätzung, des Vertrauens und der Partizipation. Die Pflegekräfte be-mühen sich, mit Einfühlungsvermögen die verloren gegan-genen Fähigkeiten der Demenzkranken zu ergänzen oder zu ersetzen. Das gelingt umso besser, je mehr die Pflegemitar-beiter über die Betreuten wissen. Ursprünglich sah das Kon-zept auch gemeinsames Kochen und Gärtnern vor. Doch viele Demenzkranke ziehen heute erst in einem sehr späten Stadi-um ins Heim. „Ehepartner halten ganz lange an ihrem de-menzkranken Partner fest, manchmal deutlich über die eige-ne Belastungsgrenze hinaus“, ist Petersens Erfahrung. Wenn neue Bewohner aufgenommen werden, die kaum noch spre-chen, sind die Pflegekräfte umso mehr auf die Berichte der An-gehörigen angewiesen, um die Vorlieben der Bewohner zu erkennen – so wie die gefaltete Bettdecke, die Frau M. jeden Abend entspannt einschlafen lässt.

Dirk Schnack

Haus Schwansen in Rieseby an der Schlei wurde 1993 er­öffnet, damals für 42 Bewohner, von denen die Hälfte an De­menz erkrankt war. Seit einer Fortbildung 1994 zum Thema Integrative Validation (IVA) nach Nicole Richard wurde das Haus zu einer Spezialeinrichtung für Demenzkranke. In den Folgejahren wurden die Verantwortlichen im Haus Schwansen zusammen mit anderen Experten immer häufiger eingeladen, ihre Erfahrungen zu teilen und Konzepte zu hinterfragen. Seit Jahren gilt das Haus, das seit 2007 unter dem Dach der Brücke Rendsburg­Eckernförde e. V. arbeitet, als Vorzeige­einrichtung.

Eine Vorzeigeeinrichtung für Demenzkranke

Schön gemacht für den Sommernachmittag.

Page 20: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

20 Diakonie magazin Spezial 2011

Lebenskunst

Page 21: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

21Spezial 2011Diakonie magazinLebenskunst

Fo

tos:

Mic

hael

Hag

edo

rn

Schon beim Eintreten hat er gestrahlt, als hätte er einen Sechser im Lotto gelandet. Hereingekommen ist

er durch die schöne Flügeltür, locker den Rollstuhl rangierend. Kurz danach sieht man ihn, wie er den Rollstuhl mit der blon-den Frau darin munter über das Parkett schwingt. Die Zwei-mannband spielt den „California Blues“. Der Rollstuhl ist wen-dig, Schwünge, elegante Schleifen, Drehungen, alles macht er mit. Die Frau darin auch. Auch auf ihrem Gesicht liegt ein Lächeln, aber ein eher nach innen gekehrtes, stilles. Die schö-nen blauen Augen gleiten ruhig über Menschen und Dinge, halten nichts fest. Es ist der Blick eines zufriedenen Menschen, der nichts weiter will. Das Ehepaar C. ist wieder ins Tanzcafé in Zehlendorf gekommen, wie jeden dritten Montag im Monat, und das seit fünf Jahren, wie Raimund C. später erzählt.

Tanzcafé, das klingt nach Tanzstundenzeit, Petticoat, Herz-klopfen, schüchterner erster Annäherung. Viele der Besuche-rinnen und Besucher haben das auch so erlebt, früher, vor 50, 60 Jahren. Nun ist es ein Déjà-vu unter anderen Vorzeichen, aber manches hat sich auch nicht geändert.

Geändert hat sich, dass viele der Gäste über einige Dinge aus ihrem Leben nicht mehr so ganz sicher Auskunft geben können. Ja eine Dame gesteht sogar auf die Frage, ob sie öfter hier sei, dass sie gar nicht wisse, wo sie sich befinde. Aber sie wolle auf jeden Fall noch bleiben! Geblieben ist die Lebens-freude, die Lust, sich fein zu machen. Geblieben sind all die Schlagertexte aus den 50er, 60er Jahren, kein Problem, alle Strophen mitzusingen, den Rock ’n’ Roll zumindest mitzuklat-schen, sitzend mitzuwippen. Geblieben ist zumindest bei einigen das jugendliche Lampenfieber. Wolfgang H. zum Be-spiel, der im Sommer 59 wird, antwortet auf die Frage, ob er denn gleich tanzen werde, ja, das wolle er schon, aber er sei so

nervös, die Nerven, die Nerven . . . Früher sei das nicht so ge-wesen, aber jetzt sei er so schüchtern! Eine Lieblingsdame hat er nicht, seine Lieblingsdame, das ist Helene Fischer, aber die ist ja nicht da. Die Oldies, die sie hier spielen, mag er, die meis-ten kennt er auch. Und dann sagt er auf die Frage, ob sie in seiner Pflegeeinrichtung denn auch mal tanzen, ganz unver-mittelt: „Ich fotografier auch gern!“

Es ist ein gemischtes Völkchen, das an diesem sonnigen Nachmittag in Berlin-Zehlendorf in einer großzügigen ehema-ligen Fabrikantenvilla mit Garten und Terrasse zusammenge-kommen ist. Es sind viele Menschen darunter, die nicht mehr so recht in der Lage sind, zu anderen Kontakt aufzunehmen oder sich im herkömmlichen Sinne zu unterhalten. Aber klar ist: der gepflegte Rahmen, das Licht, die Livemusik, die auf-merksame Herzlichkeit der Initiatorin Rosemarie Drenhaus-Wagner und ihres Teams sorgen für beschwingte Atmosphäre, es ist lebendig, es wird gelacht. Es duftet nach Kaffee und Ku-chen, das Geschirr klappert. Manche Gäste muss man nicht extra zum Tanzen bitten, sie steuern von alleine auf die Tanz-fläche zu und sind selig. Andere lassen sich gern auffordern, und irgendwann tanzen alle mit allen, Freude liegt auf den Ge-sichtern; auch das zum Teil jugendliche Betreuerpersonal ist mit von der Partie, und ein eigens angeheuerter Eintänzer sorgt dafür, dass jede Dame zumindest einmal aufgefordert wurde. Die Beine bekommen den Walzer oder den Fox mühe-los hin, auch Freestyle klappt wunderbar, sogar bei denen, die sonst schon einiges durcheinanderbringen. Es ist wie mit den Schlagertexten: Was man in früher Jugend gekonnt und lebenslang gemacht hat, das bleibt – „der Körper erinnert sich“, erklärt Rosemarie Drenhaus-Wagner, die Vorsitzende der Alzheimer Angehörigen-Initiative, und das mache die Tänzer

Schuld war nur der BossanovaVieles funktioniert nicht mehr so recht, wenn man alt wird. Aber an die richtigen Schritte erinnert sich der Körper und der Kopf an die Schlagertexte: ein Besuch im Alzheimer-Tanzcafé in Berlin-Zehlendorf

Ein eigens angeheuerter Eintänzer sorgt dafür,

dass jede Dame zumindest einmal zum Tanz aufge-

fordert wurde.

Page 22: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

22 Diakonie magazin Spezial 2011 Lebenskunst

glücklich. „Das ist Aktivierung ohne Leistungsdruck, die Musik löst sie aus ihrer inneren Starre.“ Alles komme beim Tanzen wieder, auch die Erinnerungen.

Und je älter sie sind, die Erinnerungen, desto präsenter sind sie – mehr als das, was gerade eben passierte. Elna B. zum Bei-spiel antwortet auf die Frage, ob sie denn gern tanze, früher, ja, da habe sie gern getanzt, heute mache sie das nicht mehr. Aber hat man sie nicht gerade tanzen sehen? „Nee, ich krieg das nicht mehr hin, ich mach das nicht mehr. Früher, mit meinem Mann, da hab ich gern getanzt, aber nur mit dem!“

Edeltraud W., 82 Jahre, hat noch Erinnerungen, die sie „nie wieder loswird“, wie sie schon nach wenigen Sätzen berichtet. „Die Russen, die waren genau mittags um zwölf bei mir in der Straße, ich kann mich an alles genau erinnern!“ – „Das waren keine schönen Zeiten . . .“ – „Ja und nein, die haben alle die jungen Frauen genommen, auch die älteren, das war denen so egal . . .“ – „Und daran können Sie sich noch erinnern?“ – „Aber hundert Pro“, sagt sie, „so was vergisst man nie!“ Edeltraud W. ist energisch für drei und nimmt kein Blatt vor den Mund.

Vier Jahre sei sie verheiratet gewesen, „zwei zu viel!“, wie sie erklärt, dann habe sie sich scheiden lassen und danach „37 Jahre in wilder Ehe mit einem Mann zusammengelebt“, mit dem sie glücklich war. Auf die Frage, ob sie gern tanze, eine klare Ansage: „Ich bin so ’ne echte Tanzmaus!“‘

Wer grad nicht tanzt, klatscht mit. Clownin „Flotte Lotte“ ist darauf

spezialisiert, demente Menschen zum Strahlen zu bringen.

Das Tanzcafé ist ein niederschwelliges Angebot der Alzheimer Angehörigen-Initiative e.V. (AAI), einer regionalen Berliner Alz-heimer Gesellschaft, , es besteht seit zehn Jahren. Die AAI bietet Demenzkranken und deren Angehörigen überbezirklich unterschiedliche Unterstützung, darunter ambulante und häusliche Beratungs- und Betreuungsangebote, Gesprächs-gruppen, Krankenbetreuung, „Betreuten Urlaub“ und diverse Veranstaltungen. Die Nachfrage ist groß, inzwischen gibt es in Berlin weitere ähnliche Projekte. Infos: www.alzheimer- organisation.de oder www.alzheimerforum.de

Mittanzen in Zehlendorf

Page 23: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

23Spezial 2011Diakonie magazinLebenskunst

Barbara-Maria Vahl

zwei Stunden gibt er ihr etwas durch die Magensonde; spre-chen kann Margrit schon länger nicht mehr, manchmal kom-me ein leises Ja oder Nein, mehr nicht. Er versuche zu erah-nen, was ihr guttut, was sie möchte, was ihr wehtut. „Das ist schwer, wenn man den Menschen nicht mehr so vor sich hat, wie man es immer gewohnt war, wir sind im Mai 39 Jahre miteinander verheiratet.“ Sie ist 67, er 62 Jahre. Der Tanztee, der tut ihr gut, das weiß er, die Menschen um sie herum, das mag sie; seit fünf Jahren haben sie kaum einen Tanzmon-tag ausfallen lassen, lacht er und sieht seine Frau an. Sie ist seine große Liebe? „Ja!“, strahlt er, und sie lächelt versonnen aus ihren schönen blauen Augen.

Dann gibt es eine Polonaise, die Teil des Abschiedsrituals ist, und um 18 Uhr brechen die Gäste mit ihren Betreuern auf. In vier Wochen werden die meisten wieder da sein.

Aus besseren Tagen: Noch vor zwei Jahren konnte Ehepaar C. Walzer tanzen. Heute sitzt Margrit im Rollstuhl (unten). Rechts oben: Edeltraud W., die „Tanzmaus“.

Reichlich Schwung hat auch Inge W., die ganz regelmäßig zu den Tanznachmittagen nach Zehlendorf kommt. „Von Anfang an!“ – das sind immerhin zehn Jahre. Und die Kapelle sei doch so „nett“ – das Little Rock Live Music Duo, ein Lehrer und ein Sozialarbeiter, zieht zwei Stunden ohne Pause ein Riesen-programm durch, Oldies und Rock ’n’ Roll, schwungvoll und professionell, echte Einheizer. Inge W., 80, kennt alle Lieder und singt mit, mit umwerfend klarer, kraftvoller Stimme, blitzsauber, mit gekonntem Schmieren an gewissen Stellen: „Schuld war nur der Bossanova, der war schuld daran . . . !“

Auf der Tanzfläche ist immer noch das Ehepaar mit dem Rollstuhl. Raimund C. tanzt mit seiner Frau Margrit, er strahlt. Sie lächelt versonnen, versunken. Und später ruht ihr Blick auf ihm, während er erzählt. Ganz plötzlich sei das gekommen mit der Demenz, fast von einem Tag auf den nächsten. Das Friseurgeschäft, das sie gemeinsam geführt hatten, mussten sie damals aufgeben, 2003, als sie krank wurde, „da hat sie nicht mehr nach Hause gefunden“. Seither pflegt er seine Frau. „Das ist ein 24-Stunden-Job.“ Sie kann nicht mehr essen, alle

ANZEIGE

Page 24: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

24 Diakonie magazin Spezial 2011 Lebenskunst

Meinung

Scheinbushaltestellen sollen Menschen mit Demenz das Gefühl

geben: Alles ist gut. Du musst nicht weiter weglaufen

*Anm. der Red.: Alle Namen von Betroffenen wurden geändert.

Pflegemodelle und Literatur

Das Modell der „Validation“ wurde um 1990 von der Ameri­kanerin Naomi Feil entwickelt. Die Kommunikation mit dem De­menzkranken findet vor allem auf der Beziehungsebene statt. Naomi Feil, Validation in Anwendung und Beispielen. Der Umgang mit verwirrten alten Menschen. Ernst Reinhardt Verlag München. 6. aktualisierte und erweiterte Aufl. 2010. 24,90 Euro

Der Österreicher Erwin Böhm entwickelte ein psychobiogra­fisches Pflegemodell, das zur Reaktivierung früherer Fähigkeiten beitragen soll. Erwin Böhm, Verwirrt nicht die Verwirrten. Neue Ansätze geriatrischer Krankenpflege. Psychiatrie­Verlag Bonn. 14. Aufl. 2009. 15,90 Euro

Page 25: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

25Spezial 2011Diakonie magazinLebenskunst

Sogar ein Fahrplan hängt an der Haltestelle. Der Heim-bewohner, orientierungslos und heimwehkrank, setzt

sich auf die Bank und wartet auf den Bus, der ihn nach Hause bringen soll. Bloß: Der kommt nicht. Ist das in Ordnung?

„Möglicherweise könnte es funktionieren, aber ich lehne es ab!“ Christa Rodriguez, Pflegedienstleiterin des Sigmund-Faber-Heims im fränkischen Hersbruck, einer Einrichtung der Diakonie Neuendettelsau, erklärt, worum es im Umgang mit demenziell erkrankten Menschen tatsächlich geht. Otto Müller* zum Beispiel verlässt gern mal sein Zimmer und spa-ziert zielstrebig durch das Foyer nach draußen. „Eine künstli-che Bushaltestelle würde ihn nicht aufhalten“, weiß Rodriguez. Sie hat ihn angesprochen, sich auf seinen Schritt eingestimmt und gefragt, ob sie ihn ein Stück begleiten dürfe. Im weite- ren Gespräch erfährt sie so, dass er nach Hause wolle, zu den Kindern, für die er zu sorgen habe.

Anstatt ihm beispielsweise vorzulügen, die Kinder seien im Ferienlager, versucht sie sich auf die Gefühle des Mannes einzustimmen, ihn zu bestärken: Ein guter Vater sei er ge-wesen! „Wir suchen den Umweg“, beschreibt sie ihre Vorge-hensweise, die unter anderem auf dem Kommunikationsmo-dell „Validation“ von Naomi Feil (s. Kasten) beruht. Otto Müller wird ein Weg eröffnet, über seine Gefühle zu sprechen. Und die Pflegekraft bleibt wahrhaftig, kann ihn vielleicht entlasten

Fo

tos:

Mic

hael

Hag

edo

rn

Die Haltestelle, an der nie ein Bus vorbeikommt . . .Soll man den Alten etwas vorspielen, um sie zu beruhigen? Auch Menschen mit Demenz haben ein Anrecht auf Wahrhaftigkeit, sagen erfahrene Pflegedienstleiter.

Pflegemodelle und Literatur

von dem Druck, der ihn aus seinem Zimmer „nach Hause“ trieb. Er lässt sich zu einer Tasse Kaffee einladen, eben „auf Umwegen“ in sein heutiges Zuhause zurückbringen.

Christine Wagner-Schulte leitet das private Senioren Centrum Patricia in Nürnberg. „Das Ziel aller Arbeit mit den demenziell erkrankten Menschen ist deren Wohlbefinden!“ betont sie. So wie die Angehörigen müssten auch Fachkräfte akzeptieren, dass es zwei Welten gebe: die Realität der gesun-den Menschen und die des Dementen. Umso wichtiger sei es, ihn nach dem Ansatz von Tom Kitwood (siehe Kasten) als einzigartige Person zu behandeln. Hans Fischer*, erzählt sie, mag sich manchmal nicht waschen lassen. Eine Pflegekraft hat ihm da schon einmal erzählt, dass heute „der Doktor kommt“, obwohl das nicht stimmte. So ließ der Mann sich dann doch waschen – für den Herrn Doktor. „Aber für mich kommt eine Lüge nicht infrage!“, sagt Wagner-Schulte.

Oft hilft es in solchen Fällen, mehr über den Menschen zu wissen, sagt Gerda Reinthaler. Sie ist Pflegedienstleiterin im Haus Heimweg in Ansbach, einer Einrichtung der Rummels-berger Dienste für Menschen im Alter gGmbH. Einer ihrer Be-wohner wollte nicht geduscht werden. Mit Hilfe seiner Lebens-gefährtin erkannte man schließlich, dass es ihm einfach peinlich war. Von nun an übernahm das die Lebensgefährtin.

„Ein Mensch läuft nicht weg, sondern er will irgendwohin!“, sagt Reinthaler. Da helfe ihm kein Lügen vom Bus, und die Wartesituation beunruhige ihn nur. Sie berichtet von Frau Henninger*, die mit ihrem Rollator an der Bundesstraße un-terwegs war. Sie wollte nicht „weg“, sondern „hin“ zum Super-markt in der Nähe, in den ihre Tochter sie zum Einkaufen mitgenommen hatte. Beobachten, empfiehlt Reinthaler in An-lehnung an das Modell von Erwin Böhm (s. Kasten).

Eine Ethik der Wahrhaftigkeit mit den Erfordernissen des Pflegealltags in Einklang zu bringen, ist nicht immer einfach. Die „Biografie-Arbeit“ hilft in vielen Fällen, so wie bei Frau Jür-gens* im Haus Heimweg, die abends partout nicht essen woll-te. „Durch Beobachten und Fragen erfuhren wir schließlich, dass sie abends früher immer Marmeladenbrote gegessen hat-te“, erinnert sich Gerda Reinthaler. Die Bewohnerin fühlte sich besser, und die Pflegekräfte auch. Ganz ohne Bushaltestelle.

Susanne Hassen

Der von dem britischen Psychologen Tom Kitwood 1995 vorgestellte Ansatz der personenzentrierten Pflege stellt die Einzigartigkeit der Person in den Mittelpunkt. Tom Kitwood, Demenz. Der person­zentrierte Ansatz im Umgang mit ver­wirrten Menschen. Hans Huber Verlag Bern. 5. erg. Aufl. 2008. 26,95 Euro

Außerdem empfehlenswert: Ingrid Hametner, 100 Fragen zum Umgang mit Menschen mit Demenz. Brigitte Kunz Verlag Hannover. 2. aktual. Aufl. 2010. 9,95 Euro

Page 26: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

26 Diakonie magazin Spezial 2011 Spektrum

„Kann man die Mutter noch allein kochen lassen? Was ist, wenn sie vergisst, den Herd auszuschalten? Was,

wenn sie die Wohnung verlässt und nicht daran gedacht hat, den Wasserhahn zuzudrehen?“ Solche Fragen sind es meist, die Angehörige als Erstes in die Alzheimerberatung bringen, weiß Günther Schwarz. Der 53-jährige Psychologe hat ein ganzes Berufsleben der Hilfe für Demenzkranke und ihre An-gehörigen gewidmet. Während seines Zivildienstes im Pflege-heim war er dem Phänomen der Demenz erstmals begegnet. Später stellte ihn die Evangelische Gesellschaft Stuttgart ein, wo er die nach München und Berlin dritte Alzheimerberatung in Deutschland gründete. Seitdem recherchiert Schwarz alles, was über Demenz geforscht und publiziert wird, und ent-wickelt daraus praxistaugliche Vorschläge für den Alltag mit Demenzkranken. Zugleich nimmt er auf, was Angehörige und Praktiker selbst erleben und erfahren.

Was den meisten als Erstes einfällt: Gefahrenquelle Herd. Beim Elektroherd empfiehlt Schwarz eine zeitgesteuerte Abschaltautomatik und erzählt von einem findigen Elektriker. Der hatte die Idee, die Automatik so mit einer Lichtschranke zu kombinieren, dass seine Kundin wie gewohnt kochen konn-te. Wenn sie aber die Küche verließ, ging der Herd nach zehn Minuten aus. In einer Serie von Tipps schreibt Schwarz: „Aufwendiger und teurer, aber auch flexibler sind Sensoren zur Hitzeüberwachung an oder über den Herdplatten, die den Herd abschalten, wenn eine bestimmte Temperatur über-

schritten wird. ‚Brenzlig‘ sind auch glimmende Zigaretten-kippen und heruntergebrannte Kerzen. Rauchmelder, bei Al-leinlebenden in Verbindung mit einer Notrufzentrale, bieten einen gewissen Schutz.“

Soll man Teppiche wegen der Sturzgefahr entfernen? Nicht unbedingt, sagt Schwarz, Teppiche seien wichtig für „Wohn-lichkeit und Vertrautheit“. Praktischer Tipp: dafür sorgen, dass der Teppich nicht rutscht und die Ecken ankleben. Wer leicht stürzt, könne sogenannte Hüftprotektoren tragen. Das sind eng anliegende, unter der Kleidung getragene kurze Hosen mit seitlichen festen Einlagen. So würden Knochenbrüche weitgehend vermieden.

Der Experte warnt vor zu vielen Veränderungen – eine Zwickmühle, wenn Demenzkranke zusätzlich ihre körperliche Beweglichkeit verloren haben. Vielen alten Menschen falle es schwer, den Umgang mit Rollator oder Rollstuhl zu lernen. „Wenn es bergab geht, muss man bremsen, die Hände können dann in die Speichen geraten.“ Schwarz‘ Überlegungen zum

Der Psychologe Günther Schwarz ist spezialisiert auf die Beratung Demenzkranker und ihrer Angehörigen: Gefahren ent-decken und vorbeugen!

Ist das nicht gefährlich?Wer alles vergisst, der vergisst auch den Herd oder weiß nicht mehr, wo er wohnt. Praktische Tipps für den Alltag mit Alzheimerkranken

Alltag

Fo

tos:

Mic

hael

Hag

edo

rn

http://www.eva-stuttgart.de/alzheimer-beratung.html – in der Linkliste das Thema „Technische und pflegerische Hilfen bei Demenz“, Stand: Oktober 2010

Tipps für Angehörige und Kranke

Page 27: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

27Spezial 2011Diakonie magazinSpektrum

Thema Inkontinenz: Die üblichen Einlagen werden mögli-cherweise als Fremdkörper empfunden und entfernt, besser, allerdings viel teurer, sind spezielle Pants.

Zur gefährlichen Zone wird bei Demenzkranken das Bett: Beim nächtlichen Aufstehen helfen Bewegungsmelder, die das Licht an- und abschalten. Alarmtrittmatten, die auf Belastung reagieren, oder Lichtschranken lösen Signale für Betreuungs-personen aus.

Schwarz erzählt von einem Mann, der seiner mehrere Hundert Kilometer entfernt lebenden Mutter regelmäßig „Gute Nacht“ wünschte: mit einem System von Lichtschranke und Kamera im Flur, die ihr Bild auf sein Handy schickte, und einem Telefon neben dem Bett, das bei seinem Anruf automatisch den Lautsprecher anschaltete. Etwas schlichter der Trick einer Ehefrau, die sich selbst und ihrem demenz-kranken Mann im Doppelbett ein Hosengummi aus dem Näh-kasten um die Füße band. So wachte sie auf, wenn er aufste-hen wollte.

Wenn man gehbehindert ist und auch noch allein, kann das Aufstehen erst recht gefährlich sein. Dafür gibt es Betten, deren Liegeflächen fast bis zum Boden absenkbar sind. Eine vors Bett gelegte Matratze oder ein übergroßer Sitzsack (mit Styroporkügelchen gefüllt) können aber auch Schutz bieten.

Andere Demenzkranke sind noch rüstig, entwickeln ein starkes Bewegungsbedürfnis – und finden allein vielleicht nicht mehr zurück nach Hause. Schwarz empfiehlt als Erstes, eine vertraute, gemütliche Atmosphäre mit vielen Erinne-rungsstücken zu schaffen, in der sich der alte Mensch hei-misch fühlt. Die wichtigen Räume sollen immer gut ausge-leuchtet sein, dunkle Ecken machen Angst. Keine Krankenhausatmosphäre: „Im Krankenhaus lebt man nicht, sondern wartet, bis man wieder nach Hause kann.“ Schwarz weiß aber auch von Möglichkeiten der Personenortung über das Handyfunknetz oder Satelliten. Das ist moralisch heikel, aber manchmal vielleicht notwendig. In der einfachsten Vari-ante kann die besorgte Ehefrau durch einen Anruf auf das Handy per SMS den Standort erfahren, wenn ihr Mann von seiner täglichen Runde nicht wiederkommt. Die Tochter kann etwa zwischendurch im Büro kurz auf ihrem Bildschirm nach-sehen, wo sich der Vater gerade aufhält und welchen Weg er vorher zurückgelegt hat. Immer lässt sich eine Bewegungs-grenze einprogrammieren, bei deren Überschreiten automa-tisch eine SMS an eine bestimmte Nummer gesendet wird.

Und noch eine Frage bewegt die Angehörigen, wenn sie in die Sprechstunde von Günther Schwarz kommen: Wer haftet eigentlich, wenn ein Demenzkranker „etwas anstellt“? Durch-aus auch die Angehörigen, wenn auch nur in eng gestecktem Rahmen, sagt Schwarz. „Als Haushaltsvorstand haftet man, wenn etwa der bei seinen erwachsenen Kindern wohnende Va-ter keine Mülltonne mehr kennt, sondern alles, auch Flaschen, aus dem Fenster wirft.“ Er schmunzelt, „das gab es wirklich!“ Wer eine Generalvollmacht hat oder gesetzlicher Betreuer ist, ist verantwortlich, „im rechtlichen Sinne Vorkehrungen für Wohlbefinden und Sicherheit der Person zu treffen“. Das sei aber keine Aufsichtspflicht, wie sie ein Heim hat. „Nur: Wenn der Betroffene sich selbst oder andere massiv schädigt, muss ich den Antrag stellen, dass er geschlossen untergebracht wird.“ Die Haftpflichtversicherungen des Betroffen und der Angehörigen über die „Gefahrenerhöhung“ zu informieren, das werde zwar empfohlen, so Schwarz, aber obwohl das kaum geschehe, kenne er bisher keine Fälle von Rechtsstreitigkeiten.

Die Freiheit ist ein hohes Gut und geschützt: „Wenn die Tante sich das Autofahren nicht nehmen lässt und auch nicht zum Arzt geht, dann können Sie nichts machen.“ Ein gutes Vertrauensverhältnis hilft.

Günther Schwarz warnt: „Oft schließen sich Gefahrenvermei-dung und Lebensqualität wechselseitig aus. In der Abwägung müssen oft Risiken in Kauf genommen werden, um Lebens-qualität für die Kranken zu ermöglichen. Völlige Sicherheit ist nur durch die Unterbringung in einer Gefängniszelle erreich-bar.“ Und das kann ja wohl nicht das Ziel sein . . .

Katharina Weyandt

Das Leben ist ein Risiko – erst recht, wenn man sich allein nicht mehr zurechtfindet und die Welt fremd geworden ist.

Page 28: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

28 Diakonie magazin Spezial 2011 Spektrum

Am Anfang hieß es Abschied nehmen: vom eigenen Haus, von der gewohnten Umgebung, von liebgeworde­

nen Dingen. „Das war manchmal grausam“, erinnert sich Ralf­Hagen Ferner. Mit sechs Mitbewohnern sitzt der 67­Jäh­rige am großen Esstisch und lässt sich das gemeinsam zube­reitete dreigängige Menü schmecken. Beim Einrichten der Gemeinschaftswohnung zum Beispiel habe jeder versuchen können, eigene Möbel unterzubringen, erzählt Ferner: „Da­mals hieß es Daumen rauf oder Daumen runter.“ Vieles wurde abgelehnt. Dann flossen auch schon mal Tränen.

Von diesen schmerzhaften Erlebnissen ist sechs Jahre später nichts mehr zu spüren. Die Gemeinschaftswohnung des Wohnprojekts Gilde­Carré im zentral gelegenen hannover­schen Stadtteil Linden ist gemütlich eingerichtet, besteht aus einem Wohn­ und Essraum mit großem Tisch, Küchenzeile, Sitzecke und Klavier. Es gibt ein barrierefreies Bad, in einem weiteren Zimmer ist eine kleine Töpferwerkstatt eingerichtet. Fotos: Markus Lampe / leinebrandung

So mühsam es ist, ein Wohnprojekt zu organisieren – das Leben in der Gruppe macht einfach mehr Spaß. Und ermöglicht dem Einzelnen mehr Selbstbe-stimmung

Und donnerstags wird gekocht!

Reportage

Einer muss Kartoffeln schälen fürs Mittagessen – diese Woche macht das Ralf-Hagen Ferner.

Page 29: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

29Spezial 2011Diakonie magazinSpektrum

Und donnerstags wird gekocht!

Das Forum Gemeinschaftliches Wohnen e. V. fördert selbst-bestimmte gemeinschaftliche Wohnprojekte vor allem älterer Menschen, aber auch von Familien, als Alternative zum her-kömmlichen Wohnen. In dem bundesweit tätigen Forum mit Hauptsitz in Hannover sind Einzelpersonen, Verbände und Vereine organisiert. Das Forum betreibt Lobbyarbeit auf poli-tischer und gesellschaftlicher Ebene. Es bietet Informationen und Beratung bei rechtlichen und finanziellen Fragen, gibt Arbeitsmaterialien heraus, organisiert Workshops und Erfah-rungsaustausch. Infos: www.fgw-ev.de. Tel.: 05 11/4 75 32 53.

Service und Beratung

seits finden sie immer jemanden für ihre Aktivitäten und In­teressen. Jeden Donnerstag wird mittags gemeinsam gekocht und gegessen. Wechselnde Gruppen wandern oder gehen ins Kino, spielen Boule und Karten, treffen sich zur Rückenschule oder zum Musizieren. Die Bewohner feiern mit den Nachbarn Straßenfeste und backen mit deren Kindern Kekse. Häufig werden Freunde und Verwandte in die Gemeinschaft inte­griert, für längere Besuche gibt es zwei Gästewohnungen. Auf dem alle 14 Tage stattfindenden Plenum wird vor allem Orga­nisatorisches besprochen. Nichts muss, alles kann, könnte die Devise der Wohngemeinschaft lauten – zumindest bei der Freizeitgestaltung.

„Wir arbeiten hier viel mit Listen“

Aber das Wohnprojekt Gilde­Carré ist mehr als eine Zweck­WG. Die Bewohner wollen auch Verantwortung füreinander übernehmen. So gibt es eine „Lebensliste“, in die sich jeder täglich eintragen muss. Wenn jemand darauf nicht unter­schreibt, klingeln die Nachbarn, um sich nach dem Wohlerge­hen zu erkundigen. Ist jemand krank, wird er besucht und bei den Dingen des täglichen Lebens unterstützt.Als die 77­jährige Katharina Lindenberg neulich ins Kranken­haus musste, regelte ein Besuchsplan, wer von ihren Mitbe­wohnern wann zu Besuch kommt. „Wir arbeiten hier viel mit Listen“, erläutert Ferner. Doch nicht alles kann frühzeitig ge­klärt werden. Einen Plan, wie sie mit einem Pflegefall in der Gemeinschaft umgehen werden, gebe es noch nicht, sagt Fer­ner: „Wenn der Fall eintritt, setzen wir uns zusammen und überlegen, was wir jetzt machen können.“

Mit dieser Frage musste sich die 16­köpfige Wohngruppe am Sticksfeld in Hannover­Kronsberg bereits auseinanderset­zen: Eine der Bewohnerinnen erlitt einen Infarkt, musste in die Klinik, später zur Reha. Sie war zunächst auf den Rollstuhl angewiesen und konnte sich kaum noch selbst versorgen. Die Ärzte empfahlen ein Pflegeheim. Doch die Hausgemeinschaft entschied, die Betreuung zu übernehmen. Die Mitbewohnerin kehrte zurück und wird nun von einem Pflegedienst versorgt und von der Gemeinschaft betreut.

Dort stehen auch Stellwände mit vielen Zetteln. Die Stich­worte darauf entstanden während einer Mediation, reflektie­ren die vergangenen gemeinsamen Jahre: 2005 zogen zwölf Mietparteien, darunter zwei Ehepaare, in das Haus. Die jüngs­te Mitbewohnerin ist inzwischen 58, die älteste 77 Jahre alt, die meisten Bewohner sind pensioniert, einige arbeiten noch. Jede einzelne Partei schloss einen eigenen Vertrag mit dem Vermieter, einer Wohnungsgenossenschaft, ab. Alle zusam­men bilden eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die als Mie­ter der Gemeinschaftswohnung auftritt.

Für Gäste gibt‘s eine Extrawohnung

So verschieden die Bewohner sind, ein Motiv verbindet sie vom ersten Augenblick an – der Wunsch nach Gemeinschaft. Anders ausgedrückt: die Angst vor Vereinsamung. Einerseits können sich alle in ihre Wohnungen zurückziehen. Anderer­

Page 30: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

30 Diakonie magazin Spezial 2011 Spektrum

Diese Sorge umeinander, die gegenseitige Hilfe, ist ein wich­tiger Bestandteil des Konzepts, dem sich die Mitglieder des Vereins „Gemeinsam statt einsam“ verpflichtet fühlen. Ein Le­ben im Pflegeheim wollen sie vermeiden, solange es geht. „Mir ging es darum, dass ich selbstständig bleibe“, betont Bri­gitte Stender. Die 78­Jährige war früher Pflegedienstleiterin in einem Heim in Berlin und wurde täglich mit der Frage kon­frontiert, wie sie später einmal wohnen möchte. Auf keinen Fall wollte sie ihren Kindern zur Last fallen. Um ihre Tochter, Mutter zweier Kinder, in Hannover unterstützen zu können, zog sie aus Berlin fort. Als sie wenig später eine Zeitungsan­nonce für ein Wohnprojekt las, war sie gleich Feuer und Flam­me: „Ich suchte ja auch neue Bekannte in Hannover.“

„Mir geht es darum, dass ich selbstständig bleibe“

Hinter der Annonce steckte Dieter Mattern, damals Stadt­planer in der hannoverschen Verwaltung. Er verfolgte das Ziel, alternative Wohnformen fürs Alter zu realisieren, und war 1997 Mitbegründer des Vereins. Viele Jahre vergingen, und ein zähes Ringen mit Behörden sowie Wohnungsunternehmen

„Für Menschen, die noch neugierig sind“Frau Dahlmann, haben sich die Wohnbedürfnisse älterer Men-schen in den letzten Jahren verändert?Im Forum registrieren wir mehr und mehr Anfragen von Men­schen, die sehr selbstbewusst, gut ausgebildet und gesund in den Ruhestand gehen. Sie wissen, dass möglicherweise noch ein langer aktiver Zeitraum vor ihnen liegt. Diesen wollen sie gestalten und auch eine Vorsorge für die Zeit treffen, in der es ihnen nicht mehr so gut geht und Hilfestellungen im Alltag

InterviewIngeborg Dahlmann ist stellvertretende Vorsitzende der Bundesvereinigung Forum Gemeinschaftliches Wohnen e. V. und Leiterin der Geschäfts-stelle.

notwendig werden. Immer mehr ältere Menschen sorgen sich auch um ihre Zukunft, weil sie allein sind.Für wen kommen Wohnprojekte vor allem infrage?Gemeinschaftlich wohnen kann jeder, der bereit ist, sich mit seinen eigenen Wünschen und seinen Mitbewohnern ausein­anderzusetzen. Insbesondere Frauen fragen rechtzeitig an und wollen Lösungen für die Zeit nach dem Berufsleben. Eine hohe soziale Verantwortlichkeit und Freude am gemeinschaft­lichen Handeln mit anderen sind sicher Voraussetzung – und eine gewisse Neugier auf das Leben, das noch zu erwarten ist.Welche Formen von Wohnprojekten im Alter existieren bereits?Wohnprojekte sind so vielfältig, wie die Initiatoren und Be­wohner sie gestalten. Sachlich gibt es den Unterschied zwi­schen Baugemeinschaften, die Eigentum bilden, Mietern, die eine Genossenschaft oder einen anderen Vermieter gefunden haben, und neu gegründeten Genossenschaften.Wo liegen die Grenzen gegenseitiger Hilfe?Menschen in Wohnprojeken gehen offen und ehrlich mitein­ander um. Durch den langen Prozess hat man sich kennenge­lernt und im besten Fall auch geregelt, wer wem in welcher Situation zur Seite steht. Grenzen sehe ich im Bereich der me­dizinisch­fachlichen Pflege. Die soziale Komponente in der Pflege kann in der Gruppe allerdings sogar besser gelingen. Wie werden die heute 50-Jährigen später leben?In einer altersgemischten Gesellschaft mit guter Infrastruk­tur. Hoffentlich in barrierefreien Wohnungen – und in einer selbst gewählten und selbstbestimmten Lebensform!

Welcher Alleinlebende hat schon einen Fitnessraum zu Hause? Im Wohnprojekt kann man sich das leisten. Auch das Gehirn wird gemeinsam trai-niert: beim Scrabbeln. Katharina Lindenberg (oben rechts) war Kirchenmusikerin an einer großen hannoverschen Kirche. Sie ist sicher, das rich-tige Lebens- und Wohnmodell für sich gefunden zu haben.

Page 31: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

31Spezial 2011Diakonie magazinSpektrum

war nötig, bis endlich 2001 das Wohnprojekt auf dem Krons­berg Gestalt annahm. Hier sollte auch Menschen mit geringen finanziellen Möglichkeiten ein selbstbestimmtes, gemein­schaftliches Wohnen im Alter ermöglicht werden. Die Miete ist vergleichsweise gering, die Wohnungen sind unterschied­lich groß, die Gemeinschaftswohnung wird häufig vermietet.

Die lange Vorlaufphase mit den vielen Rückschlägen habe die Bewohner zusammengeschweißt, glaubt Stender. Die Bewohner im Alter zwischen 62 und 84 Jahren unternehmen viel zusammen und verbringen einige Zeit miteinander, an­fangs fuhren sie sogar gemeinsam in den Urlaub. Auf den wö­chentlichen Treffen wird das Zusammenleben geregelt – und reflektiert. Auf Erfahrungen ähnlicher Projekte konnten die Bewohner nicht zurückgreifen. „Das war neu, das war ein Ex­­pe­riment“, sagt Stender: „Wir sind immer wieder gezwungen, uns neu zu organisieren. Im Grunde kommen wir aus diesem Ex­­periment nicht heraus.“

Viele Projekte kommen nie aus dem Planungsstadium heraus

Die Wohngruppe am Sticksfeld ist so etwas wie ein Feldver­such. Viele Medien haben bereits darüber berichtet, die Be­wohner werden zu Vorträgen eingeladen, Besucher kommen, um diese Wohnform kennenzulernen. Der Bedarf scheint groß, konkrete Wohnprojekte gibt es aber noch wenige: Das Forum Gemeinschaftliches Wohnen schätzt die Zahl der ernst­haft Interessierten auf über 10 000 Menschen, bundesweit sind dort Dutzende von Initiativen registriert. Laut der Studie

„Leben und Wohnen im Alter“ der Bertelsmann­Stiftung sind 65 Prozent der Altershaushalte prinzipiell umzugsbereit, wenn eine alternative Wohnform sie anspricht. Andererseits schätzt Mattern die Zahl der realisierten Wohnprojekte in Deutschland auf gerade einmal 500. Viele Projekte scheitern im Vorfeld, weil kein passender Wohnraum gefunden wird, und später, weil die Bewohner nicht miteinander auskommen oder weil der Nachwuchs fehlt.

Auch die Wohngruppe im Sticksfeld hat Schwierigkeiten, neue Bewohnerinnen und Bewohner zu finden. Insbesondere die Wohnungen, die nicht von einem Fahrstuhl erschlossen werden, sind schwer zu vermitteln. Die Gruppe hat reagiert: Mussten potenzielle neue Mitbewohnerinnen und ­bewohner sich früher sofort verpflichten, das gemeinschaftliche Konzept mitzutragen, können sie jetzt eine Weile zur Probe wohnen.

Dieses Jahr feiert die Wohngemeinschaft ihr zehnjähriges Bestehen. Das Zusammenleben war nicht immer einfach. Vom Streit um Bilder, die in der Gemeinschaftswohnung aufge­hängt werden sollen, bis hin zum Vorwurf der mangelnden Respektlosigkeit, die sich entwickelt, je länger man sich kennt – Konflikte bleiben nicht aus. Das ändert aber nichts an der Überzeugung, die richtige Wohnform gewählt zu haben: „Das ist eine unglaubliche Lebensqualität, die wir uns hier geschaf­fen haben“, betont Gisela Jöhnk, Vorsitzende des Vereins „Ge­meinsam statt einsam“. Und Dorothee Birck­von­Bisram, mit 84 Jahren die Älteste im Haus, ergänzt: „Ich könnte mir keine Form des Lebens vorstellen, die so gut ist wie diese.“

Und wer serviert die Suppe? Die Aufgaben sind gut verteilt, wenn die Wohngemeinschaft sich zum Essen verabredet.

Sebastian Hoff

Page 32: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

32 Diakonie magazin Spezial 2011 Spektrum

Fo

tos:

Mic

hael

Hag

edo

rn

Sie mag keine „Betroffene“ sein, das Wort gefällt ihr grundsätzlich nicht. Helga Rohra sagt lieber, sie schwä-

chelt etwas. Die Übersetzerin aus München war 55, als sie merkte, dass sie „Hosenschuhe“ statt Hausschuhe sagte, dass ihr plötzlich Wörter nicht mehr einfielen. Die Diagnose De-menz hat ihr aber nicht die Stimme genommen, die erhebt sie jetzt erst recht. Im Radio, bei Vorträgen, in Selbsthilfegruppen, und jetzt hat sie auch ein Buch geschrieben. „Aus dem Schat-ten treten“ erscheint im Herbst im Mabuse-Verlag.

Wer dement ist oder Alzheimer hat, in einem frühen Sta-dium, der kann durchaus noch für sich selbst reden und schreiben. „Am Ende des Gedächtnisses gibt es eine andere Art zu leben“, heißt das Buch, in dem die schwedische Pastorin Agneta Ingberg ihr Leben mit Alzheimer beschrieb. Der ehema-lige Psychologieprofessor Richard Taylor gehörte zu den Ers-ten, die über ihre Demenzerkrankung selber schrieben, der Autor von „Alzheimer und Ich“ ist inzwischen eine Art Star der

Szene und auch in Deutschland häufig in Interviews und auf Kongressen zu erleben.

Alle hier Genannten kämpfen gegen ein Bild von Demenz, das nur ihre Schwächen sieht und sie entmündigt: „Demenz gleich stockdoof“, beschreibt Peter Wißmann, Leiter von „De-menz Support Stuttgart“, diese Sicht. Demenzkranke selbst zu befragen, sei auch in der Wissenschaft noch vor kurzem un-denkbar gewesen. Während Selbsthilfegruppen aus anderen Behinderungen und Krankheiten, etwa die „Psychiatrie-Erfah-renen“, schon seit Jahrzehnten gemeinsam dagegen arbeiten, mit ihrer Krankheit abgestempelt und nur Objekt der Behand-lung zu sein, ist dies bei Demenzkranken neu. Wißmann: „In der Regel schämt man sich, versucht, die Ausfälle zu ver-bergen, aber das klappt nicht.“ Er berichtet, wie die Erkrankten ihre Stigmatisierung erleben, wenn bei gemeinsamen Veran-staltungen über ihren Kopf hinweg nur die gesunden Angehö-rigen angesprochen werden.

Aufstehen und redenWer die Diagnose bekommt, fühlt sich sofort ins Aus katapultiert, reduziert auf eine angekündigte Krankheit. Selbstbewusste Anfänger treten jetzt aus dem Schatten und werden aktiv

Selbsthilfe

Page 33: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

33Spezial 2011Diakonie magazinSpektrum

Möchte auch anderen Betroffenen Mut machen: Helga Rohra spricht auf Kongressen und hat ein Buch geschrieben: „Aus dem Schatten treten“.

nahmslos ein negatives Bild. Besonders wenn Zahlen veröf-fentlicht werden wie Ende 2010 der „Demenz-Atlas“ des Berliner Instituts für Bevölkerung und Entwicklung oder der Pflegereport der Barmer Ersatzkasse, die beide eine Verdoppe-lung der Fälle bis Mitte des Jahrhunderts voraussagen. Eine „düstere Prognose“, heißt es dann, und dass hohe Kosten ent-stehen. Das Selbsthilfepotenzial kommt nicht vor. So fehle der Blick auf die Chancen, kritisierte der Geschäftsführer vom Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA), Dr. Peter Michell-Auli, Anfang März: „Menschen mit Demenz zeigen ihre Gefühle meist stärker als andere. Dadurch können sie uns helfen, of-fener und toleranter zu werden. Diese Krankheit ist nicht das Ende, sondern ein Teil des Lebens – und zwar einer, in dem es schöne und großartige Momente gibt.“ Pfarrerin Regine Lünstroth beschreibt das in einem Buch über „Demenz als theologische und kirchliche Herausforderung“ schon 2006: „Der Mensch wird fixiert auf seinen Verfall. Manchmal ge-winne ich den Eindruck, dahinter steckt ein grausiges Men-schenbild: Der Mensch als Maschine, die nun nicht mehr rich-tig funktioniert.“ Dagegen betont sie: „Jeder Mensch bleibt Geschöpf Gottes, bleibt Gottes Ebenbild, auch in seinem ärgs-ten Leiden.“ In den Jahren mit ihrer demenzkranken Schwie-germutter habe sie gelernt, „stärker auf Wertschätzendes im Alltag zu achten, ein liebes Wort, ein Lächeln, eine Umarmung, Musik einschalten, die sie gerne mochte.“ Jeder habe ein Recht, auf der Welt zu sein – „ohne jegliche Leistung.“ http://www.demenz-support.de

Katharina Weyandt

Für einen von „Demenz Support“ veranstalteten Kongress hatte eine Kieler Gruppe ihre Forderungen formuliert. An die Familie gerichtet lauten diese: „Entmündige mich nicht. Betone nicht das, was ich schlecht mache, sondern das, was ich noch gut kan. Gehe geduldig mit mir um und höre mir zu. Sei weiterhin ehrlich und fair mit mir. Lass mich selbst ent-scheiden, wem ich von meiner Demenz erzähle und wem nicht.“ Und an die Öffentlichkeit gerichtet: „Ich möchte nicht auf meine Demenz reduziert werden. Ich möchte, dass ihr wisst: Es geht mir nicht nur schlecht!“

„Die meisten sagen, sie schaffen sich Verständnis, wenn sie etwa in ihrem Lieblingscafé sagen: ‚Ich habe Alzheimer.‘ Sie schaffen sich ein Umfeld, das sie mitträgt, sie gestalten sich ihren Lebensspielraum“, erläutert Peter Wißmann. Er sieht aus seiner langjährigen Erfahrung ein „riesiges Potenzial, den Verlauf der Krankheit zu beeinflussen, sich ein System aufzu-bauen, in dem man viele Jahre klarkommt“. Für manche werde das Engagement auch zur neuen Aufgabe, aus der sie Kraft ziehen. „Wenn man auch sonst nicht über sein eigenes Erleben redet, sondern Krisen immer weggeschoben hat, dann hat man schlechte Karten in der Demenz“, räumt Wißmann ein. Wer aber dazu neige, offen mich sich und anderen zu spre-chen, Kritisches zu reflektieren, mit anderen zu besprechen, der komme offenbar leichter mit der Situation klar.

Denn sie wird sich ja nicht verbessern. Es ist nicht absehbar, dass demnächst wirksame Medikamente gegen Demenz auf den Markt kommen. Wir alle müssen anerkennen, dass Demenz das Begleitsymptom einer alternden Gesellschaft ist, dass es schon jetzt eine steigende Zahl alleinlebender Demenzkranker gibt. Die Erkrankten sowie die Menschen und Institutionen in ihrer Umgebung müssen einen Umgang mit diesen Tatsa-chen finden. Ideen gibt es. Eines unter vielen Beispielen sind die Schulungen für Sparkassenangestellte. Matthias Matla-chowski vom Diakonischen Werk Schweinfurt schreibt darü-ber in dem neuen Ratgeberportal des Familienministeriums www.wegweiser-demenz.de: „Wenn nämlich Frau Maier be-reits zum vierten Mal am gleichen Tag zum Geldabheben kommt, stellt sich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern schnell die Frage, wie sie damit umgehen sollen.“ Für Banken, für die Polizei, die Feuerwehr, den Einzelhandel und die Nach-barschaft hält die Deutsche Alzheimergesellschaft Schulungs-filme und Begleitmaterial im Angebot. Die Nachfrage ist groß.

Wichtig ist ein stabiles soziales Netz für die Erkrankten und eine gute Integration. Nach einem wissenschaftlichen Vergleich zwischen München-Ost und Berchtesgadener Land leben auf dem Land Patienten fast vier Mal so oft mit Ange-hörigen zusammen. Manches funktioniert im Dorf einfach besser, erklärt Christine Sowinski vom Kuratorium Deutsche Altershilfe – nach dem Motto: „Das ist die Mutter von Marion, da gucken wir alle ein bisschen, dass es ihr gutgeht.“ Im An-fangsstadium allerdings sei die Scham größer dort, wo einen alle kennen. „Und das Hilfenetz ist nicht so dicht geknüpft.“

Während aktive Betroffene sich darum bemühen, nicht aus-geschlossen zu werden, zeichnen die Medien noch fast aus-

Page 34: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

34 Diakonie magazin Spezial 2011 Spektrum

Der Tag, der unser Leben veränderte, kam wenige Wochen nach unserer goldenen Hochzeit: Meine Frau

musste wegen eines Lungenödems ins Krankenhaus und er-litt dort einen Schlaganfall. Viele Hirnfunktionen fielen aus, von einem Moment auf den anderen verlor sie ihr Erinne-rungsvermögen. Vaskuläre Demenz lautete die Diagnose. Etwa vier Jahre ist das jetzt her. Nach der Reha habe ich Edith zu uns nach Hause geholt. Ich musste lernen, Diabetesspritzen zu setzen, mich um ihre Inkontinenz zu kümmern, den Haushalt

zu führen und zu kochen. Ich dachte, ich schaffe das alles allein. Nach einem Jahr erlitt ich einen Zusammenbruch und musste ins Krankenhaus.

Da erst holte ich mir Hilfe: Jetzt kommt morgens der Pfle-gedienst ins Haus, meine Frau erhält Ergotherapie und wird zweimal in der Woche von einer Ehrenamtlichen betreut. Auch meine beiden Söhne und meine Schwiegertochter hel-fen. Bei der Alzheimer Gesellschaft Hannover nehme ich an einer Gesprächsgruppe teil. Außerdem besucht uns eine Psychologin, die vor allem mir zur Seite steht.

Ich hatte ein paar Mal Depressionen, eines Nachts zum Beispiel zerriss ich sämtliche Kindheitsbilder aus meinem Fotoalbum. Meiner Frau geht es seit Jahren fast unverändert. Anfangs war sie linksseitig gelähmt, jetzt kann sie aber wieder alles bewegen. Manchmal verliert sie das Bewusstsein, dann muss ich sie kräftig schütteln. Alle sagen, meine Frau sei eine ganz Liebe. Sie ist sehr ruhig und ausgeglichen, an ihr prallt fast alles ab. Unsere Tage verlaufen gleichförmig: Wenn der Pflegedienst kommt, bereite ich das Frühstück zu, manchmal

Meine Geschichte

„Manchmal muss ich sie schütteln“Günther Hamann pflegt seit vier Jahren seine demente Frau. Es geht – mit viel Unterstützung.

„Früher haben wir viel miteinander geredet. Das fehlt mir jetzt sehr“

Protokoll: Sebastian Hoff

spielen wir Memory, oder ich lese ihr etwas vor. Sie bastelt auch gerne. Mittags koche ich für uns. Später ruhen wir uns aus. Abends sehen wir oft fern. Um acht Uhr liegt meine Frau im Bett. Dann habe ich noch ein wenig Zeit für mich.

Edith strickt gern, mit irgendetwas ist sie meistens be-schäftigt, manchmal auch mit dem Hund. Sie lächelt, sie lacht, sie ist eigentlich immer freundlich. Aber sie ist still. Und meistens hat sie alles, was geschieht, alles, was wir gesprochen oder getan haben, gleich wieder vergessen.

Edith und ich haben uns bereits als Jugendliche in Hanno-ver kennengelernt und mit 21 Jahren geheiratet. Wir haben immer viel miteinander geredet. Das fehlt mir jetzt sehr. Ich möchte sie noch so lange betreuen, wie ich kann.

Natürlich muss ich meine Kräfte schonen. Vielleicht bringe ich Edith mal für ein paar Tage in einem Pflegeheim unter. Mein Traum ist, mit unserem Hund ans Wasser zu fahren, vielleicht an den Nord-Ostsee-Kanal. Dann kann ich dort den ganzen Tag den Schiffen zuschauen. Meine Frau fand das früher immer langweilig. „Ich brauche dich“, sagt sie manch-mal. „Aber du musst dich auch mal erholen.“

Fo

tos:

Seb

astia

n H

off

■ Die Alzheimer Gesellschaft Hannover berät und unterstützt Angehörige und fördert Selbsthilfe-Initiativen. www.alzheimergesellschaft-Hannover.de

■ Die Diakonischen Werke bieten ebenfalls Informationen und Unterstützung für Demenzkranke und ihre Angehörigen. Zum Beispiel: www.pflege-und-diakonie.de

Hilfe zur Selbsthilfe

Page 35: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz

Herausgeber: Diakonisches Werk der EKD, Stafflenbergstraße 76, 70184 Stuttgart, Telefon (07 11) 2 15 90.Redaktion: Andreas Wagner (Chefredaktion), Barbara-Maria Vahl (verantwortlich),Telefon (0 30) 8 30 01-136, E-Mail: [email protected]. Verlag: Hansisches Druck- und Verlagshaus GmbH, Emil-von-Behring-Str. 3, 60439 Frankfurt, Geschäftsführer: Jörg Bollmann, Arnd Brummer, Verlagsleitung: Frank Hinte,Layout: Hansisches Druck- und Verlagshaus GmbH.Aboservice: bruderhausDIAKONIE, Gustav-Werner-Straße 24, 72762 Reutlingen,Telefon: (0 71 21) 27 88 60, E-Mail: [email protected]: m-public Medien Services GmbH, Georgenkirchstr. 69/70, 10249 Berlin, Telefon (0 30) 28 87 48 35,E-Mail: [email protected]. Zurzeit gilt Anzeigenpreisliste Nr. 5 vom 1.1.2011.Mediaberatung: Susanne Zurgeissel.Druck: Bechtle Druck & Service GmbH & CoKG, Esslingen.Bezugs- und Lieferbedingungen: Das Diakonie Magazin erscheint viermal jährlich. Der Bezug der Zeit- schrift Diakonie Magazin ist im Mitgliedsbeitrag des Diakonischen Werkes der EKD e. V. enthalten.

Impressum

Page 36: Diakonie magazin Spezial 2011: Leben mit Demenz