Dialogversuche: Medizin und Theologie im Gespräch · Offensichtlich ist es die conditio humana...

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Aus der Reihe: Dokumentation der Veranstaltung vom Donnerstag, 30. November 2006 Referenten : Prof. Dr. med. Dr. phil. H. Schott (Medizinhistorisches Institut - Universität Bonn) Prof. Dr. Dr. h. c. L. Honnefelder (em. Professor für Philosophie der Universität Bonn und Mitglied der Enquete-Kommission Bioethik) Frau K. Martini (Leukämie-Initiative Bonn e.V.) Ein Patient Einführung: Pfr. Walter Koll, Kath Klinikseelsorger Moderation: Pfr. Dr. Axel von Dobbeler, Evangelisches Forum Veranstalter: Katholische und Evangelische Klinikseelsorge des Universitätsklinikums Bonn; Evangelisches Forum Bonn, Katholisches Bildungswerk Bonn gefördert durch: Dialogversuche: Medizin und Theologie im Gespräch Hauptsache gesund ! Hauptsache gesund ?

Transcript of Dialogversuche: Medizin und Theologie im Gespräch · Offensichtlich ist es die conditio humana...

Aus der Reihe:

Dokumentation der Veranstaltung vom

Donnerstag, 30. November 2006 Referenten: Prof. Dr. med. Dr. phil. H. Schott (Medizinhistorisches Institut - Universität Bonn)

Prof. Dr. Dr. h. c. L. Honnefelder (em. Professor für Philosophie der Universität Bonn und Mitglied der Enquete-Kommission Bioethik)

Frau K. Martini (Leukämie-Initiative Bonn e.V.)

Ein Patient Einführung: Pfr. Walter Koll, Kath Klinikseelsorger Moderation: Pfr. Dr. Axel von Dobbeler, Evangelisches Forum Veranstalter: Katholische und Evangelische Klinikseelsorge des Universitätsklinikums Bonn; Evangelisches Forum

Bonn, Katholisches Bildungswerk Bonn

gefördert durch:

Dialogversuche: Medizin und Theologie

im Gespräch

Hauptsache gesund ! Hauptsache gesund ?

Infos zur klinikseelsorge Veranstaltungshinweise und Filmausschnitte unter: www.uniklinik-bonn.de (dann den Links folgen: Für Patienten / Klinikseelsorge / Aktuelles und Veranstaltungshinweise)

Einführung zur Dialogveranstaltung

"Hauptsache gesund! Hauptsache gesund?"

Pfr. Walter Koll Kath. Klinikseelsorge – UKB - Bonn Venusberg

Liebe Anwesende, sehr geehrte Damen und Herren! Ich heiße Sie alle herzlich willkommen am heutigen Abend hier im Hörsaal der Dermatologie im Uniklinikum Bonn. Ich begrüße Sie im Namen der Veranstalter dieses Abends: im Namen der katholischen und evangelischen Klinikseelsorge im Namen der beiden Bildungswerke der katholischen und evangelischen Kirche und im Namen der evangelischen Stiftung Klinikseelsorge.

Als ich vor ein paar Jahren meinen 50. Geburtstag gefeiert habe, bekam ich viele Glückwunschkarten mit vielen guten Wünschen für die Zukunft - und die meisten Gratulanten schrieben: "vor allem Gesundheit". Wahrscheinlich haben Sie alle schon ähnliche Erfahrungen gemacht.

Hauptsache gesund! das ist die Devise, das ist das Lebensmotto, wenn es um das eigene, individuelle Leben geht. Und wenn man in Zeitschriften schaut, dann stößt man auf die unterschiedlichsten Wege, die zur Gesundheit führen bzw. die Gesundheit erhalten sollen: gesund durch Sport, durch singen, durch lachen, durch Spiritualität; gesund essen und trinken ... Jeder möchte gesund sein und gesund bleiben und daher gesund leben und etwas für die Gesundheit tun. Gesundheit ist eben unser höchstes Gut!

Mit dieser Dialogveranstaltung haben wir bewusst dieses Lebensmotto aufgegriffen. Wir diskutieren es an einem Ort, an dem Krankheit, Leid und Tod allgegenwärtig sind; an dem aber auch alle, die hier einen Dienst tun in all den unterschiedlichen Berufen die Gesundheit bzw. die Gesundung der Patientinnen und Patienten anzielen. Und die moderne Medizin nährt mit ihren Möglichkeiten Hoffnung und Erwartungshaltungen der Menschen. Für die Gesundung der Menschen investieren wir viele Ressourcen - nicht nur finanzieller Art; auch unsere menschlichen und mitmenschlichen Ressourcen. Dass Gesundheit einen so hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft hat, das hat, so denke ich, damit zu tun, dass Gesundheit bzw. Krankheit existentielle Erfahrungen sind. Gesundheit/Krankheit betreffen den ganzen Menschen, umfassen die ganze Existenz des Menschen: Körper, Psyche, Geist, soziale Stellung - auch die religiöse Dimension. Das kommt auch in der Formulierung der Weltgesundheitsorganisation zum Ausdruck, wenn sie Gesundheit als den "Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens" definiert.

Als Klinikseelsorgerinnen und Klinikseelsorger, die wir Menschen in der Krankheit und auch im Sterben begleiten, ist uns nicht nur diese Definition der Weltgesundheitsorganisation, sondern auch dieses Lebensmotto zur Frage geworden. So haben wir in den Titel dieser Veranstaltung unsere Anfrage hineingenommen und formuliert: Hauptsache gesund?; ist Gesundheit wirklich unser höchstes Gut? Sicher: Gesundheit ist die Möglichkeitsbedingung für vieles im Leben, aber ist sie auch unser höchstes Gut? Ist sie das Wichtigste im Leben?

Ein Text von Andre Gide verdeutlicht, was bei der Fixierung auf die Gesundheit aus dem Blick geraten kann:

Ich glaube, dass Krankheiten

Schlüssel sind,

die uns gewisse Tore

öffnen können.

.

Ich glaube,

es gibt gewisse Tore,

die einzig die

Krankheit

öffnen kann.

Es gibt jedenfalls einen

Gesundheitszustand,

der uns nicht erlaubt,

alles zu verstehen.

Vielleicht verschließt uns die

Krankheit

einige Wahrheiten,

ebenso aber

verschließt uns die

Gesundheit

andere ...

Wir haben vier Referenten eingeladen, aus ihrer jeweiligen Sicht zu diesem Thema Stellung zu nehmen und in den Dialog zu treten. So begrüße ich zunächst unsere beiden Hauptreferenten: ich begrüße als Mediziner Herrn Prof. Dr. Heinz Schott, den Leiter des Medizinhistorischen Institutes der Universität Bonn; als Theologen Herrn Prof. Dr. Ludger Honnefelder, zur Zeit tätig in Berlin als Lehrstuhlinhaber der Guardini-Professur für Religionsphilosophie und katholische Weltanschauung und in Bonn als Leiter des Institutes für Wissenschaft und Ethik.

Ein Charakteristikum unserer Dialogveranstaltungen ist es, dass neben der Fachleuten aus Medizin und Theologie immer auch Fachleute aus der Praxis zu Wort kommen.

So begrüße ich heute Abend Frau Katja Martini, die langjährige Vorsitzende der Leukämie-Initiative, die sich auf der Station Liebermeister für die Leukämiepatienten und ihre Angehörigen engagiert; und ich begrüße Herrn Erwin Klein, einen Patienten, den ich seit vielen Jahren kenne und begleite.

Last but not least begrüße ich auch Herrn Axel von Dobbeler, den Leiter des evangelischen Forums, der an diesem Abend die Moderation unserer Dialogveranstaltung übernommen hat.

Ich wünsche den Referenten und der Referentin die Aufmerksamkeit des Publikums. Und ich' wünsche dem Publikum gute Beiträge, die zum nachdenken und auch zum nachfragen und diskutieren anregen. Und uns allen wünsche ich somit einen guten Verlauf dieser Veranstaltung.

Dialogversuche: Medizin und Theologie im Gespräch

„Hauptsache gesund! Hauptsache gesund?“

Referat von Prof. Dr. Dr. h. c. L. Honnefelder Gesundheit – unser höchstes Gut? Anthropologische und ethische Überlegungen Mehr als andere Grundwerte entzieht sich „Gesundheit“ einer angemessenen Definition. Offensichtlich ist die Bedeutung dieses Worts nur auf dem Weg durch seine verschiedenen Varianten und seine zahlreichen Gebrauchskontexte zu erfassen – und das scheint zudem umso schwieriger zu werden, je weiter die seit Jahren zunehmende Konjunktur des Begriffs voranschreitet. Deshalb möchte ich mit gebotener Vorsicht beim Sprachgebrauch ansetzen (I) und dann der Frage nachgehen, als welches Gut denn eigentlich Gesundheit zu verstehen ist und welche anthropologischen Zusammenhänge dabei eine Rolle spielen (II-IV), um dann mit dem Verweis auf einige Konsequenzen für den Umgang mit diesem Gut zu schließen (V). I. „Über die Verborgenheit der Gesundheit“ hat Hans-Georg Gadamer eine kleine Schrift überschrieben.1 Verborgen ist die Gesundheit offensichtlich schon durch die Vieldeutigkeit, mit der das Wort gebraucht wird. Nietzsche hat sie für undefinierbar erklärt2, und nicht ohne Grund ist bei Aristoteles das Wort „gesund“ das Paradebeispiel für ein Wort mit vielfacher Bedeutung3, allerdings für ein solches, das auf einen ursprünglichen Sinn verweist. Was aber ist dieser ursprüngliche Sinn? Im Deutschen bedeutet „gesund“ von Hause aus so viel wie „vollständig, heil“; ähnlich ist es im Italienischen, Spanischen und auch Englischen.4 Aber was meint hier „vollständig“? Bei Platon wird „Gesundheit“ im Anschluss an pythagoreische Vorstellungen als „Harmonie“ verstanden5, und zwar als eine solche von Leib und Seele. Deshalb kann er auch in der Politeia die sittliche Tugend als „Gesundheit der Seele“6 definieren. Das alles scheint uns aber noch nicht viel weiter zu führen: Denn Gesundheit als Vollständigkeit und Harmonie scheint der ebenso oft zitierten wie gescholtenen Definition der WHO Recht zu geben, die Gesundheit als den „Zustand vollständigen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur der Abwesenheit von Krankheit und Schwäche (state of complete physical, mental and social

well-being and not merely the absence of disease and infirmity)“ definiert.7 Aber wenn der Vorschlag der WHO nach unserem Empfinden viel zu weit geht, ist dann schon die von der WHO abgelehnte Alternative richtig, dass Gesundheit nur die Abwesenheit von Krankheit und Schwäche ist und deshalb – wie die spitzzüngige Formel des Mediziners lautet – nur eine Frage der Unwissenheit darstellt? Auch bei der rein negativen Bestimmung von Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit zögern wir. Einen Schlüssel kann uns Aristoteles geben, wenn er zwischen „Leben“ (zän) und „Gutleben“ (eu zän) unterscheidet.8 Mit dem bloßen Leben, so will Aristoteles mit dieser Unterscheidung sagen, hat der Mensch noch nicht sein ihm eigentliches Ziel erreicht. Dies ist erst das gute, gelungene Leben, das sich 1 H.G.Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt a.M. 1993 2 Vgl. F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Drittes Buch 120, in: WW ed. Colli – Montinari, Bd.3, 1980, 477 . 3 Aristoteles, Metaphysik IV 1003a33-1003b19. 4 Vgl. F. Vonessen, Art. Gesundheit, in: HWPh 3, 559. 5 Platon, Phaidon 86 b-c. 6 Platon, Politeia 444c-e. 7 Constitution of the World Health Organisation (1948), in: Encyclopedia of Bioethics, 2. Aufl., New York 1995, Bd.5, 2616. 8 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1095a 18ff.

in derjenigen Praxis einstellt, in der der Mensch seine Anlagen entfaltet und gemäß dem ihm eigenen Lebensplan zur Verwirklichung bringt. Eudaimonia, Glück, nennt er diese Form tätigen Lebens. Gesundheit ist also ein Gut, das zum gelungenen Leben gehört, aber nicht schon mit ihm identisch ist. Denn gelungenes Leben umfasst den ganzen Menschen und sein tätiges Werk. Es stellt sich ein auf dem Rücken der Praxis, in der wir die uns sinnvoll erscheinenden Ziele verfolgen. Und es ist gar nicht unmittelbar als solches zu erstreben, sondern das in allen Zielen verfolgte Ziel, das inklusive Ziel. Augustinus hat diese Vorstellung vom gelungenen Leben als dem letzten Ziel in das christliche Verständnis integriert, allerdings eine wichtige Zäsur eingetragen: Der Mensch, so betont er, vermag das gelungene Leben nicht vollständig und nicht endgültig zu erreichen. Er erfährt in Endlichkeit, Sterblichkeit und Versagen seine Grenzen und kann deshalb das definitiv gelungene Leben nur als Gegenstand seiner Hoffnung, als geschenktes Heil erwarten.9

Hat Augustinus in der Gefahr gestanden, das gelungene Leben so zu spiritualisieren, dass Gesundheit als dessen integrales Gut verzichtbar zu werden scheint, so zeigt sich im Gesundheitskult der Gegenwart offenkundig das Gegenteil: Immer stärker nimmt die Gesundheit die Rolle des Endziels ein und wird in Form eines Kults der Körperlichkeit zum aktuellen Kandidaten für das gelungene Leben. Die Ziele der Medizin drohen sich in Richtung Optimierung, Enhancement, von der Bedarfs- auf die Wunschmedizin zu verschieben. Fitness und Wellness werden zum Selbstzweck. Gesundheit droht die Stelle des Heils einzunehmen und zum Gegenstand einer neuen Religion zu werden. Ja, die Hypostasierung der Gesundheit schlägt in ihr Gegenteil um. Man denke nur an den (übrigens höchst lohnenden) Einsatz von in therapeutischer Absicht entwickelten Medikamenten als Life-Style-Instrumenten oder den in immer mehr Fitnesszentren um sich greifenden Umschlag von muskelbildenden bzw. fettabbauenden Medikamenten ohne Rücksicht auf das, was tatsächlich gesund ist. Und selbst wenn wir solche Auswüchse außer Acht lassen, hat Gesundheit – wie Niklas Luhmann meint – den Charakter eines eigenen Sinnsystems angenommen, das alles umfasst und einen in sich geschlossenen Zusammenhang darstellt.10 II. Doch was führt zu dieser Vieldeutigkeit nicht nur im Begriff der Gesundheit, sondern auch in ihrer Wertung? Offensichtlich ist es die conditio humana selbst. Denn anders als die anderen Lebewesen kann der Mensch nicht einfach leben, vielmehr vermag er nur zu leben, indem er sein Leben führt. Er geht nicht wie das ihm verwandte Tier selbstverloren im Regelkreis von Bauplan, Umwelt und stammesgeschichtlich bestimmtem Verhalten auf. Denn seine physische Natur ist ihm nicht nur vorgegeben, sondern aufgegeben. Daher kann er anders als seine tierischen Verwandten, die nur durch Krankheit oder externe Zwischenfälle ihr artspezifisches Ziel verfehlen können, an sich selbst scheitern. Als „exzentrische Positionalität“ beschreibt deshalb Helmuth Plessner die conditio humana, als Verschränkung von Identität und Nichtidentität.11 Der Mensch ist sein Leib – so lautet Plessners Formel – und er hat seinen Leib zugleich als Körper. Das lässt die Vergegenständlichung des eigenen Leibes zu und setzt dieser Vergegenständlichung aufgrund der unaufhebbaren Identität von personalem und organischem System zugleich Grenzen. Da der Mensch als ein Ich zum Verhältnis von Zentrum und Organismus noch einmal ein Verhältnis einnimmt, hat seine Existenz den Charakter einer Spannung, die er selbst zum Ausgleich bringen muss. Vermittelte Unmittelbarkeit und natürliche Künstlichkeit heißen deshalb nach Plessner die anthropologischen Grundgesetze, die die Weise bestimmen, in der der Mensch die in seiner Natur gelegene Spannung zu einem Ausgleich bringt, die dann das – gelungene oder nicht gelungene – Leben des Menschen darstellt.

9 Vgl. dazu M. Honecker, Gesundheit als Heil?, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 10 (2005) 163-182. 10 Vgl. N. Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt a.M. 11Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), Ges. Schriften IV, Frankfurt a.M. 2003

Wenn ich mich aber selbst nur finde über andere und anderes, dann ist nicht das einfache Körpersein die spezifische Weise der menschlichen Existenz, sondern die Ver-körperung, das Sich-Verhalten zu seinem Körpersein. Der Mensch steht – wie Plessner es nennt – unter dem Gesetz der Expressivität: er ist nur er selbst, indem er sich verkörpert - in Gestik, Mimik und Sprache, in Kultur und sozialer Rolle, in Sinnentwürfen und Religion. Für das Verständnis von Gesundheit und Krankheit hat diese Deutung der conditio humana bedeutsame Konsequenzen: – Als das Wesen, das sein Leib ist und ihn zugleich hat, betrifft die Krankheit nicht nur den Leib des Menschen, sondern ihn selbst. Er erfährt sie als die Grenze, auf die seine Verkörperung stößt, als Ohnmacht angesichts der in der Verkörperung sich äußernden Macht. Anders als die Tiere erlebt er nicht nur den Schmerz als Schmerz, sondern erfährt ihn als Leid. Krankheit ist für ihn nicht nur Störung, sondern Erfahrung der eigenen Grenzen. – Als das Wesen, das sein Leib ist und ihn zugleich hat, vermag der Mensch zur Erfahrung seiner Grenzen, zur Erfahrung von Schmerz, Sterblichkeit und Tod, also zur Erfahrung der seine Verkörperung begleitenden Gegenfolie der Entkörperung noch einmal ein Verhältnis einzunehmen. Er kann die Erfahrung eines übergreifenden Bedeutungszusammenhangs machen, die seiner Vulnerabilität Sinn zu verleihen vermag, ihn Krankheit, Schmerz, ja die Sterblichkeit annehmen lässt. – Wenn der Mensch das Wesen ist, das sein Leib ist und ihn zugleich hat, wird erklärlich, warum in das Verständnis von Gesundheit und Krankheit alle funktionalen Parameter eingehen, die Humanbiologie und Medizin in Bezug auf das organische System des Menschen zu identifizieren und zu quantifizieren vermögen, warum das Verständnis der Gesundheit aber nicht – wie Chr. Boorse und E. Nordenfeldt glauben – in der Definition des altersgemäßen Zustands der humanbiologischen Basisfunktionen aufgeht, sondern starke Elemente der individuellen und gruppenspezifischen Selbstdeutung enthält, also zutiefst sozio-kulturell12 geprägt ist. Gesundheit ist stets auch Resultat der Selbstdeutung des Menschen und seines Verständnisses von gelungenem Leben. – Für das Wesen, das sein Leib ist und ihn zugleich hat und dessen Existenzform nicht nur die des Körperseins, sondern die der Ver-körperung ist, muss Gesundheit einen hohen, intrinsischen Wert haben. Ihr Verlust trifft den Menschen existenziell, doch ihr Besitz macht noch nicht das gelungene Leben aus. Das gelungene Leben ist für ihn mehr als Gesundheit; es kann aber auch in Form von weniger Gesundheit erfahren werden. Krankheit kann für den Menschen heilsam sein, Gesundheit kann ihn in gefährliche Täuschungen verwickeln. Der Mensch, der in der Gesundheit seine spezifische Identität gefunden zu haben glaubt, steht in der Gefahr, sich in Wirklichkeit zu verfehlen. III. Nach dem Blick auf die Kontexte der Sprachverwendung und nach der kurzen anthropologischen Vergewisserung können wir uns der Frage zuwenden, die für den guten und gerechten Umgang mit der Gesundheit und ihren Bedingungsfaktoren eine Schlüsselfunktion besitzt, nämlich der Frage, welches Gut denn eigentlich die Gesundheit darstellt. Ethische Fragen in der Perspektive einer Gütertheorie zu behandeln, versteht sich nicht von selbst13. Vertrauter sind uns die Formen der Ethik, in denen von Pflichten bzw. Rechten, von Tugenden und Normen die Rede ist. Doch auch wenn wir diesen Formen der ethischen Beurteilung folgen, erweist sich die Frage als unvermeidlich, auf welche Güter sich Pflichten und Rechte, Tugenden und Normen beziehen. Man denke nur an das Recht auf Gesundheit oder die Verantwortung für die eigene

Gesundheit, die jeweils den Verweis auf das fragliche Gut in sich tragen und von ihm her ihre inhaltliche Bestimmung erfahren.

12 Vgl. D. Lanzerath, Krankheit und ärztliches Handeln. Zur Funktion des Krankheitsbegriffs in der medizinischen Ethik, Freiburg i. Br. 2000; dort auch eine Auseinandersetzung mit Boorse und Nordenfeldt, 13 Vgl. Chr. Horn, Art. Güterabwägung, in: M. Düwell u.a. (Hg.) Handbuch Ethik, Stuttgart 2002, 385-390.

Als Gut kann höchst Verschiedenes aufgefasst werden: Gegenstände von Wünschen, Ziele von Strebungen, Nützlichkeiten in Bezug auf Interessen, Rechte und Befugnisse, Fähigkeiten und Anlagen, Teilhabemöglichkeiten, Bildung und soziale Stellung, Besitz und Einkommen, kurz: jede Art von Vor- oder Nachteil. Kennzeichnend ist, dass in jeder Theorie von Gütern zwischen verschiedenen Arten und Stufen von Gütern unterschieden wird und dass es unter Bezug auf diese Stufen stets Regeln für die Abwägung von Gütern gibt. Denn wenn eines für die conditio humana charakteristisch ist, dann ist es dies, dass in ihrem Rahmen nicht alle Güter zugleich realisiert werden können. Offensichtlich ist Gesundheit unter den vielen Gütern ein Grundgut, nicht ein individuelles subjektives Gut wie viele andere individuelle Güter. Wäre es dies, so könnte es vollständig der privaten Vorsorge überlassen werden. Seine Allokation könnte allein auf dem Weg erfolgen, auf dem die Allokation knapper Güter nach unserer Erfahrung am wirksamsten geschieht, nämlich über den Markt, d.h. über das Leistungs- bzw. Tauschprinzip; ethisches Kriterium wäre nur das der Tauschgerechtigkeit bzw. das der Wohlfahrt nach Pareto. Doch ist Gesundheit nicht ein beliebiges subjektives Gut, sondern ein Grundgut, weil sie – wie wir nach den voraufgegangenen Überlegungen sagen könnten - alle die physischen und psychischen Bedingungen umfasst, ohne die der Mensch nicht das Lebewesen zu sein vermag, das die Fähigkeit besitzt, sittliches Subjekt zu sein. Wenn wir aber das sittliche Subjekt als unbedingtes Gut betrachten und ihm Würde zuschreiben, dann muss die Gesundheit im Sinn der psychophysischen Verfasstheit, die Voraussetzung des Subjektseins ist, selbst ein schützenswertes Gut sein. Sie ist nicht nur ein instrumentelles Gut - dafür ist die Identität des personalen mit dem organischen System zu stark -, sie ist indessen auch nicht das ranghöchste Gut, denn sonst müsste mit dem Gesundsein auch schon die gelungene Existenz des Subjekts erreicht sein; wohl aber kann sie ein für den Menschen fundamentales Gut genannt und als ein solches fundamentales individuelles Gut zu den Elementar- oder Primärgütern gezählt werden. Bestätigt wird diese Einordnung auch von der Ökonomie, wenn sie zwischen Nachfrage und Bedarf unterscheidet. Nachfrage richtet sich explizit nach individuellen Präferenzen, Bedarf ist mit „implizitem Anspruch auf Objektivität“14 verbunden. „Alles, was es braucht, um die Erfüllung eines Bedürfnisses moralisch zwingend zu machen“, so der amerikanische Philosoph M. Walzer, „ist die Entwicklung eines so allgemeinen und tief empfundenen ‚Bedürfnisses’, dass überzeugend nachgewiesen werden kann, dass es sich um das Bedürfnis nicht nur dieser oder jener Einzelperson handelt, sondern um das der Gemeinschaft im allgemeinen und um ein, wenn auch kulturell geprägtes und mit Gewicht versehenes, ‚allgemeinmenschliches’ Bedürfnis.“15 Einen solchen Anspruch kann Gesundheit jedoch nur erheben, wenn sie auf diejenigen psychophysischen Bedingungen beschränkt wird, an denen wir ein Interesse haben, welches diesseits der Vielfalt und Verschiedenheit der Präferenzen der einzelnen Subjekte liegt, weil es nicht mehr und nicht weniger als die Ermöglichungsbedingungen umfasst, ohne die ein Mensch nicht lebendes und handelndes Subjekt zu sein vermag. In diesem Sinn ist Gesundheit ein Gut, an dem wir ein transsubjektives, „transzendentales“ Interesse haben und das wir deshalb ein „transzendentales Gut“ (O. Höffe)16 nennen können. In diesem Sinn ist – wie das geläufige Wort sagt – „Gesundheit nicht alles, aber ohne Gesundheit alles nichts“. Freilich ist Gesundheit – wie Höffe einräumt – nur ein 14K.-D. Henke, M. Hesse, Art. Gesundheitswesen, in: W. Korff (Hg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 4, Gütersloh 1999, 249-289, 252. 15 M. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt a.M. 1992, 140. Vgl. dazu auch B. Schöne-Seifert, Fairneß und Rationierung im Gesundheitswesen?, in: W. Kirch, H. Kliemt (Hg.), Rationierung im Gesundheitswesen. Forschungsverbund Public Health Sachsen, Regensburg 1997, 42-55. 16 Vgl. hierzu O. Höffe, Medizin ohne Ethik?, Frankfurt a.M. 2002, 231; Chr. Horn, Gerechtigkeit bei der Verteilung medizinischer Güter: Überlegungen zum Prinzip der Freiheitsfunktionalität, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 8 (2003), 127-147, 137.

transzendentales Gut im schwachen Sinn. Denn auch der unter schwerer Krankheit Leidende kann ein sinnvolles Leben führen, und es gibt Güter, die wir in Grenzfällen – wie etwa der Hilfe unter Lebenseinsatz – legitimerweise unserer Gesundheit, ja sogar unserem Überleben vorziehen. Nur als ein „transzendentales Gut“ kann die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der Gesundheit einen „objektiven Bedarf“ darstellen und sogar – in Konsequenz des Grundrechts auf Leben und psychophysische Integrität – im sozialen Rechtsstaat so etwas wie ein „Recht auf Gesundheitsfürsorge“17 begründen. Ein Bedarf, der als objektiv gelten soll, erfordert Begründung und Abgrenzung. Denkbar wäre, sich zu diesem Zweck auf die Faktizität zu berufen und eine Theorie der Grundbedürfnisse (basic needs)

zugrunde zu legen, die sich auf unsere Empirie beruft. Ohne Zweifel gehört zu den Grundbedürfnissen, die sich auf diese Weise als Grundlage aller weiteren Wünsche zeigen, das Bedürfnis nach Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit. Doch ergibt eine Auflistung der Gesundheit unter den basic needs noch keine Antwort, warum sie dazu gehört und was daraus für die Abgrenzung gegen andere Grundbedürfnisse folgt. Hier führen die Überlegungen weiter, die bereits oben anklangen: dass Gesundheit zu den Grundfähigkeiten des Menschen zu zählen ist, ohne die er kein gelungenes Leben als ein handelndes und sich selbst bestimmendes Subjekt zu finden vermag. Eine solche Begründung folgt dem Ansatz, dass es invariante Eigentümlichkeiten des Menschen gibt, die über die Verschiedenheit der Kulturen hinweg feststellbar sind, von denen im Einzelfall die eine oder andere fehlen kann, die aber insgesamt gegeben sein müssen, soll von gelingendem menschlichen Leben die Rede sein. Im Zusammenhang entwicklungspolitischer Kriterien hat Martha Nussbaum auf Aristoteles zurückgegriffen und im Sinn eines schwachen Essentialismus jene Grunddimensionen zu bestimmen versucht, deren Erfüllungsgrade das flourishing life charakterisieren und unter denen sie der Vernünftigkeit und der Sozialität die leitende Rolle zuordnet.18 Von ökonomischer Seite hat Amartya Sen einen ähnlichen Versuch unternommen.19

Alain Gewirth und eine Reihe ihm folgender Philosophen knüpfen nicht an Aristoteles, sondern an I. Kant an und zeichnen das Handeln des Menschen als verantwortlichem Subjekt als die entscheidende Weise des menschlichen Vollzugs aus, um dann die Voraussetzungen zu eruieren und evaluativ auszuzeichnen, die Voraussetzungen dieser Handlungsfreiheit sind.20 In diesem Sinn spricht auch O. Höffe von Gesundheit als einem „transzendentalen“, weil das Subjektsein ermöglichenden Gut. Chr. Horn geht von der Freiheit als dem Merkmal aus, das den Menschen kennzeichnet, und versucht deshalb eine freiheitsfunktionale Gütertheorie zu entwickeln, in der die Gesundheit einen maßgeblichen Ort einnimmt und in der die Beeinträchtigung der Freiheitsfunktionalität als Gradmesser für die Schwere der Krankheit dienen kann.21 Einen nicht unähnlichen Ansatz scheint auch die klinische Medizin zugrunde zu legen, wenn sie die zu erwartende Lebensqualität in die Therapiezielbestimmung einbezieht und zu diesem Zweck bestimmte scores definiert. Anthropologisch macht dies einen guten Sinn; denn ohne Zweifel bilden das Selbstverhältnis des Menschen als Subjekt und die darin liegende Freiheit und Verantwortlichkeit die besondere Auszeichnung des Menschen, auf die wir auch rekurrieren, wenn wir ihm nicht nur einen Wert zuschreiben, für den es Äquivalente gibt, sondern eine Würde, die unverrechenbar ist. Deshalb ist es

17 Vgl. E. Jung, Das Recht auf Gesundheit, München 1982; W. Uhlenbruck, Rechtliche Grenzen einer Rationierung in der Medizin, in: Medizinrecht 11 (1995), 427-437; W. Höfling, Rationierung von Gesundheitsleistungen im grundrechtsgeprägten Sozialstaat. Eine Problemskizze, in: G. Feuerstein, E. Kuhlmann (Hg.), Rationierung im Gesundheitswesen, Wiesbaden 1998, 143-155. 18 M. Nussbaum, Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit. Zur Verteidigung des aristotelischen Essentialismus, in: M. Brumlik – H. Brunkhorst (Hg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1993, 323-361. 19A. Sen, in: M. Nussbaum – A. Sen (Hg.), The Quality of Life, Oxford 1993. 20 A. Gewirth, Reason and Morality, Chicago 1978. 21 Vgl. Chr. Horn, Gerechtigkeit (Anm.16) 137.

berechtigt, Gesundheit als ein Grundgut zu bewerten und sie dabei auf das zu beziehen, was Voraussetzung für das durch das Würdeprädikat ausgezeichnete Subjektsein ist. Freilich bleiben an dieser Stelle Abgrenzungsfragen und auch Gegeneinwände: Mit Blick auf die Abgrenzung liesse sich beispielsweise fragen, ob ein Leben mit einer Behinderung, die die Handlungsfähigkeit empfindlich einschränkt, schon Krankheit ist oder vielleicht eher als eine andere Form der Gesundheit einzuschätzen ist. Ein Einwand könnte lauten, dass der transzendentale bzw. freiheitsfunktionale Ansatz womöglich nicht zu freiheitseinschränkend ausfällt gegenüber einem Ansatz, der auf nichts anderes abstellt als die tatsächliche oder die sog. rationale, d.h. als überlegt geltende subjektive Präferenz?22 Der Einwand leidet indessen unter der Schwäche der reklamierten Gegenposition: Faktische subjektive Präferenzen konfligieren so stark miteinander, dass ein übergeordnetes Kriterium unverzichtbar wird; reflektierte subjektive Präferenzen hingegen setzen dieses Kriterium aber schon bei der Überlegung voraus. Mit Recht ist daher die ärztliche Intervention nicht nur an die autonome Entscheidung des Patienten, sondern zugleich auch an die objektiv begründete medizinische Indikation gebunden. IV. Bis hierhin haben wir Gesundheit als einen Zustand, eine Verfassung des einzelnen Menschen beschrieben und bewertet, d.h. als ein individuelles Gut. Wir sind dabei dem Leitfaden der subjektiven Strebungen, Bedürfnisse und Interessen gefolgt, haben aber festgestellt, dass diese subjektiven Phänomene nicht beliebig sind, sondern einen objektiven Rückhalt in der Natur des Menschen haben. Sie weisen in ihrer Ausgestaltung eine erhebliche Bandbreite gemäß dem Wertbild des Einzelnen, seiner value history auf, sind aber keineswegs beliebig oder inkommensurabel. Gesundheit ist indessen nicht nur eine Zustandsgröße; vielmehr setzt sie zu ihrer Bewahrung oder Wiederherstellung auch eine breite Skala von Leistungen voraus, die nicht nur durch den jeweils betroffenen Menschen, sondern durch Dritte erbracht werden müssen. In dem Maß, in dem solche gesundheitsrelevanten Leistungen durch Dritte möglich sind und soziales und individuelles Wohlergehen aufeinander verweisen, ist Gesundheit nicht nur ein individuelles, sondern auch ein soziales Gut. Als solches ist es Gegenstand von Gerechtigkeit und Solidarität und damit auch ein Gegenstand der kollektiven Für- und Vorsorge, d.h. der Gesundheitspolitik, wobei die Abstufung der Verantwortlichkeiten in Form des Subsidiaritätsprinzips eine wichtige Rolle spielt. Wer aber ist unter dem Gesichtspunkt des sozialen Guts für die Gesundheit verantwortlich? Auch hier ist der Blick auf die conditio humana hilfreich. Denn wenn der Mensch das Wesen ist, das sein Leib ist und ihn zugleich hat, wird begreiflich, was wir alle wissen, nämlich dass Gesundheit zugleich Schicksal und eigenes Werk ist. Schicksalhafte Betroffenheit durch Krankheit oder Behinderung erfordert Solidarität, Möglichkeit der Selbstgestaltung des eigenen Lebens begründet Verantwortung für die eigene Gesundheit. Freilich stößt die nähere Bestimmung dieser Verantwortung auf die Schwierigkeit, dass die säkulare Ethik keine Pflichten gegen sich selbst kennt, an die einvernehmlich appelliert werden könnte. V. Was können wir aus den bisherigen Überlegungen für den Umgang mit dem Gut der Gesundheit folgern? Als Elementar-, Primär- oder Grundgut kommt ihr ein fundamentaler Rang zu, kein Höchstrang. Tendenzen, wie sie in Krisen des moralischen Konsenses aufzutreten pflegen, nämlich naturale Basisgüter zum Höchstgut zu machen, sind daher abzuweisen; im Fall der Gesundheit liefe das auf einen dem menschlichen Selbstverständnis zuwiderlaufenden Biologismus hinaus, wie er in

22 Vgl.ebd.

bioethischen Diskussionen zuweilen zu beobachten ist. Auf der anderen Seite begründet die fundamentale Stellung der Gesundheit eine entsprechende Schutz- bzw. Fürsorgeverpflichtung. Da Gesundheit sowohl Schicksal als auch Resultat eigenen Handelns ist, verschränken sich Anspruch auf solidarische Hilfe mit der Verpflichtung zur Wahrnehmung der eigenen Verantwortung für die Gesundheit. Erst da, wo die eigene Verantwortung auf ihre Grenzen stößt, beginnt der Anspruch auf solidarische Hilfe. Damit sind Rahmenstrukturen, aber noch keine Kriterien benannt, wie im Einzelnen zwischen Gesundheit und Krankheit und zwischen verschiedenen Schweregraden der Krankheit zu unterscheiden ist. Und wir wissen, dass eine solche Unterscheidung aufgrund der Tatsache, dass Krankheit nicht nur funktionale Störung, sondern auch Resultat individueller und kollektiver Selbstdeutung ist, nicht ein für allemal getroffen werden kann, sondern selbst Resultat einer Deutung ist, in die die genannten Parameter eingehen und über die im Hinblick auf Gesundheit als soziales Gut gesellschaftlicher Konsens gesucht werden muss. Was diesen Konsens schwierig macht, ist die Spannung zwischen Erwartung und Erfüllung. Denn das Glück im Sinn des gelungenen Lebens ist Gegenstand eines Strebens, das grenzenlos ist. „Der Ozean ist begrenzt“, heißt es bei Shakespeare, die Begier dagegen unbeschränkt.“23 Erreichbar aber ist das Glück – wenn überhaupt – nur in Form eines Strebens, das sich auf das jeweilige Handeln hier und jetzt bezieht und deshalb beschränkt. Folgen wir dagegen den unendlichen Wünschen und verfallen – wie die antike Ethik dies nannte – der pleonexia, der Unersättlichkeit, verfehlen wir gerade das Handeln, das uns hier und jetzt möglich ist, und damit das tatsächlich erreichbare Glück.24

Unter den Bedingungen der Moderne verbindet sich im Fall der Gesundheit eine solche unbegrenzte Erwartung mit dem „infinity model“ (D. Callahan)25 des menschlichen Fortschritts, nämlich jener Idee der Machbarkeit, von der Francis Bacon schon meinte, sie sei so steigerbar, dass nicht nur Krankheit und Not, sondern auch der Tod besiegbar sei.26 Und mit der unbegrenzten Erwartung verbindet sich die Unfähigkeit zum einseitigen Verzicht aus Angst, im Verteilungskampf zu kurz zu kommen. Spätestens die hier sichtbar werdende Spirale, wie sie sich aus medizinischem Erkenntnisfortschritt, technischer Entwicklung, ökonomischem Wachstumsinteresse, individuellen und kollektiven Begehrlichkeiten und der Angst zu kurz zu kommen, unheilvoll zu bilden vermag, macht deutlich, wie viel von einem einvernehmlichen Verständnis des objektive Ansprüche begründenden Kerns im Begriff der Gesundheit und der dafür maßgeblichen Ziele der Medizin für eine adäquate Regelung der Ressourcenallokation im Gesundheitswesen abhängt. Was zur Beherrschung der genannten Spirale notwendig wäre, ist das, was die antike Ethik als Medikament gegen die pleonexia empfahl, nämlich der Sinn für das richtige Maß, also Besonnenheit und Maßhaltenkönnen.27 Ökonomisch gesprochen kann einer Ressourcenknappheit nur durch Angebotserhöhung und/oder Nachfrageverminderung begegnet werden. Wenn aber die Angebotserhöhung notwendig auf Grenzen stößt, ist die Nachfrageverminderung gefragt. Individuell setzt sie die genannten Tugenden der Besonnenheit und des Maßhaltens voraus. Beide aber setzen seinerseits etwas voraus, nämlich Selbstvertrauen auf Seiten des Handelnden, Vertrauen in die eigene Kraft, ein Vertrauen, das durch Ermutigung und Erziehung seine Gestalt gewinnt. Nur so entsteht der

23 W. Shakespeare, Venus und Adonis V.389. 24 Vgl. Platon, Politeia II 372c; vgl. dazu O. Höffe, Besonnenheit und Gerechtigkeit: Zur Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen, in: B. Badura - K. D. Bock - D. von Engelhardt (Hg.), Gesundheit für alle. Fiktion oder Realität?, Stuttgart 1999, 155-184. 25 Vgl. hierzu O. Höffe, Medizin ohne Ethik? (Anm.16) 231. 25 Vgl. D. Callahan, Medecine and the Market – A Research Announcement, in: The Journal of Medicine and Philosophy 24 (1999) 224-242 26 Vgl. F. Bacon, The New Organon or True Directions Concerning the Interpretation of Nature (1620). 27 Vgl. O. Höffe, Besonnenheit und Gerechtigkeit (Anm. 24).

Patient als der selbstverantwortliche Koproduzent der Gesundheit. Viele Ärzte zu konsultieren, so stellt Platon in der Politeia fest28, ist ein Zeichen schlechter Sitten. Schwieriger noch ist die kollektive Bestimmung eines einvernehmlichen Maßes, an dem sich das Handeln orientieren kann und ohne das auch das individuelle Maßhalten nur schwer möglich ist. Dieses Maß ist in der erforderlichen Konkretheit weder irgendwo ablesbar, noch kann es einfach staatlich dekretiert werden. Seine Rahmenkriterien sind – wie unsere Überlegungen gezeigt haben – angebbar, aber seine nähere Gestalt kann nur als Resultat eines Verständigungsprozesses der Beteiligten, d.h. als ein - zumindest partieller - Konsens erwartet werden. Damit wird die eigentliche Herausforderung sichtbar: Sie liegt nicht in der Verantwortung vor Normen, sondern in der Verantwortung für Normen. Verantwortung für Normen aber heißt, sich selbst angesichts wachsender Möglichkeiten Grenzen zu setzen, wo bislang die Natur oder die fehlenden Möglichkeiten die – oft schmerzlichen – Grenzen gezogen haben. Aber hat der Mensch die Kraft zu einer Selbstbegrenzung solchen Ausmaßes? Ein System, das moral hazard zulässt und Maßhalten nicht prämiert, wird die Angst der Menschen vor dem Moralversagen angesichts der nötigen Selbstbegrenzung wachsen lassen und damit das Fehlverhalten verstärken. Was nötig ist, ist tatsächlich eine neue Selbstverständigung. Diese Selbstverständigung wird sowohl das Gut der Gesundheit als auch die Art der gerechten Verteilung der mit ihr verbundenen Leistungsgüter betreffen müssen. Denn wenn die angestellten anthropologischen und gütertheoretischen Überlegungen zutreffen, ist es nicht verwunderlich, dass das Gut der Gesundheit vorweg zu einer solchen Selbstverständigung nur strukturell und nicht im Einzelnen zu bestimmen ist und dass Prioritätensetzung nicht einfach nach Inhalten erfolgen kann. Good bye to simple solutions hat S. Holm sein Resumee der skandinavischen Versuche einer inhaltlichen Prioritätensetzung überschrieben.29 Es bedarf eines Verfahrens, so betont er, dessen Elemente und Schritte erst heraus zu finden sind. Ergebnisse sind offensichtlich nur zu erwarten, wenn sich die Bestimmung der verpflichtenden Rahmenkriterien mit der individuellen und kollektiven Selbstdeutung zu einem Set von normativen Kriterien verbinden, das alle als Einlösung von Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Solidarität zu überzeugen und deshalb Konsens zu finden vermag. Es wird nicht nur verschiedene Elemente und Schritte umfassen, sondern auch auf vielen Abwägungen basieren. Doch sind Erweiterungen unserer Handlungsmöglichkeiten nicht ohne signifikante Selbstbegrenzungen realisierbar, die ihrerseits offensichtlich nicht ohne ebenso komplexe wie transparente Verständigungsprozesse möglich sind. In diesem Sinn ist „Moral“ der Preis, den wir für die Moderne bezahlen müssen.30

28 Platon, Politeia III 405a. 29 Vgl. S. Holm, Goodby to the simple solutions: the second phase of priority setting in health care, in: British Medical Journal 317 (1998), 1000-1002 30 Vgl. den Titel von O. Höffe, Moral als Preis der Moderne, Frankfurt a.M. 1993.

Dialogversuche: Medizin und Theologie im Gespräch

„Hauptsache gesund! Hauptsache gesund?“ Referat von Prof. Dr. Dr. Heinz Schott Mein Vortrag wird sich eher negativ an das Thema „Gesundheit“ annähern, da im Mittelpunkt das Verständnis von Krankheit stehen soll. Meine kurzen Statements werden durch einige historische Abbildungen illustriert.

Aktuelle Grundfragen, illustriert an historischen Schlaglichtern (Abbildungen):

1. Die wissenschaftliche Medizin spricht von Gesundheit und Krankheit als objektiven, messbaren,

klassifizierbaren Gegebenheiten. Gesundheit wird hier als Zustand der physiologischen Normalität

verstanden. So ist z. B. ein systolischer Blutdruckwert von 120 mm Hg „normal“, gehört quasi zum

gesunden Körperzustand, während ein Wert von 170 mm Hg in jedem Falle ein Krankheitszeichen, ein

Symptom der Hypertonie darstellt. Ganz anders nehmen die einzelnen Menschen ihr Gesund-Sein

oder Krank-Sein wahr: Sie können sich krank fühlen, ohne dass die Medizin einen objektiven Befund,

eine Erklärung hierfür liefern kann, z. B. bei der Schmerzkrankheit. Umgekehrt kann sich der Patient

pudelwohl fühlen, und gleichwohl muss ihm die Medizin eine schwere Krankheit bescheinigen, z. B.

bei bestimmten psychiatrischen Patienten, die an einer akuten Psychose leiden. Offenbar treffen hier

zwei unterschiedliche Welten aufeinander: die der Medizin bzw. des behandelnden Arztes einerseits

und die des einzelnen Kranken bzw. Patienten andererseits. Eine wichtige Frage wäre: Wie können die

beiden Welten, die sich ja wie Fremdsprachen zueinander verhalten, miteinander kommunizieren? Wie

lassen Sie sich für die Gegenseite übersetzen? Dabei geht es nicht nur darum, dem Laien das

Medizinerlatein näher zu bringen, sondern mindestens ebenso wichtig ist es, dem Arzt die

Selbstwahrnehmungen, Empfindungen, Phantasien und Ängste des Patienten zu übersetzen.

Historische Schlaglichter zum Problem: Was ist normal, was pathologisch?

Inwiefern offenbart die Krankheit bzw. das Kranksein Wahrheiten, die dem so genannten Normalen

oder Gesunden verschlossen sind? Es wird die Frage aufgeworfen, inwiefern das Verständnis von

Krankheit und Gesundheit epochenspezifisch ist, so dass das, was gestern noch als normal erschien,

heute als pathologisch eingeschätzt wird und umgekehrt.

Einige Bilder zu diesen Fragen:

Abb. 1: Mesmeristische Strahlengänge, Ende 18.Jh.s.: Theoretische Annahme, das aus den Händen des Magnetiseurs heilsame Strahlen (ein „magnetisches Fluidum) austritt

Abb. 2: Bild aus der Prinzhorn-Sammlung (Heidelberg), Ende des 19.Jh.s: Entsprechende Strahlenwahrnehmungen (eines „Schizophrenen“) werden als pathologisch angesehen

Abb. 3: Ein von einem Geisteskranken gemaltes Bild (aus der Prinzhorn-Sammlung); der Patient fühlt sich von schädlichen Strahlen, die von einem Psychiater (?) außerhalb der Zelle ausgehen, bedroht

Abb. 4: Was heute als Elektrosmog diskutiert wird: Ist das Einbildung – oder Realität? Alptraum nach dem Besuch der Internationalen Elektrotechnischen Ausstellung in Frankfurt am Main (Karikatur 1891)

Abb. 5: Die Technik macht uns krank, schädliches Telefonieren (Das „Fräulein vom Amt“ als höchst gefährdete Person) Die Erfindung des Telefons (1876) sollte angeblich zur Neurasthenie (Nervenschwäche) beitragen

Christus heilt einen Fallsüchtigen (Karolingische Wandmalerei in der Kapelle

2. Die Krankheit erscheint in Medizin und Gesellschaft als Minusvariante des normalen

Lebens, ein Störung der Körpervorgänge, als eine verminderte Leistungsfähigkeit des Organismus,

eine verringerte körperliche und/oder geistige Anpassungsfähigkeit an die sozialen Erfordernisse. In

jedem Falle bedeutet Krankheit etwas Negatives: etwas Böses, etwas Übles, etwas

Verdammenswertes, etwas Belastendes – nicht zuletzt für Staat und Gesellschaft. So wurde 1920 –

nach dem ersten Weltkrieg – im Zusammenhang mit der Diskussion über die Zulässigkeit der

Krankentötung, der „Euthanasie“ unter bestimmten Bedingungen, der Begriff der Ballastexistenz

geprägt. Wie viel „Ballast“ kann oder soll die Gesellschaft tragen und ertragen? Wie kann die

Stigmatisierung von Krankheit als Zeichen des Bösen aufgehoben werden? Ich gehe im Sinne einer

Arbeitshypothese davon aus, dass die Verdrängung von Krankheit und Behinderung, der Ausspruch

„Hauptsache gesund!“ gerade hier seinen kulturhistorischen Ursprung hat, nämlich in der Angst vor

dem Bösen, der Hölle, dem Abgrund – wie immer wir das auch theologisch fassen wollen.

Historische Schlaglichter zum Problem, dass Krankheit als Zeichen der Sünde, des Bösen, als Teufelswerk verstanden wird. Gesundheit gibt es in sofern nicht, wenn wir die Erbsündenlehre akzeptieren. Dann sind wir immer mehr oder weniger krank. Übrigens würde dies dem Krankheitsbegriff von Sigmund Freud entsprechen, der freilich nicht theologisch argumentiert. Folie: • Methoden der Austreibung des Bösen (Paradigma Exorzismus) •Ideologie der Ausmerze von verderblichen Anlagen, „Minusvarianten“ (Paradigma Eugenik) •Ausschaltung von „Parasitären“, „Ballastexistenzen“ etc.

Abb. 6: Zwei Abbildungen

zum Thema „Christus medicus“, der einen“Fallsüchtigen“ heilt: Man

sieht die Quälgeister als kleine schwarze Teufelchen ausfahren

Christus heilt (exorziert) einen Fallsüchtigen

(Französische

Abb. 7: Exorzismus: Pater Gassner (18. Jh.) Abb. 8: W. Busch: Die fromme Helene

Abb. 9: Monster, medizinhistorisch ein wichtiges Gebiet, gerade in der Reformationszeit; z.B. missgebildete Kinder, keine medizinische Erklärung der Missbildung, sondern vielmehr eine religiöse Deutung Zitat zu dieser Abbildung: „Diese Missbildung wird auf die List des Satans

zurückgeführt.“

Abb. 10: Physiognomik von Della Porta, wonach aus den äußeren körperlichen Merkmalen auf das Wesen, den Charakter eines Menschen geschlossen werden könne. (Signaturlehre: Vgl. zwischen menschlichen X-Beinen und Hinterfüßen eines Rindes (Della Porta 1586)) („Wer wie ein Rabe aussieht, ist unverschämt“ (Della Porta 1586))

Abb. 11: NS-Plakat , Propaganda für die

Sterilisation zur Ausschaltung von Missbildungen;

Zitat: „… Welche Eltern möchten ihren Kindern

ein so entsetzliches Los wünschen? …Wer wollte

hieran schuldig sein?“ Nicht Strafe, sondern

Schuld als (quasi theologisches ) Argument.

Abb. 12: NS-Plakat gegen die Erbkranken und „Ballastexistenzen“, welche der arme (gesunde) Volksgenosse zu schultern hat; ökonomische Berechnungen, was ein Erbkranker kostet, spielten in der Gesundheitsökonomie des NS-Staats eine wichtige Rolle

3. Die unheilvolle Allianz von Krankheit und Armut ist so alt wie die Kulturgeschichte. Vielleicht

sollten wir besser von sozial bedingtem Elend sprechen, denn konkrete Armut ist immer in Relation

zum konkreten Reichtum zu sehen. Die Neandertaler waren nicht arm, weil sie von der Hand in den

Mund leben mussten und ständig von Hunger bedroht waren. Der heutige Sozialhilfeempfänger mit

Familie ist arm, obwohl er nicht verhungern muss, einen Kühlschrank und ein Fernsehgerät besitzt.

Armut im Sinne von sozialem Elend war in allen Zeiten ein großes, die Ärzte herausforderndes Thema

in der Medizingeschichte. In den vergangenen Jahrzehnten des Wirtschaftswunders und Wohlstands

nach dem Zweiten Weltkrieg war das Thema „Armut“ allenfalls eines der Erinnerung an frühere

Zeiten. Die Allianz von Armut und Krankheit schien – in den so genannten Industrieländern der Ersten

Welt - für immer der Vergangenheit anzugehören. Bis vor kurzem wurde ja überhaupt abgestritten,

dass es Armut in unserer Gesellschaft geben könnte. Selbst im Zeitalter von Hartz IV wird der Begriff

„Unterschicht“ tabuisiert, und man spricht lieber euphemistisch von „Prekariat“. In den 1980er Jahren

gab man sich der Illusion hin, die Infektionskrankheiten nach dem Muster der Pocken ausrotten zu

können. Gleichzeitig brach jedoch die AIDS-Epidemie aus und die traditionellen Seuchen hielten auch

in den Industrieländern Einzug („Wiederkehr der Seuchen“). Genau so wird heute noch die Illusion

gehegt, dass in unserem Sozialsystem niemand unverschuldet von Armut heimgesucht werden könne.

Historische Schlaglichter zum traditionellen Problem Armut und Krankheit und der (auch)

medizinischen Notwendigkeit, Armut (quasi als Krankheit) zu bekämpfen. Für Medizin- und

Gesundheitswesen ist Armut heute eine auch im globalen Maßstab zentrale Herausforderung und

Armutsbekämpfung – nicht Armenbekämpfung- eine vorrangige Aufgabe.

Folie: • „Krankheit und soziale Lage“ (Hrsg. von M. Mosse/ G. Tugendreich, München 1913)

• Armut ist quasi als Krankheit, d. h. als eine Krankheitsursache, auch aus medizinischen Gründen zu bekämpfen

• Für Medizin und Gesundheitswesen ist „Armut“ eine – gerade auch in globalem Maßstab – zentrale Herausforderung und Armutsbekämpfung (nicht Armenbekämpfung) eine vorrangige Aufgabe

Abb. 13: Lepröse betteln vor dem Stadttor, klassisches Bild im Mittelalter (Zwei Aussätzige als Bettler; Minitatur des Vinzent von Beauvais, 14. Jh.)

Abb. 14a und b: Soziales Elend nach der „industriellen

Revolution“

Abb. 15: Berühmtes Plakat von Käthe Kollwitz, das sozialmedizinisch mehr als viele gelehrte Abhandlungen aussagt.

Treppenküche in einer Berliner Wohnung 1916

Berlin 1870er Jahre

Abb. 17: Cholera, Blick in die 3.Welt (Cholera-Epidemie in Lima, Peru, 1991)

Abb. 16: Abgemagerter Junge 1945

(Nachkriegsdeutschland) Die Hinwendung zu den Armen und Kranken durch die Pflegeorden (Benediktiner z.B.) entsprach der Idee einer gesunden Lebensführung (Diätetik); Einrichtung und Betrieb von Hospitälern geschah primär aus karitativen und nicht aus medizinischen Motiven

Abb. 18: Hl. Benedikt

Folie: Benediktinerregel (regula)

• Wichtigste Richtschnur des abendländischen Klosterlebens • Geht auf Benedikt von Nursia zurück • Krankenpflege ist christlicher Dienst (man soll Kranken dienen wie Christus selbst) • Besondere Pflege der kranken Kosterbrüder • Praktische Vorschriften für Arzt (infirmarius) und Krankenwärter (servitor) • Tagtägliche Übungen, geistliche Lebensordnung mit diätetischen Vorschriften • „ora et labora“ – ausgeglichener Lebensrhythmus, der sich aus Arbeiten, Ruhen, Essen, Fasten, Reden,

Schweigen und Schlafen zusammensetzt

Kloster Monte Cassino bei Neapel (Kupferstich 18. Jh.)

Klostergründer Benedikt von Nursia (um 480-560), Fresko 9. Jh.

Abb. 19: Hl. Elisabeth

Schlussbetrachtung Wohin treiben Medizin und Gesundheitswesen unter dem Vorzeichen der Ökonomisierung und inwiefern sind Menschenwürde und Humanität bedroht? Die Ökonomisierung der Medizin im Zeichen von Neoliberalismus und Globalisierung hat schwerwiegende Folgen: Der Arzt wird zum Dienstleister, der Patient zum Kunden, das Krankenhaus zum privaten Wirtschaftsunternehmen, das zunehmend von Konzernen übernommen wird - analog einer Autofabrik:

Parallelen zwischen Autoproduktion und Klinikbehandlung Erfolgsfaktoren in der Autoindustrie Äquivalent im Krankenhaus (Beispiel)

Optimale Prozess- und Schnittstellengestaltung Kurze Wartezeiten Kurze präoperative Verweildauer Geringe Reparatur- / Fehlerquote Niedrige Re-OP- oder Infektionsrate Keine unnötigen Wege Geringe Quote an Doppeluntersuchung Adäquate Bestände Hohe Bettenauslastung Optimale Flächennutzung Optimale Abteilungsgröße Wenige Transporte Keine Verlegungen Ziel: Just-in time-Produktion Ziel: Krankenhausaufenthalt nur so

lange, wie medizinisch notwendig Abb. 20: Ökonomisierung; Graphik aus dem Deutschen Ärzteblatt; gezeigt wird eine Optimierung der Abläufe in Krankenhäusern, wobei die Autoproduktion als Analogon zur Klinikbehandlung aufgefasst wird; dies ist die Denkweise, mit der wir heute konfrontiert sind

Die Frage zum Schluss lautet: Wollen wir eine solche Medizin und ein solches Gesundheitssystem, in dem viele kranke Menschen nicht mehr auf ausreichende Hilfe hoffen dürfen, wollen wir in einer solchen Gesellschaft der sozialen Unsicherheit und Ungerechtigkeit leben, wollen wir uns von der karitativen Idee der Fürsorge und Solidarität mit den Schwächeren, und dazu gehören zumeist die Kranken, verabschieden? Das oberste Ziel wäre nicht, Krankheit, Sterben und Tod aus dem normalen Leben auszugrenzen, die Illusion der Gesundheit zu nähren, sondern vielmehr die Gebrechlichkeit des Menschen als die

Die Heilige Elisabeth von Thüringen (Gemälde 1420)

Karitative Krankenpflege im Mittelalter: Hospitalszene, franz. Holzschnitt um 1500

Biologistische Metaphorik: „Parasiten “ (20. Jh.) • Parasitären‘ sind die Bettler, Landstreicher und Dirnen, auch „kleine Kriminalität“ genannt. Im Gegensatz zu diesen

Parasiten der Gesellschaft hat man die Verbrecher als die „haute volée“ der Kriminalität bezeichnet. • In der germanischen Rasse machte sich der Wandertrieb schon bei den Cimbern und Teutonen geltend. ... Mit dem

wachsenden wirtschaftlichen Niedergang entstand in Deutschland eine neues Landstreichertum der Arbeits- und Stellenlosen.

• Kriminalpsychologisch bilden die Parasitären eine einheitliche Gruppe. Sie sind charakterisiert durch das triebhafte oder periodische Auftreten des Hanges zum Vagabundieren … Minderwertige Psychopathen und Alkoholiker haben den Hauptanteil an der Gesamtzahl (mehr als 75 %).

Quelle: Dr. jur. Heinz Gummersbach: Die Kriminal-Psychologie und ihre Bedeutung für die praktische Seelenkunde. Bad Homburg v. d. H. 1938 (Blaue Siemensreihe; Heft 21), S. 59.

Biologistische Metaphorik: „Parasiten“ (21. Jh.)

Biologen verwenden für „Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen – ihren Wirten – leben“, übereinstimmend die Bezeichnung „Parasiten“. • Natürlich ist es völlig unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen. Schließlich ist

Sozialbetrug nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom Willen des Einzelnen gesteuert. • Wer den Grundstock seines Haushaltseinkommens bei der Arbeitsagentur oder der für das Arbeitslosengeld II

zuständigen Behörde kassiert und im Hauptberuf oder nebenher schwarzarbeitet, handelt deshalb besonders verwerflich.

Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, August 2005: Gegen Missbrauch, „Abzocke“ und Selbstbedienung

im Sozialstaat. Ein Report vom Arbeitsmarkt im Sommer 2005 [Diese öffentlich vielfach kritisierte Passage wurde inzwischen aus der Internet-Präsentation des betreffenden Ministeriums gelöscht.]

conditio humana schlechthin zu begreifen. Wenn Krankheit einen Sinn haben kann, dann doch nur der, das unhintergehbare Leid zu lindern und solidarisch miteinander zu tragen – über alle konfessionellen Grenzen hinweg. Nach meiner Überzeugung benötigen wir im Grunde eine Rückbesinnung auf eigene Traditionen, die insofern konservativ sein sollte, als sie Potentiale der Humanität aufbewahrt – und die insofern reformatorisch sein sollte, als sie gegenwärtige Fehlentwicklungen und Sackgassen erkennt, brandmarkt und bekämpft. Es ist sicherlich eine Sackgasse, wenn wir das Solidaritätsprinzip im Gesundheitswesen aufgeben, den Schwächsten der Gesellschaft notwendige Hilfe versagen und dieses mit dem zynischen Argument rechtfertigen, jeder sei für sich selbst verantwortlich und habe, wenn er keine entsprechenden Leistungen erbringe (z. B. in Form von Versicherungsprämien), keinen Anspruch auf Hilfe. Wer den Sozialstaat als Ramschladen des so genannten „Sozialklimbim“, als überholtes und gescheitertes Modell diffamiert, gefährdet letztlich die freiheitlich-demokratischen Grundlagen unseres Gemeinwesens. Dieses wird weniger durch die so genannten „Sozialschmarotzer“ gefährdet, als vielmehr durch jene, die Randgruppen der Gesellschaft – und dazu gehören in erster Line die armen Kranken – stigmatisieren und in ihrer Menschenwürde verletzen.

Folie: Abb. 21/22: 2 Zitate: Gummersbach 1938 und Bundesministerium 2005

Vortrag

Frau K. Martini - Leukämieinitiative Universitätsklinik Bonn -

„Ich war fast nie beim Arzt, ich war immer gesund, ich rauche nicht, ich trinke nicht und jetzt diese Krankheit“ Ich habe doch gerade erst meinen Flug in die USA gebucht, wie konnte ich denn ahnen, dass ich so krank sein soll. Ich habe doch nie etwas gespürt, gut in der letzten Zeit war ich manchmal müde, abgeschlagen, das Treppensteigen fiel mir schwer, aber ich habe doch vor drei Wochen noch ein Tennismatch gespielt. Allerdings ist es mir recht schwer gefallen, dieses durchzustehen. Ich habe deshalb auch eher aufgehört. Nun ja, weil ich in der letzten Zeit so schnell erschöpft gewesen bin, deshalb bin ich auch zum Arzt gegangen. Meine Frau hat mich auch gedrängt, weil ich in der letzten Zeit doch häufiger mit kleinen Erkältungskrankheiten zu kämpfen hatte. Der Arzt hat, nachdem ich von meiner Erschöpfung berichtet habe, Blut abgenommen, ja und dann kam schon kurze Zeit später der Anruf, dass etwas nicht stimmt mit meinem Blut. Ich wurde dann an eine onkologische Praxis überweisen und nach einer Untersuchung mit erneuter Blutabnahme hieß es, so schnell als möglich in die Uniklinik Bonn. Nun bin ich hier auf Station Liebermeister im Paul Ehrlich Haus und soll lebensbedrohlich erkrankt sein. Ich verstehe das alles nicht“

So oder mit ähnlichen Worten und Berichten erfahren wir, die wir auf der Station Liebermeister Patienten mit Leukämien und anderen hämatologischen Systemerkrankungen betreuen, die Fassungslosigkeit der Patienten, die plötzlich und meist völlig unvorbereitet mit der Diagnose Krebs und auf unserer Station mit der Diagnose Leukämie konfrontiert werden.

Das Leben verändert sich mit einem Schlag. Nichts ist mehr wie es war. Alle Lebensziele, alle Lebensplanung, die gesamte innere Sicherheit, was die doch so selbstverständliche Gesundheit angeht, alles ist ins Wanken geraten. Ängste, das seelische Gleichgewicht, die so deutlich spürbare Hilflosigkeit der ganzen Krankheit gegenüber treten an die Stelle von Vertrauen und Sicherheit. Die Krankheit verändert den Alltag des Kranken, beeinträchtigt, manchmal zerstört sie sogar das soziale Umfeld des Patienten. Der Erkrankte findet sich mit seinen Angehörigen von einem Moment auf den anderen aus der gewohnten Bahn des alltäglichen Lebens gerissen in der Universitätsklinik Bonn wieder mit all den anstehenden und so belastenden Fragen wie zum Beispiel : „Wie vertrage ich die Chemotherapie oder die Bestrahlungen?“ „Wer steht mir zur Seite?“ „Wie werde ich weiter leben?“ und: „Werde ich es überhaupt schaffen? Werde ich je wieder gesund, gesund, so wie früher?“ Es ist so schwer für den Patienten, den eigenen Körper in seiner Verletztheit zu akzeptieren, Schwächen zu zeigen, zuzulassen und den Verlust der Unbekümmertheit, der Leichtigkeit, des absoluten Vertrauens in den Körper anzunehmen.

Öfters tauchen nach einiger Zeit der stationären Behandlung Schuldgefühle auf, wie z.B.: „Das hast Du verdient, du hast zu viel geraucht, du hast viel zu viel gearbeitet, dich nicht um den seelischen und körperlichen Ausgleich neben all Deiner Arbeit gekümmert. Du hast nie auf Dich selber geachtet. Du warst immer nur für andere da. Deine Gesundheit hast Du als etwas ganz Selbstverständliches angesehen, etwas um dass du Dich nicht kümmern musstest. Also bist Du vielleicht sogar selber schuld.“ An dieser Stelle ist es unglaublich wichtig, dass den Erkrankten Menschen zur Seite stehen. Ärzte, Pfleger, Krankenschwestern, Seelsorger und Menschen, die Erfahrung mit der Erkrankung haben, die diese zerstörerischen Gedanken als falschen und wenig hilfreichen Weg bei der Bewältigung aufzeigen.

Wichtig ist jetzt sich auf den Gedanken der Hoffnung einzulassen, den Gedanken zu wagen, dass die Diagnose nicht unbedingt gleichzusetzen ist mit einem Todesurteil, sondern dass es sich lohnt zu kämpfen.

Es gibt auch Patienten, die kommen sofort mit der Einstellung: „das werde ich schaffen!“ zu uns auf die Station und möchten auch nicht, dass jemand diese in Frage stellt. Dennoch kommt auch bei diesen Patienten irgendwann der Moment, wo die Angst herausbricht, das Gerüst der trügerischen Sicherheit ins Schwanken gerät und die Verzweiflung einzieht .

Für uns alle, die wir auf dieser Station tätig sind, ist es wichtig, dass wir den Menschen wieder den Mut geben, Hoffnung zuzulassen und sie ganz allmählich wachsen zu lassen. In unserem Falle geschieht dies häufig im Wintergarten, bei Gesprächen, Spielen, gemeinsamen Singen und bei dem Einfach-nur-dasein für den Patienten. Auch durch das Miteinander der Patienten im Wintergarten, durch das Austauschen der Ängste, und das gegenseitige Verstehen finden sie aus ihrer inneren Isolation heraus, entwickeln und wagen neue Lebensperspektiven.

Die schönsten Momente sind für uns, wenn wieder Freude und manchmal sogar eine kleine ausgelassene Fröhlichkeit aufkommt, die den neu gewonnenen Lebensmut festigt. Die Patienten fangen an, zu erkennen, wie wichtig und ermutigend kleine Schritte sind, wie z. B. das Erreichen guter Werte oder sogar einer kompletten Remission, dann darf man nach Hause, darf sich freuen an den sogenannten Alltäglichkeiten des Lebens, darf wieder teilnehmen am Leben, neue Kräfte sammeln, die Umwelt, die Natur, die Beziehung mit und zu anderen anders, nämlich bewusster und offener erleben.

Bei vielen unserer Patienten entwickeln sich jetzt aus dieser so bedrohlichen Krise und den damit verbundenen Veränderungen der Lebenssituation neue, zuvor ungeahnte Lebenskonzepte. Jetzt taucht natürlich die Frage auf, gelte ich als geheilt, gilt die so häufig propagierte 5 - Jahresmarke bzw. ab wann sprechen meine behandelnden Ärzte von Heilung. Sie wissen alle auch aus den Begegnungen mit anderen Patienten auf Station Liebermeister oder aus den intensiven Aufklärungsgesprächen durch die Ärzte, auf jede erfolgreiche Behandlung kann ein Rückschlag folgen. Die den Krebskranken begleitende Angst, dass es sich um eine trügerische Sicherheit handelt, dass man sich wieder stark fühlt, eigentlich ganz gesund, nimmt im Laufe der Zeit, sogar der Jahre nicht ab.

Die Furcht vor den anstehenden Nachsorgeuntersuchungen nimmt zwei drei Tage vor dem vereinbarten Termin zu, macht unruhig, schlaflos, gereizt. So gestalten sich die Zeitabstände bis dahin als nervliche Zerreißprobe für die ganze Familie.

Heiko Herrlich, ein bekannter deutscher Fußballspieler, der einen bösartigen Hirntumor hatte, berichtete einmal: „Die Angst sitzt tief! Vor den turnusmäßigen Nachuntersuchungen war ich regelmäßig in Panik. Bei jedem Zwicken war ich ganz sicher, wieder erkrankt zu sein, Metastasen zu haben Ich spürte vermeintlich geschwollene Lymphknoten, fing an zu zittern. Ich habe mich und meine Umgebung völlig verrückt gemacht“. Verläuft die Kontrolluntersuchung bei unseren Patienten gut, dann ist dies ein ganz besonderer Festtag. Oft wird dies dann gefeiert mit einem guten Essen, einem besonderen Ausflug. Dazu zählt manchmal auch der Besuch des Mittwochnachmittag-Cafes, das unsere Initiative für Patienten und Angehörige anbietet. Hier können sie etwas von ihrer Freude von ihrer Hoffnung, im Augenblick geheilt zu sein, weitergeben an die Patienten, die zur Zeit stationär behandelt werden.

Das Bewusstsein der Unzerstörbarkeit, das besonders die jüngeren Patienten hatten, ist verloren gegangen aber an diese Stelle ist etwas Neues getreten. Jedes weitere Lebensjahr betrachten sie als Geschenk.

Viele genießen es, den Frühling neu zu erfahren, den Sommer mit all seinen Möglichkeiten zu erleben, einen schönen Herbsttag intensiv wahrzunehmen und den Winter mit seinen gemütlichen Stunden bewusst schön zu gestalten. Bei unseren Treffen nach den stationären Therapien sprechen wir über die auftretenden Ängste, jeder versteht den anderen genau, und jeder ist sich bewusst, dass sich alles wieder ganz schnell ändern kann. Aber wir sprechen auch von den Freuden, die das Leben so schön macht. Ein Patient sagte einmal nach seiner zweiten Erkrankung: „Ich fürchte den Tod nicht aber ich habe einen großen Drang zu leben.“ Der Schriftsteller Albert Camus drückt dies so zutreffend in folgenden Worten aus:

Mitten im Winter

erfuhr ich endlich,

dass in mir ein unvergänglicher

unbesiegbarer Sommer war.

Die Patienten sehnen sich nach Normalität. Trotzdem bleibt eine stete Bedrohung übrig, die Leichtigkeit ist weg. So sagte der Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal, der an Darmkrebs erkrankt ist: „Als gläubiger Christ dachte ich manchmal an das alte Sprichwort, in dem es heißt ‚Media vita in morte sumus - inmitten des Lebens sind wir vom Tode umfangen’. - Wir wissen alle, dass wir endlich sind und irgendwann sterben werden. Ich engagiere mich in Selbsthilfegruppen ehemaliger Patienten und sehe neben meinen vielen Tätigkeiten als OB meine wichtigste Aufgabe darin, Hoffnung zu vermitteln, den Menschen zu sagen: Das Leben endet nicht mit der Diagnose. Man muss das Beste daraus machen, das Leben anpacken und nach vorne schauen. Der Krebs hat mich und mein Leben verändert. Und das ist auch gut so“

Dieses Annehmen und Akzeptieren der Krankheit, der eigenen Ängste, den Verlust der sogenannten Unvergänglichkeit führt dazu, dass viele Patienten ein frohes erfülltes Leben führen. Gesundheit ganz bewusst wahrzunehmen, den Tag mit all seinen Möglichkeiten zu er-leben, das ist so unendlich wichtig geworden.

Viele sagen auch, dass sie durch die Krankheit gelernt haben, sich ernst und wichtig zu nehmen. So schrieb mir eine an Krebs erkrankte Frau: „Jahrelang hatte ich Schwierigkeiten, nein zu sagen, fühlte mich immer zuständig, wenn jemand um Hilfe bat. Heute sage ich klar und deutlich, was ich will und was nicht. Ich muss meine Kräfte einteilen und das tue ich auch. Natürlich falle ich auch öfter in mein altes Muster zurück- sich abgrenzen ist ein Lernprozess. Jetzt bremse ich mich mitunter und merke, wie gut mir das tut. Durch die Krankheit bin ich mir näher gekommen, ich kenne meine Bedürfnisse und Grenzen besser. Das Leben wird eben endlicher, man geht nur sorgsamer damit um. Ich habe gelernt, ja zu sagen zu dem, was ist. Ich bin ehrlicher und offener geworden. Ich brauche viel Natur, aber die Weite habe ich in mir.“

Bei einem unserer Treffen, das unter dem Thema: „Angst vor dem Rückfall, wie gehe ich damit um“ stand, haben wir gemeinsam etwas ganz Wichtiges für uns herausgearbeitet: „Ein guter Tag ist ein heiler Tag, und viele gute Tage bedeuten viele heile Tage, die sich aneinander reihen wie eine kostbare Perlenkette, die irgendwann geschlossen wird. Das Schließen der Kette übernimmt ein anderer. Bis dahin freuen wir uns - und ich schließe mich da mit ein, da ich auch ein Krebspatient bin - an jedem einzelnen Tag mit all seinen Herausforderungen. Das gelingt nicht immer, aber wie sagt man so schön, immer öfter.

Als ich an diesen gerade vorgetragenen Reflexionen über meine Erfahrungen mit Patienten, die auf unserer Station behandelt werden, arbeitete, fand ich in einer Bücherei des Kloster Lichtenthals eine Karte mit einem hölzernen Engel vorne drauf, der aus dem Holz eines Apfelbaumes geschnitzt worden ist. Diese habe ich mitgenommen und den Text , der in der Karte stand, den möchte ich Ihnen zum Abschluss vorlesen:

Der Engel der Lebensfreude begleite dich!

Er öffne dir Augen und Ohren

Für alles Bunte und Schöne,

für alle Stimmen und Klänge.

Er lasse dich den Wind spüren

Und die Sonne auf deiner Haut.

Er lasse dich auf all das achten,

was du als selbstverständlich abtust

und was doch unendlich kostbar ist:

die Menschen, die das Leben mit dir teilen,

und die vielen Chancen, die du hast,

dein Leben zu gestalten.

Er lehre dich genießen mit allen Sinnen,

die Gott dir mitgegeben hat.

Er zeige dir:

Dein Leben ist Geschenk

Und Grund zu Dankbarkeit und Freude.

Herzlichen Dank !