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Die Realisierung. Von Dr. A. G e m e l l i O. F. M. in Mailand. Ein philosophisches System, das zu irgend einer Zeit imstande ist, eine grosse Schar von Anhängern um sich zu sammeln, ist immer vori tausenderlei Gedankenströmungen der verschiedensten Art vorbereitet, die sich nach und nach den Geistern mitteilen, ihr Denken beeinflussen und so den Boden vorbereiten, in dem dann die zukünftige Lehre sich ent- wickeln und siegreich durchsetzen kann. Wer auch nur oberflächlich das Auftreten des Idealismus in seinen extremsten Formen studieren wollte, würde ohne Schwierigkeit den Spuren der zahlreichen Tendenzen begegrien, die die Geister der Gegenwart bestimmt haben, ihn mit so unbegründetem Enthusiasmus zu umfassen. Man kann sagen : angefangen von der Theorie über die primären und sekundären Eigenschaften der Körper, die lehrt, dass das Subjekt nicht eine leere Form ist, die darauf wartet, in sich das Objekt aufzunehmen, sondern dass sie vielmehr dieses a priori determiniert, bis herab zu den modernen Systemen, die die Realität nicht mit dem be- grifflichen Gedanken und auch nicht mit den wissenschaftlichen Formeln erfassen wollen, sondern mit der intuitiven Beschauung des Künstlers oder mit der Hingabe des Mystikers, war alles ein ununterbrochenes Aufeinander- folgen von Begriffen, die die neuerlichen Triumphe des Idealismus be- günstigt haben. Dieser Idealismus stellt uns heute vor ein Problem, an dem niemand vorübergehen kann, dem jeder Studierende gegenübertreten muss, das Problem, das in seinem neuesten Werke Oswald Külpe „das Problem der Realisierung“ 1) nennt. Es bezieht sich einerseits auf die S e t z u n g , die Existenz einer Realität, die nicht identifiziert werden kann mit den Zu- ständen unseres Selbstbewusstseins und unserem Denken, andererseits auf die B e s t i m m u n g , das Wesen der Realität selber. Es ist ein verwickeltes Problem, das bei näherem Zusehen uns vier Fragen zur Beantwortung vorlegt : 1. Ist die Existenz von etwas Realem annehmbar? Nein, ant- wortet der Konszientialismus, der subjektive Idealismus, nach welchem man sich in das Reich der Phantasie und grundloser metaphysischer Spekulationen D Die Realisierung. Ein Beitrag zur Grundlegung der Realwissenschaften. Von Oswald Kül pe. Erster Band. Leipzig 191a, Hirzel. 8°. X und 257 S.

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Die Realisierung.Von Dr. A. Ge me l l i O. F. M. in Mailand.

Ein philosophisches System, das zu irgend einer Zeit imstande ist, eine grosse Schar von Anhängern um sich zu sammeln, ist immer vori tausenderlei Gedankenströmungen der verschiedensten Art vorbereitet, die sich nach und nach den Geistern mitteilen, ihr Denken beeinflussen und so den Boden vorbereiten, in dem dann die zukünftige Lehre sich ent­wickeln und siegreich durchsetzen kann. Wer auch nur oberflächlich das Auftreten des Idealismus in seinen extremsten Formen studieren wollte, würde ohne Schwierigkeit den Spuren der zahlreichen Tendenzen begegrien, die die Geister der Gegenwart bestimmt haben, ihn mit so unbegründetem Enthusiasmus zu umfassen. Man kann sagen : angefangen von der Theorie über die primären und sekundären Eigenschaften der Körper, die lehrt, dass das Subjekt nicht eine leere Form ist, die darauf wartet, in sich das Objekt aufzunehmen, sondern dass sie vielmehr dieses a priori determiniert, bis herab zu den modernen Systemen, die die Realität nicht mit dem be­grifflichen Gedanken und auch nicht mit den wissenschaftlichen Formeln erfassen wollen, sondern mit der intuitiven Beschauung des Künstlers oder mit der Hingabe des Mystikers, war alles ein ununterbrochenes Aufeinander­folgen von Begriffen, die die neuerlichen Triumphe des Idealismus be­günstigt haben.

Dieser Idealismus stellt uns heute vor ein Problem, an dem niemand vorübergehen kann, dem jeder Studierende gegenübertreten muss, das Problem, das in seinem neuesten Werke Oswald Külpe „das Problem der Realisierung“ 1) nennt. Es bezieht sich einerseits auf die S e t z u n g , die Existenz einer Realität, die nicht identifiziert werden kann mit den Zu­ständen unseres Selbstbewusstseins und unserem Denken, andererseits auf die B e s t i mm u n g , das Wesen der Realität selber. Es ist ein verwickeltes Problem, das bei näherem Zusehen uns vier Fragen zur Beantwortung vorlegt :

1. Is t die Exi s t enz von etwas Realem annehmbar? Nein, ant­wortet der Konszientialismus, der subjektive Idealismus, nach welchem man sich in das Reich der Phantasie und grundloser metaphysischer Spekulationen

D Die Real i s i erung. Ein Beitrag zur Grundlegung der Realwissenschaften. Von Oswald Külpe. Erster Band. Leipzig 191a, Hirzel. 8°. X und 257 S.

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verliert, wenn man sich nicht auf unmittelbare vom Selbstbewusstsein ge­gebene Tatsachen, aut sinnliche Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gefühle', Gedanken beschränkt. — Nein, antwortet auch der objektive Idealismus, der keine Unterscheidung zwischen realen und idealen Objekten zulässt und der leugnet, dass der Gedanke, der alles hervorbringe, in mancher Beziehung von den äusseren Objekten abhängig ist.

2. Falls der Idealismus Unrecht hätte, wie i s t d a n n die Set zung von R e a l e m m ö g l i c h ? Welchen Wert haben die Argumente des Realismus?

Wenn auch der Realismus auf diese beiden Fragen eine erschöpfende Antwort geben könnte, so würden sich doch sofort zwei weitere Fragen aufdrängen :

3. I s t e i ne B e s t i m m u n g von R e a l e m zuläss ig? Kant und im allgemeinen der Phänomenalismus will, dass wir uns damit genügen lassen, zur Existenz des Nöumenon zu gelangen, das We s e n der Realität wird uns immer unbekannt bleiben.

4. Im Falle, dass die Aufstellungen Kants unbegründet wären, w i e i s t d a n n ein B e s t i m m e n von R e a l e m m ö g l i c h ?

Eine Antwort auf all diese Fragen zu geben, ist die Aufgabe, die sich Külpe stellt in einem Werke, das er seit langem geplant, und das vier Bände umfassen soll, entsprechend den vier Problemen. Bis jetzt ist nur der erste Band erschienen, vorbereitet durch jahrelange Denkarbeit.

Das hohe Genie, die Gedankentiefe und der wohlbekannte wissen­schaftliche Ernst des berühmten Professors der Psychologie án der Uni­versität zu Bonn laden uns ein, im weiten Umfange hochmäls die detaillierte Diskussion und die ins einzelne gehende Analyse aüf zunehmen, diè er be­züglich der vom Konszientialismus und vom objektiven Idealismus für ihre These vorgebrachten Beweise anstellt. Külpe befasst sich nicht damit, die positiven Gründe zu prüfen, die uns zum Realismus führen müssen (das wird Gegenstand des zweiten Bandes sein) : er begnügt sich für jetzt damit, eine Verteidigungsstellung einzunehmen: durch Abschlagen der gegnerischen Angriffe sucht er, wenn auch nur rein negativ, die Festigkeit der realisti­schen Position zu zeigen.

I. Die E v i d e n z de r i n n e r e n W a h r n e h m u n g .Die positive Stütze des Konszientialismus ist die Evidenz der inneren

Wahrnehmung; angefangen von den Kyrenaikern bis zu den Skeptikern, von Descartes bis zur modernen Philosophie, wurde sie stets als die einzige Stütze der Erkenntnisgewissheit betrachtet. Nun können aber nur die Tatsachen des Bewusstseins sich jener Evidenz rühmen. Nur sie allein können also gewiss sein; wir müssen uns an sie halten und uns nicht in das Reich des Transzendentalen verliëren.

Um diesen ersten Einwand zu prüfen, untersucht Külpe in sehr ein­gehender Analyse die Bedeutung und Tragweite der Selbstgewissheit des

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Bewusstseins und erörtert darauf die Beziehung zum Problem der Wirk­lichkeit.

Bezüglich des ersten Punktes müssen wir gegenüber den Ergebnissen der modernen Psychologie vom Gedanken sagen, dass die Evidenz der innern Wahrnehmung auf sehr bescheidene Grenzen reduziert worden ist. Sie ist vor allem ein subjektiver Eindruck, abhängig von den besonderen Verhält­nissen des Subjektes und beschränkt auf dieses. Sie hat also nicht den Charakter einer objektiven Erkenntnis, sie irrt sogar häufig, und sie kann auch keine universale Geltung beanspruchen. Ausserdem kann sie nur ein Erlebnis wahrnehmen, das unmittelbar gegenwärtig ist : eine Gewissheit, die sich auf die Erinnerung stützt, ist stets minder sicher und ist im höchsten Grade subjektiven Einflüssen unterworfen. Dazu kommt noch, dass die Gewissheit sich nur auf zwei Bewusstseinsstufen findet, nicht auf den anderen, deren Existenz durch neuere Experimente nachgewiesen worden ist. Endlich ist zu beachten, dass, so sehr ich auch darüber gewiss sein kann, eine innere Erfahrung gehabt zu haben, ich mich doch oftmals in Verlegenheit befinde und selbst oft irre, wenn es sich darum handelt, sie in all ihren detaillierten Umständen zu beschreiben. All das beweist, dass die Evidenz der äusseren Wahrnehmung nicht eine absolut sichere Grund­lage für die Erkenntnis, dass sie kein Kassationshof ist, vor dem weder Fragen noch Zweifel zulässig wären.

Was den zweiten Punkt angeht, nämlich die Beziehung der Selbst­gewissheit des Bewusstseins zum Problem der Realität, so behaupten die Konszientialisten, dass wir hinter den Tatsachen des Bewusstseins kein anderes Objekt suchen dürfen. Sich stützend auf die Theorie von Beneke und Wundt, die im Gegensätze zu Kant vom Felde der Psychologie die Unterscheidung zwischen Phänomen und Ding an sich verbannt haben, behaupten sie, dass wir unsere Erlebnisse so wahrnehmen, wie sie in sich sind : die Evidenz der Wahrnehmung ist ihre psychologische Verwirklichung. Und diese Evidenz, sagen sie weiter, ist der einzige Weg, der zum Realen führt: daher ist die einzige Realität die des Bewusstseins. Diese Bemerkungen sind nach Külpe von Grund aus falsch.

Beneke und Wundt haben zugleich, der erste mit der Bejahung der Seele, der andere mit seiner voluntaristischen Metaphysik, die psycho­logische Realisierung jenseits und ausserhalb der Wahrnehmungsgewissheit gesucht. Diese ist niemals eine sichere Garantie für ihre Wirklichkeit: es ist weder notwendig, dass das Reale mit Evidenz umfasst wird, noch auch, dass das evident Wahrgenommene real ist. Die moderne Psychologie bemüht sich mit wachsendem Erfolge, festzustellen, z. B. in der Empfindungs­lehre, was den Empfindungen in sich genommen zukommt und was unsere Auffassung in sie hineinträgt. Die Evidenz der Wahrnehmung ist unfähig, das zu tun, und überhaupt im allgemeinen die Scheidung zwischen Gegen­stand und Auffassung vorzunehmen. Hierzu ist eine schwierige Unter­

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suchung notwendig, die namentlich nach Anwendung von Experimenten zahlreiche und interessante Resultate zu Tage gefördert hat. Einer ähn­lichen wissenschaftlichen Untersuchung müssen wir vertrauen, eher als der intuitiven Methode Bergsons, wenngleich auch sie ein Beweis dafür ist, dass die einfache Wahrnehmung, trotz ihrer Evidenz, nicht eine hinreichende Garantie für die psychische Realität ihres Objektes ist.

Hieraus ersieht man, wie falsch die Methode ist, die innere Wahr­nehmung afs Modell und Typus einer jeden Verwirklichung aufzufassen: nicht allein ihre Evidenz wird schon beschränkt durch die Psychologie selber, wie wir sahen, sie hat auch in sich selber nicht die Macht zur Verwirklichung. Wenn sie gegenüber der äusseren Wahrnehmung Vorteile aufzuweisen hat, so hat sie doch auch Nachteile, denn bei jener ist es sehr leicht, zu bestimmen, ob wir es mit realen Objekten oder mit sub­jektiven Gemütsbewegungen zu tun haben, bei dieser hingegen ist es schwer, zu erkennen, was die Fähigkeit des psychologischen Subjektes und die Wahrnehmung zur Erscheinung ihres Objektes beitragen.

Das erste Argument des Konszientialismus verliert also viel von seiner Bedeutung. Es beweist, dass Erfahrung der Ausgangspunkt und die letzte Grundlage der Realisierung ist, sodass man behaupten kann : ohne Wahr­nehmung keine Realisierung. Das soll aber nicht besagen, dass die Wahr­nehmung ihre einzig mögliche Form ist, noch auch, dass das Vorhandensein eines Objektes im Bewusstsein es damit schon real mache ; die Beschränkt­heit der Wahrnehmung, als Folge der natürlichen Unvollkommenheit unserer Organanlagen, verlangt, dass wir in den Realwissenschaften uns niemals mit ihren Angaben und ihren Bestimmungen begnügen dürfen.

II. D ie l o g i s c h e n S c h w i e r i g k e i t e n der Transzendenz .Polemische Ergänzung des Konszientialismus ist der Kampf gegen die

Transzendenz, ein Kampf, der drei Formen annimmt :a) Der Gedanke an ein nicht gedachtes Objekt ist absurd. Wie konnte

doch Berkeley in seinen P r i n c i p l e s of K n o w l e d g e und in den Dia­l ogues b e t w e e n Hyl as and P h i l o n o u s sich fragen und wie kann man nur sich vorstellen, dass ein Ding, d as m an d e n k t , existieren kann, ohne gedacht zu w e r d e n ? Ist das Objekt des Gedankens, fährt Schuppe in seiner E r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n Logik fort, nicht etwa nach seinem eigentlichen Begriffe nur ein Inhalt des Bewusstseins?

Diese Einwände hätten einen Wert, wollte man den Gedanken mit den Wahrnehmungen und den Vorstellungen gleiehsetzen: dann freilich läge ein Widerspruch im Denken an ein Objekt, das kein Gedanke wäre, wie ein Widerspruch liegen würde in der Wahrnehmung von Farbe, die keine Wahrnehmung wäre. Sicherlich ist es unmöglich, dass ein Objekt zu einer Zeit gedacht oder nicht gedacht wird, aber das sagen wir auch nicht; wir sagen bloss, dass das Objekt, das gedacht wird, nicht ein blosser Gedanke

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wird. Es bleibt, was es ist, und das Denken an dasselbe ändert durchaus nichts an seinem Wesen. De r s e l b e Gegenstand, z. B. ein Haus, das ich und ein Architekt sehe, bringt zwei ganz verschiedene Gedankeninhalte hervor. Der Gedanke steht also nicht im Verhältnisse von Identität oder Gleichheit mit dem Objekte und noch weniger mit der Vorstellung; kann es doch, wie die moderne Denkpsychologie bewiesen hat, Gedanken geben ohne Bilder.

b) Es ist etwas Widersprechendes, sagen die Gegner, der Gedanke an einen Gegenstand, dér unabhängig wäre vom Denken. Wenn ein Objekt gedacht wird, hängt es ab vom Gedanken, darum kann es nicht von diesem unabhängig sein.

Wenn wir die Unabhängigkeit eines gedachten Objektes vom Gedanken behaupten, dann wollen wir nur sagen, dass die Existenz, die Eigenschaften und die Veränderung des Objektes nicht an die entsprechende Existenz, die Eigenschaften und Veränderung des Gedankens gebunden sind. Die Beweisführung der Gegner, bemerkt Liebmann in seiner Abhandlung Z ur An a l y s i s d e r W i r k l i c h k e i t , ähnelt jener anderen: Wenn ein Gegen­stand sich widerspiegelt, hängt es vom Spiegel ab ; also kann er nicht von diesem unabhängig sein und nicht ohne jenen existieren.

Um aber die Schwierigkeit völlig zu beheben, ist daran zu erinnern, dass es Fälle gibt, in denen ein Objekt unabhängig vom Gedanken existiert. Dass ein solcher Fall für die Bewusstseinsinhalte zutrifft, haben Freytag (Der R e a l i s m u s u n d das T r a n s z e n d e n z p r o b l e m ) und Husserl (Log i sche U n t e r s u c h u n g e n ) bewiesen. Zur Bestätigung würde es genügen, darauf hinzuweisen, dass die mathematischen Grössen und Zahlen ihre festen Relationen haben und dass die Begriffe und Urteile der Logik ihre Gültigkeit behalten, anch wenn sie nicht gedacht werden. Und dann, ist es etwa nicht wahr, dass die Objekte, über die man naehdenkt, gleich bleiben während der verschiedenen logischen Operationen und der verschiedenartigsten wissenschaftlichen Schlüsse ? Ist das nicht ein Beweis dafür, dass das Objekt, wenn es gedacht wird, vor dem Gedanken jene Unabhängigkeit bewahrt, die das Grundprinzip der Logik und der Wissen­schaften ist?

c) Die logische Schwierigkeit des Realismus kann endlich eine andere Form annehmen. Rickert hat in seinem Werke D er G e g e n s t a n d der E r k e n n t n i s geschrieben: all das, was für mich existiert, steht unter der allgemeinsten Bedingung, Tatsache meines Bewusstseins zu sein. Mit welchem Rechte wird ein Objekt angenommen, das nicht Tatsache des Bewusstseins ist? Die Transzendenz hätte nötig bewiesen zu werden, um nicht eine willkürliche und wissenschaftlich unzulängliche Hypothese zu sein. Für Rickert, den Verfechter des Immanenzstandpunktes, sind alle Objekte Tatsachen des Bewusstseins, dieses ist eine Wahrheit, die un-

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mittelbar evident ist, und auch die Einzelwissenschaften fassen die Reali­täten als Inhalt des Bewusstseins.

Nun ist das letztere aber falsch. Nicht allein die Metaphysik be­trachtet Gott, die Nomaden usw. als eine Realität, die unabhängig ist von den Bewusstseinsinhalten, sondern auch die andern Wissenschaften, von der Physik bis zur Psychologie, betrachten die Gegenstände der Natur, des psychischen Lebens oder der Geschichte als unabhängig von dem In­halte des Bewusstseins. Der Idealismus Riekerts liesse sich so fassen : alle Objekte, alle Realitäten der Wissenschaften sind Bewusstseinsinhalte, sofern sie gewusst werden, oder: Sofern etwas gewusst wird, wird es gewusst.

Man sagt, der Realismus sei eine willkürliche Behauptung: für die Setzung eines Realen gebe es keinen hinreichenden Grund. Wir können hier nicht die positiven Argumente für den Realismus anführen, aber ab­gesehen von der Tatsache, dass die These, die das ganze Sein auf das Sein des Bewusstseins zurückführt, willkürlich und dogmenhaft ist, bemerken wir, dass die Himmelskörper ihren Lauf nehmen, auch wenn sie nicht gewusst werden, dass das Ei nach der Befruchtung sich entwickelt auch in den Zeiträumen, in denen kein Bewusstsein an dasselbe denkt. Diese Kontinuität der Entwicklung, wofür man tausenderlei andere Beispiele an­führen könnte, ist ein Beweis dafür, dass das Objekt nicht identisch ist mit dem Bewusstseinsinhalt. III.

III. Das t a t s ä c h l i c h e G e g e b e n s e i n a l l e r G e g e n s t ä n d e im B e w u s s t s e i n . Aber der Konszientialismus beruhigt sich noch nicht und sucht sonderbarerweise den Kampf gegen die Transzendenz zu führen, indem er im Namen der Erfahrung kämpft. Dass der Erkennende nur die Bewusstseinsinhalte und nichts anderes zur Verfügung hat, ist die einfache Konstatierung einer Tatsache. Hier teilen sich die Konszientialisten in zwei Richtungen : die einen verteidigen den Solipsismus, wonach das Bewusstsein, dem alle Objekte der Erkenntnis angehören, das individuelle und persönliche Bewusstsein der einzelnen Subjekte ist. Die anderen hingegen verstehen unter Bewusstsein entweder die Erlebnisse oder die Auffassungsweise des Subjektes: das ist der: Immanenzstandpunkt. Sehen wir uns die Schwäche der einen wie der anderen Auffassung an.

a) Niemals wurde energischer als bei von Schubert-Soldern (in seinen G r u n d l a g e n e i n e r Erkenntni s t heor i e ) die Idee ausgesprochen, dass alle Objekte der Erkenntnis nichts anderes sind, als. Inhalte m e i n e s Be­wusstseins, und dass wir in den Grenzen von diesem bleiben müssen. Der Solipsismus wäre also eine evidente Tatsache, die nicht einmal bewiesen zu werden brauchte. Von Schubert-Soldern ist nicht logisch: mit der Fest­stellung der Tatsache, dass alles, was ich denke, ein Bewusstseinsinhalt ist, ist nicht die Unmöglichkeit von Objekten bewiesen, die nicht gedacht werden. Empirisch ist weder Unmöglichkeit noch Notwendigkeit gegeben.

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Ausserdem löst sich, wie schon Gaetschenberger und vor allem Herbart in seiner Polemik gegen den Idealismus von Fichte bemerkt haben, der Solipsismus in eine unendliche Reihe auf. Wenn alle Objekte der Er­kenntnis Erfahrungen meines Bewusstseins sind, so ist es auch dieses zweite Urteil und so fort bis ins Unendliche. Uebrigens, von welchem Be­wusstsein spricht man denn? Ist es logisch, von meinem Bewusstsein zu reden, wenn nicht a n d e r e vorausgesetzt oder angenommen werden, und ich so aus den Grenzen meines Bewusstseins hinausgehe?

Der Solipsismus treibt Spiel mit dem Worte „Bewusstsein“, indem er es in einem doppelten Sinne gebraucht. Wenn dieses Wort die subjektiven Erlebnisse, das Seelenleben des Subjektes bezeichnen soll, so irrt der Solipsismus, denn die psychischen Vorgänge bilden ja nur einen Teil der Erfahrung und der erkannten Objekte, gar nicht davon zu reden, dass, falls sie die ganze Erfahrung und alle erkannten Objekte darstellten, wir dann von ihnen aussagen müssten, was wir von diesen aussagen : wir müssten dann auch ihnen die Kristallisierung, die Zellenscheidung, den Planetenlauf usw. zuschreiben können. Nimmt man aber das Wort „Be­wusstsein“ in einer anderen Bedeutung und will man sagen, dass alle Ob­jekte der Erkenntnis erkannt werden müssen, dann hat der Solipsismus Recht. Aber diese sehr einfache Wahrheit besagt nicht, was und von welcher Art die Objekte sind, wenn sie nicht gedacht werden.

Es irren also jene, die einen Solipsisten für unwiderleglich halten oder die mit Schopenhauer als einziges Mittel der Widerlegung seine Ueber- tührung in eine Irrenanstalt betrachten; nein, der Solipsismus treibt Spielerei mit dem Doppelsinn eines Wortes, sodass wir eine quaternio terminorum haben würden, wollten wir seine Beweisführung in syllogistische Form kleiden.

b) Kommen wir dann zum Standpunkte der Immanenz und lassen wir Rickert, dem wir schon geantwortet haben, beiseite, so begegnen wir Ernst Mach und Richard Avenarius. Diese lehren, der erste in seinen Bei ­t r ä g e n zur An a l y s e de r E m p f i n d u n g e n und in E r k e n n t n i s und I r r t u m , der andere in der Kr i t i k de r r e i n e n E r f a h r u n g , dass physisch und psychisch Reflexionsbegriffe sind, dass aber das Gegebene weder physisch noch psychisch ist; der Standpunkt der Immanenz besteht gerade im Nicht-Ueberschreiten der reinen, primitiven, ungeteilten Erfahrung. Die reine Empfindung (Sensation) gibt uns die nicht von praktischen Zwecken gefälschte Kenntnis von der Wirklichkeit.

Die äussere Form, das Bild, die natürliche Kopie, die wir uns von der Welt machen, bemerkt Külpe gegen diese Auffassung des Erfahrungs­kritizismus, ist nicht die reine Erfahrung, sondern eine getrübte und in vielfacher Weise modifizierte Erfahrung. Denn sie ist nicht frei von Zu­sätzen aus früheren Erfahrungen, von Handlungen, die ihre Eindrücke ändern, von begrifflichen Voraussetzungen. Darum ist vor allem eine reinigende

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Die Realisierung.

Untersuchung notwendig, und die Experimentalwissenschaften tun gut daran, sie vorzunehmen, um ihren Ausgangspunkt zu gewinnen. Dann wenden sich die Wissenschaften nicht auf die ganze Tatsache, sondern nur auf einen Teil, nach verschiedenen Richtungen; die reine Erfahrung wird daher ab­hängig von einem bestimmenden Gesichtspunkte. Die Empfindungen sind der Psychologie überlassen und werden nicht von den Naturwissenschaften betrachtet. Die Naturgesetze als Empfindungsgesetze betrachten, ist ein Verfahren ähnlich jenem eines Psychologen, der das Seelenleben der andern Menschen für einfache Inhalte seiner Wahrnehmung halten wollte, oder dem eines Historikers, der ein gefundenes Dokument für einen blossen Eindruck des Sehvermögens betrachtete. Freilich, auch das fremde müsste logischerweise vom Empiriokritizismus geleugnet werden; wenn Avenarius es doch annimmt, so tut er das im Widerspruch zu seinem Immanenzstandpunkte.

Es ist so wenig wahr, dass die Sinnesinhalte das einzige Erkennungs­mittel sind, dass z. B. den empirischen Wissenschaften nichts an der spezifischen Eigenschaft des mit den Sinnen Wahrgenommenen liegt: die Sinneswahrnehmungen werden nicht wegen ihrer Eigenschaften der Aus­gangspunkt für die Wissenschaften, sondern wegen gewisser Relationen und Beziehungen, die man an ihnen wahrgenommen, wegen der Unabhängigkeit ihres Gehens und Kommens, ihres Bleibens oder ihrer Veränderung, ihrer Trennung oder Vereinigung. In all diesen Momenten spricht sich eine Abhängigkeit von Objekten aus, die nicht mit uns identisch sind. Wären die Vorsteilungsinhalte so veränderlich und frei von allen Gesetzen, so könnten sie nicht der Ausgangspunkt für wissenschaftliche Beobachtungen werden. Nicht die Sinneswahrnehmungen, sondern die Wirklichkeit der Natur ist das Kriterium der Wissenschaft.

Die Immanenztheorie könnte aber daran festhalten, dass diese Realitäten der Natur nichts anderes sind als Gedanken und Begriffe : jede Kenntnis der Natur, sagt Mach, ist eine Anpassung der Gedanken an Tatsachen, und wir sehen dabei von der nebenher anerkannten Anpassung der Gedanken aneinander ab. Begriffe und wissenschaftliche Theorien sind sämtlich nur provisorisch, nützlich für die Praxis; die Empfindungen allein sind das Unabhängige, wonach wir unsere Gedanken richten müssen : ihre Analyse und ihre Kenntnis bilden das erste Erfordernis des Forschers, der wirk­lich empirisch Vorgehen will.

Wer in solcher Weise spricht, vergisst, dass die Gedanken, die in An­passung an Sinneswahrnehmungen gebildet sind, ein ganz anderes Objekt haben als jene Sinneseindrücke. Die Naturwissenschaften handeln nicht so sehr von Farben, Tönen, von Temperaturwahrnehmungen, sondern vom Aether, von der Materie, von Schwingungen, Elektronen usw. Wie bringt Mach es fertig, zu erklären, dass die Gedanken nichts anderes sind alp eine

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N achbildung der Sinnesempfindungen, während sie doch gar nicht von diesen handeln ?

Man wird sagen, dass diese logischen und wissenschaftlichen Kon­struktionen, die Materie, die Elektronen usw. blosse Begriffe sind, bequeme, wenn man will, aber keine wahren. 0 nein! es ist nicht der Gedanke, sondern die Realität, die uns sagt, welches die Zusammensetzungen der Kohlensäure sind, die uns unterweist, mit welcher Geschwindigkeit das Licht sich bewegt usw. Damit jener Einwand Sinn habe, müsste man die realen Objekte rhit den idealen gleichsetzen ; aber wie würde dann zu erklären sein, dass die realen Objekte nur mit Hülfe einer schwierigen Beobachtung von Tatsachen erkannt werden können? und wie kommt es, dass der Wert des Gedankens über sie nicht bloss eine immanente Grundlage hat, sondern von der Erfahrung bedingt ist?

Wir ziehen also den Schluss, dass der Solipsismus und die Immanenz keine Tatsachen, sondern nur ungenügende Theorien sind, unbewiesene Behauptungen, die im Widerspruch stehen mit den Realwissenschaften.

IV. D ie a b s t r a k t e Na t u r j e d e r Rea l i t ä t . Die Abstraktionen — so lautet eine andere Idee des Konszientialismus — existieren nicht. Nun müsste es aber, wenn es etwas Reales gäbe, auch etwas Abstraktes geben, eine allgemeine Idee. Also existiert das Reale nicht.

Berkeley mit seiner Theorie der abstrakten Begriffe ist einer der Ver­fechter dieser Schwierigkeit ; die englische Philosophie vor allem stellt, nachdem sie den Gedanken nach dem Muster von Sinneseindrücken und Vorstellungen behandelt hat, folgenden Schluss an: Die abstrakte Idee ist etwas, was man sich nicht vorstellen kann; also ist sie noch weniger denkbar.

Ganz abgesehen von dem Nachweise, den die moderne Psychologie von der Denkbarkeit einer freilich nicht mit sinnlichen Bildern vorstellbaren Materie geliefert hat, die weder warm noch kalt, weder schwer noch leicht, weder hell noch dunkel, sondern nur räumlich bestimmt ist ; abgesehen davon, dass die abstrakte Idee nur für den n a i v e n Realismus, nicht für den kritischen Realismus, etwas Unverständliches und Widersprechendes sein wird, zeigt sich in klarer Weise die Unzulässigkeit des Vorgehens Berkeleys, wenn man unterscheidet zwischen Gedanke und Objekt. Warum kann die Kenntnis der Objekte nicht unbestimmt und allgemein sein, ohne dass die Objekte die gleiche Eigenschaft haben? Es kommt hinzu, dass auch für den Naturforscher die Objekte nicht blosse Abstraktionen oder Allgemeinheiten sind; der Biologe z, B. pflegt als real nicht die Arten und Gattungen, sondern die Individuen zu betrachten. Wir können zuweilen, wenn wir von einer realen Seite abstrahieren, uns auf eine andere nicht weniger reale Seite beschränken. Die allgemeinen Gesetze der Naturwissen­schaften können immer durch die Wahl gewisser Konstanten auf ein be­stimmtes Objekt angewandt werden. Und wie im übrigen der Astronom

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• einen Himmelskörper studiert, so kann jedes Natürobjekt als ein Gegen­stand für sich allein betrachtet werden. Wollte man1 die Existenz von realen Objekten leugnen, bloss weil sie mit Hülfe von Abstraktionen ge­wonnen wurden, so müsste man auch die Begriffe der Logik und die

: geometrischen Figuren verwerfen.In keiner Weise hat man das Recht, den realen Objekten den Anspruch

auf: Konkretheit und Individualität zu versagen. Andererseits ist das Leugnen jeden Wertes-einer abstrakten und allgemeinen Erkenntnis gleiche bedeutend' mit dem Leugnen aller Wissenschaften.

V. D er e m p i r i s c h e Ge h a l t d e r G e d a n k e n t r a n s z e n d e n t e r Ge g en s t än d e . Untersuchen wir nun die Theorie Humes. Die Ideen können nach Hume nicht mehr enthalten, als in den sinnlichen Eindrücken gegeben ist, da sie ja aus diesen entstehen; folglich muss aus den Be­griffen Substanz, Kausalität, Aussen weit alles entfernt werden, was nicht· aus den ursprünglichen Gegebenheiten des Bewusstseins abgeleitet werden kann. Soviel über den Inhalt der Gedanken. Bezüglich ihrer Anwendung ist zu sagen : Die Gedanken können sich nur an Realitäten anlehnen, die vom Bewusstsein vorgestellt werden können, da sie ja in diesen ihren Ursprung nehmen.

Wir haben schon wiederholt, dass der Gedanke sich wesentlich von den Sinneseindrücken und den Vorstellungen unterscheidet, nicht bloss weil es Gedanken gibt ohne Bilder, nicht bloss weil er zum Unterschied von jenen sich von seinem Gegenstände unterscheidet, sondern auch, weil er sich viel weiter ausdehnt als die Einbildungsvorgänge. Wegen dieser Ideen ohne Bilder ist das alte Axiom unhaltbar: Ni h i l es t in i n t e l l e c t u qu o d pr i us non fuer i t in sensu. Selbst wenn man einen Ursprung der Gedanken aus Empfindungnn annehmen würde, so würde das doch nicht eine qualitative ; Gleichheit des -Gedankens und des Vorstellungsinhaltes

^bedeuten.Noch einmal: Das Vorgehen des Empirismus beweist nicht die Un­

möglichkeit eines nicht' empirischen Inhaltes der Gedanken. Er will; dass jeder Gedahkehinhalt abgelehnt werde, der sich nicht auf'Sinneseindrücke zurückführen lässt; aber das ist nur' ein ungerechtfertigtes Verbot; gehen

'denn die Analogie und die wissenschaftliche Induktion nicht über die Er­fahrung, und zwar mit Nutzen, hinaus?

Was dann1 die zweite5 Frage angeht, wird“ man gut tun, daran zü er­innern, dass die Begriffe nicht bloss angewandt werden können auf jenes Gegebene, von dem sie herstammen. ,,Niemand Wird behaupten wollen, dass die Zahlen, weil sie zunächst von Fingern und Zehen ihren Ursprung genommen haben, auch nur auf diese - Gegenstände angewandt werden dürfen“. Die Wissenschaft liefert in zahlreichen Fällen den Nachweis, wie

cwiHkürlich·'j'ene Beschränkung ist.j Im allgemeinen sodänn kann imd mussPhilosophisches Jahrbuch 1913. 24

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A. G e m è l l i

man behaupten, dass, wenn unsere Gedanken neben der Wahrnehmung einen Sinn und Wert haben sollen, sie auch einen selbständigen Inhalt und eine unabhängige Funktion haben müssen.

VI. Die T r a n s z e n d e n z und das I d e a l de r W i s s e n s c h a f t . Sehr sonderbar ist der Versuch, im Interesse und Namen der Wissenschaft zu kämpfen.

Die besten wissenschaftlichen Erkenntnisse müssen sich durch N o t ­we n d i g k e i t und A l l g e m e i n g ü l t i g k e i t auszeichuen. 'Nun kann aber die Annahme transzendenter Objekte diese Merkmale nicht haben. Ihre Existenz ist eine blosse Hypothese, unwürdig der ernsten Strenge der Experimental-Wissenschaften. Die Antwort ist leicht: nicht alles in der Wissenschaft hat die oben beschriebenen Eigenschaften. Wenn das wäre, so hätten wir eine durchaus vollkommene Wissenschaft; jedermann aber weiss, wie viele Lücken sich in den verschiedenen Zweigen der Wissenschaft finden. — Man wird vielleicht sagen, dass hier immer die Möglichkeit eines Fortschrittes gegeben ist, während ein solcher nach dem Beweis der realen Existenz des Transzendenten hin nicht möglich sei. Auch das ist falsch: nicht nur, dass der Empirismus nicht die Un­möglichkeit eines solchen Nachweises dartun kann, auch im Bereiche der Realisierung gibt es einen Fortschritt und eine Entwicklung : Das, was an­fänglich eine Supposition war, kann dann eine wohlbeachtenswerte wissen­schaftliche These werden ; von den Atomen Demokrits kann man hinüberkommen bis zur modernen Atomistik. Und, um nichts anderes zu sagen, waren die grossen Forscher nicht etwa Realisten? Hätten sie viele ihrer Entdeckungen gemacht, wenn sie sieh auf einen konszientialistischen Standpunkt gestellt hätten? Wann ist jemals der Realismus für das Ideal der Wissenschaft ein Hindernis gewesen?

VII. D as P r i n z i p de r Z w e c k m ä s s i g k e i t un d die, T r a n s ­ze n d en z . Das Zweckmässigkeitsprinzip, bemerkt in einem andern Einwand Mach, herrscht unbestritten in der Wissenschaft, die ihr Ziel auf dem kürzesten Wege .und mit dem geringsten Kraftverbrauch erreichen muss. Alle überflüssigen Voraussetzungen müssen unnachsichtlich ausgeschieden werden. Dahin gehören aber die transzendenten Objekte.

Verständigen wir uns zunächst gut über das Sparsamkeitsprinzip: zur Erreichung eines g e s t e c k t e n Z i e l e s muss man die am wenigsten kost­spieligen Mittel wählen : sehr gut. Die ganze Frage hängt also vom Ziele ab: es muss entschieden werden, ob dieses das Ziel der Wissenschaft ist: eine Nachbildung von Tatsachen in Gedanken zu sein, oder jenes, die objektive Realität zu erkennen. Bei dieser zweiten Möglichkeit würde das genannte Prinzip nicht das Transzendente ausschliessen.

Es wäre auch interessant, zu erfahren, wie wir uns vom konszientia- listischen Standpunkte aus das Gesetz der Schwerkraft vorstellen müssen;

3ίΌ

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Die Realisierung. 8/1

oder welche zukünftige Naturwissenschaft von ihm abgeleitet werden kann. Vorläufig ist die moderne Naturwissenschaft von realistischen Voraus­setzungen beherrscht. Auch in unserem praktischen Leben sündigen wir eher durch Uebertreiben des Realismus, indem wir auch die Sinnes­qualitäten als reale Beschafienheiten auffassen. Die konszientialistische Auffassung würde eine sehr unbequeme und umständliche Redeweise mit sich bringen.

Uebrigens muss die Existenz des Transzendenten mit dem Kriterium der Wahrheit, nicht der Bequemlichkeit, bewiesen werden.

VIII. P s y c h o l o g i e , M e t a p h y s i k und Geis t eswissenschaf t en. Das letzte Bollwerk des Konszientialismus ist die Psychologie. Diese ver­zichtet aüf alle Transzendenz und treibt uns so an, ein gleiches auch in den andern Wissenschaften zu tun.

Indem der Verfasser diesen letzten Angriff abschlägt, kommt er zum Resultat, dass, so verschieden auch das Kriterium der Realisierung in der Psychologie und den Naturwissenschaften sein mag, jene sowohl wie diese in gleicher Weise realisieren.

Schliesslich untersucht Külpe die Beziehungen des Konszientialismus zu den Geisteswissenschaften und zur Metaphysik. Für die ersteren, z. B. für die Geschichte, würde es gleichbedeutend sein mit einem Verzicht auf jegliche Erkenntnis des Vergangenen : zu sagen, dem Wort Alexander ent­spreche eine Persönlichkeit, die im 4. Jahrhundert v. Chr. gelebt hat, wäre eine unerlaubte Transzendenz. Das erklärt uns, weshalb sich unter den Vertretern der Geisteswissenschaften keine Konszientialisten finden. Was dann die andere (die Metaphysik) angeht, so sucht Külpe zu zeigen, dass es eine induktive Metaphysik gibt, die die einzelnen Realwissenschaften zusammenfasst, deren Vorgehen keinem andern G e s i c h t s p u n k t unter­liegt, als allein der Methode, die in den Geistes- und Naturwissenschaften anerkannt und allgemein angewandt wird, nämlich einer Setzung und Be­stimmung von Realität. Das Vorhaben, die Metaphysik auf die unmittelbare und intuitive Erfahrung zu gründen, ist eitel und nichtig.

Wir werden dem Verfasser in diesem Teile nicht folgen und auch nicht in dem grossartigen Rückblick, wo er in Schlachtordnung auf der einen Seite die Argumente des Konszientialismus aufstellt, die Vorteile seiner Position, die Nachteile der Transzendenz, und auf der andern Seite die nach ihm erschöpfenden Antworten, die ihm (dem Konszientialismus) ent­gegengesetzt werden können. Es ist das ein sehr wohlgelungenes synthe­tisches Kapitel, bei dem es einem vorkommt, als wohne man einer ge­waltigen Entseheidungschlacht bei.

IX. Die S c h u l e von Marburg . Der letzte Teil des Buches ist einem andern Feind des Realismus zugewandt, nämlich dem objektiven Realismus, speziell der Marburger Schule. Für Cohen und Natorp ist die

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3?2 Á. Gemelli .

Mathematik Prototyp aller Wissenschaft; die schöpferische Tätigkeit des Gedankens ist der Ursprung jeder Erkenntnis ; die.Objekte der Realwissen­schaften sind lediglich ideale Objekte; i das Gegebene: ist nichts weiter als eine neue Aufgabe, die gelöst werden will: alles: ist Gedanke, und der Gedanke ist in fortwährender Ausgestaltung, in ewigem Fortschritt begriffen.

Unter Hinweis auf das, was August Messer in einem neueren Artikel in der I n t e r n a t i o n a l e n Monat sschr i f t (März 1912) mit Bezug hierauf geschrieben, wendet Külpe gegen die Marburger Schule und gegen jeglichen objektiven Idealismus folgenden Verteidigungsplan an. Er beginnt damit, dass er die Begriffe, die die Elemente von Vorstellungen bilden, und die idealen Objekte, die Gegenstand der Untersuchung sind, auseinanderhält. Sodann will er beweisen, dass nicht jedes Objekt, das in Frage, steht, ein ideales Objekt ist, dass vielmehr die Forschungsmethoden einen, wesentlich verschiedenen Charakter annehmen gegenüber realen und idealen Objekten. So kommt er zu einer kurzen Prüfung der einzelnen Beweise, die der Idealismus herbeibringt, um die ersten mit den zweiten identifizieren zu können, wobei er den idealen Objekten die vorherrschende und dominierende Stellung zuweist. Wir folgen der übersichtlichen .Anordnung des vor­züglichen Autors:

a. Wir finden nicht, sagt der Idealist, die realen Objekte fertig und gemacht; sie müssen bearbeitet werden und erfordern daher, wie die idealen Objekte, einen Erzeugungsprozess. Ohne Spontaneität des Forschers können sie nicht gesetzt und bestimmt werden. Zwischen den einfachhin gegebenen realen Objekten, erwidert Külpe namens seines kritischen Realis­mus, und zwischen den (durch das Erkennen) geschaffenen realen Objekten ist noch Platz für eine dritte Möglichkeit, ein Erfassen der Realität, die nicht gegeben ist, uns ihre Existenz und ihr Wesen aber durch Gegebenes offenbart. Nicht das reale Objekt , selber, sondern seine Erforschung ist der Spontaneität überlassen ; diese ist ja nicht eine Tätigkeit, die frei schaffen kann, sondern sie; ist begrenzt und geleitet von dem Masse der Erkenntnis realer Gegenstände.

b. Bei den realen und idealen Objekten ist es immer die Erfahrung^ die ihre Hervorbringung veranlasst. Ohne Raumanschauung wäre wahr­scheinlich niemals die Geometrie, ohne Dinge, die sich zählen lassen, niemals die Arithmetik entstanden. — Nein; die Bedeutung der Erfahrung für die Realwissenschaften ist viel grösser als für die Idealwissenschaften. Die idealen Objekte der Mathematik sind, nachdem ihre Konstruktion sich vollzogen hat, unabhängig von der Erfahrung, und keine ihrer Feststellungen oder ihrer Beweisführungen nimmt ihre Zuflucht zu dieser. Auch in den Anwendungen passt sie nicht ihre Bestimmungen den Forderungen der Wirklichkeit an, sondern umgekehrt, sie passt diese letzteren der mathe­matischen Behandlung an.

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Gerade das Gegenteil trifft zu bei den andern Wissenschaften, da bei ihnen die Erfahrung den Ausgangspunkt bildet, nicht bloss für die Setzung und die Bestimmung der Realität, sondern weil sie auch die ständige Grundlage und die stete; Kontrolle ihrer Ergebnisse ist. Hieraus sieht man, dass die realen und idealen Objekte nicht nur nicht identifiziert werden können, sondern dass die Mathematik nicht einmal als Typus aller Wissenschaften betrachtet werden kann.

c. Man kann auch nicht sagen, dass die Real-Objekte wie die Ideal- Objekte, sich nur denken lassen. Die Frage ist diese, ob diesen gedachten Objekten eine Realität entspricht, oder ob sie von uns selber herstammen. Diese zweite Möglichkeit wird ausgeschaltet, wenn man bedenkt, dass unser Gedanke, weit entfernt von der Möglichkeit, die gewünschten Objekte zu schaffen, vielmehr von der Erfahrung beeinflusst wird.

d. Der Idealist wendet noch ein, dass die realen wie idealen Objekte als Abstraktionen, Kombinationen oder Modifikationen gegebener Elemente betrachtet werden können. Die Gleichheit der hervorbringenden Tätigkeit scheint die Bildung gleicher Objektsarten mit sich zu bringen. Jene Ab­straktionen, Kombinationen, Modifikationen unterliegen für die realen Ob­jekte der Herrschaft bestimmter Kriterien der Realisierung und werden in enger Anlehnung an die Tatsachen vorgenommen ; diese Kriterien und dieser Anschluss hat keine Bedeutung für die Erforschung der idealen Objekte. Werden diese Operationen aber vorgenommen, sei es für die realen oder die idealen Objekte, so geschieht es, weil die einen wie die andern Gegens t ände sind; das soll aber nicht besagen, dass zwischen ihnen keine Unterschiede bestehen: es gibt deren, und die gegenwärtige Diskussion belehrt uns, dass es tiefgehende Unterschiede sind.

e) Man sagt auch, dass zwischen den Idealwissenschaften, z. B. der Mathematik, und den Realwissenschaften, z. B. der Physik, so wenig eine scharfe Grenze besteht, dass man von einer mathematischen Physik redeii kann; ein solch unvermittelter Uebergang von den einen zu den andern Wissenschaften lässt sich nur dann erklären, wenn die Objekte beider von derselben Art sind. Die Mathematik kann zur Hülfe herangezogen und so eine Hülfswissenschaft der Physik werden, aber sie kann nicht etwa die Beobachtung und das Experimentieren ersetzen und reale Naturvorgänge aus ihren eigenen Voraussetzungen ableiten. Ihre Verbindung geschieht daher immer nur gelegentlich aus Zweckmässigkeitsgründen, und die Eigentüm­lichkeiten der einzelnen Wissenschaften gehen nicht verloren, wenn sie Zu­sammenwirken.

f) Es ist unmöglich — sagt man weiter — etwas Reales anzugeben, das nicht etwas Ideales enthielte, so zwar, dass die euklidische Geometrie gut als eine Erfahrungswissenschaft und die Mechanik als Idealwissenschaft bezeichnet worden ist ; folglich ist die Unterscheidung der zwei Arten von Objekten illusorisch. — Der Idealist vergisst, welch eine Kluft immerhin

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zwischen diesen beiden Arten von Objekten bleibt : die Idealwissenschaften lassen sich bei ihrer Forschung ausschliesslich von den allgemeinen Denk­gesetzen leiten und sind nicht an die Erfahrung gebunden', sodass sogar eine nicht euklidische Geometrie möglich ist. Die Naturwissenschaften hin­gegen stützen sich auf die Erfahrung und wenden die euklidische Geometrie an, weil die Erfahrung nicht zwingt, darüber hinauszugehen.

g) Aber was gibts dann, ruft Cohen aus, mit der wichtigen Forderung der Einheit? — Welch ein Missbrauch wird mit diesem Appell an die Ein­heit getrieben! Die Einheit einer Wissenschaft besteht nicht darin, dass alle Objekte gleich sind, und noch weniger darin, dass sie stets die gleichen Methoden anwenden; sie besteht vielmehr in dem Ziel, das sie sich vor­steckt, und in den Zusammenhängen, die sie findet und begründet. Uebrigens ist die Differenzierung nicht bloss erlaubt, sondern auch Pflicht. Und wie es durchaus nicht notwendig ist, dass auf Erden nur entweder Psychisches oder Physisches existiert, wie ein materialistischer oder spiritualistischer Monismus möchte glauben machen, ebensowenig ist es auch notwendig, dass für unsere Erkenntnis nur ideale Objekte zugelassen werden.

So ist also, schliesst Külpe in einigen Schlussbemerkuugen, auf die erste Frage, die wir uns in unserem Programm gestellt hatten, nunmehr geant­wortet. Das Setzen, die Existenz der Realität ist zulässig ; die Einwände dagegen sind als haltlos nachgewiesen worden.

X. Pos i t i ve r Teil. Wir sagten schon, dass Külpe in diesem ersten Bande sich nur mit dem Problem der R e a l i s i e r u n g befasst, indem er die E in wä n d e des Idealismus gegen die Existenz einer vom Gedanken unabhängigen Realität ab weist. Die Lösung anderer Fragen, d. h. den positiven Teil seiner Erkenntnistheorie, wird er in aufeinanderfolgenden Ver­öffentlichungen bieten. Wir finden aber bereits die genaue Ankündigung und die Richtlinien seiner künftigen Lösungen in einem Vortrage, den er am 19. September 1910 auf dem 82. Kongress der Naturforscher und Aerzte zu Königsberg gehalten hat, unter dem Titel: Erkenn t n i s t heor i e u n d N a t u r w i s s e n s c h a f t 1).

Nach einem Loblied auf das Zusammengehen von Naturwissenschaft und Metaphysik und nach einem Hinweise darauf, dass in keinem andern Orte besser als in der Stadt Kants eine solche Allianz feierlich ausgesprochen werden könne, steckt er sich als Ziel eine kurze Beantwortung der Frage, wie ein Setzen und Bestimmen des Realen möglich sei.

Jede Erfahrung, führt Külpe aus, enthält Faktoren, die von uns un­abhängig sind, und die Zutaten, die von der besonderen Veranlagung des Subjektes bewirkt werden. Die Aufgabe der R e a l i s i e r u n g besteht nun gerade darin, dass sie diese beiden Koeffizienten unserer Erfahrung trennt, um in ihren Eigenschaften zu finden, was von uns nicht abhängig ist. *)

*) Leipzig 1910, Hirzel, 48 S,

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Die Realisierung. 375

Auch der naive Realismus stellt dieses Programm auf; er schreibt aber diese Unabhängigkeit allem zu, was nicht dem Einflüsse unseres Willens unterliegt. Hingegen hat das Prinzip der Subjektivität der Empfindungs- qualitäten, das in der modernen Zeit der wissenschaftlichen Forschung sich aufgedrängt hat, uns belehrt, dass die Empfindungen, wenn sie auch von unserem Willen unabhängig sind, dennoch von „uns“ abhängen, d. h. von der Veranlagung unserer Sinnesorgane. Man stellte daher ein neues Kriterium der Realität auf; die völlige Unabhängigkeit vom Subjekte, das Versuche anstellt, ist das Losungswort der objektiven Welt des Naturforschers. Eine solche Unabhängigkeit lässt sich nur bei dem abstrakten Gegeben­sein der Erfahrung feststellen. Aenderungen in Raum und Zeit, das Er­scheinen oder Verschwinden der Sinnesinhalte, ihre längere oder kürzere Dauer, ihr Nebeneinander und ihre Aufeinanderfolge, ihre Gestaltung und Ordnung, das alles verrät zweifelsohne eine Gese t z l i chkei t , die unabhängig von uns existiert. Die abstrakten Beziehungen aber werden uns unter Inhalten, mitgeteilt, die als solche sicherlich von unserer Organ­veranlagung abhängen.

Diesen Inhalten müssen die Empfindungsqualitäten beigezählt werden, die deshalb kein Recht auf Realisierung haben. Es sind auch nicht, wie einige wollen, die mechanischen Eigenschaften, Druck, Stoss, Zug, Kraft, Gewicht, Widerstand, Undurchdringlichkeit, mit einem Worte, die Gefühls­und Muskeleigenschaften auszunehmen. Einerseits tragen auch sie in Wirk­lichkeit, ähnlich den übrigen, den Stempel unserer psychophysischen Veran­lagung ; andererseits sieht man bei Beobachtung der Ausdrucksweise des Naturforschers sofort, dass er ganz und gar von solchen Qualitäten abstrahiert. Druck, Stoss, Zug, Kraft sind nicht an bestimmte Wahrnehmungsinhalte gebunden : sie werden als vorhanden gedacht auch da, wo eine Mitwirkung unserer mechanischen Eigenschaften ausgeschlossen ist; jene wissenschaft­lichen Bestimmungen sind keine Uebertragung von Empfindungsqualitäten in die äussere Welt. Sie sind daher Begriffe ohne Vorstellungsinhalt, eine Sache, die nach den Ergebnissen der modernen Psychologie niemanden Anstoss geben darf.

Die reale Welt des Naturforschers ist also vor allem ein abstraktes Geschehen, eine Aenderung ohne veränderliches Objekt, eine Bewegung ohne Bewegliches, eine Beziehung ohne die Glieder . . . Und in diesem Geschehen wird sie von Gesetzen regiert, die, unabhängig von uns, das bunte Heer unserer Sinneseindrücke regieren und beherrschen.

Daraus ergibt sich die Erfahrung und der Gedanke. Es gibt keine rein theoretischen oder rein empirischen Kriterien der Realität. Kant sagte, dass die Gedanken ohne Inhalt leer sind, dass die Vorstellungen ohne Begriffe reich sind, und dass nur aus ihrer Vereinigung die Erkenntnis entspringen kann; das gilt sicherlich in dem Sinne, dass der Realismus aus dem Zusammen­wirken von empirischen und rationalen Bewegungen entstehen muss,

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376 A. Gemelli.

Mit dieser Methode trennt der kritische Realismus die von uns ab-* hängigen Beziehungen von denen, die-den Sinneseindrücken anhaften, und* ' versucht, diese letzteren zu bestimmen. Hierzu ist er durch die Tat- sache gezwungen, . dass, die von uns unabhängigen Beziehungen, weder an bestimmte und gleichartige Wahrnehmungsinhalte noch an bestimmte * Personen gebunden sind und dass sie -auch dann vorhanden sind) wenn die B e w u s s t s e i n s z u s a m m e n h ä n g e und die Sinneseindrüeke, in denen sie wahrgenommen wurden, sich· ändern. Sie müssen also offenbar * existieren können, auch ohne dass der Sinnesinhalt ihre scheinbare· Stütze bildetj d. h. sie müssen Beziehungsglieder haben, die -von .den Sinnen ver­schieden - sind. Das ist der Weg, der von der Realität des Selbstbewusst­seins zur realen Natur, zur Setzung der äusseren Welt führt. Wie man sieht, besteht das wahre Motiv für den ; wissenschaftlichen Realismus nicht, wie Schopenhauer sagte, darin, dass die -äussere Welt die Ursache · unserer Sinneswahrnehmung ist, .als, ob sich von subjektiven Wirkungen die Eigenschaften der objektiven Ursachen ableiten .Hessen, Wenn es einen Weg gibt, der zur Realität der Natur führt, so kann er· nur ?an den Re­lationen gefunden.· werden, die von .den Wahrnelunungsinhalten unab­hängig sind, und um, diese Relationen zu erkennen, müssen wir die Resultate aller-Wissenschaften benutzen.

Eine ¡völlig verschiedene Methode . der Realisierung* hat man dann, wenn von den realen Beziehungen * die - andern von uns abhängigen bestimmt: !, werden müssen., Konszientialisten f und Phänomenalisten' wollen nicht die erzwungenen. Beziehungen unserer Sinnesinhalte auf die ■Faktoren zurück*- führen, die sie erzwingen-;i Die. Phänomenalisten sodann* leugnen, obschon, sie die Existenz ähnlicher Faktoren zu geben, dass man über ihr Wesen * irgend etwas aussagen kann»

Aber die. Naturwissenschaften, haben sich - nicht ' täuschen* ( lassen und konstruieren ein System des realen Geschehens, in dem die ¡Träger* dieses Geschehens -eine wichtige .Rolle spielen. Das ihnen zur Norm dienende ¡r Prinzip liesse sich so formulieren: Die Naturobjekte, als Träger der realen! Beziehungen, müssen als diesen adäquat gedacht werden, d. tu sie -müssen ¡ fähig und geeignet sein, alle jene Prozesse auszuführen oder durchzumachen, denen sie als Substrate »dienen, müssen,, Das,. was in unserer Erfahrung, unmittelbar zugänglich ist, ist etwas.Reales, das ¡abhängig:,ist und'darum der Beziehung zu einerr-unabhängigem Realitähbedarf) dié ider«Träger von jenem genannt werden kann..

So -bleibt, nun· ein Feld’tfür : die Bestimmiung dieser Trägery wen»« und insofern .¡wir sie auf der Grundlage 4er Prozesse * charakterisiere«^ ,4ie von * ihnen» getragen - werden müssen. Natürlich würde eine»* volle Erkenntnis! . nur¡, zu erwarten sein, wenn alle Kräfte und , Fähigkeiten der «Objekte be- r kannt wären. Aus. »diesem Grunde ¡ liegt , das Ziel ¡der Realisierung in * so weiter Ferne, im-Unendliehen. »,

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Die Realisierung. 377

Aber selbst wenn wir es erreichen könnten, : müssten wir immer ein bestimmtes Feld für die Bestimmung der Träger annehmen. Es kann in der Tat: nicht bloss die Welt reicher sein als unsere Erfahrung;* sondern, auch abgesehen davon, ist die Summe der Existenzbedingungen des únate * hängigen Realen niemals hinreichend mit der Gesamtheit seiner empirischen Fähigkeit gekennzeichnet. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, an die atomistisch-mechanischen, energetischen, wissenschaftlichen und meta­physischen Theorien zu erinnern, die der Natur und dem Wesen der Träger nachgehen.

Diese unsere Unkenntnis darf uns nicht erschrecken und veranlassen, auf den Realismus zu verzichten. Die Erkenntnis des Wesens der realen 1

Objekte hat sich ständig intensiv und extensiv vermehrt; von den Atomen Epikurs sind wir zur modernen Atomistik gekommen, von der Psycho­logie Herbarts zur Psychophysik gelangt usw. Auch darf uns keineswegs das ‘Prinzip der Subjektivität der Sinnesqualitäten erschrecken, von dem Augenblicke an, da Physik und Chemie, Anatomie und Physiologie, Entwicklungsgeschichte und Geologie durch jenes Prinzip in ihren Forschungen nicht gehindert'worden sind. Die Anatomie, die Lehre" von der Kraft, die geologischen und astronomischen Aufstellungen über die Formation der Erde und der Sterne, > die biologischen Untersuchungen über die Entwicklung des Lebens u. s. f., das alles beweist, dass trotz des Ver­zichtes auf die Sinriesqualitäten ein glänzender Realismus möglich bleibt. 1 Wenn jetzt * der ¡ Naturforscher sich1 die äussere Welt nicht mehr1 mit Hülfe** von Bildern vorstellen und so von ihr eine getreue Photographie haben kann, so kann er doch diese Lücke mit begrifflichen1 Bestimmungen' ausfiMlenv Wie' in der Psychologie, so müssen wjr auch in der Erkenntnis­theorie mit idem Dogma brechen;· dass der Gedanke ohne Vorstellungsbilder1 ein Nichts oder etwas Absurdes sei.

So werden die ¡'Grenzen und Schranken,· die der Phänomenalismus aufrichteh wollte;¡ vom Realismus beseitigt. Dieser kann auch’ pragraa- tistiechen* Prinzipien gegenüber seinen verdienten’ hohen' Wert festhälteii.’ Die» Wissenschaft eines ¡Newton ist realistisch; wahrend'Cdiè 'stolze Korn** struktion der ' Hegelselieri Dialektik zum Tode und zur Verneinung· der 1 Wissenschaft führt.» Heute, angesichts'1 « der* ’ glorreichen ' Eroberungen,1 die ' diese » auf der Grundlage eines mutigen' Realismus gemacht'hat j darf die Erkenntnistheorie nicht das Schauspiel· einer in sich versehloásenen Diszi­plin bieten, 'die ¡ sich um formalistische Gedanken dreht: Sie-ist beruféh/· nicht hinter der Naturwissenschaft zurückzubleiben, sondern sie zu begleiten,1 < um ihren Realismus verständlich zu machen, um ihre Prämissen und ihre Methoden* zu systematisieren und ihr so ihre Grenzen anzuweisen.·

Auf diese1 Weise wird1 sich die Vereinigung und die Unterscheidung ■*. zwischen Wissenschaft und Erkenütnislehreivollziehen. - Die ferstere gibriuns die Wissenschaft ¡won¡der Natura die zweite hingegen die*¡Theorie' dieser^

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378 A. G e me l l i .

Wissenschaft : sie unterscheiden sich deshalb von einander, wie die künst­lerischen Produktionen von den ästhetischen Theorien. Sie sind vereinigt ; denn je grösser die Entdeckungen der einen sind, desto bedeutender werden auch die Fortschritte der andern sein.

XI. Ein Wor t der Krit ik. In der Erwartung, dass Külpe in seinen Bänden über die Re a l i s i er un g die in diesem Vortrage angedeuteten Begriffe noch besser entwickelt und klarer gestaltet, erlauben wir uns einige Bemerkungen über den negativen Teil seiner Auffassung.

Es ist unmöglich, ein vollständiges Urteil über den ersten Bänd abzu­geben, so lange Külpe nicht in weitem Masse den zweiten Teil seines Werkes bearbeitet und uns gesagt hat, welche positiven Gründe für die realistische Auffassung sprechen.

Für jetzt müssen wir uns mit zwei Fragen begnügen. Vor allem: welchen Wert haben die Widerlegungen, die er den Schwierigkeiten ent­gegensetzt, die immer in redlicher Weise angeführt und streng diskutiert werden? Es scheint uns — und wir sind sicher, dass viele mit uns der­selben Ansicht sein werden —, dass der Verfasser fast immer überzeugt, oftmals glücklich ist und zuweilen seinen Gegner zermalmt und vernichtet.

Aber eine andere Frage: Hat Külpe wirklich a l l e Feinde des Realis­mus vernichtet ? Hat er nicht vielleicht, während er einige niederstreckte, die am meisten zu fürchtenden und die gefährlichsten am Leben gelassen?

Dieser Verdacht wächst, wenn man bedenkt, dass er niemals den Idealismus in seinem geschichtlichen Entstehen verfolgt, niemals auf jenes harte Arbeiten der philosophischen Reflexion, auf jenen langen Prozess von Anstrengungen hinweist, die von Bruno und von Descartes bis auf Spinoza und auf Vico, von der aprioristischen Synthese Kants bis auf die drei grossen nachkantianischen Philosophen (aber nicht bloss wegen der von Külpe in den einleitenden Blättern aufgezählten Gedankenrichtungen) zur absoluten Negierung des Transzendenten und zur völligen Identifizierung des Gedankens mit dem Realen beigetragen haben. Der Verfasser hingegen nimmt eine Objektion nach der andern vor und erweckt so in uns den Eindruck, als ob er, anstatt einem kompakten Heere gegenüberzutreten und sich ihm entgegenzustellen, die einzelnen Soldaten packen und das Vergnügen haben wollte, sie einzeln mit Leichtigkeit zu töten. Mit einem Worte, es erweckt den Anschein — und wer aus der Nähe die tiefe und ausgedehnte Gelehrsamkeit Külpes kennt, weiss, wie verfehlt dieser Eindruck ist —, als ob er bislang die Geschichte des modernen Idealismus noch nicht tief erforscht habe.

Ein anderer Irrtum, der den eben ausgesprochenen Verdacht bestätigt und bestärkt, liegt darin, dass der Verfasser sich f a s t ausschliesslich auf Deutschland beschränkt, als ob ausserhalb Deutschlands (ja, wir tragen kein Bedenken, zu sagen: mehr ausserhalb des Vaterlandes Hegels als in ihm) der

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Idealismus nicht eine ungeheure Entwicklung gehabt habe. Um vier Denker zu nennen, deren Namen sich von selber auf die Zunge drängen, weshalb doch hat Külpe nicht Weber, Royce, Baille und Croce herangezogen, die in ihren Ländern, in Frankreich, Amerika, England und Italien, alle Trans­zendenz bekämpft haben?

Aus dieser Unterlassungssünde folgt jene andere, die unserer Ansicht nach den grössten Mangel des Buches ausmacht: Viele Antworten sind a r g u m e n t a ad hominem, haben Wert einem Gegner gegenüber, der gerade aufs Korn genommen wird, treffen aber nicht die andern Idealisten. Um nur ein Beispiel anzuführen: Külpe setzt als unwidersprochen den theo­retischen Wert des empirischen und abstrakten Begriffes voraus; deshalb werden die zahlreichen Antworten, die sich auf diese Grundlage stützen, jenen überzeugen, der mit ihm eine solche Auffassung teilt, werden aber keinen Eindruck auf einen Idealisten machen, der jene These verwirft.

Die zweite Auflage dieses Buches, die wir ihm bald wünschen, wird gewiss diese Lücken ausfüllen. Hoffen wir, dass inzwischen der hervor­ragende Denker sein Werk fortführt und uns bald die versprochene Fort­setzung bringt. Seine Arbeit wird sicher den Beifall der Gelehrten finden und zu ernstlichem Nachdenken auch jene anregen, die nicht seinen kritischen Realismus teilen.