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www.visualpast.de Die Alchimie des Bildes: Surreale Transformationen bei Remedios Varo Linn Burchert, Berlin/Jena Einleitung Die Verarbeitung von kulturellem Bildwissen verschiedener Epo- chen und Disziplinen ist konstituierender Teil des Werkes der spa- nisch-mexikanischen Künstlerin Remedios Varo. Sie zitiert und transformiert Bildtraditionen sowie Motive aus dem Spätmittelalter, der Renaissance und der Moderne. Varo, geboren 1908 in Katalo- nien, erhielt ihre künstlerische Ausbildung an der Academia de Bellas Artes de San Fernando in Madrid und floh im Spanischen Bürgerkrieg nach Paris, wo sie als Geliebte Benjamín Peréts in den Kreis der Sur- realisten um André Breton aufgenommen wurde. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wanderte sie nach Mexiko aus, wo sie bis zu ihrem Tode im Jahre 1963 lebte. Während eines längeren Aufenthal- tes in Venezuela Ende der 40er Jahre verdiente sie ihren Unterhalt mit technischen Zeichnungen für ein wissenschaftliches Labor; in Mexiko war sie zeitweise als Restauratorin präkolumbialer Objekte tätig. Erst in den 50er Jahren war sie finanziell weitestgehend unab- hängig und erlebte ihre produktivsten Jahre als Künstlerin. Dabei be- wegte sie sich nicht innerhalb der Dogmen des Surrealismus, sondern entwickelte einen Stil, der zwischen technischer Zeichnung, Minia- turmalerei und Surrealismus changiert, und an Kunsttraditionen des europäischen Spätmittelalters und der Renaissance anknüpft. Bereits als Jugendliche und Kunststudentin begeisterte sie sich für die Werke

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Die Alchimie des Bildes: Surreale Transformationen bei Remedios Varo

Linn Burchert, Berlin/Jena

Einleitung

Die Verarbeitung von kulturellem Bildwissen verschiedener Epo-chen und Disziplinen ist konstituierender Teil des Werkes der spa-nisch-mexikanischen Künstlerin Remedios Varo. Sie zitiert und transformiert Bildtraditionen sowie Motive aus dem Spätmittelalter, der Renaissance und der Moderne. Varo, geboren 1908 in Katalo-nien, erhielt ihre künstlerische Ausbildung an der Academia de Bellas Artes de San Fernando in Madrid und floh im Spanischen Bürgerkrieg nach Paris, wo sie als Geliebte Benjamín Peréts in den Kreis der Sur-realisten um André Breton aufgenommen wurde. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wanderte sie nach Mexiko aus, wo sie bis zu ihrem Tode im Jahre 1963 lebte. Während eines längeren Aufenthal-tes in Venezuela Ende der 40er Jahre verdiente sie ihren Unterhalt mit technischen Zeichnungen für ein wissenschaftliches Labor; in Mexiko war sie zeitweise als Restauratorin präkolumbialer Objekte tätig. Erst in den 50er Jahren war sie finanziell weitestgehend unab-hängig und erlebte ihre produktivsten Jahre als Künstlerin. Dabei be-wegte sie sich nicht innerhalb der Dogmen des Surrealismus, sondern entwickelte einen Stil, der zwischen technischer Zeichnung, Minia-turmalerei und Surrealismus changiert, und an Kunsttraditionen des europäischen Spätmittelalters und der Renaissance anknüpft. Bereits als Jugendliche und Kunststudentin begeisterte sie sich für die Werke

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Boschs, El Grecos und Goyas.1 Zudem beschäftigte sie sich intensiv mit mystischen Texten über Alchimie und Kosmologie, ebenso wie mit populärwissenschaftlichen Publikationen des 20. Jahrhunderts.2

Als Metapher und Erklärungsmodell für die Praktik der Rezep-tion und des Zitats bei Remedios Varo kann die Alchimie gelten, die ein zentrales Motiv ihrer Arbeit darstellt. Alchimie ist eine Arbeit am Vorhandenen und Gegebenen: Sie versucht nicht, aus dem Nichts heraus etwas ganz Neues zu schaffen, sondern Vorhandenes zu kom-binieren, zu vermischen und auf diese Weise etwas Neues herzustel-len.3 Wie Arturo Schwarz in seinem Artikel Androgyny and Visual Ar-tists herausstellt, werden alchimistische Gedanken nicht nur in der modernen Psychologie (vor allem bei Jung), sondern auch von den Surrealisten aufgegriffen. Im Zentrum der Rezeption steht der Ge-danke der Vereinigung von Gegensätzen, der sich innerhalb alchi-mistischer Lehren insbesondere in der Vorstellung der Androgynie als verlorenem Urzustand der Menschheit manifestiert.4 Die Andro-gynie konnotiert dabei gerade auch im Kontext der Moderne einen Entzug aus klaren Festschreibungen und Machtzusammenhängen. Wie im Folgenden gezeigt wird, bedient sich Varo eben dieser Stra-tegie der Verbindung von Gegensätzen unter Rückgriff auf vielfältige Materialien der Vergangenheit, um im Wechselspiel von Rezeption, Aktualisierung und Neukombination einen anderen Blick auf die Ge-genwart zu werfen.

Eingangs wird der Doppelcharakter des Zitats spätmittelalterli-cher Bildräume bei Varo herausgearbeitet, die einerseits eine Erwei-terung der Möglichkeiten des Bildraumes im Vergleich zur zentral-perspektivischen Repräsentation darstellen, andererseits jedoch Orte sind, von denen gerade die weiblichen Protagonisten Varos zu flie-hen suchen. Diese Flucht bedeutet, wie der zweite Teil veranschauli-chen soll, nicht eine Abkehr von der Vergangenheit, sondern viel-mehr eine Umschreibung derselben, die die Spuren der Vergangenheit

1 Vgl. Kaplan 1988, 30. 2 Zu Varos Bibliothek siehe Haynes 1995, 26–31 und Kaplan 1988, 172. 3 Haynes 1995, 29. 4 Vgl. Schwarz 1980, 57–59.

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jedoch nicht auszulöschen sucht. Diese Praktiken des Umschreibens werden am Beispiel der Geschlechterordnung untersucht. Hier wird der Gestus der Kritik an Repräsentations- und Machtsystemen in der Rezeption deutlich. Denn wie abschließend im dritten Teil gezeigt werden soll, geht es Varo darum, im bildlichen Zitat verschiedene transhistorische Wissensformen ins Werk zu setzen, die gleichbe-rechtigt nebeneinander stehen beziehungsweise ineinander verwo-ben werden. So wird ihr Werk zu einer ambivalenten Bricolage von Bildwissen und Repräsentationsformen verschiedener Epochen, die es vermag, einen kritischen und veränderten Blick auf Geschichte und Gegenwart zu generieren.

Mittelalterliche Bildräume

In Embroidering the Earth’s Mantle aus dem Jahr 1960 (Abb. 1) besti-cken sechs Schülerinnen in einem mittelalterlichen Skriptorium einen Stoff, der sich aus dem Turm heraus ergießt und in dessen Falten Städte, Bäume und Wasser entstehen. Die sich einander exakt glei-chenden Frauen sind an Schnüren mit einem alchimistischen Gefäß verbunden und werden bei ihrer Arbeit überwacht. In einem winzi-gen Ausschnitt sehen wir, dass eine der Figuren ein Detail gefertigt hat, das sie mit ihrem Geliebten zeigt (Abb. 2). Dieses Werk bildet das mittlere Tableau eines Triptychons, welches die Flucht aus dem Skriptorium zum Thema hat. Das Motiv der Schöpfung durch Hand-arbeiten beziehungsweise die Kunst im Allgemeinen ist ein antiker Topos, der bei Varo immer wieder aufgegriffen wird. Sie bettet die-sen allerdings zunächst nicht in einen modernen Bildkontext, son-dern in einen mittelalterlichen Raum ein. In Embroidering the Earth’s Mantle wird der Raum als Schauraum in Szene gesetzt. Varo zitiert so spätmittelalterliche Strategien der narrativen Strukturierung von Bil-dern, die die vielfältigen Zusammenhänge von Innen- und Außen-raum zu repräsentieren vermögen.5 Dieses Ineinandergreifen von In-nen- und Außenraum als einem Kommunikationsraum entspricht

5 Kwarstek 2005, 154.

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etwa der Logik der Werke Giottos.6 Der Turm ist bei Varo ebenfalls aufgeschnitten, um dem Betrachter einen Einblick zu gewähren, während zugleich die Geschehnisse im Innenraum mit jenen im Au-ßenraum in Verbindung gebracht werden. Dabei hält auch Zeit in das Bild Einzug: So wie Maria zweimal in Giottos Geburt der Jungfrau erscheint, eine zeitliche Abfolge markierend, verweist auch die Sti-ckerei in Embroidering the Earth’s Mantle auf einen Verlauf in der Bil-derzählung, die schließlich im dritten Bild der Reihe materialisiert wird.

Abb. 1 (links): Embroidering the Earth‘s Mantle, 1961, Öl auf Holzfaser, 123 x 100 cm, Privatbe-

sitz, © VG Bild-Kunst, 2014.

Abb. 2 (rechts): Detail, Embroidering the Earth‘s Mantle, © VG Bild-Kunst, 2014.

Eine ähnliche Raumlogik findet sich auch in Destiny von 1956 (Abb. 3), das den Zusammenhang dreier einander unbekannter Per-sonen zum Ausdruck bringt, wiederum im symbolischen Rekurs auf einen mittelalterlichen Arbeitsraum. In ihrem eigenen Kommentar

6 Vgl. Kemp 1996, 16. – Giottos Geburt der Jungfrau kann auf der Webseite der Web Gallery of Art eingesehen werden: <http://www.wga.hu/frames-e.html?/html/g/giotto/padova/ 2virgin/mary01.html> (26.08.2014).

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zum Bild schreibt Varo, dass die Personen glauben, unabhängig zu sein. Sie seien jedoch durch unsichtbare Rollen und Schnüre mit ei-ner Maschine verbunden. Diese führen zu einem Stern, der – so Varo – das Schicksal der drei Personen darstelle. Dieses werde sie irgend-wann zusammenführen.7 Interessant dabei ist, dass es sich bei den Protagonisten (von links nach rechts) um einen Schriftsteller, eine Malerin und – so ist aufgrund des Kelches anzunehmen – einen Wis-senschaftler handelt. Somit wird nicht allein die Verbindung dreier Menschen, sondern auch die Verbindung verschiedener Disziplinen beziehungsweise Tätigkeiten thematisiert. Die gewählte Repräsenta-tionsform ermöglicht, anders als die Raum-Zeit-Einheit der Zentral-perspektive, die Verbindung verschiedener gleichberechtigter Blick-punkte über Raumgrenzen hinweg sowie die Inbezugsetzung ver-schiedener Räume in ihrer Ausdehnung vom Innenraum in die

Abb. 3: Destiny, 1956, Öl auf Holzfaser, 90 x 108 cm, Privatbesitz, © VG Bild-Kunst, 2014.

7 Kommentare von Remedios Varo zu ihren Bildern veröffentlicht in: Bolio 2010, o. S. (Bildteil).

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mittelalterliche Stadt bis in den Kosmos hinaus. Bei den dargestellten Räumen handelt es sich zudem nicht um eingerichtete Wohn- oder Arbeitsräume, sondern winzige Kabinen, die gerade Platz für eine Person bieten. Sie ähneln somit Raumdarstellungen des 13. Jahrhun-dert, die, wie Wolfgang Kemp schreibt, von Verzicht und Konzent-ration auf das Wesentliche geprägt sind, d. h. keine Räume des Rau-mes, sondern des Ortes ohne räumliche Einrichtung sind.8 Sie erfül-len die Funktion der Lokalisierung und Relationierung zunächst dis-parat erscheinender Örtlichkeiten und Tätigkeiten.

Abb. 4: Weaver of Verona, 1956, Öl, 86 x 105 cm, Privatbesitz, © VG Bild-Kunst, 2014.

Der spätmittelalterliche Bildraum ist bei Varo dennoch mindestens doppelt konnotiert. Während er einerseits die Verbindung von Zu-sammenhängen ermöglicht, was die strenge Logik der Zentralper-spektive oft nicht vermag, ist er doch ein Raum, dem gerade die weib-lichen Protagonisten zu entfliehen suchen. So wie in Embroidering the Earth’s Mantle wird auch in Weaver of Verona von 1956 (Abb. 4) die

8 Kemp 1996, 9–11.

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Handarbeit als Möglichkeit der Befreiung aus dem Bildraum in Szene gesetzt. Auch hier handelt es sich um einen geöffneten Schauraum, bei dem gleichzeitig die Verortung in einer mittelalterlichen Stadt sichtbar wird. Durch die Schrägstellung der Kanten scheint der op-tisch stark nach hinten verlängerte Raum immer enger zu werden. Raumtiefe ist hier nicht im Sinne der neuzeitlichen Zentralperspek-tive gestaltet, sondern als Effekt einer bedrängenden Raumveren-gung. Im Raum selbst befindet sich eine webende Frau, die recht leb-los erscheint, während ihr rotleuchtendes Webwerk in Form einer weiblichen Gestalt zum Leben erweckt aus dem Fenster fliegt. Janet Kaplan verweist darauf, dass die repressive Tradition der von Frauen zu leistenden Handarbeiten bei Varo umgedeutet und ins Gegenteil, nämlich zur kreativen Befreiungsstrategie, verkehrt wird.9

Auf diese Weise dient das Zitat spätmittelalterlicher Räume einer-seits als Schauplatz der Repression von Frauen, die keinen kreativen Tätigkeiten nachgehen können, sondern mechanisch vorgegebene Handlungen ausführen müssen. Dieser mechanistischen Logik ent-gegengesetzt winden und bäumen sich andererseits in Weaver of Ve-rona die fliegenden Fäden unter dem Dach und in Embroidering the Earth’s Mantle wird in der mechanischen Arbeit subversiv ein Flucht-weg geschaffen. Versteht man etwa die Web- und Stickarbeit als Ge-stus des Schreibens von Geschichte, wird noch deutlicher, dass Varo sich hier mit der gesellschaftlichen Position von Frauen sowie der Möglichkeit, aus der zugeschriebenen Position auszubrechen, ausei-nandersetzt.10 Anstatt diese lediglich zu kritisieren, ästhetisiert Varo alternative Wirklichkeiten und Gegenstrategien.

9 Kaplan 1988, 21. 10 Siehe zu diesem Topos Parker 1986. Parker stellt dar, dass seit dem Beginn des 20. Jh.

gerade durch Künstlerinnen subversive Formen der Handarbeit in den europäischen und russischen Avantgarden entworfen wurden, die etwa zur Artikulierung persönlicher und revolutionärer Statements dienten (vgl. hierzu insbes. 189–215).

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Vergangenheit umschreiben

In Harmony von 1956 (Abb. 5) begegnen wir einem androgynen Wis-senschaftler in einer Studierstube, die in ihrer Raumlogik an An-tonello da Messinas Der heilige Hieronymus im Gehäuse erinnert.11 In der Literatur wird zumeist davon ausgegangen, dass es sich bei Varos Gelehrtenfigur um eine Frau handelt, Varo selbst vermeidet eine Zu-ordnung allerdings und bezeichnet die Figur neutral als „el per-sonaje“.12 Hier ist nicht mehr das mittelalterliche Skriptorium in Szene gesetzt, sondern die Studierstube eines frühen Renaissance-Gelehrten. Die bei Messina so fest gefügten Strukturen sind bei Varo, ebenso wie die Möglichkeit einer eindeutigen Geschlechtszuord-nung, in der Auflösung begriffen. Während die Figur verschiedene Objekte – Kristalle, Blätter, Papiere mit Formeln, Blumen und an-dere – auf eine metallene Partitur aufreiht, scheint der Raum von ei-nem Wind und unsichtbaren Kräften durchweht und durchwirkt zu werden. Die festen gotischen Wände wellen sich wie Papier und brin-gen weibliche Wesenheiten zum Vorschein, die die Arbeit des Prota-gonisten beziehungsweise der Protagonistin zu unterstützen schei-nen. Aus dem Boden wachsen Blumen und Wurzeln, die Kacheln werden aus dem Boden gehoben. Ebenso wie in Embroidering the E-arth’s Mantle und Weaver of Verona der spätmittelalterliche Bildraum durch Fluchtstrategien gesprengt wird, erfährt auch der neuzeitliche Raum in Harmony eine Transformation.

Interessant ist in diesem Kontext der Vergleich des Einsatzes des Vogelmotivs. Bei Messina befinden sich die Vögel außerhalb der ei-gentlichen Bilderzählung, in einer doppelten Rahmung des Bildes,

11 Das Bild kann auf der Webseite der Londoner Nationalgalerie eingesehen werden: <http://www.nationalgallery.org.uk/paintings/antonello-da-messina-saint-jerome-in-his-study> (26.08.2014). Den Vergleich beider Bilder regt Kaplan (1988, 190 f.) an, wobei eine direkte Referenz Varos auf dieses Bild nicht verbürgt ist. Messinas Bild wird hier, wie bei Kaplan, als typisches Beispiel der Darstellung von Renaissancegelehrten in ihrer Studierstube herangezogen, im Besonderen flämischer und flämisch beeinflusster Darstellungen des 15. und 16. Jh.

12 Bolio 2010, o. S. (Bildteil).

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Abb. 5: Harmony, 1956, Öl auf Holzfaser, 76 x 94 cm, Privatbesitz, © VG Bild-Kunst, 2014.

d. h. im vorderen Bildraum sowie im Blick aus den Fenstern im Hin-tergrund. In Harmony hingegen hat sich ein Vogel sein Nest in einem Stuhl gebaut; ein anderer fliegt aus der Seitentür, und so gleicherma-ßen aus dem Bild heraus. Dieses Außen wird in Varos Bild jedoch nicht gestaltet, anders als bei Messina. Hier sind die hinteren Fenster sowie der Seitenausgang durch einen orange-bräunlichen Nebel völ-lig blind.13 Die Verortung des Raumes in einem äußeren setting wird so bildlich zurückgenommen und der Fokus auf das Innenräumliche und Bildimmanente gelegt. Sowohl durch das Bett im Hintergrund, als auch das Vogelnest im Stuhl wird das Studio nicht nur als Ar-beits-, sondern auch als Lebensraum gestaltet, der – analog zum Bild-feld – von unsichtbaren Kräften belebt und transformiert wird.

13 In der Farbigkeit wird ebenfalls der alchimistische Charakter der Kunstpraxis Varos visualisiert. Wie Georgiana Colvile herausstellt, konstituieren die alchimistischen Farben des rötlichen Gold-Brauns sowie Schwarz und Weiß einen Großteil der Bilder Varos. Siehe hierzu Colvile 1993, 172. Die Farben symbolisieren den Prozess der Reinigung, Vergeistigung und Vervollkommnung, i. e. von Schwärzung (nigredo), Weißung (albedo) und Rötung (rubedo). Siehe hierzu Haynes 1995, 29.

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Abb. 6: Creation of the Birds, 1958, Öl auf Holzfaser, 54 x 64 cm, Privatbesitz, © VG Bild-Kunst,

2014.

In Creation of the Birds von 1957 (Abb. 6) wird das Motiv des Bildes als Lebensraum im Kontext der Belebung des Kunstwerkes aufge-griffen und erweitert. In diesem Bild begegnen wir einem Mischwe-sen aus Frau und Eule, das Vögel erschafft und zum Leben erweckt. Dies geschieht durch einen alchimistischen Vorgang, in dem die drei Primärfarben aus der Atmosphäre destilliert werden. Die Künstlerin malt mit einer Feder, die mit einer um ihren Hals hängenden dreisai-tigen Violine verbunden ist. Durch das Fenster fällt der Strahl eines Sternes ein, der mittels Prisma in drei Strahlen gebrochen wird. Diese fallen auf das Blatt. Bereits während der Vogel gemalt wird, beginnt er sich zu erheben, um wie die beiden anderen Vögel zum Fenster hinaus, d. h. gleichermaßen aus dem Bild heraus in den „realen Raum“, zu fliegen. Das Motiv der Schöpfung von Leben in der Kunst beziehungsweise durch die Kunst ist Teil einer langen Tradi-tion, wie sie beispielsweise Ernst Kris und Otto Kurz in ihrer Studie Die Legende vom Künstler skizzieren.14 Diese schöpferische Kraft ist tra-ditionell männlich konnotiert. In Dosso Dossis Zeus der Weltenmaler

14 Kris – Kurz 1995, 52–99.

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(1530er) sind es etwa Schmetterlinge, die von Hand des gleicherma-ßen männlichen und göttlichen Künstlers belebt werden.15 In Emb-roidering the Earth’s Mantle und Weaver of Verona sind wir einem ähnli-chen Motiv begegnet, allerdings im Rekurs auf weibliche Handarbei-ten.

Der Künstler als Schöpfergott, der aus Lehm oder Farbe schöpft und seinem Kunstwerk Leben einhaucht, ist bei Varo oftmals weib-lich, androgyn und/oder tierisch. In Creation of the Birds spielt die Künstlerin auf die Gleichsetzung von Frau und Natur an, deutet sie produktiv um und bricht mit der exklusiven Gleichsetzung von kre-ativer Arbeit und Männlichkeit. Gleichzeitig handelt es sich um eine androgyne beziehungsweise hybride Form von Weiblichkeit. Die Geschlechterzuordnung bei Varo ist eine Frage von Abstufungen. In vielen Bildern lässt sich eine genaue Zuordnung nicht vornehmen, während in anderen sehr deutlich Frauen oder Männer dargestellt werden. Ihre Androgyne bewegen sich innerhalb der Logik des Ent-zugs klarer Zuordnungen. Androgynie ist dabei ebenfalls im Kontext der Alchimie zu sehen. So ist die Idee, dass Mann und Frau ursprüng-lich eins waren, zentral für das Verständnis alchimistischer Lehren.16 Hier erscheint das Androgyn als „Symbol der noch ungeteilten Ur-natur“, wie Ursel Bruy schreibt.17 Es ist die Uneindeutigkeit und mit-unter das Changieren zwischen verschiedenen Zuständen ohne eine klare Festlegung, d. h. das Sowohl-als-auch, das nicht nur die Alchi-misten, sondern auch die Künstler und Künstlerinnen der Avantgar-den faszinierte. Die Position weiblicher Künstlerinnen des 20. Jahr-hunderts stellt dabei eine gesonderte dar, eben weil Androgyn und Hybrid eine Form der Selbstrepräsentation bieten, die eine Umdeu-tung patriarchaler Logiken und eine Befreiung vom männlichen Blick ermöglicht.

Die Hybridwesen, die bei Varo in anderen Bildern neben dem Menschlichen und dem Tierischen auch das Organische mit dem

15 Dosso Dossis Bild kann auf der Webseite des Krakauer Wawels eingesehen werden: <http://www.wawel.krakow.pl/en/index.php?op=19> (26.08.2014).

16 Vgl. Schwarz 1980, 57. 17 Bruy 2006, 114.

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Mechanischen zu verbinden vermögen, sind unter anderem von Hie-ronymus Boschs phantastischen Bildwelten und apokalyptischen Vi-sionen des 15. Jahrhundert inspiriert.18 Mensch-Tier-Hybride, eiför-mige Gefäße und Formen sowie alchimistische Geräte in Werken wie Der Garten der Lüste (um 1500) sind es, die es Varo, aber auch anderen KünstlerInnen im Umkreis des Surrealismus, angetan haben.19 Wäh-rend Boschs Tiere und Hybride zumeist als feindliche und aggressive Wesen auftreten, werden diese bei Varo jedoch oft umgedeutet. Ge-rade die Eule, die nicht nur bei Bosch, sondern auch drei Jahrhun-derte später bei Goya (etwa in Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer von 1799)20 und in der Romantik als zwielichtige, nächtliche und un-heilbringende Gestalt gilt, wird in Creation of the Birds, in Anlehnung an Minerva oder Athene,21 als weise, schöpferisch und lebensbrin-gend rehabilitiert. Dass diese Umdeutung ganz bewusst geschieht, zeigt sich auch darin, dass Varo in anderen Bildern, etwa Nightly Hunt (1958), die bedrohliche und nächtliche Eule in Szene setzt. Die posi-tive Umkodierung der Eule als schöpferisches Prinzip wird in Crea-tion of the Birds mit der Umdeutung der Frau verknüpft, die hier weder als Hexe (wie bei Bosch, Goya und mitunter den Surrealisten) oder passive Muse repräsentiert wird, sondern als schöpferische Künstle-rin. Varos Auseinandersetzung mit der Rolle von Frauen in der Kunstszene ergibt sich auch aus ihrer eigenen Biographie, die gleich-ermaßen paradigmatisch ist; so sah sie ihre Rolle im Kreis der Pariser Surrealisten als „the timid and humble one of a listener“.22

Der Gestus des Umschreibens liegt nicht darin, etwa patriarchale Logiken einfach umzukehren, d. h. weibliche Figuren in männliche

18 Vgl. hierzu Koerner 2004, 75. 19 Das Werk kann auf der Webseite des Prados eingesehen werden: <https://www.museo-

delprado.es/coleccion/galeria-on-line/galeria-on-line/zoom/1/obra/el-jardin-de-las-deli-cias-o-la-pintura-del-madrono/oimg/0/> (26.08.2014). Vgl. hierzu auch Moray 1971, 391.

20 Das Bild ist auf der Webseite der Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes einsehbar: <http://www.cervantesvirtual.com/servlet/SirveObras/01593307546704995222257/ ima0084.htm> (26.08.2014).

21 Vgl. Zanetta 2006, 201: Minerva und Athene, deren Symbol gleichermaßen die Eule ist, verkörperten in der klassischen Antike Besonnenheit und Weisheit. Sie sind außerdem Patroninnen der Künste und des Kunsthandwerks.

22 Varo zit. in Kaplan 1988, 55.

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Räume zu bringen, sondern die Logik selbst sichtbar zu machen und – etwa durch Androgyn, Hybrid oder die Unterwanderung der Raumlogik – zu transformieren. In ihren Rezeptionen nun vermag es Varo auf diese Weise, traditionelle Deutungsmuster aufzuheben und alternative Realitäten zu schaffen, indem sie die Räume und das Wis-sen der Vergangenheit in Bewegung und in einen Prozess der Trans-formation versetzt. Dies entspricht motivisch auch der Initiierung al-chimistischer Prozesse, in denen, so Bruy, „feste Substanzen in meh-reren Stufen gelöst oder in einen gasförmigen Zustand versetzt“ wer-den, um sie später in veränderter Form zusammenzusetzen.23 Sinn-bildlich hierfür steht die Auflösung der festen Bildräumlichkeit in Harmony, die die rationale, festgefügte Logik des neuzeitlichen Bild-raumes unterläuft und potentiell eine neue Raumlogik erschafft, die dem Ideal eines nicht rein mathematischen, sondern belebten Rau-mes entspricht.

In allen bisher besprochenen Bildern findet eine Verbindung ge-gensätzlicher Prinzipien in Form einer Auflösung von Fixierungen statt: so etwa künstlerisches Schöpfertum mit Natur/Frau, die re-pressive Bedeutung der Handarbeit und ihre rebellische Kehrseite, das Feste und das Immaterielle sowie widersprüchliche Darstellungs-traditionen kulturgeschichtlicher Motive und Symbole. Daher setzt das Verständnis von Varos Arbeit in besonderem Maße die Dechiff-rierung des zugrundeliegenden kultur- und kunstgeschichtlichen Wissens voraus. Im Folgenden wird die Frage nach solchen Wissens-formen im Bild gestellt, um einen Einblick in Varos Auseinanderset-zung mit kultur- und wissenschaftsgeschichtlichen Themen zu ge-ben. Dabei geht es vor allem um den alchimistischen Gestus der Ver-bindung in ihrer Arbeit.

23 Bruy 2006, 110.

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Die Verbindung verschiedener Wissensformen bei Varo

In Exploration of the Sources of the Orinoco von 1959 (Abb. 7) reist ein androgyner Forschungsreisender in einer eiförmigen Korbkonstruk-tion, die mit einem flossenartigen Ruder und zwei Flügeln ausgestat-tet ist. Die verschiedenen Elemente des Vehikels sind – wie oft in den Bildern Varos – mit Schnüren verbunden, mithilfe derer die Per-son das Boot lenkt. Körper und Vehikel sind minutiös miteinander verwoben. Die Geschichte der Forschungs- und Entdeckungsreisen ist gleichsam die Geschichte männlicher Forschungsreisender wie etwa Alexander von Humboldts. Hier nun ist es eine androgyne Figur, in der Forschung zumeist als Frau identifiziert,24 die die seit Jahrhun-derten gesuchte Quelle (oder eine der Quellen) aufspürt. Die

Abb. 7: Exploration of the Sources of the Orinoco River, 1959, Öl auf Leinwand, 44 x 39,5 cm,

Privatbesitz, © VG Bild-Kunst, 2014.

24 So etwa bei Kaplan 1988, 215.

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Quelle entspringt einem ausgehölten Baumstamm, in dem sich ein dreibeiniger Tisch befindet. Darauf steht ein Weinglas, aus dem Was-ser sprudelt. Tatsächlich wird die Quelle des Orinoko erst in den 1950er Jahren entdeckt. 1948 hatte Varo selbst die Überschwem-mungsgebiete des Orinoko in Venezuela bereist, wo ihr damaliger Partner Jean Nicolle mit einem Forscherteam die Möglichkeit der ag-rikulturellen Nutzbarkeit des Gebietes untersuchte.

Bei Varo finden wir eine Darstellung, die die Mystifizierung von Fluss und Quelle in der Kulturgeschichte sichtbar macht und gleich-zeitig auf die Gegenwart verweist. Dies gelingt in der doppelten Ko-dierung des Bildes, denn während das Motiv wie eine mythische Er-zählung der Vergangenheit anmutet, verweist die Kleidung – ein eng-lischer Trenchcoat und ein Melonenhut – auf die Gegenwart. Eben darin liegt die ironische Strategie Varos: Sie verbindet das Mythisch-Zeitlose mit der Gegenwart und das Spirituelle mit dem Profanen. Dies zeigt sich besonders auch in der Doppelung von einfachem Weinglas und Heiligem Gral im Bild. Der Heilige Gral ist ein alchi-mistisches Motiv und verspricht – unter anderem – die ewige Jugend und Glückseligkeit.25 Er ist hier gleichermaßen Zeichen dafür, dass Natur immer kulturell überformt ist und die Forschungsreise nicht allein objektives Instrument der Wissenschaft ist, sondern immer auch eine spirituelle oder anderweitig motivierte Komponente in sich trägt.26

Joseph Grelier, Leiter der erfolgreichen Quellenexpedition, be-schreibt in seinem Reisetagebuch To the Source of the Orinoco (1957) auf den ersten 24 Seiten zunächst die Mythen um den Eldorado und das irdische Paradies, die um den Fluss und das Gebiet ranken.27 In einer Notiz eines Mitreisenden am Tag des Quellenfundes heißt es schließ-lich, dass hier, unter dem Gestrüpp zu Füßen der Forschungsreisen-den, die Wasser aller Zeiten geboren würden.28 Diese Formulierung re-kurriert auf die Vorstellung des Grals als einer unerschöpflichen

25 Cooper 1986, 67. 26 Siehe zu diesem Topos Börner 1984 und Bloch 1968, 873–929. 27 Grelier 1957, 17–41. 28 Ebd. 179.

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Quelle, als Lebensquelle und wiedergefundenem Paradies.29 Die Tat-sache, dass Varo immer wieder auf mittelalterliche und frühneuzeit-liche Bildmotive rekurriert, verweist so auch auf den aus ihrer Sicht erzwungenen, beziehungsweise künstlich hergestellten Verlust der Einheit von Wissenschaft und Spiritualität sowie Rationalität und Ir-rationalität in der Folge der Aufklärung, wie auch Peter Engel in sei-ner Analyse ihres Werkes herausarbeitet.30 Es sind die spirituellen und kulturgeschichtlich gewachsenen Antriebe, die bis heute die Wis-senschaften bewegen, als auch die Geschichtlichkeit von Orten und wissenschaftlichen Gegenständen, für die sich Varo interessiert.

In Varos Arbeiten werden daher immer wieder verschiedene Re-präsentationsformen eines Gegenstandes gleichberechtigt überei-nander gelegt und verwoben. Diese Rezeption und Überlappung von verschiedenen Wissensformen zeigt sich auch in Still Life Reviving von 1963 (Abb. 8). Hier spielt Varo sowohl mit kunsthistorischen Kon-ventionen, genauer gesagt der des Stilllebens, als auch mit naturwis-senschaftlichen Vorstellungen des Kosmos. Die Tradition der Dar-stellung lebloser und unbewegter Objekte im Stillleben wird hier ins Gegenteil verkehrt: Früchte und Teller kreisen um eine Kerze über dem Tisch. Wieder befinden wir uns in einer gotischen Architektur, der – ähnlich wie in Harmony – Leben eingehaucht wird. Wie ein Pla-netensystem kreisen die Früchte um die Lichtquelle. Allerdings scheint die Ordnung gestört zu werden: Einige der Früchte kollidie-ren miteinander, sodass sie aufplatzen und ihre Samen über den Bo-den verstreuen. Daraus erwachsen wiederum Sprosse und Wurzel-werk. Im Sinne einer Miniatur beziehungsweise der Struktur von Mikro- und Makrokosmos ruft Varo in diesem belebten Stillleben verschiedene Darstellungstraditionen der Astronomie auf den Plan: Der Tisch sowie die Teller, die sich im Kraftstrudel um die Kerze ebenfalls zaghaft zu bewegen beginnen, erinnern an die Vorstellung der Erde und des Himmels als Scheibe. Die darüber um die Kerze

29 Vgl. hierzu Cooper 1986, 67. 30 Engel 1986, 69.

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schwebenden Früchte verweisen hingegen auf das dynamisierte ko-pernikanische Modell. Doch warum kollidieren die Früchte?

Abb. 8: Still Life Reviving, 1963. Öl auf Leinwand, 110 x 80 cm, Beatriz Varo de Cano, Valencia,

Spanien, © VG Bild-Kunst, 2014.

Magnolia Rivera hat in ihrer Studie zum Kreis in Varos Arbeit einen plausiblen Deutungsansatz für die Kollisionen in Still Life Reviving an-geboten. Sie verweist darauf, dass Varo die populärwissenschaftli-chen Publikationen des Einsteinschülers Fred Hoyle las. Dieser ver-trat die Ansicht, dass die Kollision von Himmelskörpern nicht Zer-störung bedeute, sondern die Möglichkeit in sich berge, dass durch den Zusammenprall neue Planeten und astronomische Formationen entstünden.31 Eben dieses Prinzip findet sich bei Varo wieder. Das Universum, so ihr visuelles Argument, besteht aus Körpern, die Früchten gleich, Samen in sich tragen und in deren Vergehen das Potenzial für neues Leben, eine Wiedergeburt, liegt. Varo greift so gleichermaßen Luca Paciolis Forderung in Divina proportione (ca. 1497)

31 Rivera 2005, 190 f.

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auf, nach der die Kunst die mathematische Struktur des Universums reflektieren solle32 und verbindet geometrisch-kosmologische Ord-nungen und Logiken mit künstlerischen. Um die kosmische Ord-nung geht es auch in Harmony, wo die Musik als mit der Geometrie verschwistertes Prinzip als Schöpfungsmetapher ästhetisiert wird. Mathematisches und naturphilosophisches Wissen finden bei Varo somit ebenso Eingang in die Bildwelt wie kunstgeschichtliche Kon-ventionen und mythisches Wissen. Dies rekurriert zum einen auf die Nähe der Wissenschaften und Künste bis in die frühe Neuzeit hinein und verweist gleichzeitig auf eine Erweiterung des Materials, wenn es um Praktiken der Rezeption geht. So sind es nicht allein Bildmotive der Kunst, die wandern, sondern Repräsentations- und Narrations-strategien verschiedener Disziplinen und kultureller Bereiche.

Das Motiv der Spiralbewegung in Still Life Reviving verbildlicht zu-sätzlich die Vorstellung der Zirkularität von Zeit, die im Zyklus von Geburt, Tod und Wiedergeburt verläuft. Als Wiedergeburten können auch die Bildzitate betrachtet werden: Varo schöpft aus einem Fun-dus von kulturellem Bildwissen, das sich aus Kunst, Wissenschaft, Naturphilosophie, Alchimie und anderen Quellen zusammensetzt. Durch das Zitat wird dieses Wissen immer neu kontextualisiert; es ist – wie Bilang in ihrer Publikation Bild und Gegenbild schreibt – nicht als „kulturelle Regression“ zu verstehen, sondern als „belebende Erneu-erung“, 33 als Aktualisierung. Dieses Zeit- und Rezeptionsverständnis veranschaulicht Varo auch in The Revelation/The Clockmaker von 1955 (Abb. 9). Hier arbeitet ein Uhrmacher in einem Raum voller Stand-uhren, die alle dieselbe Zeit anzeigen. Als eine mystische Spirale durch das Fenster schwebt, wehen die Vorhänge vor den Uhren zur Seite. Im Innern der Uhren befinden sich typisierte Personen aus ver-gangenen Zeiten und verschiedenen Orten, unter anderem aus dem Alten Ägypten, Griechenland und dem Neuzeitlichen Europa. Auf den Rückwänden befinden sich je vergitterte Fenster.

32 Rivera 2005, 188. 33 Bilang 1989, 8.

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Abb. 9: Revelation/The Clockmaker, 1955, Öl auf Holzfaser, 71 x 84 cm, Privatbesitz, © VG Bild-

Kunst, 2014.

Wie Alan J. Friedman schreibt, wird in diesem Bild die Vorstellung zum Ausdruck gebracht, dass Zeit weder linear verlaufe, noch uni-versell sei, sondern vom Beobachter abhängt – d. h. relativ im Sinne Einsteins ist.34 Dieses Werk kann ebenfalls sinnbildlich für Rezepti-onsprozesse gelesen werden: Varo geht nicht von einem linearen Zeitverlauf einer Fortschrittsgeschichte aus. In ihrer Arbeit sind ver-schiedene Epochen ebenso wie Wissensformen gleichzeitig präsent. Die trennenden Grenzen zwischen den Epochen, auf die in The Re-velation/The Clockmaker durch die zunächst abgeschlossenen Uhrge-häuse und Fenstergitter angespielt wird, können in der künstlerisch-forschenden Praxis aufgehoben werden. Diese Praxis besteht bei Varo darin, Elemente und Motive aus verschiedenen Zeiten heraus-zugreifen, neu zu kontextualisieren und zu transformieren. Sie kreiert so eine Distanzierung von der Gegenwart in Form einer Verfrem-dung.

34 Friedman 2002, 85–86.

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Zusammenfassung

Im Werk Remedios Varos begegnen wir nicht nur Repräsentations-formen verschiedener Epochen und Herkünfte, auch werden bei ihr verschiedene Wissensformen ins Bild gesetzt. Im Zentrum steht eine alchimistische Arbeit am Gegebenen, das durch die Praxis der Re-zeption gleichermaßen kritisiert und transformiert wird. Im Fokus der Kritik stehen bei Varo allzu feste Zuschreibungen und Konven-tionen, die ihre Protagonisten einzusperren drohen, während auf ge-nau diese Zuschreibungen und Konventionen explizit Bezug genom-men wird (zum Beispiel in Embroidering the Earth’s Mantle und Weaver of Verona). Der Gestus der Flucht beziehungsweise des Entzugs aus solchen Festschreibungen findet sich etwa im Motiv des Webens und anderer Handarbeiten in der Umdeutung von der repressiven zur be-freienden Praktik. Die Umschreibung bestehender Logiken wird ebenso durch die Gestaltung des Bildraumes als Ganzem vorgenom-men (zum Beispiel durch die Auflösung der rigiden Bildräumlichkeit in Harmony), als auch durch die Protagonisten in Varos Bildern. Hier sind es vor allem Androgyne und Mensch-Tier-Hybride, die sich fes-ten Zuschreibungen entziehen, gleichzeitig aber auch auf patriarchale Darstellungstraditionen verweisen, die unterwandert werden sollen. Die ambivalente Struktur des Werkes beruht so auf der Gleichzeitig-keit von Erinnern und dem Erdenken von Alternativen.

Varo tritt für einen Geschichtsbegriff ein, demzufolge Zeit nicht linear, sondern zirkulär verläuft, d. h. von Wiedergeburten und alchi-mistischen Transformationen geprägt ist. So treten bildsprachliche Narrative auf, die ein Denken in Zusammenhängen und verschiede-nen Logiken ermöglichen. Die Auseinandersetzung mit Kunstprak-tiken vergangener Epochen, etwa mit dem spätmittelalterlichen Schauraum, mythischen Motiven und der Tradition des Stilllebens, stellen dabei keine reine Selbstreflexion von Kunst im Medium der Kunst dar, sondern verweisen auf kultur- und wissenschaftsge-schichtliche Diskurse.

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Linn Burchert ist seit Oktober 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am

Kunsthistorischen Seminar der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie erlangte 2012 ihren

Bachelorabschluss in den Fächern Kulturwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik an der Uni-

versität Potsdam. 2014 schloss sie dort ihr Masterstudium der Vergleichenden Literatur- und

Kunstwissenschaft ab. In ihrer Abschlussarbeit untersuchte sie Naturzugänge in der Kunst am

Beispiel Remedios Varos. Ihr Dissertationsprojekt widmet sich atmosphärisch-therapeuti-

schen Bildkonzepten der abstrakten Moderne.

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