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Leseprobe aus: Tamar Cohen Die andere Frau Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de. Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Leseprobe aus:

Tamar Cohen

Die andere Frau

Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de.

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Tamar Cohen

DieanDere

Frauroman

aus dem englischen

von Julia Walther

rowohlt Taschenbuch Verlag

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Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel«The War of the Wives» bei Doubleday/Transworld Publishers, London.

Deutsche ErstausgabeVeröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag,

Reinbek bei Hamburg, März 2014Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH,

Reinbek bei Hamburg«The War of the Wives» Copyright © 2012 by Tamar Cohen

Redaktion Jan ValkUmschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

(Abbildung: Mark Owen/Trevillion Images)Satz Warnock Pro PostScript (InDesign)

Gesamtherstellung CPI books GmbH, LeckPrinted in Germany

ISBN 978 3 499 26695 9

Das für dieses Buch verwendete FSC®-zertifizierte PapierMunkenprint Cream liefert Arctic Paper Munkedals, Schweden.

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Für Billie,in Liebe

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Prolog

Wenn die Menschen, die bei Simon Busfields Beerdigunganwesend waren, an dieses Ereignis zurückdenken – wassie immer noch tun, wenn auch mit weniger Härte, je mehrZeit vergeht –, dann sind sie sich vielleicht nicht ganz ei­nig, was die Randbedingungen betrifft: wer wo stand, obdie Sonne dunkle Schatten netzartig über die Anwesendenwarf oder ob Wolken das Licht trübten, bevor es dann zudämmern begann. Was die grundlegenden Fakten betrifft,sind sich jedoch alle einig: die beiden Frauen in Schwarz,die einander gegenüberstanden, die erwachsenen Kinderwie ein Ring aus Stacheldraht um sie herum, in Trauerklei­dung und von Kummer hart gezeichnet, die ungeheuerlicheBehauptung, die einen Augenblick lang fast greifbar in derLuft hing, ehe sie wie ein Atompilz über dem Geschehenexplodierte.

Als sich diese Wolke schließlich wieder verzog, hattesich ziemlich viel verändert. Es hängt von der Perspektiveab, ob das letztlich nur Verschlechterungen waren. Undtrotzdem ist der Moment selbst von Bedeutung, nicht dieKreise, die er anschließend gezogen hat. Der Moment, alsvor dem Krematorium Lottie Busfield, ihre Tochter wie

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einen Rollkoffer hinter sich herziehend, auf einmal SelinaBusfield gegenüberstand, der trauernden Hinterbliebeneneiner achtundzwanzigjährigen Ehe.

Zwei Ehefrauen. Ein Ehemann. Unschwer zu erkennen,wie unangenehm das sein kann.

Andererseits, eigentlich gar keine Ehefrauen mehr.Witwen. Zwei Witwen.

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e r s T e r T e i l

Verl eugnung

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g sel ina gFlora lehnt am Küchentisch. Ihre großen blauen Augenfolgen mir durch den Raum. Sie hat gerade eine ziemlichumständliche Geschichte von einer Party erzählt, auf derRyan und sie waren. Ryan hatte sich als Einziger geweigert,sich zu verkleiden. Angeblich findet Ryan Kostüme nämlich«schwul». Herr, schenk mir Kraft! Ich behalte mein diplo­matisches Schweigen bei, denn ich habe herausgefunden,dass sich auf diese Weise am besten mit dem Thema Ryanumgehen lässt, dem Problempartner meiner Tochter. Wür­de ich irgendetwas sagen, beispielsweise, dass der Kerl inetwa so viel Charme besitzt wie ein toter Fisch, würde Flo­ra mir bloß wieder die bereinigte Propagandaversion vonRyan präsentieren (Simon nennt das die Kim­Jong­il­Versi­on), wie am Anfang, als deutlich wurde, was Simon und ichvon ihm halten. Solange ich die Klappe halte, bekomme ichwenigstens die Wahrheit zu hören, auch wenn ich mir alsPreis dafür auf die Zunge beißen muss.

Also nicke ich und murmele irgendetwas Verständnis­volles, während ich mich frage – oh, diese Schuldgefüh­le! –, wann ich das Gespräch wohl abwürgen kann.

Das ist das Problem beim Skypen. Man kommt nicht

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mehr weg. Man hat irgendeinen alten Bekannten oder einFamilienmitglied auf dem Bildschirm auf dem Tisch oderder Sofalehne, und man hat sich nett unterhalten, aber danngehen einem die Themen aus, und weil das Gegenüber al­les sehen kann, was man tut, kann man nicht einfach einenüberkochenden Topf oder ein Klingeln an der Haustür oderirgendeinen anderen normalen Grund erfinden, der einGespräch beendet. Stattdessen gibt es diese peinliche Stille,während man überlegt, was man noch sagen könnte, undnebenbei versucht, nicht an die hunderttausend Dinge zudenken, um die man sich eigentlich kümmern sollte.

Das andere Problem beim Skypen ist – und ich weiß, ichklinge, als käme ich direkt aus der Steinzeit –, dass manseinen Gesprächspartner sehen kann. Neulich dachte ichdarüber nach, dass Simon und ich nie skypen, obwohl erja immer weg ist. Natürlich liegt das zum Teil daran, dasswir beide so unglaublich beschäftigt sind, aber in Wirklich­keit hat es, wie mir plötzlich klarwurde, mehr damit zu tun,dass man dasitzt und sich anschaut. Obwohl wir schon soviele Jahre verheiratet sind, fanden wir es bei den wenigenMalen, wo wir es ausprobiert haben, beide seltsam unan­genehm. Es ist so intim. Als wir uns kennengelernt haben,saßen wir stundenlang in Cafés und Bars, spielten untermTisch mit den Füßen des anderen und redeten über Gottund die Welt. Aber welches Paar, das seit fast dreißig Jah­ren verheiratet ist, blickt sich beim Reden immer noch tiefin die Augen? Das ist irgendwie unnatürlich. Peinlich. Ichhabe mich dabei ertappt, wie ich auf Simons Hemdkragenstarrte oder auf die störrische Haarsträhne, die er immerwieder zurückstrich.

Ich will die Leute, mit denen ich mich unterhalte, eigent­lich nicht sehen können. Es lenkt einen nur ab. Während

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Flora jetzt zu einer neuen langatmigen Geschichte an­setzt, betrachte ich ihr krauses Haar und denke mir wie­der einmal, wie viel besser es aussehen könnte, wenn siees schneiden ließe. Nichts Extremes. Nur ein Formschnitt.Dann zucke ich ein wenig zusammen, weil ich auf ihremSchreibtisch in dem Architekturbüro, wo sie als Assistentinarbeitet, eine Art Stofftier entdecke (das Ryan zweifellos anirgendeiner Tankstelle für sie gekauft hat), und ich sehe mirihre Kleider an. Am liebsten hätte ich sie unterbrochen und«mehr Farbe!» oder «mehr Struktur!» oder «Lagen­Look!»gerufen oder irgendetwas anderes Dummes, was anmaßen­de Mütter gerne ihren erwachsenen Töchtern sagen wür­den, aber sich nicht trauen. Vermutlich handelt es sich umeine Art mütterliches Tourette­Syndrom.

Stattdessen erkläre ich ihr, dass ich jetzt leider ins Fit­nessstudio muss. Das ist noch nicht mal wirklich gelogen.Ich habe tatsächlich einen Kurs. Flora muss ja nicht wissen,dass der erst in eineinhalb Stunden beginnt. Es folgt dieserpeinliche Skype­Abschiedsmoment, wo keine von uns alsErste auf «Auflegen» klicken will. Albern ist das. Es solltedoch eigentlich eine einfache technische Handlung sein:Nach vorn beugen, klicken, fertig. Stattdessen fühlt es sichan wie eine emotionale Zurückweisung.

Im Fitnessstudio versuche ich, mich zu konzentrieren.«Wir gehen in den Halbmond. Und haaalten …»Zu Befehl! Während mein Körper sich gehorsam ver­

biegt, wie von unserer irgendwie ziemlich deutsch klingen­den Hatha­Yoga­Lehrerin (Fortgeschrittene, mittwochs)angewiesen, beschäftigt mein Kopf sich selbst.1. Einen Tisch im Pierre’s fürs Weihnachtsessen des Buch­

clubs reservieren (und wehe, die versuchen mir weis­

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zumachen, es gäbe schon keine freien Plätze mehr, imSeptember!).

2. Nach Druckern für Simons Arbeitszimmer suchen. Kri­minell, die Preise für Tintenpatronen …

3. Herumtelefonieren, ob eine der anderen Mütter einenguten Nachhilfelehrer für Geschichte weiß. Vorzugswei­se jemanden, der nicht nach Urin stinkt wie der letzte.

Langsam wird’s schmerzhaft. Ich werfe einen Blick in denSpiegel, der sich über die ganze Wand vor mir erstreckt,und vergleiche mich heimlich mit den restlichen Kursteil­nehmern. Körper gerade, Arme gestreckt. Nicht schlecht,solange man über den leichten Schweißglanz auf meinerStirn hinwegsieht. Diese Oberlichter sind wirklich erbar­mungslos, selbst nach zwei Botox­Sitzungen und einerdiskreten Faltenunterspritzung (nicht, dass ich das irgend­jemandem gegenüber zugeben würde). Aber wenn manbedenkt, dass ich den meisten Frauen hier gute zehn Jahrevoraushabe, kann ich eigentlich noch ganz zufrieden sein.Wobei ich nicht gerne in Alterskategorien denke. Derma­ßen kontraproduktiv. Und verdammt deprimierend!1. Lorenzo anrufen und sichergehen, dass er die neuen

Flugzeiten hat. Ach, und er soll das Feuerholz im gro­ßen Wohnzimmer auffüllen. Hinterm Haus nützt es unsnicht viel. Nicht wenn Simon zurück ist. Was mich daranerinnert …

2. Termin beim Chiropraktiker machen.3. Dieser Freundin von Hettie eine Mail wegen der Fragen

fürs Spendenquiz im Cricket­Club schicken. Aber dies­mal bitte keine Seifenopernfragen!

4. Twitter­Nachricht wegen Buchclub­Lunch rausschicken.Darf ich auf keinen Fall vergessen!

Aua. Ich stöhne zwar nicht laut auf, aber meine Arme fan­

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gen langsam an zu schmerzen. Eine Sadistin, diese Kurs­leiterin. Ein paar der anderen Frauen sind schon auf ihrenMatten zusammengeklappt. Durchhaltevermögen. Daraufkommt es an. Ohne Ausdauer kann man selbst mit einemfünfundzwanzig Jahre alten Körper genauso gut gleich auf­geben.

«Und direkt weiter in die Kobra­Stellung.»In meinem Kopf höre ich Josh murmeln, «Selber Kobra»,

und ich muss unwillkürlich lächeln. Natürlich innerlich.Was für ein Sorgenkind, dieser Junge, selbst mit siebzehnnoch, aber er kann mich immer zum Lachen bringen. Neu­lich habe ich ihn gebeten, die Spülmaschine auszuräumen,woraufhin er vor sich hin murmelte: «Selber Spülmaschi­ne.» Wir haben uns böse angeschaut und dann gelacht wieblöd. Überhaupt nicht lustig, wenn ich jetzt so darübernachdenke, aber in diesem Moment irgendwie schon.

«Kommen Sie, meine Damen, strecken Sie die Hälse,verlängern Sie den Rücken.»

Die Kursleiterin hat extrem muskulöse Waden, fälltmir auf, während ich wie verrückt strecke und verlängere.(Selbst mit einundfünfzig habe ich bedauerlicherweise im­mer noch das lächerliche Bedürfnis, es ihr rechtzumachen.Ich kann die Lehrerin zwar kritisieren bis zum Abwinken,aber das hält mich nicht davon ab, mich nach ihrer Aner­kennung zu sehnen. Da soll mal einer schlau draus werden!,wie meine Freundin Hettie sagen würde.) Sie dreht ihreRunden durch den Raum, korrigiert hier ein Kinn, ziehtdort Schultern zurück. Sie könnte ein hübsches Mädchensein, wären da nicht diese Waden. Glaube kaum, dass Män­ner auf so was stehen, oder? Man sollte wirklich wissen,wann es genug ist. Das ist zumindest meine Meinung. Ichweiß, ich bin vermutlich keine Expertin darin, was Männer

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wollen, wo ich doch schon so lange verheiratet bin, aberman muss nicht aktiv im Männergeschäft sein, um ein­schätzen zu können, was ihnen gefällt und was nicht. Dasist genau wie mit unserer Villa in der Toskana – obwohlich sie nicht verkaufen will, interessiere ich mich trotzdemdafür, was auf dem italienischen Immobilienmarkt so pas­siert. Es geht darum, auf alle Eventualitäten vorbereitet zusein. Ich weiß, es gibt Leute, die glauben, gut vorbereitet zusein, verdirbt einem den Spaß, schmälert die Spontaneitätdes Lebens. Wahrscheinlich dieselben Menschen, die Freu­de an Überraschungspartys haben. Ich persönlich kann mirnichts Schlimmeres vorstellen. Was, wenn man gerade einKleid anhat, das man schon immer gehasst hat, eines dieser«Fettkleider», wie Flora sie nennt, die man an den Tagenüberzieht, an denen man beim Aufwachen das Bedürfnisnach einem Hauszelt hat. (Ich selbst besitze kein Fettkleid,aber zumindest einige hochwertige Leggings für diese Pha­sen im Monat.) Was, wenn die Person, die die Party organi­siert, vergisst, die wichtigsten Leute einzuladen, oder, nochschlimmer, Leute einlädt, die man nicht ausstehen kann?

Nach der Yogastunde greife ich zu meiner Notfall­Re­paratur­Ausrüstung. Kleine Tiegel in Reisegröße, in die icheinige unverzichtbare Kosmetika abgefüllt habe. Das Ritual,wohlriechende Cremes mit frischen Wattepads aufzutra­gen, hat eine unheimlich therapeutische Wirkung auf mich.Es fühlt sich sinnvoll an. Nützlich. Wenn ich mein Gesichtim Spiegel des Chelsea Fitnesscenters betrachte (kein Kli­schee, egal was Simon behauptet – lediglich praktisch, danahe gelegen, und gar nicht so furchtbar teuer, wenn manumrechnet, wie oft ich da bin. Nicht wie Hettie, die ger­ne scherzt, dass sie damals als Mitglied 2000 Pfund im Jahrfür einen Saunabesuch und eine Unterschenkelenthaarung

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hingelegt hat), dann achte ich darauf, es «partiell» zu tun.Haare, Augenbrauen, Oberarme. Anatomische Einzelteile.Ab fünfundvierzig will man die Dinge nicht mehr wirklichim Ganzen betrachten. Das habe ich bereits gelernt. Jetzt,mit einundfünfzig, entdecke ich Schubladen in mir selbst,in die man Zweifel wegpacken kann wie ungeöffnete Briefevon der Bank. Der Trick besteht darin, alles in seine Ein­zelteile zu zerlegen und diese systematisch durchzugehen.Ich blicke gerne in den Spiegel im Studio und konzentrieremich aufs Positive – Figur insgesamt, Fitnesslevel und einegrundlegende Zielstrebigkeit – statt auf die Bereiche, in de­nen ich nicht mithalten kann, wie jugendlicher Teint oderschulterfreie Oberteile.

In der Umkleidekabine macht mir eine Frau ein Kom­pliment für meine Strickjacke. Es handelt sich um dieneue taubenblaue, die mir ziemlich gut gefällt, also soll­te ich mich eigentlich freuen, aber irgendetwas an dieserFrau stört mich. An ihrer Hand, mit der sie den weichenKaschmir streichelt, sind alle Nägel abgebrochen und dieHäutchen ringsherum völlig ausgefranst, ein bisschen wiebei Josh. Wer kaut schon freiwillig auf seiner eigenen Hautherum?, habe ich Josh als Kind immer gefragt. Bist du einKannibale? Er schien einfach nie zu begreifen, dass die Leu­te vom Zustand der Fingernägel eine ganze Menge Rück­schlüsse auf den Menschen ziehen. Er meinte natürlichimmer, die Meinung solcher Leute sei ihm völlig egal, aberer würde sich wundern, wie wichtig solche Dinge mitun­ter sein können. Meine Mutter hat mir früh beigebracht,dass es im Leben nur wenige Herausforderungen gibt, diemit sorgfältig gepflegten Händen und zusammenpassendenSocken nicht leichter zu bewältigen sind. «Es geht hier umSelbstwertgefühl», versuchte ich Josh klarzumachen. «Um

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diesen Energieschub, den man davon bekommt zu wissen,dass man … in gutem Zustand ist.» In gutem Zustand! Alswäre er eine Toilette! Kein Wunder, dass er mich mit einemBlick bedachte, als wäre ich völlig meschugge.

«Sie sehen immer so makellos aus», sagt die Frau in derUmkleide. «Das beschämt mich richtig. Im Vergleich zuIhnen fühle ich mich total verlottert.»

Herr im Himmel. An dieser Stelle sollte ich ihr natürlichvoller Herzlichkeit widersprechen oder etwas Bescheide­nes sagen, aber die Wahrheit ist, sie sieht tatsächlich ziem­lich verlottert aus. Sie trägt eines dieser fleischfarbenenSporttops, die wirken, als wäre der Oberkörper in einenOP­Verband eingewickelt, und dazu einen verwaschenenschwarzen Null­acht­fünfzehn­Slip. Ich will ja nicht unge­recht sein, aber offensichtlich hat sie genug Geld für eineMitgliedschaft hier, also verfügt sie doch vermutlich übereine gewisse Auswahl an Klamotten. Umso bizarrer, dasssie sich genau für dieses Top entschieden hat, indem sie sei­ne relativen Vorzüge gegen ein anderes, weniger abstoßen­des Oberteil abwog, bevor sie zu seinen Gunsten entschied.Also sage ich: «Unsinn, Sie sehen völlig normal aus.»

Was, wie jeder weiß, ungefähr so viel bedeutet wie «UmGottes willen!». Die Frau tritt unverzüglich den Rückzugan, und ich würde mich gerne selbst ohrfeigen. Auf demgesamten Heimweg in meinem flotten kleinen Fiat 500 mitden roten Lederpolstern, die mich sonst immer aufmun­tern, bin ich verärgert und übellaunig. «Freundlichkeitkostet euch keinen Cent», habe ich meinen drei Kindernimmer eingetrichtert, als sie noch klein waren. Scheinhei­ligkeit, dein Name ist Selina Busfield!

Im Nachhinein denke ich, ich hätte die Strickjacken­Si­tuation irgendwie durch einen Scherz entschärfen können,

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wenn ich nicht so schlecht im Scherzen wäre. Simon hatmal einem Tisch voller Dinnergäste gegenüber verkündet,ich hätte kein «Talent für Humor». Ich bereitete damals ge­rade in der Küche den Nachtisch vor, während er Hof hielt,und zwar ziemlich angetrunken. Er wusste nicht, dass ichihn hören konnte. «Selina hat viele Talente, aber Humor ge­hört nicht dazu.» Das waren seine Worte.

Ich sagte ihm nie, dass ich es mitbekommen hatte. Aberes tat weh. Das tun derartige beiläufige Bemerkungen im­mer. Wie hieß noch gleich dieser Slogan zu Kriegszeiten?Achtung, Feind hört mit. Daran sollte jemand Simon hinund wieder erinnern. Eine unbedachte Äußerung kann gro­ßen Schaden anrichten.

Die Heimfahrt dauert ewig. Sie reißen schon überall dieStraßen auf, um sie für die Olympischen Spiele zu reparie­ren, obwohl das alles erst in knapp zwei Jahren stattfindenwird. Völlige Geldverschwendung, wenn man mich fragt.Diese ganzen neuen, hypermodernen Stadien. Was sollenwir denn hinterher damit machen? Unsere Heizkosten da­von bezahlen? Den Euro damit stützen? Mit ihrer Hilfe dasfestgefahrene Schlamassel beseitigen, in das sich unsereUniversitäten gebracht haben?

Als ich an einer Kreuzung warten muss, spaziert ein Pär­chen vorbei. Die beiden haben die Arme umeinander ge­schlungen, die Hände tief in der Gesäßtasche des anderenvergraben. Sie lachen über irgendetwas auf dem Handy, dieGesichter einander zugeneigt, und ich verspüre eine plötz­lich aufwallende Sehnsucht. So sehr Teil der Welt eines an­deren zu sein. Während ich zusehe, wie ihre Rücken mitdem X der Arme in der Ferne verschwinden, würde ich aufeinmal am liebsten losheulen, was ganz untypisch für michist.

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Selbst als ich den Fluss überquere und mich den breiten,belaubten Alleen von Barnes nähere, bleibt meine schlech­te Laune und veranlasst mich, all die ärgerlichen Detailswahrzunehmen, die ich normalerweise ausblende: dieÜberwachungskameras, die wie fremdartige Früchte an Te­legraphen­ und Laternenmasten wachsen, die speziell an­gefertigten holzvertäfelten Hütten, in denen die Mülleimerwohnen. (In Barnes ist Plastik praktisch illegal. Am Weih­nachtsmorgen hört man überall das Wutgeheul der Kinder,die geschmackvolles Holzspielzeug bekommen haben stattdes grellbunten Zeugs, das sie, durch die Fernsehwerbungmanipuliert, begehren.) Schon lustig, wie ich mich selbstnach siebenundzwanzig Jahren in unserem Haus immernoch anhand der Immobilien durch das Viertel bewege, diewir auf unserer Häusersuche vor all den Jahren besichtigthaben. In dieser Straße war eines, das innen täuschend ge-räumig war, aber so gut wie keinen Garten hatte; da drübensteht das, in dem es roch, als wäre jemand gestorben. Natür­lich gehören auch die kleinen Stiche des Bedauerns dazu.Wer hätte ahnen können, dass diese Straße mal so begehrtsein wird? Hätte ich nur nicht zugelassen, dass Simon mirdie Pläne zum Umbau ausredet!

Beim Einbiegen in unsere Straße habe ich plötzlich dasstarke Bedürfnis, mit Simon zu sprechen. Nicht aus irgend­welchen schnulzigen Gründen, sondern weil er eben dereinzige Mensch ist, mit dem ich reden will, wenn ich in die­ser Stimmung bin. Als Ehemann ist es seine Aufgabe, sichdie Misserfolge meines Tages anzuhören und sie dann zuverharmlosen – Paragraph 593 der Satzung für verheiratetePaare! Bei Simon muss ich nicht so tun, als wäre alles eitelSonnenschein. Bei anderen Leuten verstellt man sich dochimmer ein wenig, oder? Wie könnte es auch anders sein?

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Aber Simon ist irgendwo im Nahen Osten unterwegs.Nicht in seinem Apartment in Dubai, soweit ich weiß, son­dern an irgendeinem anderen Ort, der mit diesem neuenAuftrag zu tun hat. Er soll erst morgen Abend zurückkom­men. Jedenfalls würde er es seltsam finden, wenn ich ihnauf einer seiner Reisen aus heiterem Himmel anrufen wür­de. So läuft das in unserer Ehe nicht. Gott sei Dank! Nichtwie bei Hettie und Ian, die zehnmal am Tag miteinandertelefonieren, um über rein gar nichts zu reden. Hier im Zugist es dermaßen voll! Jemand hat mich auf dem Supermarkt-parkplatz zugeparkt! Ich habe drei Espresso getrunken, undjetzt fühle ich mich wie der Duracell-Hase! Bla, bla, bla.Und am Schluss dann immer «Ich liebe dich». Dermaßenunnötig. Liebe ist wie jede andere Ware. Je mehr man siezur Schau stellt, umso wertloser wird sie. Die wahre Kunstist, dem anderen das Gefühl zu geben, dass er geliebt wird(Paragraph 594!). Ich koche für Simon immer eines sei­ner Lieblingsgerichte, wenn er von seinen Reisen zurück­kommt – Lamm­ oder Rinderbraten, Yorkshire Pudding,das volle Programm. Im Kühlschrank unten wartet auchjetzt schon eine Keule für morgen Abend. Wie könnte manseine Zuneigung besser zum Ausdruck bringen, als für je­manden zu kochen? Worte sind bloß Worte. Was wirklichzählt, sind Taten.

Simon wäre geschockt, wenn ich versuchen würde, ihnausfindig zu machen. Er bewundert mich immer für mei­ne Eigenständigkeit. «Selina merkt gar nicht, ob ich da binoder nicht», scherzt er gern. Und das ist auch verdammtgut so, da er die Hälfte seines Lebens in der Ferne verbringt.Ausgerechnet Dubai! Selbst nach all den Jahren bin ich im­mer noch nicht ganz darüber weg. Warum konnte es nichtSpanien sein oder Südafrika – irgendwo mit ein bisschen

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Kultur? Wenigstens hat er sich inzwischen daran gewöhnt,alleine dort zu sein, aber ich habe immer noch ein leichtschlechtes Gewissen deswegen. Ich habe wirklich versucht,mich darauf einzulassen, aber als ich dort ankam, wussteich sofort, dass es nichts für mich ist. Was für ein gräss­licher Ort, so eine Hitze habe ich noch nie erlebt. Und erstder Staub! Als wir vom Flughafen wegfuhren, waren sämt­liche Autos ringsherum buchstäblich damit überzogen. Ichwar automatisch davon ausgegangen, dass ihre Besitzersie vor Jahren dort abgestellt hatten, aber Simon meinte,wahrscheinlich parkten sie erst seit ein paar Wochen da.Ich war fast zwanzig Jahre nicht mehr dort. Ist es wirklichschon so lange her? Schrecklich, wie sich inzwischen dieZeit komprimiert wie eine dieser Zip­Dateien auf meinemComputer, all die Stunden hineingestopft wie Entendaunenin ein Kissen.

Ich kann ihm nicht vorwerfen, dass er so viel Zeit fernvon zu Hause verbringt. Aber manchmal, so wie jetzt gera­de, würde ich einfach gerne, ohne groß nachzudenken, zumTelefon greifen können, selbst wenn ich gar nichts Beson­deres zu sagen habe. Natürlich ruft er mich an, zwischenMeetings oder von einer Bar aus (sehr lästig, dass er inseinem Apartment immer noch keinen Empfang hat), aberbis dahin habe ich immer vergessen, worüber ich so drin­gend mit ihm reden wollte. Um ehrlich zu sein, erwischter mich oft in unpassenden Momenten – mitten bei einemTreffen unserer Spendensammelgruppe für die Brustkrebs­forschung oder wenn ich mit meiner Mutter in diesemscheußlichen neuen Einkaufszentrum Besorgungen mache.Dann bin ich kurz angebunden und schnippisch, weil ichganz vergessen habe, wie dringend ich seine Stimme hörenwollte. Es sind die kleinen Dinge, die zwischen uns oft auf

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der Strecke bleiben, die Details, aus denen Intimität ent­steht. Manchmal macht mich das ein bisschen traurig – alldie alltäglichen Augenblicke, die durch die Maschen unse­rer Ehe geschlüpft sind.

Ich beschließe, stattdessen Felix anzurufen. Mein äl­tester Sohn vertritt schon sein Leben lang seinen abwe­senden Vater, aber er wird dabei immer mehr zur erstenWahl. Ich weiß, das ist ein furchtbares Eingeständnis, under wird dafür bis in alle Ewigkeit in Therapie müssen, aberirgendetwas an der Art, wie Felix «Hola, Madre» sagt, be­ruhigt mich sofort und macht mir wieder bewusst, auf wasich alles stolz sein kann: mein wunderschönes Haus mitden sechs Schlafzimmern, meine drei mehr oder wenigerwohlgeratenen Kinder, meine Spendensammelarbeit, mei­ne Kleidergröße achtunddreißig, mein legendärer Pavlova­Baiserkuchen, meine Unterstützung von am Hungertuchnagenden Künstlern, meine frisch ausgemistete Gardero­be, die zwei Besuche pro Woche bei meiner Mutter, vondenen ich noch keinen verpasst habe, in ihrem fabelhaftenAltenheim, das ich mit viel Mühe für sie gefunden habe,meine Skifahrkünste, mein Jurastudium (na gut, zumindestein Jahr davon), mein Olivenöl, das aus unseren eigenenOliven von den Bäumen rings um unsere toskanische Villagepresst wird und das wir, mit einem besonderen, speziell(von Josh) entworfenen Etikett versehen, zu Weihnachtenverschenken, meine Entdeckung des perfekten Weißtonsfür unser Schlafzimmer, mein Gemüsegarten.

Felix geht nicht ans Telefon. Er ist wohl auf der Arbeit.Ich muss gestehen, dass ich nicht ganz sicher bin, womitgenau er sich seinen Lebensunterhalt verdient. Irgendet­was Kreatives, soviel weiß ich – irgendetwas mit Film. Erverbringt ziemlich viel Zeit in Meetings (zu unglaublichen

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Zeiten mitten in der Nacht) in irgendwelchen Bars und Res­taurants in Soho. Auf jeden Fall scheint es lukrativ genugzu sein – Loft­Apartments in Shoreditch sind heutzutagekeine Schnäppchen mehr (nicht wie vor dreißig Jahren, alssie niemand hätte geschenkt haben wollen). Ich weiß noch,wie wir letztes Jahr alle in die Wardour Street getrabt sind,um diesen Film anzuschauen, den er gemacht hat. Manführte uns in einen privaten Zuschauerraum mit tiefenviolett­samtenen Sesseln, die so weit voneinander entferntstanden, dass wir fast brüllen mussten, um uns zu unterhal­ten. Der Film war kurz, kaum eine halbe Stunde (Gott seiDank, meinte Simon später), und es ging um ein Paar, dassich an verschiedenen Orten in London stritt. Die Ausein­andersetzungen begannen immer mit etwas völlig Belang­losem, wie etwa dass der Mann der Frau vorwarf, sie würdeständig laut seufzen, was sie bestritt. Dann brüllten sie sichrichtiggehend an, wobei die Frau immer wieder sagte, siehätte sich mit dieser Beziehung «zufriedengegeben». Ichverstand den Film nicht so ganz, aber man konnte sehen,dass er Potenzial besaß, auch wenn Josh meinte: «Wenn ichLeuten beim Streiten zuhören wollte, bräuchte ich michbloß in der Nähe der Mädchenumkleiden an meiner Schuleherumzutreiben.» Flora, die Gute, wollte taktvoll sein, trataber mit ihrer Frage prompt ins Fettnäpfchen: «Warumwar alles bei Nacht gefilmt?» Felix reagierte ziemlich emp­findlich. Angeblich hat die düstere Atmosphäre wohl mitStimmung zu tun. Wer hätte das gedacht! Auch einer vonHetties Lieblingssprüchen.

Zu Hause weiß ich nicht so recht, was ich mit mir an­fangen soll. Walter, unser uralter, von Arthrose geplagterMinischnauzer, kommt mühsam auf mich zugewackelt, ummich zu begrüßen, und ich schaffe es, ihn geistesabwesend

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zu streicheln, bevor ich mich schwer auf die unterste Stu­fe der elegant geschwungenen Treppe sinken lasse, wegender ich mich anfangs in dieses Haus verliebt habe. Ist daswirklich schon fast drei Jahrzehnte her? Gedankenverlorenstreiche ich über die Wand. Wie gut, dass ich auf das Pflau­menblau bestanden habe, obwohl Simon sich so auf Graueingeschossen hatte.

«Haben deine Beine den Geist aufgegeben?»Meine Güte!Es ist schon komisch, fast erwachsene Kinder zu haben

– vor allem solche, deren ältere Geschwister bereits ausge­zogen sind –, man vergisst ständig, dass sie da sind. Daherlässt mich Joshs Gesicht, als er sich von oben über michbeugt, erschrocken zusammenzucken.

«Ich ziehe nur meine Schuhe aus», verteidige ich mich,obwohl ich offensichtlich nichts dergleichen tue. Wie gut,dass Josh ohnehin in einer anderen Zeit/Raum­Dimensionexistiert, wo alles, was nicht direkt mit seinen eigenen kör­perlichen oder ganz selten auch mal emotionalen Bedürf­nissen zu tun hat, gar nicht wahrgenommen wird.

«Hast du dir den Cottage Pie warm gemacht, den ich dirhingestellt habe?», will ich wissen.

«Nö. Zu viel Aufwand. Hab Toast gegessen.»Ich schließe die Augen und zähle stumm bis zehn. Dann

erhebe ich mich mühsam und gehe in die Küche. Ja, da stehter noch! Daneben auf der Arbeitsplatte, genau wo ich siehingelegt habe, eine sorgfältig aufgeschriebene Anleitung(«Backofen auf 180° Grad vorheizen. Knopf ganz links,nicht der in der Mitte, das ist der Timer», etc., etc.). Dane­ben grinst mich das unberührte Kartoffelbrei­Gesicht desCottage Pies an.

«Ich bin dann mal weg, ja?»

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