Die außergewöhnliche Evolutionsgeschichte jamaikanischer … · 2003. 10. 1. · Karibikinsel...

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Biologie in unserer Zeit / 30. Jahrg. 2000 / Nr. 3 © WILEY-VCH Verlag GmbH, 69469 Weinheim, 2000 0045-205X/00/0306-00136 $ 17.50 + .50/0 136 K urzschwanzkrebse (Brachyura) sind typische Bewohner der Meere und Küsten, die das Larvenstadium driftend im Plankton verbringen. Sie kehren erst nach der Metamorphose als Miniaturkrabbe in das Adulthabitat zurück – meist fernab von ihren Eltern. Dieser Lebenszyklus hat zwei wichtige Implikationen – er verhindert die Besiedlung nicht-mariner Lebensräume sowie die Evolution sozialer Interaktionen zwischen Eltern und Jungen. Auf der Karibikinsel Jamaika dagegen haben Felsenkrabben (Überfamilie Grapsoidea, Familie Sesarmidae) nicht nur sehr er- folgreich das Land besiedelt, sondern evol- vierten darüber hinaus eine erstaunlich hohe Sozialität. Hier reicht das Spektrum nahe verwandter Arten von der solitären marinen „Standardkrabbe“ bis hin zur hoch sozialen Bromelienkrabbe. Wie war dieser beachtliche Evolutionsschritt mög- lich? LEBENSRÄUME – LEBENSFORMEN Rudolf Diesel und Christoph D. Schubart Die außergewöhnliche Evolutionsgeschichte jamaikanischer Felsenkrabben Abb. 1. Prototyp einer „Landkrabbe“, Ge- carcinus ruricola. Diese karibisch-amerika- nische Art zählt zu den größten Krabben an Land. Obwohl die Adulten sich sehr gut an das Landleben angepasst haben, sind sie an das Meer gebunden, da dort ihre Larvenentwicklung stattfindet.

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  • Biologie in unserer Zeit / 30. Jahrg. 2000 / Nr. 3© WILEY-VCH Verlag GmbH, 69469 Weinheim, 2000 0045-205X/00/0306-00136 $ 17.50 + .50/0

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    Kurzschwanzkrebse (Brachyura) sindtypische Bewohner der Meere und Küsten, die das Larvenstadium driftend imPlankton verbringen. Sie kehren erst nachder Metamorphose als Miniaturkrabbe indas Adulthabitat zurück – meist fernab vonihren Eltern. Dieser Lebenszyklus hat zweiwichtige Implikationen – er verhindert dieBesiedlung nicht-mariner Lebensräume sowie die Evolution sozialer Interaktionenzwischen Eltern und Jungen. Auf der

    Karibikinsel Jamaika dagegen habenFelsenkrabben (Überfamilie Grapsoidea,Familie Sesarmidae) nicht nur sehr er-folgreich das Land besiedelt, sondern evol-vierten darüber hinaus eine erstaunlichhohe Sozialität. Hier reicht das Spektrumnahe verwandter Arten von der solitärenmarinen „Standardkrabbe“ bis hin zurhoch sozialen Bromelienkrabbe. Wie wardieser beachtliche Evolutionsschritt mög-lich?

    LEBENSRÄUME – LEBENSFORMEN

    Rudolf Diesel und Christoph D. Schubart

    Die außergewöhnlicheEvolutionsgeschichte

    jamaikanischer Felsenkrabben

    Abb. 1. Prototyp einer „Landkrabbe“, Ge-carcinus ruricola. Diese karibisch-amerika-nische Art zählt zu den größten Krabbenan Land. Obwohl die Adulten sich sehr gutan das Landleben angepasst haben, sind sie an das Meer gebunden, da dort ihreLarvenentwicklung stattfindet.

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    Ein ideales Versuchstier

    Damit Krabben sich erfolgreich in terres-trischen und limnischen Lebensräumen an-siedeln und gänzlich vom Meer unabhängigwerden können, sind erhebliche Anpassun-gen in der Physiologie, Reproduktion, Ent-wicklung und im Verhalten erforderlich. Ver-schiedene Hypothesen [15, 23] schlagen vor,dass die Selektion in einem solchen ökolo-gischen Szenario erhöhte elterliche Investi-tion pro Nachkomme, Modifikationen in derLebensgeschichte und das Sozialverhaltenfördert. Hierfür stellen jamaikanischen Fel-senkrabben ein sehr gutes Versuchsobjektdar. Seit 1986 laufen Forschungsprojekte zurBesiedlungsgeschichte und Phylogenie dieserartenreichen Gruppe. Vergleichende Unter-suchungen der Fortpflanzungsmuster undÖkologie von Arten mit marinen, Brackwas-ser- und Süßwasser-Larven entschlüsselten

    die wichtigen Selektionsfaktoren, die denLandgang1 begleiteten, und erlaubten es, dieEvolution der Lebensgeschichte und dieLandbesiedlung der Jamaika-Krabben zu re-konstruieren. Besonderer Höhepunkt ist dieEvolution einer intensiven Brutpflege undhohen Sozialität unter den terrestrischen Ar-ten.

    Besiedlungsgeschichte und Phylogenie

    Mit neun beschriebenen endemischen (loka-len) Felsenkrabben (Tabelle 1) unterscheidetsich die Insel Jamaika erheblich von ihren ka-ribischen Nachbarn, die keine einzige ende-mische Art dieser Gruppe hervorbrachten.Gründe dafür sind wahrscheinlich die beson-dere Entstehungsgeschichte, Geologie, Topo-graphie und Besiedlungsgeschichte Jamaikas.Morphologische und molekulargenetische(16S rRNA und Cytochrom Oxydase I sowieDNA-Sequenzen) Untersuchungen bewiesenden monophyletischen Ursprung der ende-mischen Sesarmidae. Demnach stammen sievon einem gemeinsamen marinen Vorfahrenab, ebenso wie die Bromelienkrabbe, Me-

    topaulias depressus, die einzige Art der Gat-tung, die ebenfalls in den Stammbaum der en-demischen Sesarma-Arten einzureihen ist(Abbildung 2) [16].

    Besonders hilfreich zur Rekonstruktion derBesiedlungsgeschichte der jamaikanischenFelsenkrabben (Sesarmidae) erwies sich dieUntersuchung nahe verwandter mariner Ar-ten, deren Vorfahren durch die Schließungder panamesischen Landbrücke vor 3,1 Mil-lionen Jahren getrennt worden waren. An-hand der genetischen Distanzen dieser trans-isthmischen Schwesternarten der GattungSesarma gelang es, eine molekulare Uhr fürdie Evolution der amerikanischen Felsen-krabben zu eichen. Demnach entwickelten

    Abb. 2. Phylogenie und adaptive Radiationder endemischen Sesarmidae auf Jamaikasowie die geschätzte Zeit der Trennung auf-grund der Kalibrierung einer molekularenUhr. Zum Vergleich sind auch die Stamm-bäume der endemischen Echsen (Anolis)und Frösche (Eleuterodactylus) angegeben.S. – Sesarma.

    1Die Besiedlung des Landes umfasst hier lim-nische und terrestrische Habitate. Keine der behandelten Arten ist völlig unabhängig vonWasser.

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    a b

    c d

    e f

    Abb. 3. Lebensräume und Vertreter der jamaikanischen Felsenkrabben. (a) Die Mangrovenkrabbe, Sesarma curacaoense (Einlage), besie-delt die Mangrovensümpfe. (b) Die Brackwasserkrabbe, Armases miersii, lebt auf den Felsterrassen und brütet in brackigen Felstümpeln.(c) Stellvertretend für 5 Fließgewässerarten ist die erst kürzlich entdeckte Sesarma ayatum aus den Bergbächen der John Crow Mountainsim Osten. (d) Die Höhlenkrabbe, Sesarma verleyi, besiedelt die zahlreichen Karsthöhlen. (e) Die Schneckenkrabbe, Sesarma jarvisi, lebt inden Bergregenwäldern Zentral- und Westjamaikas. Sie hat sich darauf spezialisiert, in den leeren Häusern von großen Landschnecken(Pleurodonte spp.) zu brüten. (f) In den Bergregenwäldern der John Crow Mountains im Osten lebt die John-Crow-Krabbe, S. cookei.Das Bruthabitat dieser Art wurde trotz 13jähriger Suche noch nicht entdeckt.

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    sich die Jamaika-Krabben in einem erdge-schichtlich relativ kurzen Zeitraum von etwa4 Millionen Jahren aus einer marinen Aus-gangsart (Abbildung 2) [16]. Den entschei-denden Evolutionsschritt machte wahr-scheinlich im frühen Pliozän eine „Proto-Sesarma“ mit einem vom marinen Milieu völlig unabhängigen Lebenszyklus im Süß-wasser. Darauf folgte vor 3,4 bis 1,9 Millio-nen Jahren eine adaptive Radiation und Spe-zialisierung auf so unterschiedliche Brut-habitate, wie Fließgewässer, Karsthöhlen,Landschneckenhäuser und Bromelien (Ab-bildung 3). Im Laufe der Untersuchungenwurden vier neue endemische Sesarma-Artenbeschrieben. Mit neun endemischen Artenbeherbergt die relativ kleine Insel wahr-scheinlich die weltweit höchste Dichte an en-demischen Krabben.

    Rekonstruktion des Landgangs

    Die Ökologie landlebender Krabben reichtvon einer ausschließlich aquatischen Lebens-weise im Süßwasser bis hin zu einer terrestri-schen in Wüstengebieten. Die Verfügbarkeitvon Wasser bleibt jedoch auch für terrestri-sche Krebse ein wichtiger ökologischer Fak-tor zur Häutung, Atmung oder Fortpflan-zung. In diesem Bereich treten auch wesentli-che Anpassungen auf, wie beispielsweise:

    ● lungenartige Ausbildungen der Kiemen-kammer zur Atmung,

    ● die Fähigkeit zur Osmoregulation im io-nenarmen Süßwasser oder

    ● die direkte Entwicklung und damit Re-duktion des planktonischen Larvenstadiums.

    Zu den Prototypen der Landkrabben zählendie Arten der Gattung Gecarcinus (Abbil-dung 1), die in den Tropen und SubtropenAmerikas und der Karibik recht trockeneKüstenstreifen bis zu einigen Kilometernvom Meer entfernt besiedeln. Ihre Anpassun-gen gehen so weit, dass sie mehrere Tage ohneWasser auskommen, sich selbst im trockenenBau häuten können und sich von Kiemen-atmung auf „Lungenatmung“ umgestellt ha-ben. Trotzdem bleiben sie bis heute durch dieLarvenentwicklung im marinen Plankton ansMeer gebunden (Abbildung 4) und unterneh-men spektakuläre Laichwanderungen zumMeer, um die Larven ins Wasser zu entlassen.

    Die physiologischen Fähigkeiten der Süß-wasser- und terrestrischen Krabben wurden

    schon früh untersucht, die Bedeutung vonAnpassungen in ihren Lebensgeschichten da-gegen vernachlässigt. Gerade letztere jedochsind wichtig, wenn man verstehen will, wieKrabben erfolgreich das Land besiedeltenund in ihrer Fortpflanzung und Entwicklungvom marinen Milieu unabhängig werdenkonnten. Daher blieb weitgehend unbe-kannt, welche Selektionsfaktoren und Anpas-sungen für den Landgang dabei entscheidendwaren.

    Abb. 4. Verschiedene Lebenszyklen bei Krabben. (Äußerer Kreis) Arten mit marin-plank-tischer Larvenentwicklung haben viele kleine Eier und viele Larvenstadien; als Beispielhier Armases ricordi (andere: Gecarcinus, Eriocheir), bei der die Adulten in trockenenKüstenbereichen leben. (Mittlerer Kreis) Krabben mit einer Larvenentwicklung im Süß-wasser; sie produzieren wenige, große und dotterreiche Eier und haben wenige, meist nurzwei, lecithotrophe Larvenstadien. Beispiele sind die endemischen, jamaikanischen Felsen-krabben der Gattung Sesarma und Metopaulias und die asiatische Geosesarma peraccae. DieAdulten leben limnisch oder terrestrisch. (Innerer Kreis) Krabben, die keine Larvenphasebesitzen. Sie produzieren wenige, sehr große Eier, aus denen direkt die Jungkrabbenschlüpfen. Dieses Muster finden wir bei einigen Arten der asiatischen Gattung Geosesar-ma, die montane Bergregenwälder besiedeln, sowie wahrscheinlich bei allen Arten der„Süßwasserkrabben“-Familien.

    Aufgrund von Unterschieden in den osmore-gulatorischen Fähigkeiten schlug Little [11]für Krebse zwei Routen der Landbesiedlungvor:

    ● eine indirekte Route vom Meer über dieFließgewässer

    ● sowie eine direkte Route vom Meer überdas Eulitoral in terrestrische Habitate (für einneueres Modell siehe [18]).

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    Lebensräume – Lebensformen

    Dabei stehen wiederum physiologische An-passungen bei Adulten und Juvenilen im Vor-dergrund, während die Larvenphase und dieEmanzipation der Krabben vom Meer un-berücksichtigt bleiben.

    Krabben mit marinen Larven – auch wenndie Adulten terrestrisch oder im Süßwas-ser (z. B. die chinesische Wollhandkrabbe,Eriocheir sinensis, siehe Abbildung 4) leben –produzieren typischerweise sehr viele kleineEier; Arten mit einem vom Meer völlig unab-hängigen Lebenszyklus produzieren dagegenstets wenige, sehr große Eier (Abbildung 4).Verbreitet ist die Ansicht, dass Nahrungs-mangel für planktonische Larven im Süßwas-ser den Selektionsdruck für die lecithotropheLarvenentwicklung (Larven ernähren sichvom Dottervorrat) und die Produktion dersehr großen, dotterreichen Eier der Süß-wasserkrabben lieferte [13]. Ein Problem die-ser Erklärungsmodelle ist, dass die rezentenSüßwasserkrabben ein Evolutionsproduktdarstellen und ihre Ökologie die Selektions-faktoren, denen ihre Vorfahren während derBesiedlung ausgesetzt waren, nicht wider-spiegeln.

    Das Brackwasser als Zwischenstation

    Die Jamaika-Krabben bieten zur Klärungdieser Fragen ein ausgezeichnetes Untersu-chungsmodell: Hier gibt es nahe verwandteArten, deren Ökologie und Lebenszyklenverschiedene Stadien eines Landganges wi-derspiegeln. Der entscheidende Knackpunktzum Verständnis des Landgangs lieferte dieAntwort auf die Frage, wie die Verlagerungder Larvenentwicklung vom Meer ins Süß-wasser erfolgte. Hier musste der enorme Sali-nitätssprung von etwa 33 ‰ im Meer auf 0 ‰im Süßwasser bewältigt werden, ein Schritt,der nur über eine Zwischenstation in Brack-wasserhabitaten möglich gewesen sein dürfte[8]. Hierbei muss es sich um spezielle, relativabgeschlossene Brackwasserhabitate gehandelthaben, die – im Gegensatz beispielsweise zuÄstuaren (trichterförmige Flussmündungen)oder Mangrovensümpfen mit einem großenTidenhub – nur einen geringen Austausch mitdem Meer hatten und so die Larven nicht insMeer spülten. Typische Beispiele sind die zahl-reichen Felstümpel auf Kalksteinterrassen undflache Mangrovensümpfe (Abbildungen 3aund b) an der Nordküste Jamaikas.

    Als missing link fehlten bisher Arten, derenLarven an eine Entwicklung in solchen

    Brackwasserhabitaten angepasst sind; heutesind immerhin drei Arten bekannt: Die Winkerkrabbe, Uca subcylindrica, die im se-miariden Süden von Texas in temporärenBrackwassertümpeln brütet [14], und zwei ja-maikanische Felsenkrabben, die Brackwas-serkrabbe, Armases miersii, deren Larven sichin Felstümpeln entwickeln, und die Mangro-venkrabbe, Sesarma curacaoense, mit einerEntwicklung in Mangroventümpeln (Abbil-dungen 3a und b) [20, 21].

    Im Folgenden werden anhand des Ortes derLarvenentwicklung marine, Brackwasser-und Süßwasserarten unterschieden, unabhän-gig davon, wo die Adulten leben. Süßwasser-krabben umfassen beispielsweise Arten, diein Bächen oder am Waldboden leben, da siealle eine Larvenentwicklung im Süßwasserdurchlaufen. Vergleichende Untersuchungender Arten liefern nun wichtige Informationenzur Rekonstruktion des Landganges der Ja-maika-Krabben.

    Eianzahl und Eigröße änderten sich

    Besonders interessant ist, dass alle Brackwas-serarten auch die Grundzüge der Süßwasser-arten zeigen und hier schon wesentliche An-passungen in der Fortpflanzung und Ent-wicklung auftreten [8]. Mit zunehmender

    Unabhängigkeit vom Meer produzieren dieseKrabbenarten wesentlich weniger und erheb-lich größere Eier. Die Eizahl reicht beispiels-weise von etwa 25.000 bei der marinen S. rec-tum bis 23 Eier bei der terrestrischen S. jarvi-si, das Eivolumen steigt von 17– 48 µm3 beiden marinen Arten auf 68 – 98 µm3 bei Brack-wasser- und auf 527–2878 µm3 bei Süßwas-serarten. Weiterhin steigt bei den Larven dieFähigkeit, sich von Dotterreserven zu er-nähren. Die Dauer der Larvenentwicklungund die Anzahl der Larvenstadien nehmendeutlich ab. So haben die Brackwasserartenmindestens ein Zoea-Stadium weniger alsihre nächsten marinen Verwandten. Die mari-ne S. rectum hat beispielsweise drei Zoea-Sta-dien, die Mangrovenkrabbe S. curacaoensewie auch die terrestrische S. jarvisi jedoch nurzwei Stadien. Vom Schlupf bis zur ersten ju-venilen Krabbe dauert es bei S. rectum etwa20 Tage, bei S. jarvisi dagegen nur vier Tage.Obwohl mit der Verlagerung der Larvenent-wicklung vom Meer ins Brackwasser die Ei-größe zunimmt, bleibt die Körpergröße, beider die Metamorphose eintritt, unverändert.Offensichtlich müssen Jungkrabben eineMindestgröße haben, wenn sie das Brackwas-ser verlassen.

    Unter den physiologischen Anpassungen fälltbesonders die Osmoregulation der Larven

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    Tabelle 1. Die jamaikanischen Felsenkrabben der Familie Sesarmidae. Nach einer Revisionder Unterfamilie Sesarminae durch Schubart et al. [19] sind diese jetzt als gleichwertigeFamilie neben den Grapsiden anzusehen.

    Art Lebensraum Larvenhabitat

    Armases ricordi Küstenwälder marines PlanktonArmases roberti Küste, Flussunterläufe marines PlanktonArmases miersii Küste, Kalksteinterrassen Brackwassertümpel

    Sesarma curacaoense Küste, Mangrovensümpfe BrackwassertümpelSesarma bidentatum Flüsse, Bergbäche Süßwasser Sesarma windsor Flüsse, Bäche SüßwasserSesarma fossarum Flüsse, Bäche SüßwasserSesarma dolphinum Flüsse, Bergbäche SüßwasserSesarma ayatum Flüsse, Bergbäche SüßwassertümpelSesarma verleyi Karsthöhlen SüßwassertümpelSesarma cookei Bergregenwälder Süßwasser, (?)Sesarma jarvisi Bergregenwälder Süßwasser, Schneckenhaus

    Metopaulias depressus Bromelien Regenwasser, Blattachseln

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    auf [8]. Die Larven der marinen Arten ent-wickeln sich unter relativ stabilen Salinitäts-bedingungen und benötigen keine ausgepräg-te Salinitätstoleranz. Diese nimmt jedoch beiden Brackwasserarten erheblich zu, speziellgegenüber niedrigen Salinitäten, also Süßwas-ser. Auch die Körpergröße der Larven nimmtmit der Verlagerung der Entwicklung vomMeer zum Süßwasser zu und damit dasOberflächen-Volumen-Verhältnis ab. Mög-lich ist, dass ein Zusammenhang zwischen derKörpergröße und ihrer Salinitätstoleranz be-steht.

    Was sind die Gründe?

    Alle bekannten Brackwasserarten produ-zieren also größere Eier als ihre marinen Verwandten; was ist die Ursache? Die safeharbor Hypothese [15] schlägt vor, dass dieEntwicklung in einem sicheren Entwick-lungsstadium verlängert und in gefährlichenStadien verkürzt wird. Ist beispielsweise dieMortalität im Larvenstadium höher als im Ei-stadium, dann wird sich die Dauer des Larvenstadiums verkürzen und die des Ei-stadiums verlängern, was zur Folge hat, dassdie Eigröße zunimmt. Aufgrund dieser Hy-pothese wäre zu erwarten, dass sich mit derBesiedlung des Brackwassers das Mortali-tätsrisiko im Larvenstadium relativ zum Ei-stadium erhöht. Verantwortlich dafür könn-ten beispielsweise:

    ● mangelnde Nahrungsressourcen,

    ● hoher Räuberdruck und

    ● ungünstige abiotische Bedingungen sein.

    Die Überprüfung dieser Faktoren ergab imWesentlichen folgendes Bild: Die untersuch-ten Brackwasserhabitate bieten den Larvenreichlich Nahrung (Cladoceren, Phytoplank-ton, Copepoden, Nauplius-Larven usw.) [10, 20]. Damit ist unwahrscheinlich, dass dashohe endotrophe Potential der Larven primärals Selektionsfaktor für größere Eier derBrackwasserarten in Frage kommt.

    Ein hoher Räuberdruck auf Larven könnteunter anderem für eine verkürzte Larvenent-wicklung selektieren, was bei Dekapoden inder Regel zur Produktion größerer Eierführt. Doch Larvenräuber waren in den rela-tiv isolierten Brackwasserhabitaten seltenoder fehlten. Meist treten bei Dekapodenlar-ven auch eher Wehrdornen auf als eine ver-kürzte Entwicklung [12].

    Als wichtige Selektionsfaktoren kommen da-gegen die spezifischen abiotischen Bedingun-gen der Larvenhabitate in Betracht. Obwohldie Entwicklungsbedingungen in Brackwas-sertümpeln wegen fehlender Fressfeinde,reichlicher Nahrung und moderater Sali-nitätsschwankungen durchaus sehr günstigsein können, kann sich die Situation doch zü-gig, ja plötzlich, verschlechtern. Im Bruthabi-tat von A. miersii beispielsweise steigt die Sa-linität durch Verdunstung auf über 100 ‰,und durch starke Niederschläge wird derSalzgehalt rapide und stark verdünnt (Abbil-dung 5). Diese Brackwassertümpel haben den Charakter vorübergehender (ephemerer)Habitate, in denen extrem fluktuierendeabiotische Bedingungen auftreten, vorwie-gend in der Sauerstoffsättigung, Temperaturund besonders kritisch in der Salinität.

    Die Larven der Brackwasserarten haben eineausgeprägte Salinitätstoleranz. Armases mier-sii entwickelt sich noch, wenn die Salinitätdauerhaft 5–50 ‰ beträgt und überlebt auchkurzzeitig extremere Salinitäten (Abbildung5c) [22]. Trotzdem treten ungünstigere undletale Salinitäten auf. Die Entwicklung in denBrackwassertümpeln ist ein Wettlauf mit derZeit! Diese Bedingungen favorisieren eineschnelle Metamorphose. Da die Körpergrößebei der Metamorphose „vorgegeben“ ist, be-deutet eine Verkürzung der Larvenentwick-

    lung, dass ein Teil der Entwicklung (bezie-hungsweise der Larvenstadien) ins Ei verla-gert wurde und große, mit Dottervorrätenversorgte Larven produziert werden. Dies er-fordert die Produktion größerer Eier.

    Ein rekonstruiertes Szenario

    Aufgrund dieser Ergebnisse lässt sich für denLandgang der Jamaika-Krabben folgendesSzenario rekonstruieren: Voraussetzung da-für, dass dieser Evolutionsschritt stattfindenkonnte, ist die Verfügbarkeit geeigneter„landseitiger“ Brackwasserhabitate. DieseHabitate kommen auf Jamaika durch das Zu-sammentreffen besonderer Umstände zustan-de. Einerseits hebt sich die Nordküste Jamai-kas etwa 6–20 cm pro tausend Jahre aus demMeer – dabei entstanden und entstehen stän-dig neue ausgedehnte Kalksteinterrassen. An-dererseits ist der Tidenhub an der Küste Ja-maikas mit nur etwa 20–25 cm gering. So ent-stehen flache Mangrovensümpfe mit wenigWasseraustausch mit dem Meer, isolierteBrackwassertümpel und auf etwas höherenTerrassen isolierte Felstümpel (Abbildung3b). Erdgeschichtlich gesehen sind es kurzle-bige Habitate.

    Für Krabben, die an der Küste lebten undihre Larven ins Meer abgaben, boten bei-spielsweise isolierte Felstümpel ein alternati-

    Abb. 5. Der erste Schritt an Land führt insBrackwasser, hier als Beispiel die Verlage-rung der Larvenentwicklung in Brackwas-sertümpel. (Oben) In diesem Tümpel auf ei-ner Felsterrasse an der Nordküste Jamaikasentwickeln sich die Larven von Armasesmiersii. (Mitte) Salinitätsprofil und Nieder-schläge eines Felstümpels über einen Zeit-raum von drei Monaten. Die Salinität fluk-tuiert stark in Abhängigkeit von Sonnen-einstrahlung und Niederschlägen. DieseTümpel sind typische ephemere Habitate.Eingezeichnet sind als farbige Balken: senk-recht die Salinitätstoleranzbreite undwaagerecht die Entwicklungsdauer derLarven von A. miersii und der marinenLarven von A. ricordi. Der Vergleich zeigt,dass eine breite Salinitätstoleranz undschnelle Entwicklung unter den vorherr-schenden Bedingungen vorteilhaft sind.(Unten) Überlebende der A. miersii-Larvenin verschiedenen Salinitäten.

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    Lebensräume – Lebensformen

    ves Larvenhabitat. Unter günstigen klimati-schen Bedingungen entwickelten sich diese ineinem nahrungsreichen und fast räuberfreienLebensraum, und die Larvenmortalität warim Vergleich zu der im marinen Planktonsehr gering. Unter ungünstigen Bedingungendagegen hatten jene Larven einen Selektions-vorteil, welche die Metamorphose schnell er-reichten und den Tümpel verlassen konnten,das heißt, es bestand ein starker Selektions-druck auf eine verkürzte Larvenentwicklung.

    Besiedlung von Süßwasser und Land

    Die im Brackwasser erworbenen Anpassun-gen – Toleranz gegenüber niedriger Salinitätund lecithotrophe Larvenentwicklung – lie-ferten die Prädispositionen für die Besiedlungdes Süßwassers. Diese geschah auf Jamaikavor etwa vier Millionen Jahren, gefolgt voneiner adaptiven Radiation. Mit der Anhebungder Gebirge entstanden unüberwindbare Bar-rieren zwischen Entwässerungssystemen, undes kam zur genetischen Isolation zwischenPopulationen. Heute kennen wir fünf ende-

    mische Fließgewässerarten [17]. Früh wurdenauch die Karsthöhlen und terrestrischen Ha-bitate in den Bergregenwäldern im Osten undWesten der Insel besiedelt (Abbildungen3 c–f). Da jedoch alle endemischen Artennoch zwei Larvenstadien besitzen, sind sieauch an Land auf Wasser für die Larvenent-wicklung angewiesen. Hier stehen nur kleineWasserkörper zur Verfügung – für die Bromelienkrabbe (Abbildung 6) etwa eineBromelienblattachsel mit im Mittel 240 mlRegenwasser, für die Schneckenkrabbe (S.jarvisi; Abbildung 3e) sogar nur 5 ml Wasserin den Häusern großer Landschnecken.

    Evolution des Soziallebens

    Bei den „terrestrischen“ Krabben – als Bei-spiel soll hier die Bromelienkrabbe dienen –tritt eine völlig neue Situation auf: Die Lar-venentwicklung findet im elterlichen Habitatstatt, die biotischen und abiotischen Bedin-gungen im Bruthabitat sind für die erstenEntwicklungsstadien ungünstig. Damit sinddie Nachkommen in Zeit und Raum für dieEltern verfügbar, und eine wichtige Grund-

    voraussetzung für die Evolution der Brut-pflege ist erfüllt. Die ungünstigen Aufwuchs-bedingungen für die Brut lieferten den ent-sprechenden Selektionsdruck.

    Brutpflege der Bromelienkrabbe

    Die Bromelienkrabbe (Metopaulias depres-sus) lebt ausschließlich in den regenwasser-speichernden Blattachseln großer Bromelienin den Bergregionen Zentral-Westjamaikas(Abbildung 6) [2]. Die Bromelie bietet ein

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    Abb. 6. Die Bromelienkrabbe, Metopauliasdepressus, lebt in den mit Regenwald be-deckten unzugänglichen Karsthügeln desCockpit Country (a). Hier sind große Bro-melien im Kronenbereich und am Waldbo-den sehr häufig. Die Krabbe bevorzugt dieendemischen Aechmea paniculigera (b), diebis zu 3 Liter Wasser in den Blattachselnspeichern. Die Larven entlässt das Weib-chen in eine vorbereitete Blattachsel, dieBrutachsel (c), dort betreibt die MutterBrutpflege an den Zoea-Larven und Jung-krabben (d).

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    günstiges Mikroklima, Nahrung und Wasserfür Atmung, Häutung und Fortpflanzung.Außerhalb der Bromelien sind die Krabbennur kurze Zeit lebensfähig. Die Weibchenverteidigen ihre Bromelie vehement gegenfremde Weibchen. Unter mehr als tausendBromelien, die während der letzten Jahre un-tersucht wurden, fand sich keine einzige mitmehr als einem brütenden Weibchen.

    Bromelienkrabben erledigen üblicherweisealle essenziellen Lebensfunktionen auf derPflanze, ausgenommen die Wanderungenvom Geburtsort auf der Suche nach einer ei-genen Bromelie und – im Falle der Männchen– auf der Partnersuche. Wie große Trichtersammeln Bromelien in ihren bis zu 25Blattachseln Regenwasser. Im Frühjahr, kurzvor der „kleinen Regenzeit“, entlassen dieKrabbenweibchen je nach Körpergröße (13bis 20 mm Carapaxbreite) etwa 15 bis 90 Lar-ven in eine dieser Blattachseln – die „Brutach-sel“. Die Zoea-Larven sind lecithotroph undkönnen sich ausschließlich von ihren Dotter-vorräten ernähren. Sie entwickeln sich überzwei Zoea- und ein Megalopa-Stadium inner-halb von nur 13 bis 15 Tagen zu Jungkrabben,die nun Nahrung aufnehmen müssen, um zuwachsen [5].

    Tatsächlich konnte bei der Bromelienkrabbeeine außergewöhnliche Brutpflege nach-gewiesen werden [2–5]. Über einen Zeitraumvon etwa drei Monaten schützt die Mutterihre Larven und Jungen vor Räubern, wieräuberische Larven der Schlanklibelle, Dice-ratobasis macrogaster, sowie verschiedeneSpinnen, und versorgt sie mit Nahrung, diesie erjagt und in die Brutachsel zu den Jungenträgt. In Freilandexperimenten wurde nach-gewiesen, dass die Brutpflege der Mutter dieÜberlebenschancen der Larven und Jung-krabben und das Wachstum der Jungkrabbenerheblich verbessert [3, 5].

    Besonders ungünstig für Krebse erscheinendie physiko-chemischen Bedingungen in denBlattachseln. Zusätzlich zum Regenwassersammeln sich Blätter, Blüten und Früchte, dieaus dem Kronendach herabfallen (Abbildung7a). Dieses organische Material wird vonaquatischen Makro- und Mikroorganismenabgebaut, wodurch Huminsäuren und CO2erzeugt sowie Sauerstoff verbraucht werden.Das Wasser in den Blattachseln ist daher miteinem pH-Wert von 4,8 sauer, hat einen sehrhohen CO2-Gehalt mit 50 bis 60 mg pro Liter, und der Sauerstoffgehalt sinkt in derNacht auf nur 15 % Sättigung. Das Regen-

    wasser ist außerdem arm an Ionen, die Ach-seln enthalten im Mittel nur 4 mg Kalziumpro Liter.

    Laborexperimente zeigen, dass die Larven füreine erfolgreiche Entwicklung bis zur Meta-morphose mindestens einen pH-Wert von5,2, einen Sauerstoffgehalt von mehr als 17 %und einen Kalziumgehalt von 9,6 mg pro Liter (berechnet für 50 Larven in einer Brut-achsel von 240 ml) benötigen. Besonderswichtig für Krebse ist das Verhältnis zwi-schen Kalziumgehalt und pH-Wert, da nachder Häutung Kalzium aus dem Wasser zumAufbau des Panzers benötigt wird, und dieser biochemische Prozess nur unter relativpH-neutralen Bedingungen ungestört ab-läuft.

    Mikrolimnologische Untersuchungen anBrutachseln mit Larven ergaben jedoch über-raschend günstige Bedingungen bei einempH-Wert von 6,8, weniger als 40 mg CO2 proLiter, mehr als 33 % Sauerstoffsättigung und13 mg Kalzium pro Liter (Abbildung 8). Wiekommt es zu dieser erheblich verbessertenWasserqualität? Feldexperimente und -be-obachtungen lösten das Rätsel: Die Krabben-mutter manipuliert die Wasserqualität. Bevorsie die Larven in eine Blattachsel entlässt, ent-fernt sie angesammeltes Laub und anderes or-

    ganisches Material und schafft somit einenfreien Wasserkörper (Abbildung 7b). Nachtsfördert die Mutter den Gasaustausch (O2,CO2), indem sie untergetaucht mit ihren Scaphognaditen (Atemwasserpumpe) einenkräftigen Atemwasserstrom erzeugt. DieseManipulationen resultieren in einer deutlichhöheren Sauerstoffkonzentration (Abbildung8).

    Außergewöhnlich ist die Methode, mit derdie Mutter den pH-Wert und Kalziumgehaltdes Wassers in der Brutachsel verbessert. Sie trägt Landschneckenhäuser ein (Abbil-dung 7c)! In einer Brutachsel wurden bei-spielsweise 14 Schneckenhäuser gefunden.Diese bestehen hauptsächlich aus Kalzium-karbonat (CaCO3), das im sauren Milieu dis-soziiert und einerseits den pH-Wert von 4,8auf 6,8 abpuffert, andererseits den Kalzium-gehalt im Wasser erhöht [5]. Experimente ha-ben gezeigt, dass Mütter die Wasserqualitätder Brutachsel sogar regulieren und mehrCaCO3 eintragen, wenn der Kalziumgehaltund pH-Wert experimentell erniedrigt wur-den [7].

    Nach etwa drei Monaten endet diese intensi-ve Brutpflege und die Jungkrabben, die jetzteine Carapaxbreite von 3–4 mm haben, ver-teilen sich über die Achseln der Bromelie.

    Endemisch: beschreibt das Vorkommenvon Tier- und Pflanzenarten, die beschränktauf ein natürlich abgegrenztes Gebiet sind,zum Beispiel eine Insel, einen Gebirgszugoder Flusslauf.

    Transisthmisch: durch die Schließung derengen Landbrücke (= Isthmus) zwischenNord- und Südamerika vor 3,1 Mio. Jahrenwurde plötzlich der Genaustausch zwi-schen den pazifischen und atlantischenMeeresbewohnern unterbrochen. Küsten-bewohnende Krabbenarten mit einer Lar-venentwicklung im marinen Plankton ent-wickelten sich von nun an genetisch isoliertan den beiden gegenüberliegenden Küstendes Isthmus.

    Adaptive Radiation: rasche, fortgesetzteArtaufspaltung bei der Neuerschließungvon Habitaten mit einer Vielzahl ökologi-scher Lizenzen.

    Eulitoral: der Teil des Meeresufers der un-ter dem Einfluss der Gezeiten liegt.

    Zoea und Megalopa: die Krabbenentwick-lung beginnt mit der Embryonalentwick-lung im Ei; aus dem Ei schlüpft eine Larve,die sich bei marinen Arten meist im Plank-ton der Meere entwickelt. Diese Larven-form wird bei den Kurzschwanzkrebsen(Brachyura) als Zoea bezeichnet. Meist tre-ten drei, vier und mehr Zoea-Stadien auf,worauf ein Megalopa-Stadium und an-schließend das Juvenil-Stadium folgt. Obdas Megalopa-Stadium noch als letztes Lar-venstadium anzusehen ist, ist kontrovers,augenfällig entspricht jedoch die Häutungder Zoea zu einer Megalopa einer Metamor-phose.

    Carapax: das Rückenschild, bzw. derRückenpanzer der Krabben.

    Glossar

  • Biologie in unserer Zeit / 30. Jahrg. 2000 / Nr. 3

    Lebensräume – Lebensformen

    Gründung von Kolonien

    Die Bromelienkrabbe lebt in einem günstigenMikrohabitat oder Nest, wo sie als größereJungkrabbe und Adulte relativ sicher vorRaubfeinden ist und dessen Schutz sie zurNahrungssuche nicht verlassen muss. Fernerbetreibt sie eine langandauernde Brutpflege.Diese Eigenschaften fördern nach Alexanderet al. [1] die Evolution von Eusozialität. DieKriterien für Eusozialität sind

    ● überlappende Adultgenerationen,

    ● reproduktive Arbeitsteilung,

    ● kooperative Brutpflege und

    ● Kastenbildung.

    Tatsächlich ist bei der Bromelienkrabbe eineSozialitätsstufe evolviert, die bisher einzigar-tig unter den dekapoden Krebsen ist [9]. Bro-melienkrabben leben in Kolonien, die aus 90und mehr Individuen bestehen können (Ab-bildung 9) und die Koloniemutter mit ihrenNachkommen aus bis zu drei sukzessivenBruten enthalten. Jungtiere wandern erst spät– mit 8–9 mm Carapaxbreite – aus ihrer Ge-burtsbromelie ab, viele jedoch gar nicht.

    Die Chance, erfolgreich eine neue Kolonie zugründen, ist gering, das Mortalitätsrisiko beider Abwanderung ist hoch, und die großenBromelien der endemischen Aechmea panicu-ligera, die für eine Kolonieneugründung be-vorzugt werden, sind in der Regel schon be-setzt. Viele Jungkrabben bleiben folglich auf

    144

    Abb. 7. (a) In den Blattachseln der Bromeli-en sammeln sich neben Regenwasser auchLaub und andere Pflanzenteile. Diese wer-den von aquatischen Organismen (Pro-tozoen, Oligochaeten, Copepoden, Ostra-coden usw.) abgebaut, wodurch sich dieWasserqualität (niedriger pH-Wert undSauerstoffgehalt, hoher Kohlendioxidge-halt) erheblich verschlechtert. Eine wich-tige Brutpflegemaßnahme der Mutter ist,dass sie die Brutachsel ständig von Pflan-zenteilen säubert. (b) Von einem Weibchenin einer Nacht aus einer Brutachsel ent-fernte Pflanzenteile. Dagegen werden vonder Mutterkrabbe leere Gehäuse von Land-schnecken in die Brutachsel eingetragen (c),um den pH-Wert des Brutachselwassers ab-zupuffern und Kalzium für die Häutungder Jungen bereitzustellen.

    a

    b

    c

  • Jamaikanische Felsenkrabben

    Biologie in unserer Zeit / 30. Jahrg. 2000 / Nr. 3

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    ihrer Geburtsbromelie. In 21 % der Kolonientreten neben der Mutter noch weitere adulteKrabben auf, bei denen es sich sehr wahr-scheinlich um Nachkommen der Mutter han-delt, darunter adulte β-Weibchen (Abbildung9), sehr wahrscheinlich Töchter der Kolonie-mutter. Dies wird derzeit anhand molekular-genetischer Analysen untersucht.

    Ab einer Körpergröße von etwa 13 mm Ca-rapaxbreite sind Weibchen adult und poten-ziell fortpflanzungsfähig. Der Vergleich zwi-schen β-Weibchen in einer Kolonie mit Kolo-niemutter mit gleich großen Weibchen, diealleine beziehungsweise ohne Koloniemuttersind, zeigt, dass β-Weibchen nie brüten, wo-gegen etwa 50 % der gleichgroßen „Einzel“-Weibchen brüten. Demnach treten bei derBromelienkrabbe überlappende Adultgenera-tionen und nicht-reproduktive Adulttiere inder Kolonie auf.

    Da die Jungkrabben mehr als ein Jahr auf derGeburtsbromelie bleiben, ergibt sich die Gelegenheit zu altruistischem Verhalten derälteren Geschwister zugunsten der Kolonie

    und der Brut. Experimente liefern Hinweisedafür, dass ältere Koloniemitglieder bei derKolonieverteidigung gegen eindringendefremde Artgenossen und bei der Brutpflegehelfen. In einem einmonatigen Freilandexpe-riment mit Kolonien ohne Koloniemutter (siewurden entfernt) konnte beispielsweise einedeutlich positive Beziehung zwischen derAnzahl älterer Geschwister in der Kolonieund der Zunahme an Gesamtbrutgewichtnachgewiesen werden [9]. Anzeichen für eineKastenbildung ließen sich jedoch bei M.depressus nicht nachweisen.

    Damit liegt bei der Bromelienkrabbe eine fürKrebse ungewöhnliche Brutpflege und be-achtlich hohe soziale Organisation vor. Be-merkenswert ist auch die intensive Brutpflegeder nahe verwandten Schneckenkrabbe, Sesarma jarvisi [6]. Bei beiden Arten spieltenökologische Faktoren eine entscheidendeRolle in der Evolution des Sozialverhaltens.

    Die jamaikanischen Felsenkrabben bieten ei-nen Einblick in eine bemerkenswerte undaußergewöhnliche Evolutionsgeschichte un-

    ter den Krebsen: In ungefähr vier MillionenJahren evolvierten gewöhnliche, marineKrabben in Bezug auf ihre Ökologie, Brut-pflege und Sozialität zu den außergewöhn-lichsten Vertretern der Zehnfußkrebse.

    Zusammenfassung

    Zehnfußkrebse zählen zu den letzten derTiergruppen, die das Land besiedelten. Dieserbedeutende Evolutionsschritt ereignete sichmehrfach unabhängig in den Tropen undSubtropen und führte zu konvergenten An-passungen in der Lebensgeschichte, beispiels-weise zur Produktion großer, dotterreicherEier. Eine Langzeitstudie an den Felsenkrab-ben der Karibikinsel Jamaika hilft jetzt dasGeheimnis des Landgangs der Krabben auf-zuklären; sie erbrachte neue Erkenntnisse zurBesiedlungsgeschichte, Evolution der abge-leiteten Lebensgeschichte, zum Brutpflege-verhalten und zur Sozialität der Krabben.Molekulargenetische Untersuchungen bewei-sen, daß die neun endemischen Jamaika-Krabben der Familie Sesarmidae von einemmarinen Vorfahr abstammen, der die Inselvor etwa vier Millionen Jahren besiedelte.Auf die Kolonisation folgte eine intensiveArtaufspaltung und ökologische Spezialisie-rung (adaptive Radiation). Unsere Untersu-chungen zeigen, daß der entscheidende ersteSchritt an Land durch Verlagerung der Lar-venentwicklung vom marinen Plankton in re-lativ isolierte, ephemere Brackwassertümpelerfolgte. In diesen Tümpeln konnten dieKrabben wichtige Voraussetzungen für einenachfolgende Besiedlung des Süßwassers er-werben – die verkürzte, lecithotrophe Lar-venentwicklung. Mit dem Vordringen in ter-restrische Habitate besiedelten die KrabbenHabitate mit Kleinstgewässern, die jetzt zurKinderstube für Larven und Jungkrabbenwurden, beispielsweise die Häuser großerLandschnecken und die Blattachseln vonBromelien gefüllt mit Regenwasser. Die Lar-ven entwickeln sich damit in unmittelbarer

    a

    b c

    Abb. 8. Physiko-chemische Bedingungen inBromelienblattachseln. Verglichen werdengewöhnliche Blattachseln und die Brutach-seln. Nach Laboruntersuchungen ent-wickelt sich eine Brut nur dann erfolgreich,wenn die Bedingungen jeweils außerhalbdes schraffierten Bereichs liegen. (a) Tages-gang der Sauerstoffsättigung (Mittelwerte);Median und Interquartile des pH-Werts (b)und Kalziumgehalts.

  • Biologie in unserer Zeit / 30. Jahrg. 2000 / Nr. 3

    Lebensräume – Lebensformen

    Nähe der Mutter. Hoher Räuberdruck, Nah-rungsmangel und ungünstige abiotische Be-dingungen für die Larven und Jungen förder-ten bei Arten, wie der Schneckenkrabbe, Se-sarma jarvisi, und der Bromelienkrabbe,Metopaulias depressus, die Evolution einesaußergewöhnlichen Brutpflegeverhaltens. Soüberwacht und manipuliert beispielsweise dieBromelienkrabbenmutter den Säure- undKalziumgehalt des Wassers in der Achsel mitder Brut. Das gesamte Leben der Bromelien-krabben findet auf Bromelien statt, und dieökologischen Besonderheiten dieser Lebens-form fördern eine außergewöhnlich hohe so-ziale Organisation, vergleichbar der koopera-tiv brütender Vertebraten.

    The exiting evolution of the lifehistory of Jamaican crabs

    The Decapoda are among the animal groupsthat most recently colonised land. This im-portant evolutionary step occurred several

    times independently in the tropics and sub-tropics and produced convergent adaptationsin the life history, for example the productionof large, yolk-rich eggs. A long term study onthe rock crabs of the Caribbean Island Jamai-ca, now helped to solve the puzzle of the ter-restrial invasion of crabs by providing newinformation on the colonisation, evolution ofa derived life history, parental care and soci-ality of the crabs. Molecular genetic analysesproved that the nine endemic Jamaican crabspecies of the family Sesarmidae derive from amarine ancestor that colonised Jamaica about4 million years ago. The colonisation was fol-lowed by an intense speciation and ecologicalspecialisation (adaptive radiation). Our re-search showed that the first step onto landoccurred with a shift of the larval develop-ment from the marine plankton into relative-ly isolated brackishwater pools. In thesepools, the crabs could acquire important pre-dispositions for a subsequent colonisation of fresh water, e. g. an abbreviated and

    lecithotrophic larval development. With afurther advancement into terrestrial habitats,the crabs colonised habitats with small aggre-gations of water that became nurseries for lar-vae and juveniles, for example the shells oflarge land snails and leaf axils of bromeliadplants filled with rain water. The larvae there-by develop in the vicinity of the mother.High predation risk, scarce food resources,and unfavourable abiotic conditions for thelarvae and the young triggered in species likethe snail crab, Sesarma jarvisi, and in the bro-meliad crab, Metopaulias depressus, the evo-lution of an outstanding parental care. Thebromeliad crab mother, for example, doescontrol and manipulate the acidity and calci-um content of the water in the leaf axil withthe brood. Bromeliad crabs live most of theirlife on a single bromeliad plant, and the cha-racteristics of such a life supported a remark-able social organisation, comparable withcooperative breeding vertebrates.

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    146

    Abb. 9. Beispiel einer Bromelienkrabbenkolonie. (Oben rechts) Die Koloniemutter als ein-ziges reproduktives Weibchen (Carapaxbreite 20 mm). Bromelienkrabben brüten nur ein-mal im Jahr; diese Kolonie enthält mindestens 2 Bruten. „Brut 1“ sind Jungkrabben ausdem Vorjahr. „Brut 2“ ist die letzte, etwa 2–3 Monate alte Brut. (Oben links) Nicht-repro-duktives adultes Weibchen (ββ-Weibchen, 14 mm), sehr wahrscheinlich die Tochter der Ko-loniemutter.

  • Jamaikanische Felsenkrabben

    Biologie in unserer Zeit / 30. Jahrg. 2000 / Nr. 3

    147

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    Zu den Autoren

    Rudolf Diesel, geb.1952. Studium derWirtschaft und Be-triebstechnik, Ingeni-eur bei IBM, Studiumder Biologie in Saar-brücken und Freiburg,Promotion 1985, Ha-bilitation 1994. Von1982 bis 1990 amMax-Planck-Institutfür Verhaltensphysio-

    logie in Seewiesen. 1990 bis 1997 Hoch-schulassistent und Privatdozent an der Uni-versität Bielefeld und 1997 bis 1999 wiss. Mit-arbeiter am MPIV in Seewiesen. Zur Zeitfreier Wissenschaftler am MPIV und Film-produzent. Spezialgebiete: Verhaltensökolo-gie, Ökophysiologie, Paarungssysteme undEvolution der Lebensgeschichte bei Crusta-ceen; langjährige Forschungserfahrung imAusland, insbesondere Karibik.

    Christoph D. Schu-bart, geb. 1966. Stu-dium der Biologie inFreiburg und Seattle(USA). Promotion1997 in Bielefeld. Von1997 bis 1999 Post-doktorand an der Uni-versity of LouisianaLafayette (USA) und

    zur Zeit an der National University of Singa-pore. Spezialgebiet: Evolution, Phylogenieund Biogeographie von limnischen und mari-nen Crustaceen mit dem Schwerpunkt Land-besiedlung und adaptive Radiationen in denTropen.

    Anschriften

    Priv. Doz. Dr. Rudolf Diesel, AbteilungWickler, Max-Planck-Institut für Verhaltens-physiologie, D-82305 Seewiesen.

    Dr. Christoph D. Schubart, Lehrstuhl fürVerhaltensforschung, Universität Bielefeld,Postfach 10 01 31, D-33501 Bielefeld.