Die Autorin - forever.ullstein.de · Forever by Ullstein forever.ullstein.de In diesem E-Book...

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Die AutorinClaudia Balzer, Jahrgang 1987,wuchs vor den Toren Dresdensauf, wo sie noch heute mitMann, Kind und zwei Katzenlebt. Schon im zarten Alter vonfünfzehn Jahren hat sie sich inden Kopf gesetzt, ein Buch zuveröffentlichen, bevor sie drei-ßig wird. Dass sie ihr Ziel sogardeutlich vor ihrem dreißigstenGeburtstag erreicht hat, ver-dankt sie nicht nur einem aus-

geprägten Hang zur Nachtaktivität, sondern vor allem ihremLieblingsgetränk: Kaffee.

Das BuchSie war immer seine Wendy und er ihr Peter Pan. Bis zu jenerNacht vor vier Jahren, die alles veränderte. Als es plötzlichmehr war, als ihre Freundschaft einen Knacks bekam. Seitdemhaben sie sich nicht mehr gesehen. Olivia hat alle Brückenhinter sich abgebrochen, sich ein neues Leben fern der Heimatin Berlin aufgebaut. Und dann trifft sie Alex doch wieder, aufder Hochzeit ihrer Schwester. Nichts von der alten Vertraut-heit ist verflogen und Alex sieht besser aus denn je. Aber Oliviatraut weder ihm, noch sich selbst. Ein weiteres Mal kann sieden Schmerz nicht verkraften. Bei Forever sind von Claudia Balzer erschienen:»Burn for Love - Brennende Küsse«»Flying Hearts - Rückkehr ins Nimmerland« Forever. Lesen, lieben, träumen!

Claudia Balzer

Flying HeartsRückkehr ins Nimmerland

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

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Originalausgabe bei Forever.Forever ist ein Digitalverlag

der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinFebruar 2016 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016

Umschlaggestaltung:ZERO Werbeagentur, München

Titelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privat

ISBN 978-3-95818-081-9

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Für Niels,meinen ganz persönlichen Peter Pan.

PROLOG – TRÄUME SINDSCHÄUME

Meine langen, karamellbraunen Haare fallen in mein Gesichtund ich streiche sie schnaubend hinters Ohr zurück. Ich bin daseinzige Mädchen in unserem Klassenzimmer der zweiten Klas-se. Ich bin die Einzige überhaupt in diesem Raum. Die Tränenbrennen auf meiner geröteten Haut. Sie laufen über meineWangen, als würde es sie gar nicht interessieren.

Ich hasse Fasching!Ich hasse mein Kostüm!Ich hasse Basti, Tim und Kurt!Mein Kleid ist doch kein Nachthemd. Es ist meine Verklei-

dung. Die ständigen Hänseleien der Jungs haben mich vomPausenhof verjagt und wollen einfach nicht aus meinem Kopf.Bisher hat niemand nach mir gesucht.

»Wendy?«, fragt jemand hinter mir und ich halte erschro-cken den Atem an. Ich kenne die Stimme nicht. Mit meinemHandrücken wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht undschniefe ein letztes Mal, bevor ich mich ihm zuwende. Die

Frage kann nur an mich gerichtet sein. Es ist niemand imZimmer.

Vor mir steht ein Junge, den ich noch nie gesehen habe unddoch bewundere ich ihn schon lange.

Peter Pan.Seine grünen Augen sind auf mich gerichtet. Sein Lächeln ist

schief und er fährt sich mit der Hand durch sein kurzes, dun-kelblondes, beinahe braunes Haar. So zerzaust wie seine Haaresind, scheint es ein Tick von ihm zu sein. Sein grüner Filzhutfällt dadurch zu Boden. Eine rote Feder löst sich vom Hut. Erflucht leise, als er das sieht, und sein Lächeln ist verschwunden.Ich hebe die zwei Teile auf und mit ein paar vorsichtigen Hand-bewegungen kann ich die Feder wieder befestigen. Bevor ich ihmdie Mütze reiche, seufze ich traurig. Eigentlich wollte ich michheute als Peter Pan verkleiden. Schweren Herzens reiche ich ihmden Hut. Wenigstens sieht der Junge so aus, wie ich mir PeterPan immer vorgestellt habe.

»Hier«, sage ich und sein Lächeln ist zurück, als er den Hutwieder aufsetzt. »Ich heiße gar nicht Wendy«, erkläre ich.

»Du weinst nicht mehr«, stellt er fest und ich nicke. MeineLippen ziert ebenfalls ein Lächeln. »Aber du bist als Wendyverkleidet, oder?«, fragt er mit geneigtem Kopf und verschränktdie Arme vor der Brust. Ich nicke nur. Seine Worte erinnernmich wieder an die Hänseleien und ich spüre, wie mir die Rötein die Wangen steigt.

»Also bist du heute eine Wendy und ich Peter Pan«, erklärter, als wäre es so offensichtlich einfach.

»Okay«, sage ich und zucke mit den Schultern.»Erzählst du mir jetzt, warum du geweint hast?«, fragt er. Er

legt seinen Zeigefinger nachdenklich an seine Lippen. Plötzlichschnippt er mit den Fingern und ruft: »Warte, hat Hook dir wehgetan?« Er schließt die letzte Distanz zwischen uns und nimmtmeine Hände in seine. Er hebt meine Arme an und mustert mich

aus allen Blickwinkeln. Sein Gesicht ist dabei so ernst, dass ichkichern muss.

»Nein«, sage ich schließlich. »Ein paar Jungs haben mich we-gen meines Kostüms geärgert. Du bist der erste, der mich alsWendy erkannt hat. Sie sagen, ich trage mein Schlafzeug zurSchule. Weißt du, eigentlich wollte ich mich als Peter Pan ver-kleiden, doch meine Mutter war dagegen«, erkläre ich ihm ineinem Atemzug.

»Du siehst aber gut aus in Blau und ich habe keine Wendy.Stell dir vor, wir hätten darum kämpfen müssen, wer der besserePeter Pan ist.« Ich kichere abermals.

Der Junge zückt sein Holzschwert und hält es in der rechtenHand. Mit der anderen greift er nach meiner. Er hält dasSchwert empor und ruft: »Zeig mir diese bösen Jungs und ichwerde sie mir vorknöpfen!« Er zieht mich hinter sich her, nochehe ich ihm antworten kann.

»So, wo sind sie?«, fragt er an mich gewandt, als wir auf demHof ankommen. Ich lasse meinen Blick über das Geländeschweifen und finde sie schnell unter einem kleinen Spielpavil-lon. Ich deute auf sie und Peter Pan lässt meine Hand los, alser mit Gebrüll auf sie zustürmt.

Ich kann gar nicht so schnell schauen, da liegen alle vier be-reits am Boden und wälzen sich im Sand hin und her. Manerkennt nur schwer, welcher Arm und welches Bein zu wemgehört. So eine Schlägerei hat der Schulhof wahrscheinlich nochnicht gesehen. Schaulustige Kinder versperren mir den Blickund bilden eine Traube um die Jungs. Ich verliere den Überblick,aber das Lachen von Peter Pan ist klar herauszuhören. Erscheint sich gut zu schlagen. Bald gehen ein paar Lehrer da-zwischen und trennen die vier. Die Erwachsenen nehmen siemit in das Schulgebäude.

Peter Pan sieht sich suchend um und als er mich entdeckt,grinst er und zwinkert mir zu, bevor die Tür hinter ihm zufällt.

Ich sehe keinen der vier noch einmal an diesem Tag. Ich frageein paar aus meiner Klasse, doch niemand kann mir sagen, werdieser fremde Junge ist.

Am nächsten Tag staune ich nicht schlecht, als die drei bösenJungs – Tim, Kurt und der Schlimmste von ihnen, Basti – sichmit gesenkten Häuptern bei mir entschuldigen. Ich staune auchüber ihr Aussehen: der Eine hat ein blaues Auge, der Andereeine verschrammte Wange und der Dritte trägt einen Verbandum das linke Handgelenk. Peter Pan hat ordentliche Arbeit ge-leistet. Wie viel er wohl abbekommen hat? Ob es ihm gut geht?

Noch immer baff von der Entschuldigung eile ich bereits spätzu meiner nächsten Stunde, als sich eine Hand auf meine Schul-ter legt. Ich wende mich demjenigen zu und grinse, als PeterPan, diesmal ohne sein Kostüm, vor mir steht. Er grinst micherleichtert an und seine Augen funkeln in dem unnatürlichenLicht des Schulflures.

»Wendy! Da bist du endlich! Haben die verlorenen Jungs sichbei dir entschuldigt?«, fragt er lächelnd und ich nicke ihmstumm zu. Der Junge hat praktisch keinen Kratzer von gesternbehalten.

»Hast du deine Stimme verloren?«, fragt er weiter und legtseinen Kopf wieder schräg. Ich schüttelte verneinend den Kopf.

»Warum hast du das gemacht?«, frage ich, statt ihm auf eineseiner Fragen zu antworten.

»Warum habe ich was gemacht?«, fragt der Junge lachend.»Warum hast du das für mich gemacht? Du kennst mich

nicht mal«, erkläre ich meine Frage.»Weil du Wendy bist und ich Peter Pan. Ich darf dich nicht

weinen lassen. Ich muss dich beschützen«, erklärt er beschwingt,als wäre es doch offensichtlich.

»Ich bin dein Peter Pan und du meine Wendy. Ab jetzt wirstdu nie wieder weinen müssen.« Sein Tonfall macht mir deutlich,dass es ihm ernst ist.

»Aber dein Name ist doch nicht wirklich Peter, oder?«, frageich. Der Junge lacht und streckt mir seine Hand entgegen.

»Ich bin Alex und seit gestern neu hier an der Schule.«»Olivia«, stelle ich mich ihm schmunzelnd vor. Wie es aus-

sieht, habe ich endlich einen Freund gefunden – und das Besteist, er scheint genauso sonderbar zu sein wie ich selbst.

»Wendy steht dir viel besser«, sagt er. Wir zucken zusammen,als die Schulglocke ertönt.

»Woah, komm, Wendy. Ich will dich nicht schon am erstenTag vor dem Lehrerkrokodil retten müssen. Die Uhr tickt.« Erschnappt sich meine Hand und gemeinsam rennen wir lachendzum Unterrichtsraum.

»Mein Name ist Olivia, nicht Wendy«, rufe ich ihm im Ren-nen zu. Alex schaut über die Schulter zu mir und trägt einschelmisches Grinsen auf den Lippen.

»Ich weiß.«Zehn Jahre wird er sein Versprechen halten und jegliche Trä-

nen von mir fernhalten.

Frustriert stöhnend öffne ich meine Augen nach diesemTraum. Es ist eine meiner schönsten und schrecklichsten Er-innerungen zugleich. Dieses verdammte Unterbewusstseinlässt mich nicht mehr davon abkommen! Ich schlage die Faustin mein Kissen und muss den Impuls unterdrücken etwasZerbrechliches gegen eine Wand zu schmeißen. Ich drehemich auf den schweißnassen Rücken und warte, dass meinHerz sich wieder beruhigt. Der Stadtlärm dringt gedämpftdurch mein Schlafzimmerfenster. Im Licht der Straßenlater-nen tanzen neue Schneeflocken am Glas vorbei. Am Randsetzen sich bereits kleine Schneeberge fest. Ich würde michdarüber freuen, wenn nicht schon wieder dieser Traum wäre.

Olive an Hirn: Es reicht!

Seit Tagen träume ich jede Nacht von unserer ersten Be-gegnung, als wir acht Jahre alt waren. Eigentlich ab dem Tag,als ich die Einladung meiner Schwester zur Hochzeit im Maiin den Händen hielt. In knapp sechs Monaten zählen keineAusreden mehr. Ich werde in unser kleines Dorf zurückkeh-ren. Seit ich in Berlin studiert habe, vermeide ich jeglichenHeimatbesuch. Doch den Ehrentag meiner Schwester kannich beim besten Willen nicht ignorieren – zumal ich die Trau-zeugin bin. Ich könnte es natürlich versuchen, doch dannkönnte ich ebenfalls meine Beerdigung organisieren. Milenaund Damian köpfen mich, wenn ich nicht zur Hochzeit er-scheine. Ich glaube, bei ihnen zählt nicht mal Lepra als Ent-schuldigung. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass sie ihreFeier nach Berlin verlegen.

Eins der überflüssigen Extrakissen kommt mir zwischen dieFinger und ich presse es mir über das Gesicht. Mit beidenHänden drücke ich es an mich, damit das Kissen meinenFrustschrei dämpft. Jede Straße, jeder Weg und jede Ecke zuHause erinnern mich an ihn und unsere Freundschaft. Soweitich weiß, ist er auch weggezogen. Ich hoffe, dass wir uns nichtüber den Weg laufen werden. Was jedoch die VerlorenenJungs nach dem Studium gemacht haben, weiß ich nicht. Fallssie wieder in unserem Dorf leben und wir uns sehen solltenund sie mich nicht bereits hassen, dann wollen sie sicher wis-sen, warum seit meinem Wegzug vor über vier Jahren Funk-stille herrscht. Noch heute greife ich automatisch nach demTelefon und will Basti anrufen, wenn mein Computer streikt.Wenn ich einen neuen guten Club entdecke, denke ich anKurt, und ich kann keine Horrorfilme mehr sehen, weil ichTim dann zu sehr vermisse. Doch ihr bester Freund ist Alex.Damit sie sich nicht gezwungen fühlen, sich zwischen mir undihm zu entscheiden, habe ich ihnen die Qual der Wahl abge-

nommen. Ich bin keine Frau, die Männerfreundschaften zer-bricht.

Ich hasse Alex nicht.Ich habe es verzweifelt versucht. Doch mit keiner Zelle

meines Körpers bin ich dazu fähig, und das macht mich nochwütender auf ihn. Alex hat sein Versprechen zehn Jahre ge-halten. Zehn Jahre habe ich keine Träne vergossen. Erst seitmir das Herz in tausend kleine Scherben zersprungen ist undich monatelang am Stück nur geweint habe, weiß ich, wasHerzschmerz und Verlust bedeutet.

Letztendlich ist Peter Pan wie jeder andere Mann und hatseine Wendy dem Erwachsensein überlassen, um selbst solang wie möglich Kind bleiben zu können.

1. DAS KAPITEL, IN DEMMEINE SCHWESTER

WAHRHEITENVERSCHWEIGT

Olivia

»Olivia Richter«, seufzt Milena und mustert mein Auftretenmissbilligend von Kopf bis Fuß. »Noch legerer ging es nicht,oder?«

Ich schnaube, aber grinse meine Schwester an. Einen sowarmen Empfang habe ich wirklich nicht erwartet. Doch ichlasse mir meine gute Laune nicht nehmen.

»Hallo Leni, ich hab dich vermisst«, sage ich, ihre Begrü-ßung ignorierend, und umarme sie fest. Ich atme sie tief ein.Obwohl sie und Damian mich oft in Berlin besuchen, fehlt siemir jeden Tag. Sie riecht noch immer wie meine großeSchwester, meine Lebensberaterin, meine Standpaukenhalte-rin. Gott, sie kann so nervtötend sein, aber sie ist meineSchwester und neben meiner besten Freundin wohl die Ein-zige, die mich wirklich kennt und immer unterstützt. Milenaerwidert meine Umarmung heftig und ich muss schmunzeln.

»Ich nehme an, du hast mich ebenfalls vermisst?«, frage ich,als wir uns trennen und sie mich in ihre Wohnung lässt.

»Natürlich habe ich dich vermisst, genauso wie Mama undPapa«, sagt sie und den letzten Teil fast zu beiläufig. Ich verdr-

ehe die Augen und hänge meine schwarze Tasche an ihreGarderobe. Ihre Wohnung ist groß und einladend. Die helleEinrichtung passt zu ihr.

»Leni, ich bin erst vor einer Stunde angekommen. Ich habeim Hotel eingecheckt und bin dann auf direktem Weg hierher. Mein Kinderzimmer wird nun mal von Tante Betty be-lagert. Die Zeit hat es noch nicht hergegeben, sie zu besuchen.Da es dir so wichtig ist, dass ich Damians Trauzeuge unbedingtheute kennenlerne, bin ich erst hergekommen. Ich wäre auchlieber bei unseren Eltern. Ich vermisse sie wirklich. Stell michnicht immer so herzlos hin.«

Diese Diskussion führen wir bei jeder unserer Begegnun-gen. Ich liebe meine Familie! Keine Frage. Doch ich bin derSonderling und das schwarze Schaf. Ich liebe es, kreativ zusein. Bücher, reisen, schreiben – das ist meine Leidenschaft.Meinen Eltern und Großeltern fehlt dafür das Verständnis.Sie selbst sind fleißige Arbeiter. Als Freiberufler zu leben, be-sonders im künstlerischen Bereich, ist ihnen finanziell zuunsicher. Sie sind der Überzeugung, dass Autoren, Maler oderMusiker zu unbeständig sind und sich nur zu fein vorkommenfür wirkliche Arbeit. Sie glauben bis heute, dass mich der Ver-lag, in dem ich während des Studiums als Praktikantin gear-beitet habe, übernommen hat. Sie nehmen es einfach alsgegeben hin, und ich habe dieses Missverständnis nie aufge-klärt. Wir leben alle friedlicher, wenn ich sie in diesem Glau-ben lasse.

»Eigentlich ist Damian so versessen darauf, dass du seinenTrauzeugen so schnell wie möglich kennenlernst. Mir wäre esauch recht, wenn du ihn erst im Standesamt siehst. Ich hättemir nur gewünscht, du hättest etwas Schickeres getragen«,sagt sie seufzend, mit einem merkwürdigen Blick, den ichnicht zu deuten vermag. Meine fragend erhobene Augenbraueignoriert sie.

»Keine Angst, wenn ich als Trauzeugin neben dir stehe,trage ich ein todschickes Kleid«, versichere ich ihr. »Es ist dochegal, was der Typ von mir denkt. Es ist ja nicht so, dass ichnach einem Mann für mich suche.«

»Sag das Damian«, murmelt sie auf dem Weg ins Wohn-zimmer und ich stöhne genervt auf.

»Was? Will er mich verkuppeln? Leni! Er soll das lassen. Ichwill keinen Typen an der Backe haben!«, rufe ich aufbrausend.Leni hebt abwehrend ihre Hände.

»Mir ist das bewusst, mach dir keine Gedanken«, beruhigtsie mich. »Obwohl ich glaube, dass er dich umhauen wird«,murmelt sie kaum hörbar und betrachtet intensiv ihre Fin-gernägel.

»Was hast du gesagt?«, frage ich scharf nach und Milenaschaut ausweichend zur Decke.

»Nichts, nichts. Kaffee? Damian und sein Trauzeuge müss-ten auch bald kommen.« Ohne meine Antwort abzuwarten,macht sie kehrt und geht in die Küche. Ich folge ihr.

»Seit wann sage ich nein zu Kaffee? Und warum sagst duimmer Trauzeuge zu dem Kerl und nie seinen Namen? Magstdu ihn nicht?«, frage ich neugierig, denn ich weiß nur, dassder Trauzeuge ein Studienkollege von Damian ist und wohläußerst beliebt.

»Das hat keinen besonderen Grund«, sagt sie abwinkendund bereitet die Kaffeemaschine vor. Ich betrachte sie skep-tisch, doch Milena beschäftigt sich intensiv mit der Kunst desKaffeekochens. Ich lehne mich an die Küchenzeile neben ihr.

»Für die Hochzeit übermorgen ist alles organisiert, oderkann ich dir noch mit irgendwas helfen?«, versuche ich dasThema auf sie zu lenken.

»Eigentlich ja, aber –«, doch Leni unterbricht sich, als dieWohnungstür aufgeschlossen wird. Sie ist auf der Stelle nervösund tritt von der Arbeitsplatte weg. Ich stoße mich ebenfalls

ab, als sie auch noch beginnt ihre Hände ineinander zu win-den. Sie atmet tief durch und legt ihre Hände auf meineSchultern. Sie krallt ihre Finger schmerzhaft in meine Hautund sieht mich eindringlich an. Mein qualvolles Wimmernignoriert sie vollkommen.

»Hör zu, reiß dich jetzt verdammt noch mal zusammenoder ich erzähle nach der Hochzeit unseren Eltern, dass dugar keine Angestellte bist, sondern Freiberufler. Ich gebe ih-nen den Link zu deinem Blog und zeige ihnen jeden einzelnenArtikel, den du als freie Journalistin veröffentlicht hast, gleichnachdem ich ihnen gezeigt habe, wie man einen Rechner star-tet, verstanden? Versau mir nicht meine Hochzeit! Willst duden Ärger riskieren?«, faucht sie mich mit gedämpfter Stimmean. Ich schlucke schwer. Ich komme nicht mit. Was ist los?Ich versuche, über ihren Stimmungsumschwung zu lachen,doch es will mir nicht gelingen. Wann ist sie zu Brautzillamutiert?

»Bloß nicht! Aber was … Wieso drohst du mir?«, frage ichsie und rolle meine Schultern im Versuch, ihre Nägel aus mei-ner Haut zu bekommen. Irgendetwas stinkt hier gewaltig, undes ist nicht der Biomülleimer, neben dem ich stehe. Sie setztgerade zu einer Antwort an, doch die Worte bleiben ihr in derKehle stecken und ihr entfährt nur ein unterdrücktes Fiepen.Ihre Augen heften sich auf die Tür hinter mir.

Mit einem Schlag richte ich mich gerade auf und meinenLungen entweicht jegliche Luft. Meine gesamte Haut kribbeltund meine Nackenhaare stellen sich auf. Mir ist kalt und mirist heiß und mir ist wieder kalt. Es ist nicht nötig, mich um-zudrehen. Ich weiß genau, wer hinter mir steht. Sein Blickbohrt sich praktisch in meinen Hinterkopf. Seine Präsenzkonnte ich schon immer quer durch den Raum spüren, ein-fach, weil sie so lange ein selbstverständlicher Teil meinesLebens war.

»Hey, wen … ähm … Olivia?«, sagt er überrascht hintermir. Die Stimme, die ich unter tausenden ohne Mühe erken-nen würde. Der Klang erwischt mich eiskalt. Meine Kniewerden weich und mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Ichgefriere an Ort und Stelle, nicht fähig, mich auch nur einenMillimeter zu bewegen. In Gedanken verfluche ich michselbst. Ich hatte mir fest vorgenommen umwerfend auszuse-hen, wenn ich ihm je wieder begegnen sollte. Jetzt verstehe ichauch die Andeutungen meiner Schwester. Ich will, dass er eszutiefst bereut, mich so behandelt zu haben. Ich habe michäußerlich sehr verändert, seitdem wir uns zuletzt gesehen ha-ben, aber selbstverständlich trage ich jetzt nicht mein kleinesSchwarzes und mörderische Heels. Nein, natürlich trage ichschwarze Leggings mit Ankleboots und habe mein Lieblings-longtop an, auf dem groß und deutlich »POLITE AS FUCK«steht. Zur Krönung ist mein Haar in einem unordentlichenDutt gebunden, aus dem sich bereits einzelne Strähnen gelösthaben. Ich habe eine fünfstündige Bahnfahrt hinter mir. Ichdarf so aussehen! Für so etwas trage ich sicher nicht meinAusgehoutfit. An mein Make-up will ich gar nicht denken. Zumehr als Mascara und schwarzem Eyeliner hat es heute Mor-gen nicht gereicht. Sicher habe ich durch die Strapazen desTages inzwischen Pandaaugen.

Wofür werde ich nur bestraft?Milena räuspert sich lautstark und ich kehre aus meinen

Gedanken zurück. Mit einem deutlichen Blick erinnert siemich an ihre Drohung, und daran, dass diese durchaus ernstgemeint ist. Ich starre sie nur vernichtend an.

Ich habe mich noch nicht genug gesammelt, um mich ihmzuzuwenden. Meine Schwester nickt in seine Richtung unddrängt mich, seinen Gruß zu erwidern. Ich schlinge meineArme noch enger um mich, doch sie wollen mir nicht dennötigen Halt geben. Ich schließe die Augen und atme noch

einmal tief durch, bevor ich langsam auf dem Absatz kehrt-mache. Nur damit mir der Atem gleich wieder stockt. Das istdoch nicht fair! Ich bin offensichtlich nicht die Einzige, diesich die letzten Jahre verändert hat. Alex ist ein richtiger Manngeworden. Seine Haare sind ein wildes Durcheinander undmir fällt zum ersten Mal auf, dass er leichte Locken hat. Ichkenne ihn nur mit sehr kurzen Haaren. Seine Gesichtskontu-ren sind markanter. Die Verunsicherung in seinem Lächelnentstellt es und ihn nicht ansatzweise. Würde ich nicht so ver-bittert versuchen ihn zu hassen, würde ich ihm zu Füßenliegen. Er trägt ein ausgewaschenes graues T-Shirt, das an derSchulter und den Armen spannt und die Muskeln, die sichdarunter befinden, erahnen lässt. Dazu trägt er eine lässigehellbraune Cargohose und schwarze Chucks. Seine Augenweiten sich, als er mich betrachtet und ebenfalls von oben bisunten mustert. Seine Reaktion gibt meiner Selbstsicherheiteinen kleinen Kick. Es ist gerade genug, dass ich ohne ein Zit-tern in der Stimme sprechen kann.

»Hallo, Alex«, sage ich und bewerkstellige sogar ein Lä-cheln. Jede Faser in mir will weg aus dieser Situation. DerKlang meiner Stimme lässt ihn schwer schlucken.

»Wie? Ihr kennt euch?«, fragt Damian enttäuscht, als er sichim Türrahmen an Alex vorbeidrängt. »Hase, das hättest dumir doch sagen können.«

Damian küsst Milena zur Begrüßung und drückt mich da-nach kurz. Ich erwidere seine Umarmung nur halbherzig. Dieganze Zeit bricht der Blickkontakt zwischen Alex und mirnicht ab. Ich hasse es, dass er noch immer diese Macht übermich hat.

»Ich halte mich da raus. Klar wusste ich, dass sie sich ken-nen. Sehr gut sogar, will ich meinen. Doch werde ich michhüten, mich in irgendeiner Form bei diesen Starrköpfen ein-zumischen«, wirft sie uns vor. Ich löse meinen Blick von Alex

und wende mich ihr mit einer gepfefferten Antwort auf derZunge zu. Doch dann schießt mir ihre Drohung durch denKopf und ich frage stattdessen: »Ich muss bis nach der Hoch-zeit nett zu ihm sein, oder? Ganze zwei Tage? Ernsthaft?«Damian sieht verwirrt zwischen Leni und mir hin und her undlächelt unsicher. Alex betrachtet mich mit verschränkten Ar-men.

»Ja, oder dein kleines Geheimnis landet auf einem Silber-tablett, samt Internetzugang, bei Mama und Papa«, fügt sienoch einmal hinzu. Lieber Gott, ich brauche einen Drink oderzwei – oder gleich die gesamte Flasche. Am liebsten mit Pro-zentzahlen im zweistelligen Bereich. Es kostet mich sämtlicheEnergie, ein Lächeln in mein Gesicht zu tackern. Leni lässtmeinen Versuch mit einem Nicken gelten. Damian sieht unsnur weiter verwirrt an und Alex räuspert sich und zieht mei-nen Blick wieder auf sich.

»Ich war der Überzeugung, du kommst nicht«, sagt er gegenden Türrahmen gelehnt und mit einem herausforderndenBlick. Er versperrt meinen einzigen Fluchtweg und panischeHitze steigt in mir auf.

»Hätte ich gewusst, dass du auch kommst, glaub mir, dannhätte ich mir die Fahrt gespart«, schnaube ich. Milena stupstmir heftig mit ihrem Ellenbogen in die Seite.

»Es tut mir leid«, murmele ich ihr entgegen und zucke mitden Schultern. »Es ist aber nun mal so.« Alex sieht leicht ge-kränkt aus, fängt sich aber schnell wieder. Im nächsten Mo-ment unterbricht mein Magenknurren die Stille.

»Olive, sag nicht, du hast noch nichts gegessen?«, fragt Lenimich frustriert.

»Das hier«, sage ich, mit einem Zeigefinger auf mich selbstdeutend, »ist heute vor 5 Uhr morgens aufgestanden, obwohlich normalerweise um diese Zeit gerade mal ins Bett gehe.Mein Frühstücksdealer hatte in dieser Herrgottsfrühe noch

nicht auf. Danach saß ich fünf Stunden in einer Sardinen-büchse von Bahnabteil, mit arroganten Anzugträgern, die sichso breitmachten, dass ich mich nicht getraut habe, in das Es-sensabteil zu gehen, da mein Sitzplatz dann weggewesen wäre.Und zum krönenden Abschluss das hier«, sage ich auf Alexdeutend, der immer noch im Türrahmen lehnt. Glaubt er, ermuss ihn stabilisieren, damit er nicht in sich zusammen fällt?Ich sehe ihn irritiert an, bevor ich mich wieder meiner Schwes-ter widme. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass Alexkopfschüttelnd vor sich hin lächelt.

»Entschuldige, dass ich auf direktem Wege zu dir geeilt bin.Ich hatte heute noch nicht mal meinen verdammten Kaffee«,fahre ich sie an. Alex lacht schnaubend hinter mir und ichwerfe ihm einen warnenden Blick über die Schulter zu.

»Kein Wunder, dass du so gute Laune hast. Du wirst immerunausstehlich, wenn du Hunger hast oder deinen Kaffee nichtbekommst«, sagt er mit einem vertrauten, wissenden Lächeln.Zu vertraut nach meinem Geschmack. Ein Impuls bewegtmeine Beine, bis ich direkt vor ihm zum Stehen komme, so-dass sich unsere Nasenspitzen beinahe berühren. Meine Wutist deutlich zu spüren und ganz zu meiner Zufriedenheitschwankt sein Grinsen.

»Tu nicht so, als würdest du mich kennen. Tu nicht so, alswären wir beste Freunde«, zische ich ihm leise zu. Alex weichtkeinen Millimeter.

»Wir waren aber mal beste Freunde. Du bist schließlichmeine We…« Ich würde es nicht ertragen, wenn er mich beimeinem Spitznamen nennt, also hebe ich meine Hand undunterbreche ihn.

»Seine was?«, fragt Damian neugierig meine Schwester,doch sie schüttelt nur ihren Kopf und wartet meine Reaktionab.

»Diese Chance hast du vor Jahren verspielt. Wage es nicht,mich so zu nennen.« Ich schiebe mich an ihm vorbei und mussfeststellen, dass er unglaublich gut riecht. Ehe ich mich nochmehr zum Idioten mache, schnappe ich mir meine Tasche vonder Halterung und gehe zur Tür.

»Wo gehst du hin?«, ruft Milena mir hinterher.»Ich gehe etwas essen, bevor ich noch einen Mord begehe.«

Ich kann Alex gedämpft lachen hören und meine Wut kochterneut auf. Was glaubt er eigentlich, wer er ist?

»Warte, wir kommen mit. Ich hatte heute keine Zeit zumKochen«, ruft Leni und ich stöhne genervt auf. »Ich kann auchgern unsere Eltern anrufen, wenn dir das lieber ist«, ruft siefreundlich aus der Küche.

»Überspanne den Bogen nicht«, nuschle ich, nicht sicher,ob sie mich hören kann. Natürlich warte ich auf die drei, ob-wohl mir schon vor Hunger schlecht ist.

Wenigstens essen wir bei meinem Lieblingsitaliener und ichkann mich mit Pasta, Espresso und Wein vollstopfen.

»Muss der Wein sein?«, fragt mich Alex skeptisch und be-äugt das Glas in meiner Hand. Es ist bereits mein zweites.Früher war ich nicht besonders trinkfest, doch wie so einigeshat auch dies sich verändert. Doch das muss ich ihm nicht aufdie Nase binden.

»Ich bin dreiundzwanzig, es ist Nachmittag, und ich kannmachen, was ich will. Das hat dich außerdem gar nicht zukümmern.« Um meine Aussage zu untermauern, nehme icheinen extragroßen Schluck Rotwein. Alex sieht mich missbil-ligend an.

»Ich dachte, ihr kennt euch?«, platzt es überrascht aus Da-mian heraus. »Diese Frau«, sagt er auf mich deutend, »hatmich bei jeder unserer Begegnungen bisher unter den Tischgetrunken, und du weißt, was ich vertrage. Jedes Mal frage ich

mich, wie sie es danach schafft, ohne ein Wanken im Gangnach Hause zu gehen, und nie hat sie einen verdammten Ka-ter«, erklärt er Alex weiter. Dieser sieht mich erstaunt an. Ichbilde mir sogar ein, dass er etwas blass um die Nase wird. Waswohl in seinem hübschen Kopf vor sich geht? Moment mal,hübscher Kopf? Der Wein macht sich wohl doch bemerkbar.Ich hätte etwas mehr Zeit zwischen dem Essen und Trinkenlassen sollen. Aber ich fühle mich gerade pudelwohl. Ich habebetrunken noch nie etwas Dummes angestellt und irgendwiemuss ich den Schock über Lenis Überraschung ja verdauen.Mein Plan ist es, so wenig Zeit wie möglich mit ihm zu ver-bringen, also rufe ich den Kellner, damit er mir meine Rech-nung bringt. Dieser nickt mir verstehend zu.

»Warte, wir gehen alle. Wir gehen doch noch in die Kneipe,oder?«, fragt Damian hoffnungsvoll. Ich habe sofort eine Ab-fuhr parat und will gerade antworten, als er mich direktunterbricht. »Du brauchst gar nicht kneifen. Ich will eine Re-vanche vom letzten Mal. Du hattest den Barkeeper in Berlindoch geschmiert, oder? Der hat dir sicher Wasser serviert undnur mir den Schnaps.« Ich lache in Erinnerung an seinen letz-ten Besuch auf. Ja, das war wirklich amüsant.

»Ich habe ihn nicht geschmiert! Meine Leber ist anschei-nend nur besser«, sage ich und strecke ihm die Zunge entge-gen. Ich bemerke Alex’ fragenden Blick. Die graue Maus vondamals gibt es nicht mehr. Am besten gewöhnt er sichschnellstmöglich daran. Als ich den Rest meines Weines ver-nichte, kommt mir eine Idee.

»Okay, ich bin dabei«, sage ich und strecke Damian meineHand entgegen. Er schlägt sofort ein und Milena legt stöhnendihr Gesicht in die Hände.

»Nicht schon wieder«, murmelt sie genervt und funkeltmich warnend an. »Wehe mein Bräutigam hat zu unsererHochzeit ein Hangover. Ich versichere dir hier und jetzt:

Wenn das passiert, gehe ich schnurstracks zu Mama und Papa.Mir ist es dann völlig egal, wie du dich Alex gegenüber be-nimmst.«

»Hast du zu viel Der Pate geschaut? Oder warum drohst dumir den ganzen Tag? Bleib locker. Die Hochzeit ist erst über-morgen. Er hat einen ganzen Tag zum Ausnüchtern.« Ichrichte mich wieder an meinen zukünftigen Schwager. »So,welcher Film?« Damian grinst mich schief an und ich kannseine Gedanken lesen.

»Sissi!«, rufen wir synchron und gleichzeitig geben wir unsein High Five.

»Oh Gott«, stöhnt Leni und schüttelt nur missbilligend ih-ren Kopf.

»Ich verstehe gerade gar nichts«, mischt sich Alex ein, ge-rade, als ich es geschafft habe, seine Anwesenheit zu ignorie-ren.

»Du wirst es verstehen, wenn die zwei anfangen. Doch dumachst nicht mit!«, beschließt meine Schwester. »Einer musssie ins Hotel bringen. Ich habe dann sicher genug mit meinemHäufchen Elend zu tun.« Alex sieht noch immer verwirrt aus,nickt aber. Wenn er mich in Aktion erlebt und sieht, dass vonmeinem alten Ich so gut wie nichts mehr da ist, ist er vielleichtso angewidert, dass er mich direkt in Ruhe lässt. Einen Ver-such ist es wert, und ich kann zu kostenlosem Alkohol nurschwer nein sagen.

»Du weißt, dass du verlierst und alles bezahlen wirst?«, fragtLeni ihren Verlobten. Dieser greift sich theatralisch getroffenan die Brust.

»Autsch, ein bisschen mehr Zuversicht, bitte«, sagt er mitverletzter Stimme. Alex schweigt neben uns und denkt ange-strengt nach. Ab und an wirft er mir dabei einen rätselhaftenBlick zu. Ich grinse ihn die ganze Zeit herausfordernd an.

Unsere alte Stammkneipe ist sogar bereits geöffnet. Es ist halb6 und noch nicht viel Betrieb.

Perfekt.Damian klärt alles mit dem Chef und dieser gibt nach kurz-

em Zögern sein Okay. Er legt uns den Film in den Player,bereitet die Schnäpse vor und sieht mich besorgt an. Mir trautselten jemand zu, dass ich große Mengen Alkohol vertrage.Alex betrachtet die Vorbereitungen des Barkeepers skeptisch.Leni erbarmt sich und erklärt ihm, was wir gleich veranstaltenwerden.

»Es ist vom Prinzip ganz einfach. Jedes Mal, wenn jemand›Majestät‹ sagt, müssen beide einen trinken. Wird Sissi er-wähnt, muss Damian einen trinken, und wenn Franz erwähntwird, muss Olive einen trinken. Wer am längsten durchhält,hat gewonnen, und der Verlierer zahlt die Getränke«, leiert siegenervt herunter. Sie kennt das Prozedere. Diese Show ziehenDamian und ich bei so ziemlich jeder unserer Zusammen-künfte ab. Ich habe bisher nie verloren. Alex ist jetzt wirklichblass und ich amüsiere mich bereits köstlich.

»Das machst du nicht!«, bestimmt er und greift mich amArm. Ich entziehe mich seinen Händen und gehe demonst-rativ einen Schritt zurück. Die kleine Berührung bringt meinBlut bereits in Wallung und meine Wut auf ihn steigert sichungemein.

»Du hast mir gar nichts zu sagen, und fass mich nicht an,klar?«, weise ich ihn zurecht. Meine Haut glüht und prickeltvon dem Körperkontakt und ich versuche, dieses Gefühl zuignorieren. Alex starrt mich sauer an, verschränkt seine Armeund setzt sich verärgert auf einen Stuhl neben mir.

»Geht doch«, sage ich schnippisch und setze mich nebenmeinen Rivalen, Damian.

»Möge die Leber mit uns sein und unsere Mägen stark ge-nug«, sagt er und hebt das erste Glas. Ich nehme mir auch eins

und proste ihm ein »Amen« zu. Gemeinsam vernichten wirdie erste Runde. Wir zeigen dem Chef an, dass er den Filmstarten kann. Dieser schüttelt nur lächelnd den Kopf unddrückt auf Abspielen.

Wir überstehen beide den gesamten Film. Doch Damianschwankt und seine Augen sind nur noch auf halbmast geöff-net. Er droht jeden Moment vom Stuhl zu fallen.

»Es reicht«, beschließt Alex. Ich ignoriere ihn weiterhin. Erversucht bereits den halben Film lang uns zum Aufhören zubewegen.

»Alex hat recht«, sagt Leni und stützt Damian.»Neeeeee, no eeener«, lallt er und wankt gefährlich hin und

her.»Unentschieden?«, schlage ich kompromissbereit vor.

»Wir teilen die Rechnung?« Leni seufzt dankend und erleich-tert auf.

»Okay«, murmelt Damian mit schwerer Zunge. Seine Au-gen sind fast geschlossen.

»Gut, dann gehe ich ins Hotel zurück. Ich muss etwas Schlafnachholen«, gähne ich und strecke meine müden Muskeln.

»Alex, hilf Leni und Damian«, bestimme ich, ohne ihn an-zusehen. Ich schnappe mir meine Tasche, drücke kurz meineSchwester und verlasse unter anerkennenden Blicken derStammgäste die Kneipe. Ich glaube, sie staunen nur, dass ichnoch auf zwei Beinen laufen kann. Draußen ist es trotz derbereits warmen Temperaturen am Tag frisch und ich geheschneller, um mich aufzuwärmen.

Ich bin schon zwei oder drei Minuten unterwegs, als ichdeutliche Schritte hinter mir höre. Ich werde kaum nervös.Trotz meines Alkoholpegels beherrsche ich meinen Körper.Mich sollte man lieber nicht angreifen. Meine wenige Freizeitverbringe ich beim Kickboxen und nur selten auf der Couch.Ohne Vorwarnung legt sich eine Hand auf meine Schulter. Ich

schnappe sie mir, drehe mich darunter weg und ramme mei-nen Ellbogen in den Unterarm des Angreifers. Dieser schreitmit Schmerz in der Stimme auf und strauchelt zurück. Trotzdes leichten Schwindels in meinem Kopf gehe ich in Kampf-stellung und hole für einen hohen Fußkick aus. Mein Ziel istsein Gesicht. Ich bin bereits in voller Bewegung, als das Lichtder Straßenlaterne seine Konturen beleuchtet. Japsend versu-che ich mein Bein noch zu stoppen und verliere dadurchjegliches Gleichgewicht. Ich lande unsanft auf meinem Hin-tern.

»Autsch«, jammere ich und sehe schnaubend zu ihm auf.»Verdammt, solltest du nicht bei Leni und Damian sein?Musst du mich so erschrecken?«, fahre ich Alex an.

»Ich dich erschrecken?«, fragt er aufgebracht. »Was war daseben bitte?« Entgeistert hält er sich seinen rechten Unterarm.Ich schnaube abwertend.

»Sei lieber froh, dass ich dich noch rechtzeitig erkannt habe.Wo sind meine Schwester und ihr Verlobter?«, frage ich er-neut und richte mich wieder auf.

»Ich habe ihnen ein Taxi gerufen«, erklärt er, sein Gesichtnoch immer schmerzhaft verzerrt. Er sieht mich durch zu-sammengekniffene Augen an, als ob ich ein Rätsel bin, das erzu lösen versucht. Seine Aussicht auf Erfolg sieht mager aus.

»Okay, gute Nacht«, sage ich und wende mich von ihm ab.»Warte«, ruft er eilig hinterher und holt zu mir auf.»Was?«, schnauze ich ihn an. Ich will doch nur noch ins

Bett.»Ich wollte dich eigentlich ins Hotel bringen, aber ich muss

feststellen, dass du ganz gut auf dich allein aufpassen kannst,und das trotz der vielen Drinks.«

»Ja und? Erzähl mir etwas Neues.« Ich wende mich wiederab und gehe meinen Weg. Im gleichen Tempo, aber mit etwasAbstand, folgen mir seine Schritte.

»Was ist jetzt noch?«, frage ich ungehalten.»Ich schlafe auch im Hotel, und da es hier nur eins gibt,

haben wir den gleichen Weg«, erklärt er mir.»Wie toll«, sage ich gespielt fröhlich. »Kannst du wenigstens

neben mir gehen?«, seufze ich nach einer Minute. »Du machstmich wahnsinnig, wenn du hinter mir her schleichst.«

Ohne ein Wort schließt er zu mir auf. Er lässt keine Stillezwischen uns aufkommen. Er kommt gleich zum Punkt. Indiesem Moment kann ich tatsächlich Hass auf ihn in mir spü-ren.

»Warum bist du damals ohne ein Wort weg? Was habe ichgemacht?«, fragt er geradeheraus, als das Hotel in Blickweiterückt.

»Wenn du das nicht weißt, bist du noch gefühlskälter, alsich bisher angenommen habe.« Jetzt lässt er die Stille zwischenuns zu, auch wenn sie so schreiend laut ist, dass ich meineeigenen Gedanken kaum verstehe.

Im Hotel fährt er natürlich im selben Aufzug. Ich überlegeernsthaft die Treppen zu nehmen, doch das wäre selbst fürmich übertrieben. Ich ignoriere ihn so gut es geht. Es ist nurschwer, wenn die komplette Wandverkleidung aus Spiegelnbesteht und ich ihn überall sehen kann.

»Warum strafst du dann die Jungs und redest auch nichtmit ihnen? Das Problem scheine offensichtlich ich zu sein.«

Ich verschränke meine Arme. Gleich erreichen wir meineEtage, während Alex noch eine weiter fahren muss.

»Ich hätte es nicht ertragen und ich wollte nicht, dass siesich verpflichtet fühlen, sich zwischen uns zu entscheiden«,antworte ich ihm und weiß nicht einmal, warum.

»Olivia, was habe ich dir bloß angetan?«, fragt er und trittin seiner Verzweiflung nah an mich heran. Ich weiche einenSchritt zurück und genau im richtigen Moment gleitet die Türhinter mir auf. Ich wende mich von ihm ab.

»Gute Nacht, Alex«, sage ich und verlasse schnell den Auf-zug. Wie kann er nur so grausam sein? Er weiß ganz genau,was er getan hat. Unbewusst schaue ich über meine Schulterund bereue es sofort. Er sieht mich noch immer mit seinenunergründlich grünen Augen an. Er fährt sich nervös durchsHaar, und kurz bevor sich die Tür wieder schließt, lässt er dasBlut in meinen Adern gefrieren, indem er sagt: »Zeit zu fliegen,Wendy.«

2. DAS KAPITEL, IN DEMWENDY GAR NICHT SO

UNSCHULDIGERSCHEINT

Alex

»Zeit zu fliegen, Wendy.« Dieser Satz gleitet mir so natürlichüber die Lippen wie einst. Es ist nicht einmal Absicht. Ihre vorSchreck geweiteten Augen sind das Letzte, was ich sehe, bevorsich der Aufzug schließt. Meine verwirrten Gedanken undmein Spiegelbild sind die einzigen Begleiter zu dieser grässli-chen Liftmusik. Ich wollte diesen Satz gar nicht laut ausspre-chen, doch es überkam mich einfach. Wenigstens weiß ichnun, dass es sie noch etwas fühlen lässt. Ihre kalte Ader ließmich zweifeln, dass noch viel von meiner Wendy in ihr steckt.Ich lehne meinen Kopf gegen das kühle Glas hinter mir,schließe meine Augen und atme tief durch. Es ist ein ver-dammt langer Tag gewesen. Kurz darauf öffnet sich der Auf-zug bereits und ich gehe auf mein Zimmer. Komplett bekleidetlasse ich mich auf das viel zu weiche Bett fallen.

»Ein so verdammt langer Tag«, murmle ich und lege einenArm über meine Stirn. Erst muss ich feststellen, dass meineEltern aus meinem ehemaligen Zimmer eine – wohlgemerktungenutzte – Fitnessoase gemacht haben und ich nicht wiegeplant bis zur Hochzeit bei ihnen schlafen kann. Sie haben

einfach vergessen, mir Bescheid zu geben. Ich kann es ihnennicht einmal übel nehmen. Es ist zu typisch für sie.

Dann stecke ich noch mitten in den Vorbereitungen für dasStart-up-Unternehmen mit den Verlorenen Jungs und habetausend bessere Dinge zu tun, als einem verliebten Pärchenmeinen Segen zu geben. Ihre Ehe hält so oder so, mit mir oderohne mich – das ist doch völlig gleich. Doch Damian ist einermeiner engsten Freunde. Nicht so eng wie Basti, Kurt undTim, aber eng genug, dass ich sofort zugesagt habe, als er michzu seinem Trauzeugen auserkoren hat. Eigentlich kann ichmir die Auszeit in der Heimat gar nicht leisten, aber insgeheimhabe ich gehofft, Olivia zu begegnen, nachdem ich erfuhr, wener genau heiratet. Es ehrt mich, sein Trauzeuge zu sein, dochich bezweifle, dass ich den Job auch so ernst genommen hätte,wenn Olivia nicht im Spiel gewesen wäre.

Verdammt, sie nach fast fünf Jahren wiederzusehen unddann noch so extrem verändert, das hat mir fast den Bodenunter den Füßen weggezogen. Zum Glück hat Damians Tür-rahmen mir ausreichend Halt geboten. Nach diesem Abendmuss ich feststellen, dass von meiner Wendy auf den erstenBlick nicht viel übrig ist. Olivia hat sich nicht nur äußerlichverändert, auch ihr Auftreten hat eine 180-Grad-Drehung ab-solviert. Aus meiner grauen, schüchternen Maus ist ein män-nermordender Vamp geworden. Nur hoffe ich, dass dermännermordende Teil nicht zu ausgeprägt ist – auch wenn esmich eigentlich nichts angeht, wie sie netterweise den gesam-ten Tag betont hat. Sie hat schon immer von Natur aus eineschlanke Statur, aber jetzt ist sie gut durchtrainiert. Ihre Ge-genwehr vorhin war für eine Frau beachtlich. Mich würdenicht wundern, wenn ich morgen einen wirklich schmerzhaf-ten blauen Fleck auf dem Unterarm vorfinde. Nach dieserMenge Alkohol wäre meine Treffsicherheit non-existent ge-

wesen und sie hat mir beinahe à la Bruce Lee den Schädeldemoliert.

Sie ist so selbstsicher und aufgeschlossen geworden. Sie istregelrecht aufgeblüht. Ich wusste immer, dass sie weg wollte,dass sie sich hier eingesperrt und fehl am Platz fühlte, dochdass ihr Berlin so gut bekommen würde, hat sicher niemandgeahnt. Sie nun so zu sehen erfüllt mich mit Stolz. Diese Ver-änderung hätte ich gern beobachtet. Ich wusste schon immer,dass genau das in ihr steckt. Sie legte nie Wert auf Make-up.Sie hat es meiner Meinung nach auch nicht nötig, doch stehtihr dieses verrucht Verschmierte um die Augen wirklich gut.So muss sie aussehen, wenn sie nach einer durchgemachtenNacht aufwacht. Sie hat eine Menge Spaß dabei, Damian zuquälen. Die Erinnerung lässt mich gleich wieder grinsen. Erhat es sich ja nicht anders ausgesucht. Zu Anfang war ich allesandere als begeistert, doch mit der Zeit habe ich gemerkt, dasssie tatsächlich so viel verträgt wie behauptet. Dennoch ver-suchte ich die beiden zum Aufhören zu bewegen, aber haupt-sächlich, um Damians Würde zu retten.

Nichts hat mich auf die Begegnung mit ihr vorbereitenkönnen. Jeden Tag habe ich mir das Wiedersehen ausgemalt:Wie wird sie aussehen? Wie wird ihre Reaktion sein? Derheutige Tag hat alle Erwartungen übertroffen. Sie ist noch at-traktiver, noch anziehender, und ich will sie mehr als je zuvor.Nur will sie offenbar nichts mit mir zu tun haben. Sie ist sofurchtbar wütend auf mich – wenn ich nur wüsste, warum.Damals ist sie, ohne sich zu verabschieden, zum Studium nachBerlin aufgebrochen. Nicht mal den Jungs hat sie auf Wieder-sehen gesagt. Sie reagierte weder auf Anrufe noch auf Emails.Ihre Familie hat mir nicht weiterhelfen können und sie wissenauch nicht, warum sie sich so abschottet. Ihre Handynummererlosch nach zwei Monaten, die Emails kamen als unzustellbarzurück und ihren Eltern vertraute sie sich wie so oft nicht an.

Nach einiger Zeit habe ich aufgegeben und warte seither aufeine Chance.

Jetzt habe ich zwei Tage Zeit, um herauszufinden, warumsie mich so verabscheut und was unsere Freundschaft beendethat. Ich dachte, wir bleiben für immer zusammen, denn fürmich war es immer mehr als simple Freundschaft. Keiner ver-steht mich wie sie. Sie ist meine bessere Hälfte. Sie ist meineWendy und ich ihr verdammter Peter Pan.

Mit diesen Gedanken und einer Mission für die nächsten48 Stunden schlafe ich schließlich ein.

Am Morgen werde ich von meinem plärrenden Telefon auseinem traumlosen Schlaf geweckt. Wer zur Hölle ruft so frühan? Im Halbschlaf taste ich nach dem Störenfried. Ich glaube,ich habe es auf dem Nachttisch abgelegt. Nach einem Momentdes blinden Tastens finde ich es auch. Ein kurzer Blick auf dieRuferkennung und ein müdes Grinsen breitet sich auf meinenLippen aus. Das wird sicher lustig. Damian ruft mich um kurzvor 8 Uhr an? Nach dem Abend?

»Was gibt’s, Schnapsdrossel?«, rufe ich gut gelaunt in denHörer.

»Gott, schrei nicht so«, knurrt es am anderen Ende und ichmuss laut auflachen. Der Arme wurde sicher von Milena un-moralisch früh geweckt.

»Damian, was ist?«, frage ich erneut in einer angenehmerenLautstärke, doch er grunzt trotzdem missmutig.

»Nicht. Zu laut«, flüstert er und nach einem tiefen Atemzugfährt er fort: »Kann ich dich um einen kleinen Gefallen bit-ten?«

»Kommt ganz darauf an, wie groß die Kleinigkeit ist«, sageich skeptisch, denn sein Tonfall gefällt mir überhaupt nicht.

»Du bist doch im Hotel, oder? Olive übernachtet dortauch«, sagt er und schweigt, als müsste ich mir den Rest selberzusammenreimen können. Kann ich nicht.

»Ja, das ist mir auch schon aufgefallen«, bestätige ich ihmund die Erinnerungen von gestern streifen wieder durch mei-nen Kopf.

»Folgendes: Leni braucht dringend noch Hochzeitsdeko,die sie bei ihren Eltern gebunkert hat, und Olive ist noch nichtbei den Eltern gewesen.« Wieder erwartungsvolles Schweigenam anderen Ende.

»Und was hat das mit mir zu tun?«, frage ich deshalb be-dacht.

»Leni vermutet, dass Olive nicht zu ihren Eltern gehen wirdund sie sonst nur zur Hochzeit zu Gesicht bekommt. Außer-dem bist du mit deinem Auto hier. Fahrt gemeinsam zu ihrenEltern, holt die Kisten und trefft uns dann im Saal, um uns zurHand zu gehen. Bitte.« Damian fleht mich regelrecht an.Wahrscheinlich presst Milena ihm die Pistole auf die Brust.

»Ich weiß nicht«, bringe ich meine Zweifel an. »Sie scheintnicht sonderlich gut auf mich zu reagieren.« Ich will zwardringend herausfinden, warum sie mich verabscheut, dochmuss ich es mir nicht gleich zu Beginn verscherzen.

»Das habe ich Leni auch schon gesagt, aber Olives Handyist seit fast einer Stunde dauerbesetzt, und erst über das Hotelzu fahren und sie einzusacken wäre laut Brautzilla verschwen-dete Dekorationszeit. Kannst du uns den Gefallen tun? Wennsie dir die Tür vor der Nase zuschlagen will, sage einfach, Lenischickt dich, sie würde sich dann benehmen, was auch immerdas heißen mag.« Ich hole tief Luft, bevor ich ihm antworte.

»Na schön, aber dafür schuldest du mir etwas.« Damianwilligt ein, damit Leni ihren Willen bekommt, und legt auf.Ich greife zum Festnetztelefon in meinem Zimmer und wähledie Rezeption. Ich lasse mir Olivias Zimmernummer geben

und mache mich fertig. Zehn Minuten später ziehe ich die Türhinter mir zu und fahre mit dem Lift auf ihre Etage. Ihre Türist schnell gefunden, doch ich zögere zu klopfen. Ihre Stimmedringt durch die Tür. Telefoniert sie noch immer? Um dieseZeit? Höflich warte ich noch ein paar Minuten, doch das Te-lefonat dauert an. Schließlich klopfe ich kräftig.

Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnet sie die Tür und meineWorte bleiben mir im Hals stecken. Ich sehe sie nur sprachlosan. Ich öffne zwar den Mund, aber kein Ton verlässt meineLippen. Ich ringe nach Worten, doch meine Festplatte im Ge-hirn wurde beim Öffnen dieser Tür formatiert. Olivia trägt ihrHaar in sanften Wellen. Eine Seite wird durch eine silberneSpange zurückgehalten. Ihr Make-up ist dezent und konzent-riert sich nur auf ihre braunen Augen. Ihre Wimpern erschei-nen extralang und der schwarze Lidstrich lässt ihre Augennoch größer wirken. Doch dieser Anblick bringt mich nichtdermaßen aus der Fassung, sondern die Tatsache, dass sieoben herum mit nur einem schwarzen Spitzen-BH bekleidetist. So viel von ihrer Haut habe ich selten zu Gesicht bekom-men. Selbst beim Schwimmen trug sie immer Badeanzüge,anstatt wie alle anderen Mädchen einen Bikini. Olivias Bauch-muskeln sieht man unter ihrer hellen und weich aussehendenHaut. Klar war ich in der Vergangenheit mit sportlichen Frau-en zusammen, doch sie legt die Latte ein ganzes Stück höher.

Ich schlucke bereits schwer, als mein Blick weiter wandert.Sie trägt einen schwarzen Minirock mit Lederstreifen an denSeiten und ihre unendlich langen Beine stecken in schwarzenHeels mit silbernen Verzierungen. Als mir bewusst wird, dassich sie länger begutachte, als es sich gehört, schnellt mein Blickwieder zu ihrem Gesicht. Sie hält ihr Smartphone zwischenSchulter und Ohr, sieht mich mit einer hochgezogenen Au-genbraue an und lehnt sich lässig gegen die Tür. Sie wird nichteinmal rot. Sie ist sich ihrer Ausstrahlung und ihres Körpers

bewusst und weiß ganz genau, was für eine Wirkung sie aufmich hat. Sie redet noch immer mit ihrem Gesprächspartner,doch ich verstehe kein Wort. Ich kann noch immer keineWörter formen. Genervt von meiner Stille verdreht sie dieAugen und gibt der Tür einen Schubs. Kurz bevor sie insSchloss fällt, stoppe ich sie geistesgegenwärtig mit meinemFuß. Olivia erschrickt sich ein wenig, aber unterhält sich wei-ter am Telefon. Ihr Blick ruht erneut wartend auf mir. Ichräuspere mich.

»Mi-Lena schickt mich«, quetsche ich schließlich hervorund sie verdreht erneut die Augen. Mit einem Kopfnickendeutet sie auf einen Sessel neben dem Beistelltisch. Hastigschließe ich die Tür hinter mir und setze mich. Sonst bringtmich der Anblick einer Frau nicht so aus der Fassung, aberdas hier ist Olivia.

Meine Olivia.Da ist nichts normal. Ich hole ein paar Mal tief Luft und

versuche mich zusammenzureißen.»Nein, ja, Sonntagnachmittag habe ich wieder Zugriff auf

die Daten. Glauben Sie mir, ich habe mir selbst angesichtsmeiner eigenen Dummheit bereits in den Allerwertesten ge-bissen.«

Natürlich lenken ihre Worte meinen Blick genau auf dassoeben erwähnte Körperteil. Ich schlucke abermals. Oliviadreht mir den Rücken zu und geht an eine Spiegelkommode.Sie nimmt etwas aus einer kleinen Kosmetiktasche, die dane-ben liegt, und zieht die Kappe ab. Ein Lippenstift. Sie beugtsich ein wenig nach vorn, und ich kann bei diesem Anblickein Seufzen nicht unterdrücken. Ich bilde mir sogar ein, sie imSpiegel zufrieden lächeln zu sehen. Diese kleine Sphinx! Siemacht das mit purer Absicht!

»Ja, nein, kein Problem. Ich habe mir die Änderungen no-tiert. Ich arbeite sie ein und Sonntagabend haben Sie alles in

Ihrem Posteingang. Der Freischaltung am Montag stehtnichts mehr im Wege.« Sie zieht ihre Lippen mit der dezentenFarbe langsam nach und ich muss wegsehen, ehe meine Fest-platte einen erneuten Totalschaden erleidet.

»Mir hat das Projekt auch einen riesigen Spaß gemacht.Wenn Sie mit meiner Arbeit zufrieden sind, empfehlen Siemich bitte weiter.« Ein Lächeln zaubert sich auf ihr Gesichtund sie nickt, obwohl ihr Gesprächspartner sie nicht sehenkann. Meine Eltern haben mir erzählt, dass sie bei einem Ver-lag arbeitet. Warum bittet sie um Weiterempfehlung?

»Danke. Ich wünsche Ihnen am Montag einen stressfreienLaunch. Okay, bis dahin.« Endlich beendet sie das Gesprächund legt ihr Telefon weg. Ich richte mich auf, doch sie würdigtmich keines Blickes. Sie greift nach ihrem Schmuck, der eben-falls vor dem Spiegel liegt. Sie steckt sich kleine Ohrringe mitfunkelnden Steinen an und bindet sich ein zartes, ebenfallssilbernes Armband um ihr rechtes Handgelenk. Sie sieht michnoch immer nicht an, und ich wage nicht, die zugegeben an-genehme Stille zwischen uns zu unterbrechen. Ich bin völligzufrieden, sie bei ihren Vorbereitungen beobachten zu dürfen.Sie jeden Tag so betrachten zu können muss für jeden Mannein Glückstreffer sein. Ob es diesen Mann wohl gibt? Ande-rerseits, was geht es mich an?

Mein Blick kehrt zu ihr zurück, als sie plötzlich vor mir stehtund ich hastig aufspringe. Sie hat eine zierliche Kette in derHand und hält sie mir entgegen. Perplex nehme ich sie an.

»Würde es dir etwas ausmachen?«, fragt sie unschuldig unddreht sich um. Ich wäre verrückt, wenn es mir etwas ausma-chen würde, und ich wäre verrückt, wenn es mir nichts aus-machen würde. So nah stand sie zuletzt freiwillig vor mir, alswir achtzehn waren.

Ich öffne die zierliche Kette und lege sie ihr vorsichtig um.Olivia hebt ihr Haar an und beugt ihren Kopf leicht nach vorn.

Ich schließe die Kette und richte sie, auch wenn das nichtzwingend notwendig ist. Ihre Haut unter meinen Finger ist soweich. Ihr warmer, unwiderstehlicher Duft umhüllt mich, undohne dass ich es geplant oder beabsichtigt habe, lasse ich mei-ne Finger ihre Wirbelsäule hinabgleiten. Mein Herz schlägtruhig vor sich hin. Zum ersten Mal seit einer langen Zeit fühleich mich zu Hause angekommen. Wider Erwarten weicht siemeiner Berührung nicht aus. Zumindest hat sie noch nichtmit der Faust ausgeholt, und mein Kopf ist noch auf meinemHals und klebt nicht an der Wand hinter mir. Meine andereHand lege ich zögerlich, aber bestimmt auf ihre Hüfte undziehe sie unter sanften Druck zu mir. Sie folgt der Aufforde-rung ohne jeglichen Widerstand. Ihr Haar fällt ihr über dieSchultern und ihre Arme hängen an ihren Seiten. Sie wehrtden Kontakt nicht ab, geht aber auch nicht darauf ein. Mit dereinen Hand fest auf ihrer schmalen Hüfte streife ich mit deranderen ihre Haare sanft über eine Schulter. Sie schaudertleicht. Ich beuge mich behutsam nach vorn. Mein Atem kitzeltihre Haut und ihre Nackenhaare stellen sich auf. Nur noch einpaar Millimeter trennen meine Lippen von ihren, als sie denBann bricht und sich sanft aus meiner Berührung löst. Sie gehtauf das Bett zu, nimmt sich eine darauf liegende dunkelblaueBluse und streift sie sich über. Sie knöpft sie zu und sieht michdabei an, als ob das eben zwischen uns gar nicht passiert ist.

»Warum bist du hier?«, fragt sie emotionslos. Durch flachesAtmen versuche ich, meine gespannten Nerven zu beruhigen.Meine Kehle ist zu trocken. Mein Blut ist aus meinem Gehirnin tiefere Gefilde gewandert und kehrt nur schleichend zu-rück.

»Leni schickt mich«, presse ich schließlich hervor. »Wirsollen bei euren Eltern Deko für den Saal abholen und ihnendanach beim Dekorieren helfen. Ich soll dich fahren«, erkläreich. Ab dem Wort »Eltern« kaut sie nervös auf ihrer Unter-

lippe. Wie gern würde ich sie jetzt küssen und ihr diesesUnbehagen nehmen, aber der Moment von eben ist definitivvorbei. Olivia schnappt sich ihre Tasche, öffnet die Tür undhält sie für mich auf.

»Okay, gehen wir es an«, sagt sie zuversichtlich, als würdesie in den Kampf ihres Lebens ziehen.

***

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