Die Bedeutung diagnostischer Daten im Prozess der ... · The Significance of Diagnostic Data for...

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Berichtet wird im Folgenden über die Evalua- tion des Modells integrativer Förderzentren des Hamburger Zuschnitts (Arnold et al., 2010a). Bei diesem Modell handelt es sich in einer langen Reihe von Reformen einerseits um einen bildungspolitisch hoch aktuellen 188 K. D. Schuck Versuch der neuerlichen Verbesserung be- hindertenpädagogisch gestützter Förderung. Andererseits werden mit dem Modell der in- tegrativen Förderzentren klassische Fragen der behindertenpädagogischen Diagnostik zur Güte diagnostischer Methoden und Stra- Empirische Sonderpädagogik, 2011, Nr. 3, S. 188-206 Die Bedeutung diagnostischer Daten im Prozess der Förderung durch Integrative Föderzentren in Hamburg Karl Dieter Schuck Universität Hamburg Es werden die im Hamburger Konzept des Integrativen Förderzentrums eingesetzten diagnostischen Strategien und Methoden hinsichtlich ihrer Qualitäten untersucht. Es konnten vielfältige Zusammen- hänge zwischen diagnostischen Daten und getroffenen pädagogischen Entscheidungen gefunden werden. Zugleich wurde deutlich, dass im Konzept des Integrativen Förderzentrums die Bedeutung diagnostischer Daten überschätzt wird. Es wird dafür plädiert, die zum Beginn der Schulpflicht prak- tizierte, im Wesentlichen der Ressourcenbeschaffung dienende diagnostische Strategie mit Blick auf die Erfassung aller förderbedürftigen Kinder grundlegend zu verändern oder zu Gunsten einer lern- prozessbegleitenden und die Förderung formierenden Diagnostik gänzlich aufzugeben. Schlüsselwörter: integratives Förderzentrum, diagnostische Strategien und Methoden, Diagnostik zur Ressourcenbeschaffung, Lernprozessbegleitende Diagnostik The Significance of Diagnostic Data for the Process of Fostering by the Center for Educational Support in Hamburg Strategies and methods of diagnostics and assessment which are applied in the Hamburg concept of the Center of educational support in integrative environments are determined concerning their quality. Varied connections were found between the results of diagnostics and assessment and edu- cational decision making. In addition it becomes clear that the importance of diagnostics and as- sessment in the concept of the Center of educational support in integrative environments is overes- timated. It is argued the case for changing fundamentally the diagnostic strategy, which has been practiced at the beginning of compulsory school attendance and primarily serves to obtain educa- tional resources, to the effect that all the children with special educational needs are taken into ac- count or even for giving up this strategy in favour to promote evaluative diagnostics and assessment accompanying and forming the learning process. Key words: Center of educational support in inclusive environments, strategies and methods of di- agnostic and assessment, diagnostics and assessment to obtain educational resources, diagnostics and assessment accompanying learning processes

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Berichtet wird im Folgenden über die Evalua-tion des Modells integrativer Förderzentrendes Hamburger Zuschnitts (Arnold et al.,2010a). Bei diesem Modell handelt es sich ineiner langen Reihe von Reformen einerseitsum einen bildungspolitisch hoch aktuellen

188 K. D. Schuck

Versuch der neuerlichen Verbesserung be-hindertenpädagogisch gestützter Förderung.Andererseits werden mit dem Modell der in-tegrativen Förderzentren klassische Fragender behindertenpädagogischen Diagnostikzur Güte diagnostischer Methoden und Stra-

Empirische Sonderpädagogik, 2011, Nr. 3, S. 188-206

Die Bedeutung diagnostischer Daten im Prozess derFörderung durch Integrative Föderzentren in HamburgKarl Dieter Schuck

Universität Hamburg

Es werden die im Hamburger Konzept des Integrativen Förderzentrums eingesetzten diagnostischenStrategien und Methoden hinsichtlich ihrer Qualitäten untersucht. Es konnten vielfältige Zusammen-hänge zwischen diagnostischen Daten und getroffenen pädagogischen Entscheidungen gefundenwerden. Zugleich wurde deutlich, dass im Konzept des Integrativen Förderzentrums die Bedeutungdiagnostischer Daten überschätzt wird. Es wird dafür plädiert, die zum Beginn der Schulpflicht prak-tizierte, im Wesentlichen der Ressourcenbeschaffung dienende diagnostische Strategie mit Blick aufdie Erfassung aller förderbedürftigen Kinder grundlegend zu verändern oder zu Gunsten einer lern-prozessbegleitenden und die Förderung formierenden Diagnostik gänzlich aufzugeben.

Schlüsselwörter: integratives Förderzentrum, diagnostische Strategien und Methoden, Diagnostikzur Ressourcenbeschaffung, Lernprozessbegleitende Diagnostik

The Significance of Diagnostic Data for the Process of Fostering by the Center for Educational Support in Hamburg

Strategies and methods of diagnostics and assessment which are applied in the Hamburg conceptof the Center of educational support in integrative environments are determined concerning theirquality. Varied connections were found between the results of diagnostics and assessment and edu-cational decision making. In addition it becomes clear that the importance of diagnostics and as-sessment in the concept of the Center of educational support in integrative environments is overes-timated. It is argued the case for changing fundamentally the diagnostic strategy, which has beenpracticed at the beginning of compulsory school attendance and primarily serves to obtain educa-tional resources, to the effect that all the children with special educational needs are taken into ac-count or even for giving up this strategy in favour to promote evaluative diagnostics and assessmentaccompanying and forming the learning process.

Key words: Center of educational support in inclusive environments, strategies and methods of di-agnostic and assessment, diagnostics and assessment to obtain educational resources, diagnosticsand assessment accompanying learning processes

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tegien und deren Einsatz berührt. Mit demModell des integrativen Förderzentrums istdie schulpolitische Hoffnung, dass mit einerfrühen Diagnostik in der Bildungsbiographiebehinderter und von Behinderung bedrohterKinder eine frühe und effektive Förderungeingeleitet werden kann, verbunden (vgl.Dreher, 2008). Aufgerufen sind damit allefachlichen Fragen der prognostischen Validi-tät diagnostischer Daten und Strategien, derTauglichkeit selektierender, diagnostisch be-gründeter pädagogischer Entscheidungen,die verbreitete Einschätzung, Diagnostik ver-antwortlich nur lernprozessbegleitend und -steuernd einsetzen zu können (vgl. u. a.Schuck, 2007), und des intensiv diskutiertenEtikettierungs-Ressourcendilemmas (Füssel &Kretschmann, 1993).

Die bildungspolitische PerspektiveHamburg hat sich in der Vergangenheit sehrprominent an der Entwicklung des Integrati-onsgedankens und der entsprechenden Wei-terentwicklung schulischer Strukturen nun-mehr in Richtung auf ein inklusives Systembeteiligt (z. B. Hinz et al., 1998). Daraus ent-standen sind das Präventionslehrermodell (ab1979), die Integrationsklassen (ab 1984), dieIntegrativen Regelklassen (ab 1991), die Vier-einhalbjährigen-Untersuchung (ab 2004) undnunmehr das Modell integrativer Förderzen-tren (ab 2007). Dieses neue Konzept (Dre-her, 2008) soll in der langfristigen Perspektiveeine hundertprozentige sonderpädagogischeVersorgung der Zielgruppe, d. h. von Kindernmit sonderpädagogischem Förderbedarf inder Sprache, im Lernen und im emotional-so-zialen Bereich, vornehmlich in der allgemei-nen Schule und durch Auflösung der Grund-stufen der entsprechenden Sonderschulen,von denen 15 zu Förderzentren werden, si-cherstellen. Die den Grundschulen von denFörderzentren zur Verfügung gestellten son-derpädagogischen Ressourcen sind abhängig

189Die Bedeutung diagnostischer Daten im Prozess der Förderung ...

von den bei den Kindern zum Schuleintritt di-agnostizierten Bedarfen. Untersucht werdenjedoch nur solche Kinder, bei denen unmit-telbar vor der Einschulung seitens der betreu-enden vorschulischen Einrichtungen odererst bei der Einschulungsuntersuchung einsonderpädagogischer Förderbedarf in denBereichen „Sprache“, „Lernen“ oder in deremotional-sozialen Entwicklung vermutetwurde. Der Ressourceneinsatz in Folge derFeststellung eines sonderpädagogischen För-derbedarfs ist konzeptionell additiv undnicht unterrichtsbezogen bzw. systemisch ge-dacht. Gefördert werden kann entweder „in-tern“ im Förderzentrum oder „integrativ“ inder zuständigen Grundschule.

Zum Schuljahresbeginn 2007 nahmenzwei Sonderschulen für Lernbehinderte in ih-rer Region die Arbeit als nunmehr integrativeFörderzentren unter der wissenschaftlichenBegleitung von Eva Arnold, Wolfgang Lemke,Wulf Rauer, Gabi Ricken, Joachim Schwohlund Karl Dieter Schuck (2010a,b) auf.

Die Evaluationsstudie

Die Evaluationsstudie war darauf ausgerich-tet, die Umsetzungsphase des Konzepts desIntegrativen Förderzentrums in den beidenModellregionen im ersten Jahrgang überzwei Schuljahre hinweg zu begleiten. Erfasstwurden alle Kinder, denen zum Schuleintrittoder bis zum Beginn des zweiten Schuljahresein sonderpädagogischer Förderbedarf zuer-kannt wurde. Zugleich wurden die Schulleis-tungen und die emotional-sozialen Schuler-fahrungen aller Kinder der Klassen erfasst, indenen Kinder mit sonderpädagogischem För-derbedarf unterrichtet wurden.

In diesem Beitrag werden nur Fragen desZusammenhangs diagnostischer Daten ausder Viereinhalbjährigen-Untersuchung (VU)und der Gutachtenanalyse (GA) mit den pä-dagogischen Entscheidungen bei der Ein-schulung und in den ersten beiden Grund-schuljahren untersucht. Es wurden für die

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hier zu berichtenden Ergebnisse folgendeDatenquellen genutzt:(a) Dokumentenanalyse der Gutachten zum

sonderpädagogischen Förderbedarf derzum Schuleintritt untersuchten Kinder,

(b) Erhebungen zum Lern- und Entwicklungs-stand und zu den emotional-sozialenSchulerfahrungen der Kinder mit sonder-pädagogischem Förderbedarf, die durchdie Integrativen Förderzentren internoder integrativ betreut wurden, und allerKinder ihrer Grundschulklassen in denersten beiden Grundschuljahren. Verwen-det wurden geeignete, klassenstufenbe-zogene Schulleistungstests und ein Testzur Erfassung der emotional-sozialen Ent-wicklung der Kinder. In diesem Beitragwerden folgende Testverfahren erwähnt:Schriftsprache – MÜSC (Mannhaupt2005), Mathematik – HaReT (Lorenz,

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2006), Schriftsprache – HSP (May, Vieluf& Malitzky, 2002), Schriftsprache – KEKS,Grammatik und Wortschatz – KEKS, Ma-thematik – KEKS.

Unterscheidungen der Untersuchungsgruppe nachZeitpunkt der Erlangung desIF-Status und nach Förderort

Tabelle 1 zeigt die Untersuchungsgruppender Evaluation in ihren verschiedenen Teilen.

Die zentrale Untersuchungsgruppe wa-ren die 59 Kinder, für die eine Gutachtenana-lyse (GA) vorlag. Bei 42 (71.2 %) von diesenKindern lagen Ergebnisse der Viereinhalbjäh-rigen-Untersuchung (VU) vor. Innerhalb die-ser Hauptgruppe wurden Teilgruppen nach

Kindergruppen N Zeitkohorten Förderort beimStart

Förderort am EndeKlasse 2

GA 2n=53

GA 3n=59

Intern Inte-grativ

Intern Inte-grativ

Kein IF

Viereinhalbjährigen-untersuchung (VU)

42

IF-Kinder

Gutachtenanalyse(GA)

59

Zum 1.8.2007 39 39

Zum Ende des erstenHalbjahres

14 14

Nach erstem Schul-jahr

6

IF-Kinder ohne Gut-achtenanalyse

6

IF-Kinder insgesamt 65 16 49 16 43 6

Alle Kinder ohne SPFin Grundschulklassenmit IF-Kindern

674

Tab. 1: Untersuchungsgruppen

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dem Zeitpunkt der Zuweisung des Förderbe-darfs und nach dem Förderort zu Beginn derSchulzeit und am Ende von Klasse zwei un-terschieden. Unter dem Kürzel GA 2 (Gut-achtenanalyse 2) werden zwei Zeitkohortenunterschieden. Es sind n=39 Kinder, dieschulverwaltungstechnisch zum 1.8.2007 alsKinder mit sonderpädagogischem Förderbe-darf zählten, und n=14 Kinder, denen biszum Ende des ersten Halbjahres ein sonder-pädagogischer Förderbedarf zugerechnetwurde. Die Gutachtenanalyse GA 3 beinhal-tet als weitere Zeitkohorte zusätzlich die Kin-der, die mit ausgewertetem Gutachten nachdem ersten Schuljahr in die IF-Gruppe ge-langten (n=6). Die Untersuchungsgruppe al-ler IF-Kinder enthält zusätzlich die Kinder, dieals IF-Kinder nach dem ersten Schuljahr hin-zukamen, für die jedoch keine Gutachtenaus-wertung vorliegt (n=6).

Für eine weitere Auswertungsperspektivewurde die Gruppe aller IF-Kinder (n = 65) da-nach unterschieden, welchen Status bezogenauf den Förderort sie zum Zeitpunkt der Fest-stellung des IF-Status und am Ende von Klas-se zwei hatten. Tabelle 1 zeigt, dass im erstenund zweiten Schuljahr für 6 IF-Kinder der IF-Status in wünschenswerter Weise aufgeho-ben werden konnte. Zugleich blieb aber dieZahl der intern geförderten Kinder konstant,wohl auch deshalb, weil in den Förderzen-

191Die Bedeutung diagnostischer Daten im Prozess der Förderung ...

tren eine bestimmte Zahl von Plätzen freige-halten wird.

Unterscheidung nach der Art desFörderbedarfs

Die Förderbedarfe der Kinder wurden an-hand der Gutachtenaussagen mit den Ergeb-nissen der folgenden Tabelle festgehalten.

Danach haben 88.1 % der Kinder derGruppe GA 3 einen Förderbedarf in der Spra-che. Darunter befinden sich jedoch nur 13.6 % der Kinder, die allein einen Förderbe-darf in der Sprache haben. Denn pro Kindwerden im Durchschnitt 2.5 Förderbedarfegenannt. Sechs Kinder weisen nach Gutach-ten gar Förderbedarfe in vier Förderschwer-punkten auf, und zwar im Lernen, in derSprache, in der motorischen Entwicklung undim emotional-sozialen Bereich. Auf die Doku-mentation der aufgetretenen Kombinationenund Häufigkeiten der Förderschwerpunktewird an dieser Stelle verzichtet.

Statistische Verfahren und wiederkehrende Abkürzungen

Zur Bearbeitung der jeweiligen Fragestellun-gen wurden skalen- und verteilungsangemes-

Tab. 2: Zahl der Nennung von Förderschwerpunkten und Prozentanteile der Kinder, denen die

jeweiligen Förderschwerpunkte in der Gutachtenanalyse zugerechnet wurden

Förderschwerpunkte (FS) Zahl derNennungen

Zahl der Kin-der

durchschnitt-liche Nen-

nungen proKind

S L KM ES

Zahl der Nen-nungen

52 40 31 26 149 59 2.53

%-Anteil der Kin-der an den FS

88.1 67.8 52.5 44.1

S: Förderschwerpunkt Sprache; L: Förderschwerpunkt Lernen; KM: Förderschwerpunkt körperlich-motorischeEntwicklung; ES: Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung

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sene statistische Verfahren angewendet. DieErgebnisse der statistischen Prüfungen wer-den unter Angabe einer in der Regel zweisei-tigen Zufallswahrscheinlichkeit (p) angege-ben.

Im Folgenden wird die Frage betrachtet,ob und gegebenenfalls mit welcher Präzisiondie praktisch erfolgten Zuordnungen der IF-Kinder zu unterschiedlichen Zeit- und Förder-

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ortkohorten und die späteren Schulleistun-gen aus den auf unterschiedlichen Ebenen er-hobenen diagnostischen Daten prognosti-zierbar sind. Daraus lassen sich Aussagenüber die prognostische Validität des ange-wendeten Methodenrepertoirs im gegebe-nen Anwendungszusammenhang treffen. Da-bei werden die folgenden Problemstellungenunterschieden und ausgewertet:

Tab. 3: Problemstellungen und Auswertungsplan

Problemstellung 1: Sind die Entscheidungen der Diagnostiker (in der Viereinhalbjährigen-Untersuchung sowie in den Untersuchungen zum Schuleintritt) über das eventuelle Vorlie-gen ei-nes sonderpädagogischen Förderbedarfs und die Zuordnung der Kinder zu unter-schiedlichen Zeit- und Förderortkohorten aus den vorhandenen diagnostischen Daten ab-leitbar?

Prädiktoren und Kriterien

Prädiktoren:– Variablen der Vier-

einhalbjährigen-Untersuchung (VU)

– Variablen der Gut-achtenanalyse (GA)

Kriterien:– Variablen der Zuge-

hörigkeit zu einerZeit- oder Förder-ortkohorte

– Variablen derSchulleistungen derersten Klasse

– Variablen derSchulleistungen derzweiten Klasse

Modell 1 Entwicklung eines Modells zur optimalen Trennung bekannter Grup-pen oder unterschiedlicher Niveaus der Schulleistungen.

Methoden je nach Messniveau und Skalenqualität: Nominale oderordinale Regressionsanalysen und entsprechende Schätzungen derKriteriumszugehörigkeiten.

Modell 2 Verwendung der im Modell 1 identifizierten vorhersagestärksten Va-riablen in einer datenangemessenen hierarchischen Diskriminanz-analyse zur Rekonstruktion der Zuordnung der Kinder zu unter-schiedlichen Kohorten.

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Im Modell 1 wird danach gefragt, ob miteiner Gewichtung der Einzelvariablen aus derVU und der GA unterschiedliche Kriterien,wie die Zugehörigkeit zu Zeit- und Förderort-kohorten, vorhergesagt werden können. Eswird regressionsanalytisch versucht, die rea-len Entscheidungsprozesse in Kenntnis derGruppenzugehörigkeit der Kinder mit eineroptimal gewichteten Variablenkombinationabzubilden. Die Qualität der Annäherungder Vorhersagegleichung an die Wirklichkeitwird mit statistischen Maßen der multiplenKorrelation und dem Eta² (als Ausdruck fürdie Erklärbarkeit der Varianz des Kriteriumsdurch die verwendeten, gewichteten Einzel-variablen) beschrieben.

Im Modell 2 wird gefragt, ob es verschie-dene Gruppen bzw. „Cluster“ von Kinderninnerhalb der gesamten Untersuchungsgrup-pe gibt und ob es gelingt, auf der Grundlageder diagnostischen Daten Cluster von Kin-dern zu finden, die den IF- und GS-Kindernentsprechen bzw. mit denen beide Gruppenmit hinreichender Präzision unterschieden

193Die Bedeutung diagnostischer Daten im Prozess der Förderung ...

werden können, ohne zuvor in die Auswer-tungsprozedur einzugeben, welche Kinderzu welchem Cluster gehören. Dieses Modellkommt der praktischen diagnostischen Fragesehr nahe, Kinder auf der Grundlage diagnos-tischer Daten zu differenzieren und z. B. da-rüber zu entscheiden, ob ein sonderpädago-gischer Förderbedarf vorhanden ist odernicht und ob eine Förderung in einer inter-nen Fördergruppe oder einer integrativenKlasse notwendig sein mag. Bei der Ausfüh-rung des Modells wird unter Verwendungder besten Variablen die Gruppenzugehörig-keit „vorhergesagt“ und sodann mit der rea-len Gruppenzugehörigkeit in einem in derRegel Vierfelderschema verglichen. Es wer-den mehrere Kennwerte für die Präzision derVorhersage bestimmt. Das sind für die Be-stimmung der statistischen Bedeutsamkeitdie Zufallswahrscheinlichkeit p sowie derWert Eta2 für die erklärte Varianz, die Sensiti-vität und Selektivität für die Identifizierbarkeitder Zugehörigkeit zu einer der beiden realenGruppen, die Gesamttrefferquote und der

Tab. 3: Fortsetzung

Problemstellung 2: Unterscheiden sich die IF- und GS-Kinder hinsichtlich ihrer Schulleistun-gen, und sind die IF-Kinder mit Hilfe der verfügbaren diagnostischen Daten von den GS-Kin-dern zu unterscheiden?

Prädiktoren und Kriterien

Prädiktoren:– Variablen der Erfas-

sung schulischerLernvoraussetzun-gen (Klasse 1)

– HSP I u. HSP II(Klasse 1)

– Schulleistungen derKlasse 2

Kriterien:– IF- bzw. GS-Status

der Kinder

Modell 1 Berechnung der multiplen Zusammenhänge zwischen Prädiktorenund Kriterien mit parametrischen und nichtparametrischen Regressi-onsanalysen.

Modell 2 Verwendung der Prädiktoren einer datenangemessenen Two-Step-Diskriminanzanalyse zur Identifikation der IF-Kinder in der gesamtenUntersuchungsstichprobe.

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Ratz-Index. Der Ratz-Index gibt den Prozent-satz an, in welchem Ausmaß ein Klassifikati-onsergebnis auf der Basis eines diagnosti-schen Verfahrens die Zahl der „richtigen“Klassifikationen übersteigt, die bei einer Zu-ordnung nach dem Zufallsprinzip zu erwar-ten sind. Prozentsätze zwischen 34 % und66 % gelten als gut, ab 67 % wird eine sehrgute Klassifikation angenommen (Marx,1992).

Übliche Abkürzungen sind:IF-Kinder: Kinder mit sonderpädagogi-

schem Förderbedarf, die durchein Integratives Förderzentrumbetreut werden.

IF-GS-Kinder: Kinder mit sonderpädagogi-schem Förderbedarf, die in ei-ne Grundschulklasse integriertwurden.

IF-IF-Kinder: Kinder mit sonderpädagogi-schem Förderbedarf, die in ei-ner internen Lerngruppe in ei-nem Förderzentrum unterrich-tet werden.

GS-Kinder: Grundschulkinder ohne son-derpädagogischen Förderbe-darf.

IF-GS-Klasse: Grundschulklasse, in die min-destens ein Kind mit sonderpä-dagogischem Förderbedarf in-tegriert wurde.

IF-IF-Klasse: Interne Lerngruppe für IF-Kin-der in einem Förderzentrum.

VU: Kinder der Viereinhalbjährigen-Untersuchung.

GA: Kinder der Gutachtenanalyse.

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Ergebnisse zur Ausgangslageder Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Auswertung der sonder-pädagogischen Gutachten und der Viereinhalbjährigen-Untersuchung

Dem schulpolitischen Anspruch der Vierein-halbjährigen-Untersuchung folgend solltefeststellbar sein, dass bei den als RisikokinderErkannten tatsächlich Fördermaßnahmen ein-geleitet wurden. Retrospektiv zu fragen ist,ob die Kinder, die zum Zeitpunkt der Ein-schulung einen sonderpädagogischen För-derbedarf zuerkannt bekommen haben, be-reits zum Zeitpunkt der Viereinhalbjährigen-Untersuchung als mutmaßliche Risikokindererfasst waren.

Als zweckdienliche Methode zur Beant-wortung dieser Fragen wurden die Schülerak-ten der betreffenden Kinder zur Sicherungder Ergebnisqualität von je zwei Beurteilerneiner Inhaltsanalyse (vgl. z. B. Früh, 2001;Merten, 1995) unterzogen und mittels einesAnalysebogens analysiert und im Konsensver-fahren ausgewertet. Der auch im Rahmender Gutachtenanalyse eingesetzte Analyse-bogen geht dabei auf das von Degenhardt,von Knebel, Lemke, Schuck und Welling(2004) entwickelte und erprobte Kategorien-raster zur Analyse sonderpädagogischer Gut-achten zurück. Um die Reliabilität der Codie-rungen sicherzustellen, wurden die Doku-mente jeweils von zwei Mitgliedern der Ar-beitsgruppe codiert, die sich im Konsensver-fahren auf eine Codierung einigten. Unter-sucht wurden die in den Schülerakten befind-lichen Protokollbögen der Viereinhalbjähri-gen-Untersuchung, und zwar für jene Kinder,die zum 01.08.2007 und bis 01.08.2008 indie sonderpädagogische Förderung des Pro-jektes aufgenommen worden sind (Gutach-tenanalyse GA 3).

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Deskriptive Befunde

Von 59 Kindern der GutachtenauswertungGA 3 haben 42 Kinder (71.2 %) mit verwert-baren Informationen an der Viereinhalbjähri-gen-Untersuchung (VU) teilgenommen. DieGeschlechterverteilung und die Verteilungvon Kindern mit und ohne Migrationshinter-grund waren geringfügig verschieden, aberstatistisch ohne Bedeutung. Von den 42 Kin-dern, für die ein sonderpädagogischer För-derbedarf im Gutachten festgestellt wurdeund auswertbare VU-Daten vorliegen, hattensich bereits n=34 Kinder (81 %) in der VU alsförderbedürftig erwiesen. 19 % der späterenRisikokinder wurden demnach in der VUnicht als solche erkannt. Auf die gesamte Un-tersuchungsgruppe und auf das in den Gut-achten dokumentierte Gesamtsystem derPrävention durch die VU muss festgestelltwerden, dass nur 34 (das sind 57.6 %) derKinder der GA 3 als Risikokinder identifiziertwurden. Zugleich konnte kein nennenswer-ter und systematischer Zusammenhang zwi-schen der Feststellung von Förderbedarfen inder VU und der Einleitung von Fördermaß-nahmen festgestellt werden. Von den späte-ren IF-Kindern, die bereits in der VU als för-derbedürftig erkannt wurden, erhielten näm-lich 17.6 % keine Förderung. Andererseitserhielten sechs IF-Kinder, die in der VU nichtals förderbedürftig erkannt worden waren,dennoch eine Förderung.

Die Zahl der Nennungen von Förderbe-darfen ist in den Gutachten höher als in derVU. Von Interesse ist neben der Zahl der ge-nannten Auffälligkeiten deren Kombinationbei der VU und der GA getrennt und in zu-sammenführender Betrachtung. Es konntekein systematischer Zusammenhang zwi-schen den genannten Förderbedarfskombi-nationen in der VU und GA bei den Kindernbelegt werden. Den meisten Kindern wurdeein Bedarf im Förderschwerpunkt Sprachezugeschrieben. In der VU sind es 69.1 %und bei der GA sogar 88.1 % der Kinder, diehinsichtlich ihrer Sprache als förderbedürftig

195Die Bedeutung diagnostischer Daten im Prozess der Förderung ...

erscheinen. In der VU folgen – in quantitati-ver Hinsicht – die Schwerpunkte körperlicheund motorische Entwicklung, Lernen undemotional-soziale Entwicklung. Bei der Gut-achtenerstellung werden 67.8 % der Kinderals förderbedürftig im Lernen, 52.5 % derKinder als förderbedürftig in ihrer körperli-chen und motorischen und 44.1 % als för-derbedürftig in ihrer emotional-sozialen Ent-wicklung gesehen. Im Schnitt werden in derVU 1.67 Förderschwerpunkte pro Kind ge-nannt; in der GA werden gar 2.53 Förder-schwerpunkte pro Kind festgestellt.

Erstaunlich ist, warum bei einem so an-spruchsvollen Konzept der Früherfassungund Frühförderung der Viereinhalbjährigen-untersuchung nur 57.6 % der späteren Risi-kokinder in der VU identifiziert werden. Ver-antwortlich dafür ist sicherlich die nicht opti-male Qualität der diagnostischen Untersu-chungen, die weitgehend ohne Beteiligungvon SonderpädagogInnen vonstatten geht.Auch spielt eine Rolle, dass die VU kon-zeptwidrig offensichtlich nicht bei allen Kin-dern durchgeführt wird und aus den Ergeb-nissen nicht durchgängig die notwendigenMaßnahmen der Förderung wahrgenommenbzw. eingeleitet werden.

Zu klären ist nunmehr, ob und gegebe-nenfalls mit welcher Präzision die praktischerfolgten Zuordnungen der IF-Kinder zu un-terschiedlichen Zeit- und Förderortkohortenaus den diagnostischen Daten sowohl derViereinhalbjährigen-Untersuchung als auchder Gutachtenanalyse rekonstruierbar sind.Des Weiteren ist zu klären, ob und mit wel-cher Präzision unter Verwendung der Schul-leistungen in der ersten und zweiten Klassedie IF-Kinder von den anderen Grundschul-kindern unterschieden werden können.

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Die Rekonstruierbarkeit der Zuordnung der IF-Kinder zuspäteren Förderortkohortenaus den Daten der Viereinhalbjährigen- Untersuchung

Die nachfolgende Tabelle 4 zeigt an drei aus-gewählten Beispielen bemerkenswerte Ergeb-nisse zum Zusammenhang zwischen Datender Viereinhalbjährigen-Untersuchung undspäteren pädagogischen Entscheidungen.Die Daten der Viereinhalbjährigen-Untersu-chung als Prädiktoren vermögen danach mithohen multiplen Korrelationen und mit hoherErklärungsmächtigkeit die Varianz der spätererhobenen Kriterien des Förderortes und derSchulleistungen (hier: Testleistungen imMÜSC bzw. im HaReT in der ersten Klasse)

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vorherzusagen. Zugleich gelingen im Modell2 für den MÜSC 73.7 % und für den HaReT84.2 % richtige statistisch mindestens signifi-kant übereinstimmende Klassifikationen.

Aus forschungstechnischer Sicht sind diesignifikanten bzw. sehr signifikanten multi-plen Zusammenhänge zwischen späterenEntscheidungen zum Förderort (intern versusintegrativ) bemerkenswert. Dennoch sind kei-ne substanziellen Vorhersagen zum späterenFörderort der Kinder möglich.

Deutlich besser gelingt die Vorhersageder in der ersten Klasse erhobenen Leistun-gen im MÜSC und HaReT aus den Daten derViereinhalbjährigen-Untersuchung und damitdie statistisch bedeutsame Unterscheidungder später besseren und schwächeren Kin-der. Diese Zusammenhänge zwischen denErgebnissen der Viereinhalbjährigen-Untersu-chung und den späteren Ergebnissen in den

Tab. 4: Die Modellierbarkeit möglicher Zusammenhänge zwischen diagnostischen Daten der

Viereinhalbjährigen-Untersuchung und realen diagnostischen Entscheidungen

VU-Variablenals Prädiktoren

Modell 1 Modell 2

R Eta² p n richtige Klassifi-kationen

Güte der KlassifikationSensitivität (Se), Spezifi-tät (Sp) und Ratz-Index

(Ra)

Kriterien: n %

Eta2 Se Sp Ra

FOStart_GA 2 .53 .28 .008ss

42 2354.8 %

.042n.s.

9.1 % 70.8 % 19.3 %

KL1_MÜSC .58 .33 .022s

19 1473.7 %

.223s.

72.7 % 75.0 % 42.4 %

KL1_HaReT .62 .38 .007ss

18 1583.3 %

.377

.009ss

66.7 % 91.7 % 53.9 %

In unterschiedlichen Vorhersagegleichungen verwendete Variablen als Prädiktoren: Geschlecht, Migrationshintergrund, Feststellung von Förderbedarfen: "Sprache", "Lernen","Emotional-soziale Entwicklung", "Körperlich-motorische Entwicklung".

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Voraussetzungsskalen für Schulleistungenkönnten somit die Grundlage für lerngegen-standsspezifische Fördermaßnahmen sein.

Das Ergebnis hat jedoch eine zweite Sei-te: Hohe Korrelationen zwischen den Varia-blen der VU und den späteren Ergebnissen inden Voraussetzungsskalen sprechen einmalfür eine hohe prognostische Validität der di-agnostischen Daten, aber auch für eine hoheStabilität der Entwicklung, die etwa durchFörderung nicht gebrochen wurde oder wer-den konnte.

197Die Bedeutung diagnostischer Daten im Prozess der Förderung ...

Die Rekonstruierbarkeit der Zuordnung der IF-Kinder zuZeit- und Förderortkohortenaus den Daten der Gutachten-analyse

Bei jedem Kind kann unterschieden werden,zu welchem Zeitpunkt der sonderpädagogi-sche Förderbedarf festgestellt, welcher För-derort beim Start vorgeschlagen und welcherFörderort am Ende von Klasse zwei erreichtwurde. Die Tabelle 5 zeigt ausgewählte Er-gebnisse im Überblick und Tabelle 6 beispiel-haft die Klassifikationsergebnisse im Modell2 für die Vorhersage der Zugehörigkeit zuden Zeitkohorten der GutachtenauswertungGA 2.

Tab. 5: Die Modellierbarkeit möglicher Zusammenhänge zwischen diagnostischen Daten der

Gutachtenanalyse und realen diagnostischen Entscheidungen

GA-Variablenals Prädiktoren

Modell 1 Modell 2

R Eta² p n richtige Klassifi-kationen

Güte der KlassifikationSensitivität (Se), Spezifi-tät (Sp) und Ratz-Index

(Ra)

Kriterien: n %

Eta2 Se Sp Ra

Zeit_GA 2 .58 .33 .000sss

53 3056.6 %

.040n.s.

74.4 % 7.1 % 23.5 %

Zeit_GA 3 .75 .56 .000sss

59 3254.24 %

0.53n.s.

Bei dreistufigem Kriteriumnicht berechenbar

FOStart_GA 3 .53 .28 .001sss

59 4678.0 %

.071s

30.8 % 91.3 % 19.9 %

FOEnd_GA 3 .68 .46 .000sss

59 28547.5 %

.031T

Bei dreistufigem Kriteriumnicht berechenbar

In unterschiedlichen Vorhersagegleichungen verwendete Variablen als Prädiktoren:Alter, Migrationshintergrund, Rückstellung, CFT-Gesamtergebnis, Codierungen zur "Sprach-kompetenz", "Grammatik", "Lexikon" und "Sprachverständnis". Feststellung von Förderbedarf"Lernen".

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Die Ergebnisse sind wie folgt zusammen-zufassen:

Zum Aufnahmezeitpunkt: Unter for-schungstechnischer Perspektive überraschendie hohen multiplen Korrelationen zwischender Zugehörigkeit zu den Zeitkohorten inGA 2 und den diagnostischen Variablen. Un-ter Gesichtspunkten der praktischen Rele-vanz muss jedoch festgestellt werden, dass esnicht möglich ist, mit genügender und statis-tisch gesicherter Präzision die Entschei-dungen der Diagnostiker über den Zeitpunktder Aufnahme der Kinder in die IF-Förderungaus den diagnostischen Daten heraus zu be-gründen. Besonders hervorzuheben ist dasfolgende Ergebnis: Von den 14 Kindern inder Zeitkohorte GA 2, die erst im Verlauf desersten Schuljahres oder später in die IF-Förde-rung aufgenommen wurden, hätten nachden diagnostischen Daten 13 Kinder (dassind 93 %) schon zum Schuljahresbeginn auf-genommen werden müssen. Damit habendie verwendeten diagnostischen Strategienund die praktisch getroffenen Entscheidun-gen nicht dazu geführt, dass die tatsächlichförderbedürftigen Kinder auch frühzeitig indie Förderung aufgenommen wurden. Dies

198 K. D. Schuck

ist darin begründet, dass zum Beginn derSchulzeit nur die Kinder untersucht wurden,die – aus welchen Gründen auch immer –bereits als eventuell förderbedürftig erkanntwurden. Damit muss die Organisation desVerfahrens zur Feststellung des sonderpäda-gogischen Förderbedarfs mindestens modifi-ziert oder gänzlich in Frage gestellt werden.Die aktuelle Praxis benachteiligt eindeutig ei-nen erheblichen Teil der Kinder, die nichtrechtzeitig erkannt und gefördert werden.

Zum Förderort gelingt die Rekonstrukti-on der Erstentscheidungen der Diagnostiker(interne versus integrative Förderung) beimStart signifikant mit 78 % richtigen Klassifika-tionen. Der reale Förderort am Ende vonKlasse 2 ist dagegen nur bei 47.5 % der Kin-der richtig aus den diagnostischen Daten vor-herzusagen. Es kommt dabei bei den interngeförderten Kindern gemessen an den diag-nostischen Daten zu 61.5 % Fehlentschei-dungen und bei den Kindern, die im Beob-achtungszeitraum den Förderbedarf über-winden, zu 50 % Fehlentscheidungen. Eskann damit zusammenfassend festgestelltwerden, dass es einerseits besonders schwie-rig ist, anhand der verfügbaren diagnosti-

Tab. 6: Übereinstimmung der Zeitkohorte in GA 2 mit den vorhergesagten Zugehörigkeiten zu

den Zeitkohorten (Modell 2)

realer Förderort Gesamt

IF-Kind vomStart an

IF-Kind ab zwei-tem Schulhalb-

jahr

vorhergesagter Aufnahme-zeitpunkt

vom Start an 29 13 42

ab zweitemSchulhalbjahr

10 1 11

Gesamt 39 14 53

Sensitivität (Se) 74.4 %

Spezifität (Sp) 7.1 %

Gesamttrefferquote (Ge) 56.6 %

Ratz-Index (Ra) Eta² = 0.040 n.s. 23.5 %

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schen Daten die Entscheidungen der Diag-nostiker über Kinder, die integrativ gefördertwurden, zu verstehen und vorwegzunehmen,welche Kinder den Förderbedarf am ehestenüberwinden werden. Andererseits sprichtdies eben auch für prognostisch nicht abseh-bare und möglicherweise durch Förderpro-zesse induzierte Entwicklungen. Dieserdurchaus erwünschten Dynamik kann nur da-durch Rechnung getragen werden, dass Prog-nosen zur weiteren Entwicklung in ihrer Be-deutung für konkrete pädagogische Handlun-gen nur so weit eine Rolle spielen dürfen, wiesie gerade erwünschte Entwicklungsdynami-ken nicht behindern. So könnte eine Ent-scheidung für die interne Förderung den be-troffenen Kindern gerade solche Entwick-lungsanreize entziehen, die ihnen Angebotein einer integrativen Förderung geben wür-den. Diese Art von Fehlentscheidungen zeigtsich zwangsläufig in allen Längsschnittunter-suchungen mit vorgängiger Kategorisierungder Behandlungsgruppen und kann durch ei-ne Verbesserung der Diagnostik nicht verhin-dert werden (hierzu das Problem der Fehlent-scheidungen bei der Einschulung, Krapp &Mandel, 1976; Schuck, 2003). Prinzip einerflexiblen und durchlässigen pädagogischenStrategie sollte es deshalb sein, dass die not-wendigerweise auftretenden Fehler bei jederEntscheidung revidierbar bleiben und nichtzum Nachteil der betroffenen Subjekte wer-den.

Zur Identifizierbarkeit der IF-Kinder in der gesamten UntersuchungsgruppeEin wesentliches Kriterium für die Beurteilungder Qualität der diagnostischen Prozessedürfte es sein, wie hoch die in der ersten undzweiten Klasse erhobenen Schulleistungenmit den Variablen der Gutachtenanalyse kor-relieren (Modell 1) und wie gut es im Modell2 gelingt, mit Hilfe der Schulleistungsdatendie Kinder mit sonderpädagogischem Förder-

199Die Bedeutung diagnostischer Daten im Prozess der Förderung ...

bedarf zu identifizieren und von jenen zu un-terscheiden, denen kein sonderpädagogi-scher Förderbedarf zugerechnet wurde.

Die folgende Tabelle 7 zeigt, dass mit be-achtlichen Anteilen aufgeklärter Varianz diespäteren Schulleistungen im ersten und zwei-ten Schuljahr im Modell 1 aus den diagnosti-schen Daten des Gutachtens heraus vorher-sagbar sind. Dieses Ergebnis ist forschungs-technisch von hohem Wert und spricht fürdie Reliabilität und schließlich Validität derGutachtenvariablen als Prädiktoren für Krite-rien wie etwa die Schulleistungen.

Die nachfolgenden Abbildungen zeigentrotz dieser forschungstechnisch hoch be-deutsamen Korrelationen den bedenkens-werten generellen Sachverhalt: Trotz signifi-kanter Leistungsunterschiede zwischen denIF-Kindern und den übrigen Grundschulkin-dern (GS-Kinder) ergeben sich breite Über-schneidungsbereiche unter allen diagnosti-schen Aspekten, so dass nur in der Kombina-tion mehrerer diagnostischer Daten die Tren-nung beider Gruppen gelingen kann. Abbil-dung 1 zeigt für die beiden Gruppen (IF- undGS-Kinder) beispielhaft die prozentuiertenHäufigkeiten für beide Gruppen in Mathema-tik.

Trotz dieser in allen Schulleistungsvaria-blen zu beobachtenden breiten Überschnei-dung der Leistungsbereiche gelingt es aus-weislich der Tabelle 8 (dort sind ausgewählteVorhersagegleichungen aufgenommen) so-wohl im Modell 1 als auch im Modell 2, dieIF-Kinder in der gesamten Untersuchungs-gruppe als statistisch hoch signifikant gesi-chert zu identifizieren:

Es werden demnach mit den eingesetztendiagnostischen Instrumenten Leistungsmerk-male erfasst, in deren Kombination der Aus-prägungen sich die unterschiedlichen Aus-gangslagen und Entwicklungsergebnisse derIF- und GS-Kinder manifestieren. Dabeikommt es zu charakteristischen Befunden,die exemplarisch in der Vorhersage der Grup-penzugehörigkeit durch die Kombination derdiagnostischen Ergebnisse zu Beginn des ers-

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ten Schuljahres (HaReT und MÜSC) erläutertwerden sollen.

Der HaReT ist ein Test, der bereits zu Be-ginn der ersten Klasse Aussagen über Fähig-keiten gestattet, die als Voraussetzungen fürdie Entwicklung mathematischer Fähigkeitengelten können. In Kombination mit demMÜSC als Voraussetzungstest für den schrift-sprachlichen Erwerb werden in der gemeinsa-men Betrachtung der Präzision der Identifika-tion von IF-Kindern die zu Beginn der erstenKlasse erhobenen Lernvoraussetzungen ge-prüft. Im Modell 1 gelingt eine Trennung der

200 K. D. Schuck

IF- und GS-Kinder mit einem höchst signifi-kanten R von 0.42 und einer Varianzaufklä-rung von 18.0 %. Im Modell 2 werden 21(77.8 %) von 27 IF-Kindern richtig identifi-ziert, aber zugleich 54 andere Kinder als IF-Kinder gekennzeichnet (vgl. Tab. 9). Das sindbezogen auf die real als IF-Kinder Identifizier-ten eine doppelte Anzahl weiterer Kinder(200 %), die eine ähnliche Kombination vonAusprägungen in beiden Voraussetzungsska-len haben wie die IF-Kinder. Das Klassifikati-onsergebnis ist der Tabelle 9 zu entnehmen.

Tab. 7: Vorhersagbarkeit ausgewählter Schulleistungen aus der jeweils besten Kombination der

vorhersagestärksten Variablen der Gutachten (Modell 1)

Schulleistungsvariablen Modell 1

R Eta2 p N

KL1_MÜSC .72 .52 .001 32

KL1_HSPII .55 .30 .010 26

KL2_Mathe .59 .35 .000 56

KL2_Wortschatz .57 .31 .004 42

In unterschiedlichen Vorhersagegleichungen verwendete Variablen als Prädiktoren: Migrationshintergrund. Rückstellung. CFT-Gesamtergebnis. Codierungen zur "Sprachkompe-tenz", "Aussprache", "Grammatik", "Lexikon" und "Sprachverständnis". Feststellung von Förder-bedarfen: "Sprache", "Lernen", "Emotional-soziale Entwicklung" und "Körperlich-motorischeEntwicklung".

0,0

5,0

10,0

15,0

20,0

25,0

30,0

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Mathematik

%

Häufigkeiten

GS-Kinder IF-Kinder

Abb. 1: Verteilung der Rohwerte in

Mathematik, getrennt für IF- und

GS-Kinder

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Trotz hoher Präzision und statistischerSignifikanz im Ganzen werden 6 von 27 IF-Kindern, d. h. 22.2 %, nicht erkannt, dafüraber weitere 54 Kinder durch die diagnosti-schen Daten zu IF-Kindern erklärt. Die Spezi-fität (Erkennbarkeit der GS-Kinder) ist beacht-lich, die Sensitivität (Erkennbarkeit der IF-Kin-

201Die Bedeutung diagnostischer Daten im Prozess der Förderung ...

der) ist etwas geringer. Mit diesem sehr gutenKlassifikationsergebnis wird der Zufall um71.9 % übertroffen (Ratz-Index) und der Be-reich „sehr guter“ Klassifikationsleistungen –gemessen am Ratz-Index – erreicht. Für alleweiteren Prognosegleichungen heißt dieseshervorragende Ergebnis aber zugleich, näm-

Tab. 8: Präzision der Identifikation von IF-Kindern in der Gesamtuntersuchungsgruppe

Modell 1 Modell 2

R Eta² p n GS IF

Ge-samt-

treffer-quote

Zusätz-liche IF-Kinder1

Güte der KlassifikationSensitivität (Se), Spezifität(Sp) und Ratz-Index (Ra)

Kriterien: Eta2

pn%

n%

Serichtige

IF

Sp richtige

GS

Ra

KL1_HaReTKL1_MÜSC

.42 .180 .000sss

32927

.158sss

29683.15

54200 %

2177.8 %

27583.6 %

83.2 %

KL1_HSPIKL1_HSPII

.31 .097 .000sss

34925

.076sss

30080.2 %

65260 %

1664.0 %

28481.4 %

54.1 %

KL1_MÜSCKL1_HaReTKL1_HSPIKL2_MatheGrammatikWortschatzLesenPseudowörter

.59 .343.000sss

23825

.308sss

23087.5 %

30120 %

2288.0 %

20887.5 %

85.0 %

1 Der Prozentsatz der Zahl zusätzlicher IF-Kinder wurde bezogen auf die Zahl der tatsächlichen IF-Kinder.

Tab. 9: Identifikation der IF-Kinder über die Voraussetzungsskalen HaReT und MÜSC

reale Definitionen Gesamt

IF-Kinder GS-Kinder

vorhergesagte Gruppen-zugehörigkeit

IF-Kinder 21 54 75

GS-Kinder 6 275 281

Gesamt 27 329 356

Sensitivität (Se) 77.8 %

Spezifität (Sp) 83.6 %

Gesamttrefferquote (Ge) 83.2 %

Ratz-Index (Ra) Eta2 = 0.158 s.s.s. 71.9 %

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lich dass eine große Zahl ebenfalls förderbe-dürftiger Kinder in der Gesamtstichprobevorhanden ist, ohne mit der verwendeten di-agnostischen Strategie und den verwendetendiagnostischen Mitteln erkannt zu werden.

Als Fazit kann festgehalten werden: Esgibt deutliche Zusammenhänge zwischenden Variablen der Gutachtenanalyse und denspäteren Schulleistungen. Die multiplen Kor-relationen zwischen den besten Gutachten-variablen und den späteren Schulleistungenbewegen sich zwischen R = .55 und R = .72.Diese Zusammenhänge sind forschungstheo-retisch hoch bedeutsam und zeigen, dass dersonderpädagogische Begutachtungsprozesszu nach üblichen Kriterien validen Ergebnis-sen hinsichtlich der Prognose zukünftigerSchulleistungen geführt hat.

Werden jedoch die Leistungen der durchdie Integrativen Förderzentren betreuten Kin-der und der übrigen Grundschulkinder in deneinzelnen Schulleistungsvariablen miteinan-der verglichen, kommt es zu breiten Über-schneidungen zwischen den Leistungen derbeiden Gruppen. Mit einzelnen diagnosti-schen Maßen lassen sich IF- und GS-Kindernicht voneinander unterscheiden. Es wurdenunterschiedliche multivariate Prognoseglei-chungen entwickelt, die entweder die Vo-raussetzungsskalen, die schriftsprachlichenLeistungen, die Leistungen in der zweitenKlasse oder Kombinationen von Leistungsma-ßen der ersten und zweiten Klasse umfassten.Je mehr diagnostische Maße in die Prognose-gleichungen einbezogen werden, umso bes-ser gelingt die Unterscheidung von IF- undGS-Kindern, und zwar bis zu einem Maxi-mum von 87.5 % richtigen Klassifikationen,mit denen die Zahl zufällig richtiger Klassifi-kationen um 85 % übertroffen wird.

Gleichzeitig gibt es unter den Grund-schulkindern eine erhebliche Zahl von Kin-dern, die bezogen auf ihre Schulleistungenund ihre Ergebnisse in den Voraussetzungs-skalen für schulisches Lernen völlig vergleich-bare Befunde wie die IF-Kinder aufweisen

202 K. D. Schuck

und damit ähnliche Unterstützungsbedarfehaben dürften. Nach den vorliegenden Er-gebnissen ist mit 120 % bis 260 % zusätz-lich förderbedürftigen Kindern zu rechnen,die hinsichtlich ihrer Leistungsstruktur denenentsprechen, die im formellen Verfahren alssonderpädagogisch förderbedürftig diagnos-tiziert wurden. Parallel dazu müssten je nachverwendeten Prädiktoren 12.0 % bis 36 %der als IF-Kinder Identifizierten nach den di-agnostischen Daten zu den Grundschulkin-dern zählen. Es werden demnach im gutach-terlichen diagnostischen Prozess zwar viele„richtige“ Kinder als besonders förderbedürf-tig identifiziert. Daneben gibt es jedoch ge-messen an den später erhobenen Schulleis-tungsdaten 12.0 % bis 36 % Kinder, diefälschlicherweise den IF-Status haben (oderüberwunden haben) und ca. 1.2-mal bis 2.6-mal so viele Kinder, die von ihren Lernvoraus-setzungen bzw. ihren in der zweiten Klasseerzielten Lernergebnissen her mindestens diegleiche pädagogische Aufmerksamkeit benö-tigten wie die zuvor als förderbedürftig er-klärten Kinder.

Das heißt insgesamt: Die gewählte diag-nostische Strategie, nur die im Vorschulbe-reich durch die vorgängigen Filter als mut-maßlich förderbedürftig erkannten Kinder zuuntersuchen, muss entweder erweitert odergänzlich unterlassen werden. So wie die diag-nostisch-pädagogische Strategie im Modellder Integrativen Förderzentren angelegt ist,werden zwar viele wirklich förderbedürftigeKinder erkannt, aber zugleich wird nochmehr Kindern die besondere Unterstützungvorenthalten.

Ein weiterer Auswertungs-aspekt: Die Bedeutung von Intelligenztests für die getroffenen Entscheidungen

Intelligenztests gehören noch immer zumStandardrepertoire der sonderpädagogi-

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schen Diagnostik, die mit zum Teil hohemZeitaufwand eingesetzt werden. Es ist zu fra-gen, ob dieser Aufwand durch die tatsächli-che Bedeutung der Ergebnisse im diagnosti-schen Prozess gerechtfertigt erscheint. In derzentralen Untersuchungsgruppe GA 3(n=59) wurden bei 26 Kindern (44.1 %) einIntelligenztest und bei 33 Kindern (55.9 %)zwei Intelligenztests durchgeführt. Hier wirdganz der Hamburger Tradition einer sehr auf-wändigen Intelligenztestdiagnostik gefolgt,die keineswegs der bundesrepublikanischenPraxis entspricht. Gemessen am Aufwand istdie Feststellung des Intelligenzquotienten –zumindest mit zwei Verfahren – eine sehrzeitintensive diagnostische Maßnahme, unddie Frage stellt sich, wie weit dieser Aufwanddem Ertrag der Informationen entspricht. Der„Ertrag“ manifestiert sich bei der Analyse ein-facher Korrelationen zwischen Intelligenztest-ergebnissen und 37 Variablen darin, dass esnur bei zwei Variablen zwischen Intelligenz-testwerten und HaReT-Ergebnissen, Klasse 1sowie CFT und Mathematikergebnissen, Klas-se 2, substanzielle Zusammenhänge in Höhevon r = .57 und .46 gibt. Dagegen stelltensich die Intelligenztestergebnisse in mehrerenmultiplen Vorhersagegleichungen unter-

203Die Bedeutung diagnostischer Daten im Prozess der Förderung ...

schiedlicher Kriterien als regelhaft unbedeu-tend heraus. Selbst bei der Entscheidungüber die Teilnahme an der internen oder inte-grativen Förderung spielen Intelligenztester-gebnisse keine entscheidende, allenfalls einemoderierende Rolle. Das belegen die nichtsignifikanten Klassifikationsergebnisse der Ta-belle 10.

Insgesamt wird deutlich, dass die hoheBedeutung des CFT und der Intelligenztestdi-agnostik, wie sie der Intelligenzdiagnostik –auch in diesem Projekt – beigemessen wird,aus den vorliegenden Daten bei weitemnicht rekonstruierbar ist. Unstreitig ist, dassdie Intelligenztestleistungen bei manchenEntscheidungen moderierende Funktion ha-ben. Dieses Ergebnis ist im Hinblick auf diefür die Intelligenzdiagnostik im IF-Projekt ver-wendete Zeit hin zu bewerten. Gemessenam diagnostischen Ertrag scheint es mehr alsfraglich, ob der hohe Zeiteinsatz für die Intel-ligenzdiagnostik gerechtfertigt ist und obnicht ein Teil der für die Intelligenzdiagnostikverwendeten Zeit für die Durchführung z. B.lerngegenstandsspezifischer Voraussetzungs-tests eingesetzt werden sollte.

Tab. 10: Identifikation der intern bzw. integrativ geförderten Kinder über die CFT-Ergebnisse

Reale Definitionen Gesamt

interneFörderung

integrativeFörderung

CFT-Ergebnisse median-halbiert

untere Hälfte:deutliches Risiko

9 20 29

obere Hälfte:weniger Risiko

4 26 30

Gesamt 13 46 59

Sensitivität (Se) 69.2 %

Spezifität (Sp) 56.5 %

Gesamttrefferquote (Ge) 59.3 %

Ratz-Index (Ra) Eta2 = 0.046 n.s. 39.5 %

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Bewertungen der Ergebnisse

In jedem System schulischer Förderung gibtes eine breite Variabilität der tatsächlich vorOrt unter den je eigenen personellen, kom-munikativen und materiellen Bedingungenrealisierten Förderung und damit eine breiteStreuung möglicher Effekte, und zwar unab-hängig von den Systembedingungen. Ge-meint ist mit „System“ die Organisationsformder Förderung (hierzu z. B. Schuck, 2000).Unverkennbar eröffnen die Systeme in ihrerUnterschiedlichkeit ganz unterschiedlicheMöglichkeitsräume, die genutzt werden kön-nen oder auch nicht. Die Evaluation des Mo-dells des Integrativen Förderzentrums zieltdarauf ab, zu beschreiben, ob und wie dieMöglichkeitsräume dieses Systems der Förde-rung genutzt wurden.

Eine zentrale „Systembedingung“ desKonzepts der Integrativen Förderzentren istdie Überzeugung, dass mit einer frühzeitigenDiagnostik Risikokinder erkannt und effektivgefördert werden können. Tatsächlich konntenicht gezeigt werden, dass die Viereinhalb-jährigen-Untersuchung in der jetzigen Formund in der derzeit eingesetzten Professionali-tät die prinzipiellen Möglichkeitsräume wirk-lich nutzt, die im Konzept eröffnet werdensollten. Genauso muss festgestellt werden,dass sich der im Konzept der IntegrativenFörderzentren verankerte Einsatz des Werk-zeugs „Diagnostik“ bei den Untersuchungenvor Schuleintritt nur begrenzt bewährt hat,nicht weil das Werkzeug selbst problema-tisch wäre oder die Professionalität der Diag-nostizierenden nicht ausreichen würde, son-dern allein deshalb, weil die Diagnostik in ei-nem Gesamtzusammenhang zur Anwen-dung kommt, in dem nur diejenigen Kinderuntersucht werden, die in einem vorgängigenFilter als untersuchungswürdig erkannt wur-den. So werden im diagnostischen Prozesszur Einschulung zwar durchaus förderbedürf-tige Kinder identifiziert. Genauso förderbe-dürftige Kinder in erheblichem Umfang wer-den aber nicht zum Schuleintritt, sondern al-

204 K. D. Schuck

lenfalls später und dann nur unvollständigoder gar nicht erkannt. Hierbei handelt essich um 1.2-mal bis 2.6-mal so viele ebenfallsförderbedürftige Kinder. Auch hierin zeigensich die Begrenzungen der pädagogischenund diagnostischen Strategie im Modell desIntegrativen Förderzentrums.

In eine ähnliche Richtung weisen die Er-gebnisse der vergleichenden Betrachtungvon Kindern, die zu unterschiedlichen Zeit-punkten im Verlauf der ersten und zweitenKlasse als sonderpädagogisch förderbedürf-tig diagnostiziert wurden. Es kann aufgrundder vorhandenen diagnostischen Daten näm-lich nicht nachvollzogen werden, warum eini-ge Kinder bereits vor dem Schuleintritt alssonderpädagogisch förderbedürftig diagnos-tiziert wurden, während für andere Kinder,deren Entwicklungsstand sich nach den diag-nostischen Daten kaum von den erstgenann-ten unterscheidet, diese Diagnose erst nacheinem halben oder ganzen Schuljahr gestelltwurde. Viele der später als förderbedürftig er-klärten Kinder zeigen die gleichen Problemewie die früher als förderbedürftig erklärtenKinder und hätten demnach auch früher indie Förderung genommen werden müssen.

Diese Ergebnisse müssen unter den Prä-missen des Modells, möglichst frühzeitigmöglichst viele der Kinder mit Förderbedar-fen zu erkennen und in ihrer Entwicklung zuunterstützen, als höchst unbefriedigend be-zeichnet werden. Sie verweisen auf die Not-wendigkeit der Entwicklung einer Strategie,die sicherstellt, dass möglichst alle Kinder mitEntwicklungsschwierigkeiten schon frühzeitigbei der Viereinhalbjährigen-Untersuchungund beim Schuleintritt wahrgenommen wer-den.

Zu den Systembedingungen des Modellsdes Integrativen Förderzentrums gehört, dassfür die Kinder mit sonderpädagogischem För-derbedarf entschieden werden muss, ob sieintern oder integrativ zu fördern sind. Ausden diagnostischen Daten heraus ist nicht er-kennbar, warum sich die Diagnostik im je in-dividuellen Fall für die interne oder integrati-

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ve Förderung entschieden hat. Nach Datenla-ge hätte die Entscheidung bei vielen Kindernanders lauten können. Dieses Ergebnis zeigtauch, dass reale Entscheidungen auf mehrund anderen Informationen als denen, die imGutachten verfügbar gemacht sind, basieren.Das ist eine bekannte Tatsache und durchausmit Blick auf die weitere Verwertung der Gut-achten z. B. im Eltergespräch, begründbar.Aus einer Außenperspektive ist jedoch fest-zuhalten, dass nach den Evaluationsergebnis-sen keine transparente Nachvollziehbarkeitder Entscheidungen auf der Grundlage derdiagnostischen Daten erkennbar ist. Wie weitdie vermutlich verwendeten weichen Krite-rien bei der Entscheidung im Gutachten do-kumentiert werden sollten, ist damit eine of-fene Frage.

Es bleibt unter Würdigung all dieser Er-gebnisse zu fragen, ob die Effekte und Ne-benwirkungen einer sehr aufwändigen, eherstatusbezogenen Diagnostik im Konzept desIntegrativen Förderzentrums den hohen Auf-wand lohnen und ob nicht ein in der Literatur– spätestens seit der Debatte um die Schul-reifeuntersuchungen – längst entwickelterStandpunkt der Favorisierung einer lernge-genstandsbezogenen, lernprozessformieren-den und lernprozessbegleitenden Diagnostikinstitutionell zur Geltung kommen sollte. Daswürde bedeuten, eine möglichst frühzeitige,niederschwellige, lerngegenstandsbezogene,auf Vorläuferfähigkeiten zielende Diagnostiksowohl bei der Viereinhalbjährigen-Untersu-chung wie auch beim Schuleintritt bei allenKindern einzusetzen, um Entwicklungsrisikenbei allen Kindern zu entdecken und frühzeiti-ge Fördermaßnahmen einzuleiten. In Kennt-nis vorhandener Stärken, Schwächen undEntwicklungsrisiken wären sodann alle Kin-der in die allgemeine und inklusive Schuleohne Ausnahme und ohne ressourcenwirksa-me Etikettierungen einzuschulen. Der Diag-nostik käme in der Grundschule die Aufgabezu, lernprozessbegleitend die Entwicklung al-ler Kinder und die Bedingungen des Klassen-systems zu analysieren und zu dokumentie-

205Die Bedeutung diagnostischer Daten im Prozess der Förderung ...

ren, um die Lernangebote und Lernanforde-rungen entwicklungsbezogen zu modifizie-ren und die Rahmenbedingungen lernförder-lich zu gestalten. Dazu müsste selbstver-ständlich auch die Möglichkeit bestehen, Kin-der vorübergehend in besonderen Lerngrup-pen zu fördern. Diagnostik hätte dann nichtmehr primär die Funktion der Ressourcenbe-schaffung und der Zuordnung von Kindernzu besonderen schulischen Strukturen. Siediente vielmehr der Bearbeitung von Lern-und Entwicklungsproblemen im System ge-meinsamer Unterrichtung, welches über dieRessourcen verfügen müsste, allen Kinderndes jeweiligen Wohnbezirks im gemeinsa-men Unterricht und unter den üblicherweisezu erwartenden pädagogischen Problemenoptimale Entwicklungschancen zu eröffnen.Darüber hinaus gehende besondere Bedarfean pädagogischer und sonderpädagogischerKompetenz müssten durch schulübergreifen-de Strukturen gesichert werden.

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Anschrift des Autors:

PROF. DR. KARL DIETER SCHUCK

Universität Hamburg

Von-Melle-Park 8

20146 Hamburg

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