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J OSEPH R ATZINGER B ENEDIKT XVI. Die christliche Brüderlichkeit

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JOSEPH RATZINGER

BENEDIKT XVI.

Die christlicheBrüderlichkeit

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Professor Albert Lang

zum siebzigsten Geburtstag

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JOSEPH RATZINGERBENEDIKT XVI.

Diechristliche

Brüderlichkeit

KÖSEL

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der reformierten Rechtschreibung.Copyright © 1960 Kösel-Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHCopyright © della Libreria Editrice Vaticana

Umschlag: Kaselow Design, MünchenUmschlagmotiv: mauritius images / H. Schwarz

Druck und Bindung: Kösel, KrugzellPrinted in Germany.

Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungennur mit vorheriger Zustimmung des Kösel-Verlags.

ISBN-10: 3-466-36718-2ISBN-13: 978-3-466-36718-4

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ÜBER DIESES BUCH

Der Gedanke der Brüderlichkeit stammt aus

verschiedensten Quellen des abendländi-

schen Denkens: aus dem Alten Testament, der

griechischen Geisteswelt, den Worten Jesu

und den Briefen des Apostels Paulus, aus dem

Bund des Christlichen mit dem Griechi-

schen im Werk der Kirchenväter, aus dem

neuen Aufbruch der liberalistischen Ideolo-

gie in der Aufklärung und schließlich auch

aus marxistischen Theorien. Die immer

wiederkehrende Problematik des Begriffs

liegt in der Alternative zwischen einer zu

großen Weite, die das Wort zur Phrase wer-

den lässt, und einer Einengung, in der das

Ernstnehmen der Brüderlichkeit zu den ei-

nen die Unbrüderlichkeit zu den anderen zur

Folge hat. Die Idee einer christlichen Brü-

derlichkeit vermag diese Antithese zu über-

winden: Die christlichen »Brüder« schließen

sich zwar zusammen und setzen eine Grenze,

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aber nicht, um unter sich zu sein, sondern

um für die anderen da zu sein. Daraus erge-

ben sich nicht nur konkrete Normen christ-

lichen Verhaltens in der Welt, sondern auch

ein neues Verständnis der Kirche. Was der

Christ unserer Tage oft schmerzlich als Ab-

sonderung empfindet, begründet in Wahrheit

ein tiefes Füreinander aller Menschen.

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INHALT

Analyse der geschichtlichenGegebenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . 11

DER BRUDERBEGRIFF VOR UND

AUSSERHALB DES CHRISTENTUMS . . 14

»Bruder« im Griechentum . . . . . . . . . . . 14

Der Bruderbegriff des Alten Testaments . . . 16

Die Entwicklung im Hellenismus . . . . . . . 27

Aufklärung und Marxismus . . . . . . . . . . 32

DIE ENTWICKLUNG DES BRUDER-BEGRIFFS IM FRÜHEN CHRISTENTUM 41

»Bruder« in den Worten Jesu . . . . . . . . . . 41

Die Entwicklung innerhalb des Neuen

Testaments, besonders bei Paulus . . . . . . . . 57

Der Bruderbegriff in der Väterzeit . . . . . . . 69

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Versuch einer sachlichenSynthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

Die Grundlage des christlichen Brudertums:

Der Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

Grenzaufhebungen im Innern der christlichen

Brüderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

Die Grenze der engeren Brudergemeinde . . 110

Der wahre Universalismus . . . . . . . . . . . . 126

Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

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VORBEMERKUNG

Die folgenden Ausführungen wurden zuerst auf

dem Theologischen Tag des österreichischen Seelsorge-

instituts in Wien an Ostern 1958 vorgetragen, an-

schließend im Seelsorger 1958 S. 387–429 ver-

öffentlicht. Aus dieser Herkunft erklärt sich die

historische und sachliche Begrenzung des Ganzen,

das viel eher eine Einladung zum Gespräch als

etwa eine abschließende Darstellung des Themas zu

sein beabsichtigt. Dass ein solches Gespräch auch

weiterhin und in einem größeren Kreis als bisher zu

wünschen bleibt, rechtfertigt wohl auch die nochma-

lige, im Wesentlichen unveränderte Veröffentlichung

des damals Gesagten.

Bonn,August 1960 Joseph Ratzinger

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Analyseder geschichtlichen

Gegebenheiten

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»Einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brü-

der« [Mt 23,8]. Mit diesem Wort des Herrn

ist das Verhältnis der Christen untereinander

als ein Verhältnis von Brüdern bestimmt und

damit eine neue Bruderschaft des Geistes

dem natürlichen Brudertum entgegenge-

stellt, das aus der Blutsverwandtschaft ent-

springt. Das Ethos der Christen untereinan-

der ist also ein Ethos der Brüderlichkeit, oder

sollte es doch sein. Um den Sinn – die Trag-

weite und die Grenze – dieses neuen Bru-

dertums zu erfassen, wird es sich empfehlen,

die Ausprägungen der Brüderlichkeitsidee

festzustellen, die sich in der näheren Umge-

bung des entstehenden Christentums auffin-

den lassen, und auch diejenigen, die sich spä-

ter aus dem Christentum entfaltet haben, um

so zur »Unterscheidung des Christlichen«,

zum wahren Verständnis der inneren christ-

lichen Aussage vorstoßen zu können.

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DER BRUDERBEGRIFF

VOR UND AUSSERHALB

DES CHRISTENTUMS

»Bruder« im Griechentum

Bruderschaft ist, wie gesagt, zunächst ein

Phänomen der Blutsverwandtschaft.Aber die

übertragene Anwendung des Begriffs ist sehr

alt, wenn auch die Belege verhältnismäßig

spärlich sind. Bei Platon finden wir die Be-

zeichnung des Volksgenossen als Bruder:

�µε�ς δ� κα� �� �µ�τεp�ι, µι�ς µητρ�ς π�ντες

�δελφ�� φ�ντες1; Xenophon nennt den

Freund »Bruder«2. Im einen Fall ist Bruder-

schaft auf die erweiterte Blutsverwandtschaft

einer Nation gegründet, im anderen Fall auf

das, was man mit Goethe »Wahlverwandt-

schaft« heißen darf. In beiden Fällen zieht

Bruderschaft auch eine Grenze: Wenn bei

Platon die durch das gemeinsame Volkstum

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gegebene Gemeinsamkeit Bruderschaft

wirkt, so ist damit der Fremde, der ��ρ�α-

ρ�ς, als Nicht-Bruder gekennzeichnet,

ebenso schließt die xenophontische Freun-

desbruderschaft die Freunde nicht nur zu-

sammen, sie schließt sie auch gemeinsam von

den Nicht-Freunden ab. Zusammenschlie-

ßung wirkt je auch eine gewisse Abschlie-

ßung der Zusammengeschlossenen gegen-

über den anderen. Ohne dass die Sache bei

Platon oder Xenophon ausdrücklich zur

Sprache kommt, wird damit bereits das

Grundproblem deutlich, das jedes Brüder-

lichkeits-Ethos in irgendeiner Form stellt.

Wenn zum Beispiel die in einer Polis zu-

sammengeschlossenen Menschen miteinan-

der eine Brüderschaft bilden, so grenzt sich

notwendigerweise das innere Ethos, das im

Innenraum der Polis gilt, von einer andersge-

arteten Verhaltensform ab, die sich auf den

Außenstehenden Nicht-Bruder bezieht: Die

ethische Verpflichtung ist eine je andere nach

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innen, im Inneren der Großfamilie [von der

wir hier wohl sprechen dürfen] und nach au-

ßen hin. Mit anderen Worten: Die erweiterte

Bruderschaftsidee schafft fast notwendig zwei

unterschiedene Zonen des Ethos, ein Ethos

nach innen [»unter Brüdern«] und eins nach

außen. Freilich wird man sagen müssen, dass

sich hier eine Grundspannung zeigt, die dem

menschlichen Ethos überhaupt innewohnt,

die aber im Bruderschaftsbegriff ihre schärf-

ste Zuspitzung erfährt – auch im Christ-

lichen, wie sich zeigen wird.

Der Bruderbegriff des Alten Testaments

Was im Griechischen nur vereinzelt anklingt,

findet sich im Sprachgebrauch des alttesta-

mentlichen Gottesvolkes als fest ausgeprägte

Redeform. Allgemein trägt hier der Reli-

gionsgenosse den Titel ah. [Bruder]3. Die Ge-

meinsamkeit der Religion scheint hier be-

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wusstseinsmäßig im Vordergrund zu stehen,

denn wo bloß an den Volksgenossen gedacht

ist, hört man das Wort rea = � πλησ��ν

[»Nächster«!]4, im Rabbinischen wird beides

gelegentlich sogar eigens unterschieden5.Dies

ist freilich schon eine spätere Entwicklung,

denn ursprünglich decken sich ja die religiö-

sen und volksmäßigen Grenzen. Nun besteht

zwischen griechischer Polis und alttestament-

licher Theokratie zweifellos eine echte struk-

turelle Entsprechung; in jedem Fall ist die po-

litische Einheit gleichzeitig auch als religiöse

Einheit verstanden, und die religiöse Ge-

meinschaft deckt sich mit der politischen:

Kirche ist Nation und umgekehrt6. Insofern

kehrt hier zunächst einfach dieselbe Proble-

matik wieder, die bereits vorhin aufgerissen

wurde – die Frage nach den zwei Zonen des

ethischen Seins, die ja auch in der Gegen-

überstellung von ‘am und gojim (»Volk« und

»Völker«) eine deutliche Formulierung ge-

funden hat. Sachlich ist übrigens, wie man

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sieht, die biblische Frage »Wer ist mein

Nächster?« mit dem hier angegebenen Prob-

lem identisch.

Aber die Problematik erhält hier doch

von der Eigentümlichkeit und Einzigartig-

keit der alttestamentlichen Religion her

neue Kraft und Spannung. Bruder ist für den

einzelnen der, der mit ihm zur Einheit nicht

irgendeines Volkes, sondern des einzigen aus-

erwählten Gottesvolkes gehört. Das heißt:

Bruderschaft beruht nicht bloß auf der ge-

meinsamen blutmäßigen Abkunft, sondern

auf der gemeinsamen Erwähltheit von Gott

her. Es handelt sich um eine Bruderschaft, in

der nicht die gemeinsame Mutter [die Po-

lis?7] im Vordergrund steht, sondern der ge-

meinsame Vater, das heißt der Welt-Gott

Jahwe. Damit stoßen wir nun deutlich auf die

verstärkte Spannung, die dem israelitischen

Bruderschaftsbegriff innewohnt. Er besagt

Bruderschaft von einem gemeinsamen Vater,

nämlich Gott, her, der aber nicht bloß Israels

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Gott, sondern der einzige Gott überhaupt

und insofern auch nicht bloß Israels Vater,

sondern Vater aller ist8. Das ist ja die erre-

gende Paradoxie der alttestamentlichen Reli-

gion überhaupt, dass Israel den Weltgott zum

Nationalgott hat, dass der Nationalgott Israels

gar kein Nationalgott, sondern eben der

nichtnationale Universalgott ist. Das bedeu-

tet fast notwendig eine gewisse Aufspren-

gung und Infragestellung jedweden Versuchs

der Abschließung in den Innenraum der ei-

genen nationalen Bruderschaft hinein, kann

freilich auch in einer Fehlentwicklung zu ei-

ner betonten Verfestigung nach innen führen.

Alles kommt hier darauf an, wie die Verbin-

dung zwischen diesem gar nicht völkischen,

sondern universalen Gott einerseits und dem

Volk, das Ihn dennoch als seinen Gott verehrt,

andererseits aufgefasst wird. Im Alten Testa-

ment selbst ist klar, dass diese Verbindung

nicht von Israel, sondern von Gott gewirkt

wurde, dass er in freiem Gnadenentschluss

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dieses Israel ohne Verdienste erwählte und es

deshalb auch frei verwerfen kann, wozu des-

sen inzwischen angehäufte Missverdienste

überreichen Anlass böten9. So besteht zwar

eine besondere Vaterschaft Gottes gegenüber

Israel: Während Gott Vater der Weltvölker

nur durch die Schöpfung ist, ist er Israels

Vater darüber hinaus durch die Erwählung10.

Aber diese Besonderheit entspringt der

freien Verfügung Gottes, die sich demgemäß

auch jederzeit ändern könnte. Das bringt

eine gewisse Unsicherheit in jede allzu feste

Abschließung der israelitischen Bruder-

gemeinde hinein.Tatsächlich hat ja der Pro-

phetismus diese schwebende Offenheit der

israelitischen Religion immer von neuem

wach gehalten, sowohl in seinen Drohweis-

sagungen gegen Israel wie auch in seinen

Heilsweissagungen, die schließlich immer zu

einem universalen Horizont sich öffnen. Die

andere Möglichkeit, die in der Grundpara-

doxie des jüdischen Gottesbegriffes steckte,

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wurde im Spätjudentum entfaltet. Im Zuge

einer zunehmenden Rationalisierung des

gesamten Religionsbegriffs schien ein freier,

grundloser Erwählungsratschluss Gottes

nicht mehr recht angemessen. So kam es zu

der Vorstellung, Gott habe allen Völkern der

Welt die tôra angeboten, aber nur Israel habe

sie angenommen und sei dadurch das einzige

Volk Gottes geworden11. Das heißt doch

letztlich nichts anderes, als dass nicht Gott Is-

rael erwählt, sondern dass Israel als einziges

unter allen Völkern der Welt es war, das sich

Gott zum Gotte wählte. Dann aber wirkt die

Idee, dass der Volksgott in Wahrheit Weltgott

ist, nicht mehr öffnend, sondern führt viel-

mehr zu verstärkter Abschließung gegenüber

denen, die sich selbst freiwillig der besonde-

ren Vaterschaft Gottes und damit der Bruder-

schaft seiner Kinder begeben haben: Man

stößt hier geradezu auf die Schwelle, die das

Alte Testament als praeparatio evangelica

vom Judentum als »Synagoge« trennt. In je-

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dem Fall aber zeigt sich die gegenüber dem

Griechentum ganz neue Spannung, die das

Ethos der Brüderlichkeit durch die Unter-

ordnung unter die Vaterschaft des Weltgottes

erhält.

Dieser Spannung, die dem alttestament-

lichen Brudertum grundsätzlich aus dem

Gottesbild zuwächst, entspricht auf der ande-

ren Seite eine ganz ähnlich gelagerte Span-

nung innerhalb des Menschenbildes selbst.

Der abschließenden Gemeinsamkeit, die von

Abraham, Isaak und Jakob herkommt, steht

andererseits der universale Horizont der bi-

blischen Geschichte gegenüber, die ja im

Grundansatz nicht einfach als Geschichte Is-

raels auftritt, sondern die Israelsgeschichte in

der Universalgeschichte der einen Mensch-

heit verankert.Alle Menschen, Israeliten und

Weltvölker, sind letztlich eine einzige

Menschheit aus einer einzigen Menschen-

wurzel und aus einer einzigen Schöpfertat

Gottes heraus.

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