DIE DIAGNOSE - augenklinik.de · Während einer OP ersetzte ich die getrübten Augenlinsen durch...

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AUFGEZEICHNET VON CONSTANZE LÖFFLER Diese Woche: Dr. Florian Kretz, 36, ist einer der Mitbegründer und Leiter der Augentagesklinik Rheine bekommt keinen Sauerstoff mehr. Das Nervengewebe wird geschädigt. Ich prüfte das Gesichtsfeld der Patien- tin – den Gesamtbereich ihrer visuellen Wahrnehmung. Bei beiden vermuteten Er- krankungen zeigen sich hier typische Aus- fälle. Meine Patientin hatte bei dieser Untersuchung zwar diffuse Lücken, die ich aber keiner Krankheit zuordnen konnte. Dann führte ich eine „optische Kohärenz- Tomografie“ durch, kurz OCT – eine Unter- suchung der zentralen Netzhautschichten. Damit erkennt man Probleme der Maku- A ls ich die Patientin kennenlernte, erfuhr ich von ihrer fürchterli- chen Geschichte: Ihr Ex-Mann hatte sie geschlagen. Er war ver- urteilt worden und saß im Ge- fängnis. Kurz nach dem Prozess begann die Frau, unscharf zu sehen. Die Be- schwerden nahmen zu, bald konnte sie we- der lesen noch fernsehen, dabei war sie erst Mitte 40. Auto fuhr sie nicht mehr, weil sie sich vor allem nachts geblendet fühlte. We- gen der getrübten Sicht und der fehlenden Mobilität musste sie ihren Job aufgeben. Die Frau ging zu drei Augen- ärzten. Keiner fand bei der Untersuchung mit der Spalt- lampe etwas Auffälliges. Diese Routine-Untersuchung liefert Hinweise auf Erkrankungen von Netz- und Hornhaut sowie der Augenlinse. Jeder der Kol- legen kam zu dem Schluss, dass die eingebüßte Sehkraft eine psychische Folge der Miss- handlungen sein müsste. Die Frau wurde mit der Diagnose „posttraumatische Belastungs- störung“ krankgeschrieben – fast anderthalb Jahre lang. Doch sie beharrte darauf, dass es einen körperlichen Grund geben musste. Die Kol- legen wollten sie in eine Uni- klinik schicken. Bislang war die Frau aber noch nicht dort ge- wesen, da sie nach den Über- griffen durch ihren Ex-Mann eine ausgeprägte Angststörung entwickelt hatte und sich die Fahrt mit öffentlichen Ver- kehrsmitteln nicht zutraute. Nun saß sie bei mir in der Praxis und beteuerte, dass die Sehprobleme keine psychi- schen Gründe hätten. Mir ka- men zwei mögliche Diagnosen in den Sinn, beide verursachen die geschilderten Symptome: entweder eine angeborene Netzhautstörung, eine Retinitis pigmen- tosa. Betroffene sehen zwar auch in jungen Jahren nicht besonders gut, kennen es aber nicht anders. Erst mit der Zeit verändert sich die Netzhaut so stark, dass sie den Seh- fehler bemerken. Oder: Der Sehnerv der Frau war verletzt. Bei einem Schlag auf das Auge steigt kurzfristig der Augeninnen- druck, der Sehnerv wird abgequetscht und la, das ist der Punkt des schärfsten Sehens auf der Netzhaut. Keine Auffälligkeiten. Ich nahm schließlich eine „Aberrometrie“ vor, auch Wellenfront-Analyse genannt. Diese Methode erfasst Kurz-, Weit- und Stabsichtigkeiten sowie optische Abbil- dungsfehler, die durch unregelmäßige Lichtbrechungen an verschiedenen Teilen des Auges entstehen können: an der Horn- haut, der Linse oder im Glaskörper. Jene Untersuchung brachte endlich Klarheit: In der Linse der Patientin zeigten sich zarte Trübungen, die ihre Sicht be- hinderten. Das „Syndrom der gestörten Linse“ ist eine Son- derform des Grauen Stars, also der Linsentrübung. Schläge aufs Auge, Drogen, bestimmte Medikamente oder UV-Strah- len begünstigen diese Art der Linsentrübung. Die Sehschwä- che der Frau hing durchaus mit ihrer Vergangenheit zusam- men – wenn auch anders als vermutet: Das Problem hatte also doch eine körperliche Ursache. Die Schwierigkeit für den Arzt: Beim bloßen Blick ins Auge erscheint die Linse klar, er schaut quasi an den Trübun- gen vorbei – und findet nichts. Den Patienten aber verstellen die Schlieren die direkte Sicht. Die Diagnose lässt sich nur mithilfe der Aberrometrie stel- len. Hierzulande ist die Erkran- kung selten: Weniger als ein Prozent der Patienten, die an Grauem Star leiden, ist betrof- fen. In den USA kennt man das Phänomen häufiger: als „dysfunctional lens syndrome“ – funktionsunfähige Linse – infolge intensiver Sonnen- strahlung. Während einer OP ersetzte ich die getrübten Augenlinsen durch zwei Kunstlinsen. Am nächsten Tag konnte die Frau wieder hundert Prozent sehen. Und drei Wochen nach dem Eingriff fing sie wieder an zu arbeiten. 2 Eine Frau sieht nach einem Gerichtsprozess auf beiden Augen unscharf. Eine psychische Störung? Ein Arzt entdeckt den wahren Grund Schatten der Vergangenheit 30.8.2018 103 DIE DIAGNOSE ILLUSTRATION: KATRIN FUNCKE/ART ACT; An dieser Stelle schildern regelmäßig Ärzte ihre außergewöhnlichsten Fälle. Das Buch mit 80 rätselhaften Patientengeschichten: „Die Diagnose“ von Anika Geisler (Hg.), Penguin, 256 Seiten, 10 Euro

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Diese Woche: Dr. Florian Kretz, 36, ist einer der Mitbegründer und Leiter der Augentagesklinik Rheine

bekommt keinen Sauerstoff mehr. Das Nervengewebe wird geschädigt.

Ich prüfte das Gesichtsfeld der Patien-tin – den Gesamtbereich ihrer visuellen Wahrnehmung. Bei beiden vermuteten Er-krankungen zeigen sich hier typische Aus-fälle. Meine Patientin hatte bei dieser Untersuchung zwar diffuse Lücken, die ich aber keiner Krankheit zuordnen konnte. Dann führte ich eine „optische Kohärenz-Tomografie“ durch, kurz OCT – eine Unter-suchung der zentralen Netzhautschichten. Damit erkennt man Probleme der Maku-

Als ich die Patientin kennenlernte, erfuhr ich von ihrer fürchterli-chen Geschichte: Ihr Ex-Mann hatte sie geschlagen. Er war ver-urteilt worden und saß im Ge-fängnis. Kurz nach dem Prozess

begann die Frau, unscharf zu sehen. Die Be-schwerden nahmen zu, bald konnte sie we-der lesen noch fernsehen, dabei war sie erst Mitte 40. Auto fuhr sie nicht mehr, weil sie sich vor allem nachts geblendet fühlte. We-gen der getrübten Sicht und der fehlenden Mobilität musste sie ihren Job aufgeben.

Die Frau ging zu drei Augen-ärzten. Keiner fand bei der Untersuchung mit der Spalt-lampe etwas Auffälliges. Diese Routine-Untersuchung liefert Hinweise auf Erkrankungen von Netz- und Hornhaut sowie der Augenlinse. Jeder der Kol-legen kam zu dem Schluss, dass die eingebüßte Sehkraft eine psychische Folge der Miss-handlungen sein müsste. Die Frau wurde mit der Diagnose „posttraumatische Belastungs-störung“ krankgeschrieben – fast anderthalb Jahre lang.

Doch sie beharrte darauf, dass es einen körperlichen Grund geben musste. Die Kol-legen wollten sie in eine Uni-klinik schicken. Bislang war die Frau aber noch nicht dort ge-wesen, da sie nach den Über-griffen durch ihren Ex-Mann eine ausgeprägte Angststörung entwickelt hatte und sich die Fahrt mit öffentlichen Ver-kehrsmitteln nicht zutraute.

Nun saß sie bei mir in der Praxis und beteuerte, dass die Sehprobleme keine psychi-schen Gründe hätten. Mir ka-men zwei mögliche Diagnosen in den Sinn, beide verursachen die geschilderten Symptome: entweder eine angeborene Netzhautstörung, eine Retinitis pigmen-tosa. Betroffene sehen zwar auch in jungen Jahren nicht besonders gut, kennen es aber nicht anders. Erst mit der Zeit verändert sich die Netzhaut so stark, dass sie den Seh-fehler bemerken. Oder: Der Sehnerv der Frau war verletzt. Bei einem Schlag auf das Auge steigt kurzfristig der Augeninnen-druck, der Sehnerv wird abgequetscht und

la, das ist der Punkt des schärfsten Sehens auf der Netzhaut. Keine Auffälligkeiten. Ich nahm schließlich eine „Aberrometrie“ vor, auch Wellenfront-Analyse genannt. Diese Methode erfasst Kurz-, Weit- und Stabsichtigkeiten sowie optische Abbil-dungsfehler, die durch unregelmäßige Lichtbrechungen an verschiedenen Teilen des Auges entstehen können: an der Horn-haut, der Linse oder im Glaskörper.

Jene Untersuchung brachte endlich Klarheit: In der Linse der Patientin zeigten sich zarte Trübungen, die ihre Sicht be-

hinderten. Das „Syndrom der gestörten Linse“ ist eine Son-derform des Grauen Stars, also der Linsentrübung. Schläge aufs Auge, Drogen, bestimmte Medikamente oder UV-Strah-len begünstigen diese Art der Linsentrübung. Die Sehschwä-che der Frau hing durchaus mit ihrer Vergangenheit zusam-men – wenn auch anders als vermutet: Das Problem hatte also doch eine körperliche Ursache.

Die Schwierigkeit für den Arzt: Beim bloßen Blick ins Auge erscheint die Linse klar, er schaut quasi an den Trübun-gen vorbei – und findet nichts. Den Patienten aber verstellen die Schlieren die direkte Sicht. Die Diagnose lässt sich nur mithilfe der Aberrometrie stel-len. Hierzulande ist die Erkran-kung selten: Weniger als ein Prozent der Patienten, die an Grauem Star leiden, ist betrof-fen. In den USA kennt man das Phänomen häufiger: als „dysfunctional lens syndrome“ – funktionsunfähige Linse – infolge intensiver Sonnen-strahlung. Während einer OP ersetzte ich die getrübten Augen linsen durch zwei Kunstlinsen. Am nächsten Tag

konnte die Frau wieder hundert Prozent sehen. Und drei Wochen nach dem Eingriff fing sie wieder an zu arbeiten. 2

Eine Frau sieht nach einem Gerichtsprozess auf beiden Augen unscharf. Eine psychische Störung?

Ein Arzt entdeckt den wahren Grund

Schatten der Vergangenheit

30.8.2018 103

DIE DIAGNOSE

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An dieser Stelle schildern regelmäßig Ärzte ihre außergewöhnlichsten Fälle. Das Buch mit 80 rätselhaften Patientengeschichten: „Die Diagnose“ von Anika Geisler (Hg.), Penguin, 256 Seiten, 10 Euro