die ersten Städte · 2009. 5. 6. · 140 450–50 BC Latènezeit 25 die Besiedlungsstruktur...

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25 139 450 – 50 BC Latènezeit 25 er für das südliche Mitteleuropa gesetzte Epo- cheneinschnitt um 450 BC markiert den Übergang zwischen der frühen und der späten Eisenzeit, die man archäologisch den Kelten zuordnen kann. Nach dem bedeutenden Schweizer Fundort La Tène spricht man von der Latènekultur (Rieckhoff & Biel 2002, Fries- Knobloch 2002). Wenn für die Hallstattzeit noch ein Zentrum der kulturellen Entwicklung allgemein in Süddeutschland zu fassen war, verschiebt sich dieses nun nach Norden (Abb. 25.1). Besonders der Bereich von Saar, Pfalz und dem Oberrheingebiet ist hier zu nennen, aber auch Hunsrück und Eifel rücken auf- grund einer hohen Funddichte und reicher Gräber in den Mittelpunkt (Haffner 1976, Kunow & Wegner 2006). In großen Teilen Süddeutschlands – und auch beiderseits der Mosel, in Eifel und Hunsrück – besteht eine beständige Besiedlung durch stabile lokale und regionale Gemeinschaſten. Anhand der für diese Zeit- spanne typischen und auffälligen Grabhügelfriedhöfe lassen sich viele Kenntnisse über diese Gemeinschaſten gewinnen (Haffner 1976, Joachim 1997, Hornung 2008) – Siedlungen sind bisher seltener ausgegraben worden, und langjährige Großforschungsprojekte, wie die Heuneburg für die Hallstatt- und Manching für die späte Latènezeit, liegen für die frühe und mittlere Latènezeit nicht vor. In siedlungsgeeigneten Höhenlagen bis um 550 m lassen sich Grabhügelfelder bei guten Erhaltungsbe- dingungen und Bewaldung, wie in der Süd- und Zen- traleifel, flächendeckend nachweisen. So kann indirekt Latènezeit – Fürstengräber, Keltenwanderung und die ersten Städte D 450 – 50 BC Hans Nortmann und Martin Schönfelder 25.1 Ausbreitung der Latènekultur und keltische Wanderungen im 4. und 3. Jahr- hundert BC. Als Kerngebiet sind die Gebiete der West- und Ost- hallstattkulturen markiert (nach Pauli 1980). Germanen Kelten 387 BC Rom Marseille 279 BC Delphi Athen Galatoi 277 – 228 BC Westhallstattkulturen Osthallstattkulturen Latènekultur

Transcript of die ersten Städte · 2009. 5. 6. · 140 450–50 BC Latènezeit 25 die Besiedlungsstruktur...

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139450 – 50 BC Latènezeit

25er für das südliche Mitteleuropa gesetzte Epo-cheneinschnitt um 450 BC markiert den Übergang

zwischen der frühen und der späten Eisenzeit, die man archäologisch den Kelten zuordnen kann. Nach dem bedeutenden Schweizer Fundort La Tène spricht man von der Latènekultur (Rieckhoff & Biel 2002, Fries-Knobloch 2002). Wenn für die Hallstattzeit noch ein Zentrum der kulturellen Entwicklung allgemein in Süddeutschland zu fassen war, verschiebt sich dieses nun nach Norden (Abb. 25.1). Besonders der Bereich von Saar, Pfalz und dem Oberrheingebiet ist hier zu nennen, aber auch Hunsrück und Eifel rücken auf-grund einer hohen Funddichte und reicher Gräber in den Mittelpunkt (Haffner 1976, Kunow & Wegner 2006). In großen Teilen Süddeutschlands – und auch

beiderseits der Mosel, in Eifel und Hunsrück – besteht eine beständige Besiedlung durch stabile lokale und regionale Gemeinschaft en. Anhand der für diese Zeit-spanne typischen und auff älligen Grabhügelfriedhöfe lassen sich viele Kenntnisse über diese Gemeinschaft en gewinnen (Haffner 1976, Joachim 1997, Hornung 2008) – Siedlungen sind bisher seltener ausgegraben worden, und langjährige Großforschungsprojekte, wie die Heuneburg für die Hallstatt- und Manching für die späte Latènezeit, liegen für die frühe und mittlere Latènezeit nicht vor.

In siedlungsgeeigneten Höhenlagen bis um 550 m lassen sich Grabhügelfelder bei guten Erhaltungsbe-dingungen und Bewaldung, wie in der Süd- und Zen-traleifel, fl ächendeckend nachweisen. So kann indirekt

Latènezeit – Fürstengräber, Keltenwanderung und die ersten Städte

D

450 – 50 BC

Hans Nortmann und Martin Schönfelder

25.1 Ausbreitung

der Latènekultur

und keltische

Wanderungen im

4. und 3. Jahr-

hundert BC. Als

Kerngebiet sind

die Gebiete der

West- und Ost-

hallstattkulturen

markiert (nach

Pauli 1980).

Germanen

Kelten

387 BCRom

Marseille

279 BC

Delphi

Athen

Galatoi277 – 228 BC

WesthallstattkulturenOsthallstattkulturenLatènekultur

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die Besiedlungsstruktur erschlossen werden. Sol-che Gräberfelder mit einem weitläufi gen Einzugs-

bereich von jeweils etwa 18 km2 werden Kleingrup-pen von etwa 4 – 20 Personen zugeordnet (Nortmann 2002). Beigaben von Eisenwaff en verraten ein Selbst-bewusstsein der Männer als Krieger, während der Sta-tus der Frauen sich besonders an Schmuckgarnituren aus Bronze und Glas, bestehend aus Hals- und Arm-ringen sowie Fibeln, ablesen lässt (Abb. 25.2 und 25.3). Die oft aufwendig gestalteten Keramikgefäße für Spei-sebeigaben wurden erstmals gelegentlich schon auf

der Töpferscheibe gedreht. Das Siedlungsbild wurde im Wesentlichen von umzäunten Hofsiedlungen mit Häusern und Speichern geprägt (Abb. 25.4). Die auf eine oder zwei Generationen angelegte Lebensdau-er dieser aus Holz und Lehm errichteten Bauten be-günstigte eine regelmäßige Verlegung im zugehörigen Siedlungsland. Die lockere Verteilung der Grabhügel in großen Nekropolen mit bis zu 2 km Ausdehnung legt eine stärker gerodete und durch Beweidung frei-gehaltene Landschaft auch in den Höhenlagen nahe. Die Vorkommen von Basaltlava in der Vulkaneifel wurden in der frühen Eisenzeit zur Herstellung von Mahlsteinen in der Form von „Napoleonshüten“ ge-nutzt, die als Exportartikel bis in das Niederrheinge-biet gelangten (Abb. 25.5). In der jüngeren Latènezeit wurden dann Drehmühlsteine aus der Eifel im gesam-ten Rheingebiet und darüber hinaus gehandelt.

25.2 a) Ein fi gür-

lich verzierter

Schwertgriff aus

Bescheid;

b) Speerspitzen

und ein Hieb-

messer aus

Hochscheid.

25.3 a, b) Keltischer Frauenschmuck aus Farschweiler und

Niederweis; c) auf der Drehscheibe hergestellte Tongefäße

aus Hermeskeil.

ba

b

a

c

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141450 – 50 BC Latènezeit

Bereits gegen 520 BC machten sich in dieser auf Landwirtschaft und Eigenproduktion beruhenden Existenz Veränderungen bemerkbar. In zunehmen-dem Maße wurden führende Vertreter der kleinen Siedlergruppen durch eine betont repräsentative Grab ausstattung hervorgehoben, bei der unversehens südliche Einflüsse und entsprechende Importe eine wichtige Rolle spielten. Das neu entstandene Selbst-bewusstsein dieser einheimischen Führungsschicht, ein Beziehungsnetz über weite Teile Mitteleuropas und Impulse aus der mittelmeerischen Hochkultur bewirkten ab 450 BC die geistigen und künstlerischen Umbrüche zur typisch „keltischen“ Latènekultur am

25.5 Ein in Benut-

zung befi ndlicher

Mahlstein für Getrei-

de in der Form eines

Napoleonshutes aus

Basaltlava. Diese

Reibsteine sind die

Vorläufer der Dreh-

mühlen.

nördlichen Rand der hallstattzeitlichen Zentren in Süddeutschland. Der intensivierte Kon-takt mit griechisch und etruskisch verzierten Gegen-ständen führte zur Entwicklung eines eigenen Stils mit neuen Ornamenten auf der Basis von Zirkelor-namentik und ins Fantastische stilisierter Figürlich-keit. Eimer aus Bronzeblech – sogenannte Situlen –, die in Norditalien für luxuriöse Trinkgelage gefertigt wurden, ersetzten nun in Gräbern vor allem im Be-reich von Hunsrück und Eifel heimisches Tongeschirr als Urne oder Speisebehälter. Wenig später verwen-dete man technisch anspruchsvolleres etruskisches Bronzegeschirr – Schnabelkannen und Schöpfer – in Verbindung mit künstlerisch bemerkenswertem Gold-schmuck. Die Schnabelkannen sind aus einem Stück getrieben, an das der gegossene Henkel angesetzt wur-de (Abb. 25.6). Für Importe und Goldschmuck sind als Zentren der Verbreitung in Mitteleuropa die Bereiche Saar, Mosel und das nördliche Oberrheingebiet zu nennen. In Hunsrück und Eifel wurden darüber hi-naus in reich ausgestatteten Grabkammern zweirädri-ge Paradewagen deponiert (Haffner 1976).

Aus schrift lichen Quellen weiß man von keltischen Wanderungen und Plünderungszügen nach Italien und Griechenland – so standen Kelten 387 BC vor Rom, 279 vor Delphi. Aber auch als Söldner und Hilfstruppen wurden Kelten im Mittelmeergebiet an-

geworben – im Fall der Galater in der Türkei geriet die Entwicklung außer Kon-

trolle und kurzfristig entstanden eigene Reiche. Daneben breitete

sich gerade im 3. Jahrhundert BC die Latènekultur über ihren ehemals hallstät-

tischen Kernraum in Mitteleuropa hinaus aus – kelti-scher Schmuck und Stil sowie die Bewaff nung wurden beispielsweise in Südfrankreich, Norditalien, Südpolen und im Karpatenbecken bestimmend.

Während der ersten Welle der keltischen Wanderun-gen kurz nach 400 BC verzeichnet die Latènekultur in Süddeutschland sowie in Hunsrück und Eifel bei wei-terhin stabilen Verhältnissen gerade den Höhepunkt der oben beschriebenen Prunkgrabsitte. Erst als diese nach einigen Jahrzehnten aussetzt, ferner zunehmend schlichte Brandbestattungen überwiegen und gegen 250 BC auch keine Grabhügel mehr die Friedhöfe an-zeigen, entsteht in manchen Regionen geradezu der Eindruck von Niedergang – in der Eifel sogar von Sied-lungsrückgang (Nakoinz 2001). Im Hunsrück und in der moselnahen Eifel entstanden aber noch im 4. Jahr-hundert erneut kleine burgartige Höhensiedlungen, die bis fast an die Schwelle zur Römerzeit unterhalten und bewohnt wurden. Zweifellos dienten diese mit holzverstrebten Steinmauern befestigten „Burgen“ als Stützpunkte kleiner Territorialherren. Im Hunsrück

25.4 Rekonst-

ruktion eines kel-

tischen Gehöftes

an der Altburg

bei Bundenbach

im Hunsrück.

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142 450– 50 BC Latènezeit

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ist in Brandgräberfeldern auch die durchgehende Besiedlung der hö-

heren Mittelgebirgslagen bis in die Römerzeit hinein bezeugt (Abb. 25.8;

Haffner 1989). Eine eindeutige Be-rechnung der jeweiligen Bevölkerungszahlen

ist allerdings schwierig, da die offensichtliche Grabhügelsitte von diskreter angelegten Brandgräbern abgelöst wurde – so bleiben gewisse Unsicherheiten für die Besiedlungsstärke im 4./3. Jahrhundert BC. Quellenkritische Erwägungen widerlegen vereinfachte historische Th esen einer Abwanderung ganzer Stäm-me. Die Archäologie sucht nach Ursachen für die kel-tischen Beutezüge und Wanderungen. Wie groß waren die Verlockungen des Südens? Wie stark fallen andere Faktoren als Initiatoren ins Gewicht?

Im Kapitel zur Hallstattzeit wurde sichtbar, dass schon die erste eisenzeitliche Krise von 800 – 700 BC mit dem Beginn eines 14C-Produktionsmaximums zu-sammenfi el (Kap. 6); letztendlich bedeutet eine hohe 14C-Produktion eine schwache Sonnenaktivität und Rückgang der Einstrahlung. Im Falle dieser Krise wird deutlich, dass in der Anfangsphase der schwachen Sonnen die Seespiegel gestiegen waren – ein Hinweis auf vermehrte Niederschläge und/oder verringerte Verdunstung. Im Kern UM2 aus dem Ulmener Maar kann in dieser Phase die stärkste Umlagerung von Se-diment beobachtet werden – vermutlich durch starke Hochwasser bei zeitgleich hohem Wasserspiegel.

Auch die zweite eisenzeitliche Krise, parallel zur Zeit der keltischen Wanderungen mit den Eckdaten 387

und 279 BC, fällt wieder mit einem 14C-Produktions-maximum zusammen. Der Vergleich der auf Baum-ringzählungen basierenden 14C-Produktionsreihe mit den historischen Daten zeigt die Gleichzeitigkeit mit erstaunlicher Deutlichkeit (Abb. 24.8). Im Kern UM2 wird diese Zeit in einem Maximum der Birkenpol-lenhäufigkeit bei 5,70 m sichtbar. Gleichzeitig zeigt die Kurve der Gräser und Getreidepollen aber eine durchgängige Agrarproduktion an. Da Birken die ers-te Pioniervegetation auf aufgelassenen Ackerfl ächen darstellen, ist also vermutlich nur ein Teil der Felder um etwa 390 BC aufgelassen worden, andere wurden weiter bestellt. Es ist also auch nur ein Teil der Bevöl-kerung weggezogen. Der Kern UM2 zeigt für diese Zeit kontinuierliche Hochwasseraktivität, aber keine katastrophalen Einzelereignisse (Abb. 26.4).

Der gleiche Zusammenhang zwischen schwacher Sonneneinstrahlung und gesellschaft lichen Krisen ist für das 14. Jahrhundert hervorragend dokumentiert. Dort sehen wir, dass es in den ersten Jahrzehnten der schwachen Sonne zu einer Folge von nasskalten Som-mern gekommen war, die wiederum zu Ernteausfällen führten (Kap. 31). Im 14. Jahrhundert reichten drei sol-cher nasskalten Sommer in Folge (1315 – 1318), um zu einer verheerenden Hungersnot zu führen. Überträgt man einen ähnlichen Ablauf in die Zeit der Kelten-wanderung, so lässt sich vermuten, dass eine Gesell-schaft , die nach ein oder zwei Jahren des Mangels fest-stellt, dass das Saatgut für das nächste Jahr nicht mehr reichen wird, um alle zu ernähren, auch damals Aus-wege suchen musste. Diese bestanden zum Beispiel im Rückzug aus siedlungsungünstigen Höhenlagen oder der Abwanderung von Bevölkerungsteilen – vielleicht in der Art eines „ver sacrum“ (Heiliger Frühling), bei dem eine Mannschaft junger Männer, oft ein gesam-ter Jahrgang, aus dem Stammesverband ausgestoßen oder auch nur ausgesandt wurde, um neues Land zu erobern.

Im Laufe des 2. Jahrhunderts BC stabilisierten sich die Siedlungsverhältnisse in Mitteleuropa und es entstanden überall in der keltischen Welt befestigte Großsiedlungen mit mehreren Tausend Einwohnern. Diese von Cäsar als „oppida“ bezeichneten Plätze sind zweifellos Zentralorte städtischen Charakters für ein größeres Umland von 50 – 60 km Ausdehnung (Abb. 25.7). Während den oppida in Süddeutschland nur eine kurze Blüte gegönnt war, wiesen in Gallien viele eine Kontinuität bis in die römische Kaiserzeit und bis heute auf: Lutetia/Paris, Vesontio/Besançon, Avaricum/Bourges – um nur drei Beispiele zu nennen. Die oppida der Treverer mit einer im Einzelnen sicher-

25.6 Bronzene

Situlen, Kessel

und Schnabel-

kannen –

Letztere aus

Wallscheid und

Hochscheid –

kamen aus Italien

nach Mitteleuro-

pa und dienten

einer Elite zur

Statusdarstel-

lung. Aus Gold

wurden außer-

dem Schmuck-

stücke und

Ap pliken ge-

fertigt – hier

Beispiele aus

Fersch weiler. Ihre

dichteste Ver-

breitung nördlich

der Alpen fi nden

sie im Bereich

von Hunsrück

und Eifel.

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25

143450 – 50 BC Latènezeit

O p p i d u m M a r t b e r g

25.7 Das

oppidum auf

dem Martberg

bei Pommern an

der Mosel um-

fasst das Hoch-

plateau. Hier

wurden keltische

Münzen geprägt

und in einem

Heiligtum wurde

den Göttern ge-

opfert.

lich unterschiedlichen Geschichte überdauerten den Gallischen Krieg (58 – 50 BC) und erlebten danach sogar eine Spätblüte (Krausse 2006). Dieser Stamm lavierte sich geschickt durch diese Zeit, musste den Römern aber teilweise größere Truppenkontingente seiner gerühmten Reiterei zur Verfügung stellen.

Die Eifel liegt im Einzugsbereich der oppida „Kasselt“ bei Wallendorf (Sauer) und „Martberg“ bei Pommern (Untermosel), gut 20 km von Ulmen entfernt. Beide oppida waren auch Münzprägestätten und zeigen damit den allmählichen Übergang zu einer Geldwirtschaft an. Solche Zentralorte sind als politische, religiöse und wirtschaft liche Mittelpunkte nicht vorstellbar ohne die zur gleichen Zeit entstandenen keltischen Stam-messtaaten. Möglicherweise ging die allmäh-liche Ablösung der älteren Burgen mit ihren Kleinterritorien durch neue Zentren mit weitaus größeren Einzugsgebieten mit der Verfestigung solcher Stammesverbände einher.Erst die Neuordnung Gal liens unter Kai-ser Augustus mit der

Neugründung von Trier (17 BC) im Kreuzungspunkt neuer Straßenachsen bewirkte den politischen und wirtschaft lichen Niedergang der alten oppida. Ledig-lich die fortdauernde Nutzung als Heiligtum knüpft e an die ältere Tradition an.

Das weltgeschichtlich folgenreiche Vorrücken Roms bis zum Rhein hatte auf den Alltag des Trevererlandes keine dramatischen Auswirkungen. Dies zeigen die bruchlos belegten Friedhöfe südlich der Mosel (Mi-ron 1986, Haffner 1989). Bevölkerung und sozia-les Gefüge blieben im Wesentlichen bestehen. Zuerst fast unmerklich und besonders im ländlichen Raum über mehrere Generationen hinweg, passten sich Bräuche und Gewohnheiten im Zuge der Romani-

sierung an neue Vorbilder an und verschmolzen in der gallo-römischen Kultur (Krausse 2006).

Im übrigen Süddeutschland hatte stattdes-sen schon in der Zeit von 80 – 50 BC

ein Niedergang eingesetzt, even-tuell auch ausgelöst durch politische Umwälzungen

und Plünderungszüge ger-manischer Stammesver-bände (Abb. 25.8). Hier

fanden die römischen Er oberungen um 15 BC keine Strukturen mehr

vor, wenngleich das Land sicher nicht ganz verlassen

gewesen ist.

25.8 Kriegsbeute oder

Ahnenkult aus der Zeit

Cäsars? Ein menschli-

cher Schädel mit Nagel

aus einem Brunnen in

Kobern-Gondorf, Landkreis

Mayen- Koblenz.

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31er in den 1930er-Jahren von F. Matthes (USA) ge-prägte Begriff „Th e Little Ice Age“ (Kleine Eiszeit)

umfasst die Zeit von etwa 1300 – 1850 und kennzeich-net eine Epoche besonders starker klimatischer Extre-me mit häufi gen außergewöhnlichen Kälteeinbrüchen. Diese Abkühlung war global zu beobachten (Grove

D

31.1 Grindelwald-Gletscher im Jahr 1826 (Samuel Birmann:

Eistor des Unteren Grindelwaldgletschers [Ausschnitt],

Bleistift, Feder, Aquarell und Deckweiß, Kunstmuseum Basel,

Kupferstichkabinett) und 2002 (Fotos: H. J. Zumbühl [Geo-

graphisches Institut Universität Bern]).

1988, Lamb 1989, Hsü 2000, Fagan 2000, Flannery 2007, Behringer 2007). Sie begann nach dem Wärme-optimum des Hochmittelalters (Kap. 29) und dauerte mehr als ein halbes Jahrtausend an. Neben schneerei-chen kalten Wintern und feuchtkalten Sommern gab es jedoch Phasen, in denen das Wetter fast „normal“ war oder sogar regelrechte Hitzesommer vorkamen. Insgesamt gesehen ist die Kleine Eiszeit also durch kli-matische Wellenbewegungen unterschiedlicher Am-plituden zu charakterisieren. In den Alpen traten ge-häuft Schneefälle bis in den Sommer hinein auf, sodass insbesondere die Gletscher seit 1300 kräft ige Vorstöße zeigten und Bilder bis in die Täler reichender Eisdecken zu einer Ikone dieser Zeit geworden sind (Abb. 31.1).

Beschränkt man sich weitgehend auf Europa, so wurden von den Zeitzeugen vor allem kurzfristige Ver-änderungen des Wetters während der Kleinen Eiszeit registriert: die langen, nicht endenden Winter mit ih-rer eisigen Kälte, das Übermaß an Schnee, das häufi ge Zufrieren von Flüssen, Seen und Meeren. Doch nicht nur die Winter waren außerordentlich kalt, sondern es traten gleichzeitig sehr kalte Sommer auf. Zusätzlich zu den niedrigen Temperaturen, die sich im Mittel etwa 2 °C unter dem heutigen Jahresdurchschnitt be-wegten, war ein erhöhter Niederschlag zu verzeich-nen, der deutlich über dem heutigen Jahresmittel lag (Pfister 1999; Glaser 2001, 2008). Kaltfeuchte Som-mer waren neben den schneereichen Wintern damit das zweite Kennzeichen der Kleinen Eiszeit.

Charakteristisch war darüber hinaus eine Änderung der saisonalen klimatischen Jahresrhythmen. Der erste Frost setzte im Oktober – mehr als einen Monat frü-her als heute – ein, entsprechend blieb der Schnee bis März oder sogar April liegen. Für das Jahr 1318 gibt es

Die Kleine Eiszeit – Leben und Sterben im Schatten klimatischer Extremereignisse

Kurt W. Alt und Frank Sirocko

1400 – 1850 AD

Grindelwald-Gletscher (Schweizer Alpen) 1826

Grindelwald-Gletscher (Schweizer Alpen) 2002

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1711400 – 1850 AD Die Kleine Eiszeit

Berichte über Schneefälle selbst im Juni (Glaser 2001, 2008). Für die weitgehend landwirtschaft lich geprägte Bevölkerung jener Zeit stellten diese Schwankungen in Temperatur und Niederschlägen ein die Existenz be-drohendes Problem dar. Wegen der Abhängigkeit von der Landwirtschaft (Subsistenzwirtschaft ) hatte man den ersten Ernteausfällen Anfang des 14. Jahrhunderts als Folge zunehmender Witterungsextreme und Kli-maanomalien kaum etwas entgegenzusetzen gehabt.

Die Kleine Eiszeit folgte unmittelbar auf das Kli-maoptimum des Mittelalters zwischen etwa 1000 und 1300 (Abb. 31.2). Die Klimagunst während des mittel-alterlichen Klimaoptimums lässt sich auf eine erhöhte Häufi gkeit von Hochdruckgebieten zwischen 45 und 65° N zurückführen (Glaser 2001, 2008; Pfister 1988). Diese Hochdruckgebiete hatten ihren Ursprung zwar südlich der Westwindzone, sie konnten sich aber in die Westwindzone hineinverlagern und dort jeweils

über Zeitperioden von bis zu mehreren Wochen den klimatischen Einfl uss des Westwindes blockieren. Das gehäuft e Auft reten solcher Hochdruckgebiete – auch Antizyklonen genannt – kann zu heißen Sommern mit geringen Niederschlägen führen. Es wird vermu-tet, dass sich nach 1300 über dem westlichen Europa häufi g eine Warmluft rinne bildete (Abb. 7.5), die für die auf das mittelalterliche Optimum folgende Dürre-periode verantwortlich war.

Das mittelalterliche Temperaturoptimum fi el mit ei-ner Phase starker Sonnenaktivität zusammen, die von 1100 – 1260 reichte (Abb. 31.2). Ab 1250 ging die Akti-vität der Sonne dann aber kräft ig zurück und erreichte ein erstes Minimum um 1300, etwa zeitgleich mit einer Abkühlung des Nordatlantiks. Für den Beginn dieser Übergangsphase dokumentiert der Schwefel gehalt im grönländischen Eis eine kräftige Vulkaneruption um 1250, die eventuell mit einem Ausbruch des Ätna in

31.2 Bevölke-

rungszahlen für

Mitteleuropa

(Pfister 2007,

Ehmer 2004,

Grupe 1993),

Meereis vor Is-

land erfasst aus

Schiffsbeobach-

tungen (Koch

1954), Sonnen-

aktivität be-

rechnet aus 14C-Aktivität der

Atmosphäre

(Kromer & Friedrich 2007)

und Zeitreihe der

globalen Vulkan-

aktivität berech-

net aus dem SO4

in einem Eiskern

aus Grönland

(Zielinski 1997).

0 10 20

hoch gering

xx

xx

Bevölkerung Deutschlands

[Mio. Menschen]

1660–1670 Pestwellen

1560–1630 Pestwellen

1708–1722 letzte Pestwelle

0 40 80

erste Pestwelle 1348/49 erste Hungersnot 1309–1317

Bevölkerungsrückgang

7 Mio. Menschen

Bevölkerungsrückgang 4 Mio. Menschen

1816–1817 Südrussland

1845–1855 USA

1750–1800 Ungarn,Rumänien, Russland

1550–1750 konfessionelleAus- und Einwanderungen30-Jähriger Krieg

1560–1600 Maximumder Hexenverfolgung

KleineEiszeit

Bevölkerungsverluste durch

Auswanderungen und Seuchen

1845 KartoffelfäuleFranzösischeRevolution

Industria-lisierung

0 100

durch Teuerung, Rohstoff-mangel und explosives Bevölkerungswachstum bedingte kurzfristige Hungersnöte

Eistage vor Island[Anzahl pro Jahr]

Reformation

mittelalter-lichesWärme-optimum

warmer kalter Nordatlantik

Alter [AD]

14C-Produktion [Atome/cm2/s]

0,5 0,9 1,32000

1900

1800

1700

1600

1500

1400

1300

1200

1100

1000

900

800

Weltkriege

Sonnenaktivität

Grönland-EiskernVulkanisches

Sulfat[ppb]

14C-Produktion[Atome/cm2/s]

Bevölkerung Deutschlands

[Millionen Menschen]

KROMER & FRIEDRICH(2007) ZIELINSKI et al.(1994)

KOCH

(1954)PFISTER

(2007)

EHMER

(2004)

GRUPE

(1993)

B 22237-7 Sirocko 26_33.indd 171B 22237-7 Sirocko 26_33.indd 171 31.03.2009 11:24:45 Uhr31.03.2009 11:24:45 Uhr

172 1400 – 1850 AD Die Kleine Eiszeit

31

Verbindung stehen könnte, von dem im 13. Jahrhundert insgesamt drei größere Eruptionen überliefert sind.

Der Klimaumschwung war in Mitteleuropa von häu-fi gen Hochwasserereignissen und nasskalten Sommern gekennzeichnet und markiert zweifellos den Beginn der Kleinen Eiszeit. Konsequenz dieser länger andauernden extremen Wetterlagen nach dem mittelalterlichen Wär-moptimum waren zunächst vereinzelte Hungerkatastro-phen, die schließlich zwischen 1315 und 1318 zu einer europaweiten Hungersnot führten (Abb. 31.2; Kap. 30). Das Ausmaß des Hungers aufgrund von Ernteausfällen – bedingt durch feuchtkalte Sommer – war beträcht-

lich. Bei zu niedrigen Temperaturen und lang anhaltender Kälte im Frühjahr konn-te die Aussaat nicht erfolgen oder kam in nasskalten Sommern nicht zur Reife

beziehungsweise verfaulte auf dem Halm. Selbst wenn das Getreide geerntet werden konnte, führten Pilz-infektionen, zum Beispiel Mutterkorn (Abb. 31.4), zu einer minderen Qualität der Nahrung. Diese ständige Mangelsituation äußerte sich beispielsweise in geringer Körpergröße und häufi gen Entwicklungsstörungen der Menschen (Hoppa & Fitzgerald 1999).

Mangelernährung und Hunger begünstigten zudem das Auft reten von Infektionskrankheiten, zum Beispiel von Tuberkulose, und die Verbreitung von Seuchen be-ziehungsweise Epidemien, wie Pest, Cholera, Typhus und Fleckfi eber. Die höhere Krankheitsanfälligkeit und der damit einhergehende Anstieg der Mortalität zeitig-ten während der gesamten Kleinen Eiszeit weitreichen-de demographische Auswirkungen auf die Dynamik der Bevölkerungsentwicklung (Abb. 31.2). Allein die Auswirkungen der Pest führten im 14. Jahrhundert zu einer Verringerung der Bevölkerung Europas um etwa 40 % (Vasold 2003). Nach dem ersten großen Sterben blieb die Pest über 400 Jahre hinweg ein periodisch wie-derkehrender Begleiter der Menschen.

Nach einer klimatisch relativ unauff älligen Periode von 1500 – 1550 begann dann um etwa 1560 – 1630 die zweite große Kältephase der Kleinen Eiszeit. Um 1565 wurden die Winter von einem auf das andere Jahr ex trem kalt (Glaser 2001, 2008; Pfister 2007).

31.4 Dauerform des Mutterkornpilzes

Claviceps purpurea (auch Hungerkorn,

Tollkorn genannt), der auf Ähren ver-

schiedener Getreide und auf Gräsern

wächst. Mutterkorn – auf der Abbildung

an Weizen – produziert giftige Alkaloide, die

bei Verzehr unter anderem zu Ergotismus (Anto-

niusfeuer) führen können. Typische Symptome sind

zum Beispiel Darmkrämpfe, absterbende Finger und

Zehen und Halluzinationen.

31.3 „Winter-

landschaft“.

Gemälde von

Pieter Breughel

d. Ä. aus dem

Jahr 1565. Origi-

nal im Kunst-

historischen

Museum Wien.

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Eine solche Reihe nicht nur bitterkalter, sondern auch schneereicher Winter kennzeichnete die letzten Jahr-zehnte des 16. Jahrhunderts und inspirierte nicht zuletzt unter anderem den Maler Pieter Breughel d. Ä. zu seinen Winterlandschaft en (Abb. 31.3). Den kalten schneereichen Wintern folgten auf großräu-mige Warmluft einbrüche im Frühjahr oft mals starke

Schneeschmelzen und nachfolgend Hochwasser, die als helle Lagen im Kern SMf aus dem Schalkenmehre-ner Maar dokumentiert sind (Abb. 31.5).

Zu Beginn der zweiten Kaltphase konnte man – nach einer vorausgehenden Ruhephase – wiederum zugleich eine erhöhte vulkanische Tätigkeit beobach-ten, die erneut mit einer schwachen Sonnenaktivität

31.5 Foto des

Freeze-Kernes

SMf aus dem

Schalkenmehre-

ner Maar mit

Hochwasserlagen

und einer Aufl is-

tung historisch

dokumentierter

Hochwasser am

Rhein bei Köln

und Düsseldorf

(rot) sowie am

Schalkenmehre-

ner Maar (blau).

10

20

30

40

50

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100Tiefe [cm]

0

16511636

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Hochwasser in Köln

110

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Tiefe [cm]

100

Juli 1342

14451427

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1342

Kern SMf

Quarzpartikel in der Siltfraktion[Anzahl]

0 200 400

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1342

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1595

1537

Hochwasserlagen im Schalkenmehrener Maar

Vergleich historischer Hochwasser in Köln mit Hochwasserlagen im Schalkenmehrener Maar

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31zusammenfiel. Innerhalb von nur zwei Jahrzehnten brachen 1580 der Billy Mitchell auf Bougainville (Me-lanesien), 1586 der Kelut und 1593 der Raung auf Java, 1593 der Nevado del Ruiz in Kolumbien und 1600 der Huaynaputina in Peru aus. Zeitgleich sanken die Mee-resoberfl ächentemperaturen im Nordatlantik.

Gegen Ende der Kleinen Eiszeit war ab dem ausge-henden 18. Jahrhundert eine weitere Häufung schwe-rer Vulkanausbrüche innerhalb weniger Jahrzehnte zu verzeichnen. Diese Phase begann 1783 mit dem Aus-bruch des Laki (Island) und setzte sich 1812 mit dem Soufriere on Saint Vincent (Guadeloupe), 1814 dem Mayon (Phillipinen) und 1815 dem Tambora (Sumba-wa) fort (Kap. 8). In diesen Zeitraum fi el auch die letzte dramatische Kältephase zwischen 1805 und 1820 (Fa-gan 2000). Historisch bedeutsame Auswirkung dieser unerwartet kalten Winter war der Hunger- und Kälte-tod der napoleonischen Armee (Abb. 31.6) im Winter 1812 in Russland (Signoli et al. 2004). Die weltweit zu beobachtenden Auswirkungen der Tambora-Eruption von 1815 sind in die Geschichte als das „Jahr ohne Sommer“ eingegangen (Kap. 8).

Die Folgen der Kleinen Eiszeit für die Menschen sind – anders als für ältere Zeiten der Menschheitsge-schichte – durch eine ausgezeichnete allgemeine Quel-lenlage gekennzeichnet. In der Forschung zur Kleinen Eiszeit dominiert die Beschäft igung mit den „gravie-renden sozioökonomischen Folgen“ für den Menschen (Schönwiese 1992) beziehungsweise die Betonung der „gesellschaft lichen Krisenaspekte“ (Behringer et al. 2005).

Wenn es an natürlichen Erklärungen fehlt, tritt häu-fi g „das archaische Paradigma der Sündenökonomie“ in Kraft (Behringer et al. 2005). In diesem Kontext werden Katastrophen als Fingerzeige Gottes aufgefasst, wofür Buße geleistet oder ein Schuldiger gesucht wer-den muss. In einer Welt, die noch keine wissenschaft -lichen Erklärungen für Wetterphänomene hatte und in der die Einflussfaktoren auf das Klima erst noch entdeckt werden mussten, waren die Schuldigen für Wetterextreme, Missernten, Seuchen und Tod schnell gefunden: Hexen und Hexenmeister. Dies waren nicht nur ältere Frauen, sondern sozial Schwache, gesell-schaft liche Außenseiter, Fremde, Landstreicher und so weiter. Die Gründe für solche Hexenverfolgungen sind sehr komplex, zielen aber meist auf die Abstellung von Schadenszaubern gegen Menschen, Tiere oder die Ernte. Traurige Berühmtheit erlangte im Zusammen-hang mit dem Klima der Fall von Kaspar Haintz, der 1653 in Gmünd in Österreich als Wettermacher hin-gerichtet wurde.

Andererseits bleibt in solchen Phasen der Geschich-te erstaunlicherweise jedoch auch Raum für Innova-tionen. Wendland & Bryson (1974) demonstrieren anhand der Auswertung von 14C-Daten, wie relativ zeitgleich kulturelle Veränderungen denen der Um-welt folgten. Im Verlauf der Kleinen Eiszeit waren es unübersehbar die Abkehr vom allgemeinen, bis dato von der Religion bestimmten Weltbild und vom Stän-dewesen des Mittelalters sowie die Hinwendung zur Antike. Die neue Weltsicht stellte den Menschen in den Mittelpunkt und befl ügelte Wissenschaft , Politik, Religion und Kunst. Ausgangspunkt war vor allem der Süden Europas, der durch zunehmenden Handel im-mer stärker mit dem Norden in Kontakt trat. Was die Politik angeht, lassen sich zum Beispiel die Ereignisse der Französischen Revolution mit Sicherheit nicht al-lein auf Missernten oder Wetterextreme zurückführen. Aber es erscheint fraglich, ob das Ende der Monarchie in Frankreich ohne den Hintergrund akuter Versor-gungs- und Hungerkrisen den gleichen Ausgang ge-nommen hätte. Die anhaltenden Missernten führten jedenfalls zu immer wieder auffl ammenden Hunger-unruhen in der Bevölkerung und zu Protesten für eine bessere Versorgung mit Grundnahrungsmitteln. Daher war die wirtschaft liche Lage des Landes sicher entscheidend mit dafür verantwortlich, dass sich brei-te Bevölkerungsschichten so leicht mobilisieren ließen (Behringer et al. 2005).

Die Zeit des Klimaoptimums im deutschen Mittel-alter (850 – 1300) ist durch ein expansives Bevölke-rungswachstum gekennzeichnet und ließ die Einwoh-nerzahlen von etwa 1,6 Mio. zu Beginn auf etwa knapp 9 Mio. um etwa 1300 ansteigen. Die demographische Entwicklung während der darauf folgenden Kleinen Eiszeit ist durch zwei tiefe Einschnitte gekennzeichnet: Im 14. Jahrhundert waren es vor allem durch Klima-extreme bedingte Hungersnöte und das massive Auf-treten der Pest, welche die erste demographische Krise dieser Zeitepoche auslösten und die Einwohnerzahlen auf etwa 5 Mio. am Ende des 14. Jahrhunderts sinken ließen. Zu den Versorgungskrisen oder auch den pe-riodisch wiederkehrenden Seuchenzügen, welche die Bevölkerung dezimierten, kamen die Landfl ucht sowie in der zweiten Phase der Kleinen Eiszeit kriegerische Auseinandersetzungen und zunehmend Auswande-rungen. Zuletzt gab es auch Verzweifelte, die keinen Ausweg aus der Misere sahen und ihrem Leben ein Ende setzten.

Zum Ende des 30-Jährigen Krieges war die Bevölke-rung Deutschlands von etwa 16 Mio. auf 10 Mio. zu-rückgegangen (zweite demographische Krise). Verlie-

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1751400 – 1850 AD Die Kleine Eiszeit

ßen die ersten Auswanderer zwischen 1550 und 1750 primär aus konfessionellen Gründen das Land, waren es ab 1760 dann vor allem wirtschaft liche Gründe, die noch vor Beginn der Französischen Revolution viele Auswanderer zunächst in den Osten nach Russland, Ungarn und Rumänien führten. Diese erste Auswan-derungswelle dauerte bis etwa 1820 und entspricht der Zeit häufi ger Vulkaneruptionen, eingeleitet durch die Eruption des Laki 1783. Die eigentliche große Aus-wanderungswelle nach Nordamerika lag allerdings erst am Ende der Kleinen Eiszeit und reichte von 1840 bis zum Ende des Jahrhunderts.

Der Höhepunkt der Auswanderungswelle um die Mitte des 19. Jahrhunderts folgte unmittelbar auf die Jahre der Kartoff elfäule, die zwischen 1845 und 1849 in ganz Europa die Kartoff elernte stark schädigte und vor allem in Irland zum völligen Ausfall der wichtigsten Nahrungsgrundlage, gefolgt von extremer Hungersnot führte (Lamb 1989). Der Erreger der Kartoff elfäule ist ein Algenpilz (Phytophthora infestans), der etwa um 1840 aus Nordamerika nach Europa eingeschleppt wurde. In feuchten Sommern fi ndet der Erreger beste Bedingungen für seine Verbreitung.

Die Zeit um 1845 – 1849 ist weder in der Zeitreihe der Vulkaneruptionen besonders sichtbar, noch zeigt sich eine Änderung in der Sonnenaktivität. Die bei-den Hauptanfachungsmechanismen für die Kleine Eiszeit können hier also nicht gewirkt haben. Auff äl-lig ist aber die extreme Ausbreitung von Meereis über dem Nordatlantik bis in die Golfstromregion hinein. Da der Nordatlantik die „Wetterküche Europas“ ist, muss der Fluss fühlbarer und latenter Wärme vom Ozean auf den Kontinent zur Zeit der Meereisbede-ckung stark verringert gewesen sein. Auch verlagerte sich die Zugbahn von Tiefdruckgebieten weiter nach Süden und über Nordeuropa und Nordatlantik domi-nierten Hochdrucklagen, die mit kalten Wintern und heißen Sommern einhergingen. Aller Wahrscheinlich-keit nach war es also der Nordatlantik, der in dieser Endphase der Kleinen Eiszeit die Wetteranomalien verursachte.

Die Bedeutung und die Rolle des Klimas für die biologische und kulturelle Evolution des Menschen werden oft unterschätzt. Zweifellos sind Einzelereig-nisse, zum Beispiel Hochwasser, wie auch langfristige

Klimaänderungen nicht direkt als Auslöser für alle Krisen der Vergangenheit verantwortlich zu machen, aber sie gelten prinzipiell als essenzielle Einfl ussfakto-ren auf den Verlauf der Geschichte (Behringer 2007). Ebenso wie kriegerische Auseinandersetzungen, Seu-chen und Epidemien können sie weitreichende sozi-ale und politische Veränderungen mit sich bringen (McNeill 1978). Betrachtet man die demographische Entwicklung Deutschlands während der Kleinen Eis-zeit, scheint zumindest das Klima keine Auswirkungen darauf genommen zu haben. Die Bevölkerungszahlen blieben bis auf zwei gut begründbare Einbrüche kon-stant oder stiegen sogar trotz Wetterextremen – wenn nicht Seuchen und Kriege, Landfl ucht und Auswan-derung letztlich eine Bevölkerungsdepression und das Wüstwerden ganzer Landstriche erzwangen. Es liegt nahe, dass Hochwasser, kalte und verregnete Sommer und Extremwinter nicht grundsätzlich als unvermeid-bare Schicksale des Lebens hingenommen wurden. Wenn sich die allgemeine wirtschaftliche Lage zum Beispiel durch Nahrungsknappheit, Teuerungen und Hungerperioden dramatisch verschlechterte und da-für unerklärliche Klimaanomalien verantwortlich gemacht wurden, schien Auswanderung oft mals den einzigen Weg aus der Misere zu bieten.

31.6 Napoleons

Armee auf dem

Rückzug aus

Russland im

Winter 1812 (Ge-

mälde von Adolf

Northern).

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