Die esoterische Botschaft der Bhagavad...

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Die esoterische Botschaft der Bhagavad Gita n der Bhagavad Gita, dem großen Weisheitsgedicht aus der Zeit des klassischen Indertums, hören wir von Krishna, einer Verkörperung des höchsten persönlichen Gottes Vishnu, der den Streitwagenkämpfer Arju- na im Verlauf von 18 Gesängen in die höchsten Geheimnisse der Schöp- fung einweiht. Krishna, eine Verkörperung des Weltenlogos, war der große Lehrer der vedischen Kultur Indiens. Erst im 20. Jahrhundert hat man durch Ausgrabungen die Spuren einer urindischen Kultur gefunden, die weit in prähistorische Zeit zurückgeht. Besonders bedeutsam waren die Ausgrabungen, die unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg im unte- ren Industal im Bezirk Larkhana, südliches Punjab, gemacht worden sind: dort wurden die riesigen spätneolithischen Tempelstadt-Ruinen von Harappa und Mohenjo-Daro freigelegt. Daher konnte auch ein Jawa- harlal Nehru sagen: „Mächtige Reiche bestanden und blühten hier in Indien zu einer Zeit, da die Briten in Wäldern hausten und die britischen Siedlungen noch eine Wildnis und ein Morast waren. Indien hat eine tiefere Spur in der Geschichte der Philosophie und der Religion der I

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Die esoterische Botschaft der Bhagavad Gita

n der Bhagavad Gita, dem großen Weisheitsgedicht aus der Zeit des klassischen Indertums, hören wir von Krishna, einer Verkörperung des

höchsten persönlichen Gottes Vishnu, der den Streitwagenkämpfer Arju-na im Verlauf von 18 Gesängen in die höchsten Geheimnisse der Schöp-fung einweiht. Krishna, eine Verkörperung des Weltenlogos, war der große Lehrer der vedischen Kultur Indiens. Erst im 20. Jahrhundert hat man durch Ausgrabungen die Spuren einer urindischen Kultur gefunden, die weit in prähistorische Zeit zurückgeht. Besonders bedeutsam waren die Ausgrabungen, die unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg im unte-ren Industal im Bezirk Larkhana, südliches Punjab, gemacht worden sind: dort wurden die riesigen spätneolithischen Tempelstadt-Ruinen von Harappa und Mohenjo-Daro freigelegt. Daher konnte auch ein Jawa-harlal Nehru sagen: „Mächtige Reiche bestanden und blühten hier in Indien zu einer Zeit, da die Briten in Wäldern hausten und die britischen Siedlungen noch eine Wildnis und ein Morast waren. Indien hat eine tiefere Spur in der Geschichte der Philosophie und der Religion der

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Die esoterische Botschaft der Bhagavad Gita / © Manfred Ehmer / Seite 2

Menschheit hinterlassen als irgendeine andere irdische Einheit im Universum.“1

Die zutage geförderten Funde ließen den Schluss zu, dass im Gebiet von Harappa und Mohenjo-Daro schon um 4000 v. Chr. eine reiche und hochstehende Kultur bestanden haben muss, zu einer Zeit also, als die Stadtkulturen Mesopotamiens überhaupt erst angefangen hatten, sich zu entwickeln. Tatsächlich handelt es sich bei diesen ausgegrabenen Städ-ten um die letzten Überreste jener altindischen Kultur, die im Zyklus der Weltzeitalter auf Atlantis folgte. In späteren Überlieferungen werden die Träger der urindischen Kultur als „Mondrasse“, Chandra-Vamsa, be-zeichnet. In epischen Zeiten nahmen drei große Clans für sich in An-spruch, vom „Mond“ – von Soma, dem Mondgott – abzustammen: die Yadavas, die Pauravas und die Könige von Kasi. Yadu, der Sohn des Königs Yayati aus der Mondfamilie, war der Ahnherr jenes Clans der Yadavas, in den Krishna hineingeboren wurde. So war Krishna, der Leh-rer des Yoga und der erste große Eingeweihte der vedischen Kultur, ein Mondprinz.

Alles, was wir über die Person Krishnas wissen, entstammt der vedi-schen Literatur. Als Quelle dient uns hauptsächlich die Bhagavata-Pura-na, ein monumentales Werk in zwölf Büchern mit insgesamt 10.000 Versen, das im zehnten Buch das Leben Krishnas erzählt. Der Überlie-ferung nach wurde der Gottmensch Krishna in der Nähe von Mathura, einer Stadt im Norden Indiens, von einer Jungfrau namens Devaki geboren. Der achte Tag der dunklen vierzehn Tage des Mondmonats Shravana gilt als sein Geburtstag; die Geburt erfolgte um Mitternacht.

Devaki’s Bruder war der Tyrann Kansa, der despotische Herrscher üb-er Mathura, der den Ehrgeiz hegte, ganz Indien zu unterjochen; ihm war vorhergesagt worden, dass ein Sohn seiner Schwester ihn zu Fall bringen würde. Da er aber von der Geburt des Krishna erfuhr, obgleich diese im Geheimen stattfand, befahl er, alle an diesem Tag Geborenen zu töten, um so den zu treffen, der ihm gefährlich werden sollte. Aber Krishna entging dem Kindermord und wurde auf den Berg Meru geschafft, wo er in aller Abgeschiedenheit unter den Hirten aufwuchs; ja er wurde selbst zum Hirten, und die vedischen Schriften erzählen von den zahlreichen Liebesaffären, die er mit den Hirtenmädchen – den Gopis – zu erleben hatte. Dabei steht die Liebe der Frau zu Krishna symbolisch für die Liebe der menschlichen Seele zu Gott.

Denn Krishna galt als ein Gottmensch, als ein Avatar – eine einmalige Inkarnation – des höchsten Gottes Vishnu. Der Gedanke, dass inkarnier-te Götter unter den Menschen weilen, war den frühen Menschheits-Kulturen ganz geläufig. Die Götter verkörperten sich, wirkten unter den Menschen als Lehrer, Erzieher, Ratgeber, aber auch als Könige und Be-gründer mächtiger Dynastien. Auch Hölderlin besann sich jener alten Zeit, als er dichtete: „Götter wandelten einst bei Menschen“. In der Idylle

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Die esoterische Botschaft der Bhagavad Gita / © Manfred Ehmer / Seite 3

abgeschiedenen Hirtenlebens blieb Krishna leider nicht ungestört; immer wieder musste er sich gegen Dämonenscharen zur Wehr setzen, die Kansa gegen ihn schickte. Schließlich, nach langen Kämpfen, gelang es Krishna, den Tyrannen Kansa zu töten und Ugrasena, den rechtmäßigen Herrscher von Mathura, auf den Thron zu setzen. Er selbst baute sich eine eigene Stadt namens Dvaraka. Später sah sich Krishna veranlasst, in den Konflikt zwischen den Pandavas und Kauravas einzugreifen, zwei verwandten und dennoch verfeindeten Sippen aus der Dynastie der Mondfamilie. Er half seinen beiden Vettern Bhima und Arjuna aus der Sippe der Pandavas, wobei er dem Arjuna in der entscheidenden Schlacht als Wagenlenker diente. Hier setzt nun die Handlung der Bha-gavad Gita ein, dieses wundervollste philosophische Lehrgedicht In-diens, das – wie man sagt – im Hinduismus eine ähnliche Stellung einnimmt wie das Neue Testament im Christentum.

Die Bhagavad Gita bildet einen kleinen Ausschnitt im Rahmen eines größeren epischen Werkes, des Mahabharata. Dieses mythische Monu-mentalwerk, das von den Kämpfen in der Frühzeit Indiens berichtet, zählt zu dem Gewaltigsten, was je geschaffen wurde. An Umfang übertrifft es die Werke Homers bei weitem; im Vergleich zu der 11.000 Zeilen langen Ilias besteht es aus 220.000 Zeilen. Neben der eigentlichen Handlung enthält es lange, in Versform verfasste Kapitel philosophischen Inhalts sowie Exkurse über Recht, Sittlichkeit und Tugend, Religion und Politik, Medizin und viele andere Themen – ein Werk wie ein üppig wuchernder Dschungel, in dem man sich verirren kann, poetisch und weitschweifig, voller Geheimnisse und Überraschungen, bunt schillernd wie das Leben selbst.

Die Bhagavad Gita enthält in ihren 606 Versen die Lehren des Gott-menschen Krishna. Worin bestehen diese Lehren? Vergegenwärtigen wir uns zunächst einmal den mythischen Handlungsrahmen: Es tobt ein Kampf zwischen den beiden verwandten Gruppen der Pandavas und Kauravas. Eigentlich gehören sie derselben Familie an, der glorreichen Kuru-Dynastie, die auf den Urzeit-König Bharata zurückgeht. Ursprüng-lich gab es drei Brüder, Dhritatastra, Pandu und Vidura. Dhritarastra, der älteste dieser drei, war von Geburt an blind, und deshalb ging der Kö-nigsthron an den zweitältesten, Pandu. Dieser hatte fünf Söhne namens Yudhistira, Bhima, Arjuna, Nakula und Sahadeva. Der blinde Dhritarastra hatte zahlreiche Söhne, der älteste davon Duryodhana. Da König Pandu frühzeitig starb, kamen seine fünf Kinder unter die Obhut des Onkels Dhritatastra, der sie an seinem Hofe aufzog.

Diese fünf Kinder – die Pandavas – waren die rechtmäßigen Erben des Königreichs. Aber die Söhne Dhritarastras, allen voran der verschla-gene Duryodhana, hegten Hass und Neid gegenüber den Pandavas, und auch der in seinem Herzen zutiefst bösartige Dhritarastra wollte, dass seine eigenen Söhne das Reich erben sollten und nicht die Pandavas.

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So forderte Duryodhana die fünf Pandusöhne zu einem betrügerischen Würfelspiel heraus, in dem diese ihr Königreich verspielten und gezwun-gen waren, für 13 Jahre ins Exil zu gehen. Aus der Verbannung zurück-gekehrt, wollten die Kauravas – Duryodhana und seine Brüder – ihnen immer noch nicht ihr rechtmäßiges Erbteil aushändigen, und so kam es nach mehreren gescheiterten Schlichtungsversuchen zum Kampf. Die Handlung der Bhagavad Gita setzt in dem Moment ein, da der Kampf in die Entscheidungsschlacht einmündet. Gerüstet stehen sich die beiden Streitwagenheere gegenüber. Arjuna will gerade mit seinem Streitwagen hervorpreschen, um die Schlacht zu eröffnen, da hält er nochmals inne. Zweifel überkommen ihn. Und während er noch zögert, inmitten der feindlichen Heere, offenbart sich ihm in Gestalt seines Wagenlenkers Krishna der höchste persönliche Gott Vishnu. Er spricht aus dem Munde Krishnas und unterweist Arjuna in der Wissenschaft des Yoga.

Unter Yoga verstehen wir die Kunst der Gott-Vereinigung durch Innenschau und Kontemplation. Da Krishna der Weltenlehrer und Einge-weihte des vedischen Zeitalters ist, lehrt er als Erster die hohe Kunst des Yoga, und zwar in dreifacher Form – den Yoga der Tat (Karma Yoga), den Yoga der Erkenntnis (Jnana Yoga) und den Yoga der liebenden Hin-gabe (Bhakti Yoga). Für Arjuna, den Streitwagenkämpfer aus der Kaste der Kshatriyas, kommt nur der Yoga der Tat in Frage. Deshalb unter-weist Krishna den Arjuna hauptsächlich in der Kunst des Karma Yoga. Diese Unterweisungen umfassen ganze 18 Gesänge, doch vollziehen sie sich in einem einzigen Augenblick der mystischen Erleuchtung. Und sie gipfeln in der Forderung: Kämpfe! Es ist Arjunas Pflicht, sein Karma, sein inneres Gesetz, zu kämpfen; also kämpfe! Die Bhagavad Gita lehrt einen Weg der Heiligung und Gott-Vereinigung durch rechtes Tun, das immer ein gottgeweihtes Tun ist – ein Handeln aus dem Urgrund des hö-heren Selbst, das die Tat um ihrer selbst willen anstrebt, ohne Rücksicht auf Erfolg oder Scheitern. Die Bhagavad Gita ruft uns auf zur Nachfolge Arjuna’s, des aktiven Mystikers: alles Handeln soll aus der inneren Mitte des Selbst fließen. Das höhere, ewige Selbst, der göttliche Urfunke in uns – es ist gleichbedeutend mit Krishna, dem Innengott und Allgott – soll Motor und Leitstern all unseres Strebens und Wirkens sein.

Die Bhagavad Gita ist die zeitlose Darstellung esoterischen Urwis-sens. Die esoterische Bedeutung der Handlung liegt auf der Hand: der Mensch (Arjuna) befindet sich auf dem Schlachtfeld der Tat (Kuruksetra-Feld), das nichts anderes ist als das irdische Leben selbst, in der Mitte zwischen zwei feindlichen Heeren, wovon das eine die höheren (Panda-vas), das andere die niederen Seelenkräfte (Kauravas) bedeutet. Da steht der Kämpfer seinen Gegnern gegenüber, der Selbstsucht, dem Eigendunkel, dem verblendeten Selbstwahn, allesamt Söhne des niede-ren menschlichen Ego (der blinde König Dhritarastra), die er zugleich als seine eigenen Verwandten erkennt. Denn auch die niederen Teile der

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Seele gehören zum Selbst des Menschen. Daher entsinkt ihm der Mut zum Kämpfen und er zaudert. Da erscheint ihm sein höheres Selbst, der dem Menschen innewohnende Gottmensch (Krishna) und belehrt ihn über seine wahre Natur und Stellung im Universum. Man kann die Esote-rik der Bhagavad Gita so zusammenfassen:

Krishna das höhere Selbst, die Monade. Arjuna das höhere Ego des Menschen. Die Pandavas die höheren Seelenkräfte des Menschen. Dritarashta das niedere Ego des Menschen. Die Kauravas die niederen Seelenkräfte des Menschen.

Kuruksetra das Schlachtfeld des Lebens.

Die Lehren, die Arjuna von Krishna empfängt, sind im Wesentlichen drei, nämlich die Lehre von der Unsterblichkeit des Selbst, die von der Gottvereinigung durch rechtes Tun und die von der Allgegenwart Gottes. Diese drei Lehren bilden jedoch eine Einheit. Die Lehre von der Unsterb-lichkeit und Unzerstörbarkeit des menschlichen Geistes liegt allem zu-grunde. Arjuna muss lernen, zwischen bloßem Schein und Wesenhaftem zu unterscheiden: das wahre Selbst des Menschen kann, da von Ewig-keit her präexistierend, nicht getötet werden. Krishna erklärt, dass das-jenige, was der gewöhnliche Mensch für sein "Selbst" hält, nur eine Täu-schung ist; dass alle aus dieser Täuschung hervorgehenden Zustände, Begierden und Leidenschaften nur vorübergehende Erscheinungen sind und dass der Mensch nur dann Erlösung erlangt, wenn er sich mit Gott als dem unsterblichen Selbst aller Wesen vereint.

Es ist also die uralte Wissenschaft des Yoga, der Gottvereinigung, die hier gelehrt wird. Der aktive Mystiker oder Karma-Yogi handelt nicht aus seinem niederen Ego heraus, sondern er lässt Gott aus sich heraus han-deln; dabei kümmert ihn nicht der „Erfolg“. Er handelt, ohne auf die Früchte des Handelns zu schauen. Demjenigen, der sich im Reich der Tat mit dem göttlichen Krishna-Selbst vereint hat, dem aktiven Karma-Yogi, erscheint Gott in allen Dingen; in heiliger Immanenz erglüht er aus dem Mineral, dem Staubkorn, dem Stein am Wegrand, aus den Myria-den Sonnen des Alls. Hier entfaltet die indische Einheits-Mystik ihre höchste Wirkung.

Den Höhepunkt der Bhagavad Gita bildet der 10. Gesang, wo sich Krishna dem Arjuna in der ganzen Fülle seiner göttlichen Allnatur offen-bart. Alle wunderbaren Phänomene dieser Welt, die Macht, Schönheit, Größe oder Erhabenheit aufweisen, zeigen sich als bloße Manifesta-tionen der universalen Form Krishnas, der als die höchste Ursache und Essenz allen Seins allen Lebewesen das höchste Objekt der Verehrung ist. Krishna bekennt sich als das höhere Selbst, ähnlich wie später Chris-tus als eine Verkörperung des allen Menschen einwohnenden Logos

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galt. Tatsächlich sind Krishna und Christus, als Verkörperungen des hö-heren Selbst gesehen, miteinander identisch. Das höhere Selbst aber ist wesensgleich mit dem All-Selbst, ähnlich wie Christus bekannte: „Ich und der Vater sind eins“ (Joh. 10/30).

Man sieht hier, dass die esoterischen Traditionen der Weltreligionen in den entscheidenden Fragen vollkommen übereinstimmen. Die Bhagavad Gita ist im höchsten Maße eine Philosophie der Tat; aber im Gegensatz zum modernen europäischen Verständnis lehrt die Bhagavad Gita ein Handeln, das frei ist von weltlichem Erfolgsdenken. Hier zeigt sich eine Parallele zur taoistischen Lehre des wu-wei, des Tuns durch Nicht-Tun, wie sie in den Sinnsprüchen des Lao-Tse zum Ausdruck kommt. In der 37. Strophe des Tao-teh-King lesen wir: „Wesen kennt nicht Tun durch Äußerliches / Wesen äußert Nicht-Tun / Doch ist nichts Wesentliches ohne sein Tun.“2 Nicht-Tun im Sinne von Lao-Tse: das ist Gelassenheit, Wirkenlassen von innen her, Handeln aus der Wesensmitte. Es drängt sich auch ein Vergleich auf zur Zen-Kunst des Bogenschießens, jener alten japanischen Kampfkunst, die von Eugen Herrigel erstmals dem westlichen Publikum dargestellt wurde; aus einer meditativen Haltung wird größte Treffsicherheit erzielt.

Dieselbe Urlehre vom gottgemäßen Wirken des Gelassenen findet sich in der abendländischen Mystik. Für Meister Eckhart (1260–1326) bil-den Kontemplation und Weltwirken keinen Widerspruch, sofern der inne-re Mensch bei allem Wirken in seiner Mitte bleibt. In einem seiner Traktate führt er aus: „Nun sollst du auch wissen, dass der äußere Mensch gar wohl in Tätigkeit stehen kann, und dabei der innere frei und unbewegt zu sein vermag. ( ... ) Nimm dies zum Ebenbild: eine Tür geht in einer Angel auf und zu. Nun vergleiche ich das äußere Brett an der Tür dem äußeren Menschen und die Angel vergleiche ich dem inneren Menschen. Wenn die Tür auf- und zugeht, so bewegt sich das äußere Brett hin und her; und doch bleibt die Angel in steter Unbeweglichkeit und wird nicht im geringsten verändert. In gleicher Weise ist es auch hier.“3

Yoga und Mystik sind bekannte Erscheinungen des Kulturlebens, aber als Grundhaltung gehen sie zurück in die vedische Kultur Altindiens, wo die menschliche Seele erstmals lernte, sich in das eigene Innere zurück-zuziehen, um alles Welthafte vom Punkt der inneren Mitte zu über-blicken. Die Haltung der Introversion entsprang jener tiefnächtlichen Monden-Weisheit, die in ferner Vorzeit die urindische Kultur durchwirkte, aus der Jahrtausende später das klassische Indien hervorging. Bis heute ist Indien das Heimatland des Yoga geblieben, und Krishna wird dort immer noch verehrt wie ein Gott. Überall in Indien offenbart sich das Erbe des lunaren Weltalters: „Die mondenhaft urtümlich-vegetativ-pflan-zenhaft wuchernden Kräfte wirken sich auch noch in der Architektur und Plastik Indiens bis in die Spätzeit greifbar deutlich aus. Für unser Em-

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pfinden hat diese wuchernde Fülle von Gestalten, z. B. an indischen Tempeltürmen, etwas verwirrend Chaotisches. Die Dschungellandschaft Indiens scheint da Architektur geworden zu sein.“4

In der Bhagavad Gita erreicht die vedische Kultur ihren Höhepunkt und krönenden Abschluss. Aber die Weisheit, die aus den Strophen dieses Epos zu uns spricht, gehört allen Zeitaltern an; sie ist ein Erbe der gan-zen Menschheit. Der Begründer der deutschen Universität, Wilhelm von Humboldt (1767–1835), nannte daher die Bhagavad Gita "das schönste, ja vielleicht das einzig wahrhaft philosophische Gedicht, das alle uns bekannten Literaturen aufzuweisen haben ... Das Tiefste und Erhabens-te, was die Welt aufzuweisen hat. Ich danke Gott, dass er mich so lange hat leben lassen, dass ich dieses Buch noch lesen konnte."5 Nach Eu-ropa kam die Bhagavad Gita erst spät; die erste Übertragung gab im Jahre 1785 Wilkins heraus. Doch so wurde das Abendland auf dieses bisher unbekannte Weistum aufmerksam gemacht, und der Romantiker von Schlegel fertigte 1823 eine lateinische Übertragung an, unter Zu-grundelegung des Sanskrit-Originals. Die erste deutsche Ausgabe von Peiper erschien 1834, weitere Bearbeitungen von Lorinser 1869 und von Boxberger 1870 folgten. Heute gibt es wohl keine Kultursprache der Welt, in die nicht die Bhagavad Gita übersetzt worden wäre.

Vielen Menschen auch des 20. Jahrhunderts wurde die Bhagavad Gita zur Wegweisung, zur täglichen Lebensbegleitung – so für Mahatma Gandhi, den Befreier des indischen Subkontinents: "In der Bhagavad Gi-ta finde ich den Trost, den ich selbst in der Bergpredigt vermisse. Wenn mir manchmal die Enttäuschung ins Gesicht starrt, wenn ich, verlassen, keinen Lichtstrahl mehr sehe, greife ich zur Bhagavad Gita. Dann finde ich hier oder dort einen Vers und beginne langsam zu lächeln inmitten all der niederschmetternden Tragödien – und mein Leben ist voll von äuße-ren Tragödien gewesen. Wenn sie alle keine sichtbaren, keine untilgba-ren Wunden an und in mir hinterlassen haben, verdanke ich das den Lehren der Bhagavad Gita." 6

Für die Theosophen hatte die Bhagavad Gita immer einen besonders hohen Stellenwert gehabt. Mahatma Gandhi berichtet in seiner Autobio-graphie, wie er während seines Aufenthaltes in London, als Student der Rechte, von Theosophen auf die Bhagavad Gita aufmerksam gemacht wurde: „Gegen Ende meines zweiten Jahres in London lernte ich zwei Theosophen kennen, zwei Brüder, beide unverheiratet. Sie sprachen zu mir von der Gita. Sie lasen gerade Sir Edwin Arnolds Übersetzung davon – ‚The Song Celestial‘ (‚Der Himmlische Sang‘) – und luden mich ein, das Original mit ihnen gemeinsam zu lesen. (....) Das Buch schien mir von unschätzbarem Wert. Diese hohe Meinung von der Gita ist seither immer noch in mir gewachsen, so dass ich sie heute für das erhabenste Lehrbuch der Wahrheit halte.“7 Für die Theosophen war die Bhagavad Gita schon immer das Meer der Weisheit gewesen, in das sie eintauch-

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ten, um zu dem gemeinsamen Urgrund aller Religionen vorzudringen. Sie waren auch die Ersten, die dieses einmalige Weisheitsgedicht durch Übersetzungen dem Abendland zugänglich machten.

Es besteht kein Zweifel darüber, dass die Urlehre der Bhagavad Gita mit der Geheimlehre identisch ist, dass es nur eine Wahrheit gibt, einer-lei in welche Form man sie kleidet, und dass jener Wahrspruch des Ma-harajas von Baroda, der später zum Motto der Theosophischen Gesell-schaft wurde, immer noch seine Gültigkeit bewahrt hat:

Satyat nasti paro dharma – Es ist keine Religion höher als die Wahrheit

1 Zt. nach Heinrich Wenz, Weltmacht Indien, Bielefeld o.J., S. 21. 2 Lao-Tse, Tao-teh-King, 3. Aufl. München / Wien 1977, S. 45. 3 Meister Ekkehart, Vom Wunder der Seele, Stuttgart 1977, S. 22 / 23. 4 Arthur Schult, Astrosophie, Bd. 2, Bietigheim 1982, S. 625. 5 Zt. nach Armin Risi, Gott und die Götter, 3. Aufl. Neuhausen 1999, S. 385. 6 Zt. nach: Die Bhagavad Gita. Das Hohe Lied der Tat, S. 8. 7 Mahatma Gandhi, Mein Leben, Frankfurt 1983, S. 48.