Die Eurostile Next

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Der 1920 geborene Aldo Novarese lebte und arbeitete bis zu seinem Tod 1995 im italieni- schen Turin. Schon sehr jung lernt er von 1931 bis 1933 an der Scuola Arteri Stampatori, eine berufbildende Mit- telschule, Holz- schnitt, Kupferstich und Lithografie. Bis 1936 setzt er seine Ausbil- dung an der Scuola Tipografica Guiseppe Vigli- andi Paravia fort. Hier unterrichtet auch Ales- sandro Butti, der künstlerische Leiter der Turiner Schriftgießerei Nebiolo, bei der Nova- rese ab 1936 als Zeichner anfängt. Wenige Jahre später beginnt Novarese die ersten ei- genen Schriften zu veröffentlichen – einige davon entstehen zusammen mit Butti. 1952 übernimmt Novarese schließlich den Posten des künstlerischen Leiters der Schriftgießerei Ne- biolo von Butti und behält ihn bis zu seinem Ausscheiden 1975. In den folgenden Jahren arbeitet er selbstständig als Schriftdesigner und veröffentlicht zum Beispiel 1978 die typische 70er-Jahre-Schrift Novarese. Novareses bekannteste Schrift ist aber sicher die 1962 erschienene Eurostile. Die Entste- hungsgeschichte der Schrift reicht über zehn Jahre zurück und beginnt mit dem Vorläufer Microgramma, den noch Butti mit Unterstüt- zung seines Assistenten Novarese zeichnete. Die Microgramma von 1952 enthält nur Versa- lien und ist als reine Headline-Schrift konzipiert. Obwohl das im Bleisatz auch heißt, dass die Lettern den kompletten Schriftkegel ausfüllen und folglich in einer Zeile nicht mit anderen Schriften kombinierbar sind, wird die Micro- gramma in den folgenden Jahren zu einer be- liebten Schrift mit einer entsprechenden Verbreitung. Anfang der 60er-Jahre nimmt sich Novarese die Mic- rogramma erneut vor und zeichnet die feh- lenden Kleinbuch- staben. Die fünf Schnitte der Micro- gramma Regular mit Condensed und Ex- tended, sowie Bold- mit entsprechender Extended-Version werden mit einer Bold Con- densed und einer besonders schmall laufenden Variante ergänzt. Der Name der ausgebauten Schrift wird in Eurostile geändert. Wie schon von der Microgramma vorgegeben, orientieren sich auch die Buchstaben der Euros- tile am Quadrat und sind extrem offen mit sehr großen Punzen gestaltet. Im Kontrast dazu stehen die im Vergleich relativ eng gestalteten Buchstaben-Zwischenräume. Gerne werden die Formen der Eurostile auch mit der Bildröhre eines Fernsehers oder den Fenstern von Flug- zeugen verglichen – eine Art Reminizens an die technischen Errungenschaften der Entste- hungszeit. Ihre stark individuellen Buchstabenformen mit den gerundeten Ecken und Variationen in der Strichstärke setzen die Eurostile positiv vom Gros der serifenlosen Schrift ab. Trotz ihrer tech- nischen Anmutung wirkt sie im Vergleich zu anderen konstruierten Grotesken, wie etwa der Avant Garde, lebendig und abwechslungsreich. Darüber hinaus weisen einige Buchstaben be- sondere Charaktermerkmale auf. Zu den auffäl- ligeren gehört das »K«: Die beiden Querbalken erreichen den Aufstrich nicht, sind aber über einen Steg verbunden. Ebenso sticht das ge- meine »t« mit seinem überlangen, aber den quadratischen Charakter der Schrift gut unter- streichenden, Querbalken hervor. Auch die abgeflachten Spitzen bei Buchstaben wie dem A oder V unterstreichen die Ausstrahlung der Schrift ebenso wie die rechteckigen Punkte in Satzzeichen und Umlauten. Während das kleine »a« in der üblichen offenen Form ausge- führt ist, ist das »g« in der einstöckigen, eher aus den Kursiven bekannten Variante, ge- zeichnet. Der Querbalken im versalen »Q«, der geheime Spielplatz aller SchriftentwerferInnen, ragt weiter in das Innere des Buchstaben als nach Außen. Altbekannt und doch neu Die Eurostile Next Ultralight Condensed Extended Light Condensed Extended Regular Condensed Extended Semibold Condensed Extended Bold Condensed Extended k t A V Q a g von Volker Ronneberger Aldo Novarese Das Musterblatt der ursprünglichen Eurostile von 1962 Einige chrakteristische Lettern der Eurostile Das »a« liegt in der offenen Form vor; das g in der auch von wenigen anderen Groteskschriften be- kannten einstöckigen Variante. I N V E R S PUBLISHINGPRAXIS APRIL 2004 55 www.publish.de

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Fachartikel über Eurostile Next, erschienen im April 2004 in Publishing Praxis

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Page 1: Die Eurostile Next

Der 1920 geborene Aldo Novarese lebte und arbeitete bis zu seinem Tod 1995 im italieni-schen Turin. Schon sehr jung lernt er von 1931 bis 1933 an der Scuola Arteri Stampatori, eine berufbildende Mit-telschule, Holz-schnitt, Kupferstich

und Lithografie. Bis 1936 setzt er seine Ausbil-dung an der Scuola Tipografica Guiseppe Vigli-andi Paravia fort. Hier unterrichtet auch Ales-sandro Butti, der künstlerische Leiter der Turiner Schriftgießerei Nebiolo, bei der Nova-rese ab 1936 als Zeichner anfängt. Wenige Jahre später beginnt Novarese die ersten ei-genen Schriften zu veröffentlichen – einige davon entstehen zusammen mit Butti. 1952 übernimmt Novarese schließlich den Posten des künstlerischen Leiters der Schriftgießerei Ne-biolo von Butti und behält ihn bis zu seinem Ausscheiden 1975. In den folgenden Jahren arbeitet er selbstständig als Schriftdesigner und veröffentlicht zum Beispiel 1978 die typische 70er-Jahre-Schrift Novarese.

Novareses bekannteste Schrift ist aber sicher die 1962 erschienene Eurostile. Die Entste-hungsgeschichte der Schrift reicht über zehn Jahre zurück und beginnt mit dem Vorläufer Microgramma, den noch Butti mit Unterstüt-zung seines Assistenten Novarese zeichnete. Die Microgramma von 1952 enthält nur Versa-lien und ist als reine Headline-Schrift konzipiert. Obwohl das im Bleisatz auch heißt, dass die Lettern den kompletten Schriftkegel ausfüllen und folglich in einer Zeile nicht mit anderen Schriften kombinierbar sind, wird die Micro-gramma in den folgenden Jahren zu einer be-liebten Schrift mit einer entsprechenden Verbreitung. Anfang der 60er-Jahre nimmt sich Novarese die Mic-rogramma erneut vor und zeichnet die feh-lenden Kleinbuch-staben. Die fünf Schnitte der Micro-gramma Regular mit Condensed und Ex-tended, sowie Bold- mit entsprechender

Extended-Version werden mit einer Bold Con-densed und einer besonders schmall laufenden Variante ergänzt. Der Name der ausgebauten Schrift wird in Eurostile geändert.

Wie schon von der Microgramma vorgegeben, orientieren sich auch die Buchstaben der Euros-tile am Quadrat und sind extrem offen mit sehr großen Punzen gestaltet. Im Kontrast dazu stehen die im Vergleich relativ eng gestalteten Buchstaben-Zwischenräume. Gerne werden die Formen der Eurostile auch mit der Bildröhre eines Fernsehers oder den Fenstern von Flug-zeugen verglichen – eine Art Reminizens an die technischen Errungenschaften der Entste-hungszeit.

Ihre stark individuellen Buchstabenformen mit den gerundeten Ecken und Variationen in der Strichstärke setzen die Eurostile positiv vom Gros der serifenlosen Schrift ab. Trotz ihrer tech-nischen Anmutung wirkt sie im Vergleich zu anderen konstruierten Grotesken, wie etwa der Avant Garde, lebendig und abwechslungsreich.

Darüber hinaus weisen einige Buchstaben be-sondere Charaktermerkmale auf. Zu den auffäl-ligeren gehört das »K«: Die beiden Querbalken erreichen den Aufstrich nicht, sind aber über einen Steg verbunden. Ebenso sticht das ge-meine »t« mit seinem überlangen, aber den quadratischen Charakter der Schrift gut unter-streichenden, Querbalken hervor. Auch die abgeflachten Spitzen bei Buchstaben wie dem A oder V unterstreichen die Ausstrahlung der Schrift ebenso wie die rechteckigen Punkte in Satzzeichen und Umlauten. Während das kleine »a« in der üblichen offenen Form ausge-führt ist, ist das »g« in der einstöckigen, eher aus den Kursiven bekannten Variante, ge-zeichnet. Der Querbalken im versalen »Q«, der geheime Spielplatz aller SchriftentwerferInnen, ragt weiter in das Innere des Buchstaben als nach Außen.

Altbekannt und doch neu

Die Eurostile Next

Ultralight Condensed ExtendedLight Condensed ExtendedRegular Condensed ExtendedSemibold Condensed ExtendedBold Condensed Extended

k t A V Q

a g

von Volker Ronneberger

Aldo Novarese

Das Musterblatt der ursprünglichen Eurostile von 1962

Einige chrakteristische Lettern der Eurostile

Das »a« liegt in der offenen Form vor; das g in der auch von wenigen anderen Groteskschriften be-kannten einstöckigen Variante.

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PUBLISHINGPRAXIS APRIL 2004 55www.publish.de

Page 2: Die Eurostile Next

Spätestens mit der Adaption der Eurostile für den Fotosatz wird die Schrift zu einem Liebling der GrafikdesignerInnen und massenhaft in der Werbung eingesetzt. Vielleicht etwas abge-nutzt, bleibt ihre Popularität auch im digitalen Zeitalter ungebrochen. In den 90er Jahren kann sich die Eurostile, dank ihrer extravaganten Formen, als eine lesbare Schrift, die auch von den Chaos-TypografInnen akzeptiert wird, be-haupten.

Natürlich hat ihre Entwicklungsgeschichte in der Eurostile Spuren hinterlassen. Neben den zwei Konvertierungen, vom Bleisatz zum Foto-satz und in die digitale Welt, werden über die Jahre weitere Zeichen ergänzt – nicht immer im passenden Stil. Der dringend notwendigen

lich. In diesem Zuge wird auch die Buchstaben-höhe auf dem Kegel reduziert, so dass die Eu-rostile Next kleiner als die Eurostile wirkt, den zusätzlichen Platz aber gewinnbringend zum Beispiel für die Vergrößerung der deutschen Umlautpunkte über den Versalien nutzt. Vor-handene Sonderzeichen werden dem Charakter der Eurostile angepasst sowie fehlende Zeichen für den osteuropäischen Sprachraum in der Eurostile Next ergänzt.

Machen sich die Korrekturen an den Formen eher zurückhalten im gesamt-Eindruck der Schrift bemerkbar sind Kobayashis Änderungen in den Stärkeabstufungen und Laufweiten deutlich augenfälliger. Die bestehenden Strich-stärken Regular, Semibold und Bold werden durch Schnitte in Ultralight und Light ergänzt. Alle Stärken sind mit Condensed und Extended-Varianten voll ausgebaut. Während die Con-densed der Regular Next deutlich schmaler als die der ursprünglichen Euostile läuft, sind die Buchstaben der Bold Condensed in der neuen Schrift-Variante nur geringfügig schmaler ge-staltet. Die gesamte Schriftfamilie wirkt durch diesen Eingriff homogener und besser auf ein-ander abgestimmt. Darüberhinaus werden für alle Schnitte Kapitälchen ergänzt, die über die Opentypefunktionen zu erreichen sind. Nicht fortgeführt werden die Italic-Schnitte der Eu-rostile. Diese, in der Schrift von Novarese nicht vorhandenen Schnitte, wurden später durch einfaches Schrägstellen der Buchstaben er-gänzt, sicher keine Lösung um eine ordentliche Kursive zu erzeugen. Darüber hinaus lässt sich sicherlich vortrefflich darüber Streiten, ob ein Schriftentwurf wie die Eurostile, mit ihren auf dem Quadrat basierenden Buchstaben, über eine Italic verfügen sollte.

Wie die Eurostile ist auch die Eurostile Next keine Schrift für lange Texte oder gar Bücher. Trotzdem ist sie mehr als eine reine Headline-schrift und durchaus für ein paar Zeilen Text geeignet, was sie zur idealen Schrift für Werbe-Anwendungen macht. Kobayashi ist mit seiner Überarbeitung ein kleines Kunststück ge-lungen. Die teilweise deutlichen Änderungen in der Gestaltung bewahren nicht nur den einzig-artigen Charakter der Schrift, sondern ergänzen die Formen der eigenwilligen aber dennoch gut lesbaren Eurostile. Darüber hinaus hat er für eine zeitgemäße Ausstattung an Zeichen und Schnitten gesorgt, womit eine der Lieblings-schriften der GrafikdesignerInnen im neuen Jahrtausend angekommen ist und dank der nun kompletten Ausstattung sich noch vielfäl-tiger als bisher einsetzen lässt.

Die Eurostile Next liegt Opentype-Format vor und ist ab sofort in der Platinum Collection von Linotype verfügbar. Die Schnitte sind in unter-schiedliche Pakete aufgeteilt.

CondensedCondensed

CondensedCondensed

EUROSTILE KAPITÄLCHEN

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ooÜberarbeitung hat sich jetzt Akira Kobayashi, Typedirektor bei Linotype, angenommen. Da bei der Digitalisierung der Eurostile an Stellen mit geraden Linien gearbeitet wurde an denen Novarese leichte Kurven gezeichnet hatte, trägt die digitale Eurostile einen härteren Charakter als die ursprüngliche Bleisatzversion aus den 60er Jahren. Kobayashi kehrt bei seiner Version nicht nur zur ursprünglichen Buchstabenform zurück, sondern unterzieht den gesamten Ent-wurf einer Modernisierung. Dem Zeitgeist von damals entsprechend sind die Versalien in der Eurostile von Novarese etwas stärker als die Gemeinen gezeichnet. In der neuen Version hat Kobayashi die Stärken aneinander angepasst, so wie er insgesamt die Buchstabenformen vor-sichtig überarbeitet und vereinheitlicht hat. Mit bedacht werden Dicken und Rundungen geän-dert – ein direkter Vergleich zwischen den Buchstaben ist dadurch fast nicht mehr mög-

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Oben die Regular und Bold Con-densed der Eurostile, darunter die netsprechender Schnitte der Eurostile Next

Ein direkter Vergleich kaum mög-lich, so viel hat sich im Detail geändert. Schwarz die ursprüng-liche als Outline die Eurostile Next (Größen angepasst).

Rechts das »o« der Eurostile Bold Extended 2 links das »o« der Eu-rostile Next Bold Extended. Gut zu erkennen die geänderte Kur-venführung.

Zwei Sonderzeichen im Vergleich: Oben die ursprüngliche unten die neue Version. Beides Bold Extended.

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