Die fliegende Weihnachtspyramide (eine Weihnachtsgeschichte)

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S. Döpke - Anna und die fliegende Weihnachtspyramide ( eine Hörbuchversion von diesem Text gibt es auch auf der Seite www.youtube.com/SD4785 ) 1. Die Entdeckung Die Schatten der Nacht waren längst aus all ihren Ecken und Ritzen hervorgekrochen, als Anna vor der Haustür ihres Wohnblocks angekommen war. Aufgeregt wühlte sie in den Taschen ihres längst zu klein gewordenen Anoraks nach dem Schlüssel. Sie wollte so schnell wie möglich hinein, denn ein kalter Wind wehte an diesem Tag durch das Land, der sie bis unter die Haut ausgekühlt hatte. Dummerweise konnte sie ihn ausgerechnet jetzt nicht finden. So ein Mist! Dann musste sie wohl bei ihrem Nachbarn klingeln, einem alten grimmigen Herrn, der sich ständig aufregte, wenn man ein klein wenig zu laut das Radio anstellte und ihn dabei beim Mittagsschlaf störte. Immer wenn man ihm

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Anna und die fliegende Weihnachtspyramide - eine WeihnachtsgeschichteAnna glaubt, in diesem Jahr die schrecklichsten Weihnachten ihres Lebens erleben zu müssen. Sie wohnt in einer hässlichen Großstadtwohnung und ihre Mutter hat kaum Zeit, um etwas für das Weihnachtsfest vorzubereiten. Alles wird jedoch anders, als die Figuren ihrer Weihnachtspyramide lebendig werden. Sie erzählen ihr, dass man mit der Pyramide fliegen kann wie mit einem Hubschrauber. Sie können Anna sogar schrumpfen und auf ihre Reisen mitnehmen.

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S. Döpke - Anna und die fliegende

Weihnachtspyramide( eine Hörbuchversion von diesem Text gibt es auch auf der

Seite www.youtube.com/SD4785 )

1. Die Entdeckung

Die Schatten der Nacht waren längst aus all ihren Ecken und

Ritzen hervorgekrochen, als Anna vor der Haustür ihres

Wohnblocks angekommen war. Aufgeregt wühlte sie in den

Taschen ihres längst zu klein gewordenen Anoraks nach dem

Schlüssel. Sie wollte so schnell wie möglich hinein, denn ein

kalter Wind wehte an diesem Tag durch das Land, der sie bis

unter die Haut ausgekühlt hatte. Dummerweise konnte sie ihn

ausgerechnet jetzt nicht finden.

So ein Mist! Dann musste sie wohl bei ihrem Nachbarn

klingeln, einem alten grimmigen Herrn, der sich ständig

aufregte, wenn man ein klein wenig zu laut das Radio anstellte

und ihn dabei beim Mittagsschlaf störte. Immer wenn man ihm

im Treppenhaus oder auf dem Hof begegnete, wurde sein

bitterböses Gesicht noch finsterer. Aber das tat er bei anderen

Leuten auch. Es schien, als würde er alle Menschen dieser Welt

abgrundtief hassen.

Dort wollte Anna auf keinen Fall klingeln, aber bei der netten

Frau Schmidt konnte sie nicht klingeln, denn die war vor

kurzem zu ihrer Tochter nach Braunschweig gefahren, wo sie

die Weihnachtszeit verbringen wollte.

Aber was würde sie dort oben schon erwarten?

Nichts als eine kleine, kalte und hässliche Wohnung. Es würde

lange Zeit dauern, bis es dort oben warm wurde. Da konnte sie

genauso gut hier unten auf dem Hof auf ihre Mutter warten.

Wenn sie zusammen hineingingen, würde es dort wenigstens

nicht ganz so leer und trostlos sein. Außerdem musste sie nach

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der Haustür auch noch die Wohnungstür öffnen und da hätte ihr

auch keiner der Nachbarn helfen können. Nur der Hausmeister,

ein äußerst unangenehmer, älterer Herr, der sich ständig über

seine viele Arbeit beschwerte und keine Kinder leiden konnte,

weil sie im Treppenhaus die Wände beschmierten und überall

ihren Kaugummi hinklebten.

Anna schlenderte über den Hof, wo das letzte Herbstlaub auf

den pfeifenden Windböen umhertanzte. Sie fror noch ein wenig

mehr und auch die vielen Lichterketten, Weihnachts- und

Schneemänner, die ihr aus allen Fenstern so warm und hell

entgegenleuchteten, konnten daran nichts ändern. Sie erinnerte

sich an einen singenden Weihnachtsbaum, den sie im Kaufhaus

gesehen hatte. Der Kitsch schien in dieser Weihnachtszeit

wieder einmal grenzenlos zu sein und alles Dunkle und

Grausame zu überdecken, als gebe es kein Leid auf der Welt.

Ihr eigenes Fenster war dagegen völlig dunkel. Nicht einmal

die kleinste Kerze leuchtete ihr entgegen, als ob dort überhaupt

niemand wohnte. Sie ging schnell weiter.

Vor dem Nachbarhaus waren eine Mutter und ihre Tochter

gerade dabei, einen Weihnachtsbaum vom Autodach zu

nehmen. Zwei kleine Jungs hopsten und sprangen singend und

lachend um sie herum. Die Familie war nicht sonderlich

vornehm und doch war Anna voller Neid auf sie. Ihre eigene

Mutter war bisher nicht dazu gekommen, etwas für das

Weihnachtsfest vorzubereiten. Sie musste ständig arbeiten und

am Wochenende lag sie kaputt auf dem Sofa herum.

Geschwister hatte Anna auch keine, dabei wünschte sie sich

nichts sehnlicher als eine Schwester. Eine Schwester, mit der

sie über all ihre Sorgen und Probleme reden konnte. Ihr könnte

sie die Geheimnisse ihres Herzens anvertrauen und wenn es

ihnen schlecht ging, würden sie sich gegenseitig aufheitern und

all die bitteren und traurigen Stunden ihres Lebens wären nicht

mehr ganz so traurig und bitter. Ein großer Bruder, wie

Susanne ihn hatte, wäre allerdings auch nicht übel. Der hatte

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sie damals manchmal beschützt, wenn die frechen Kinder aus

ihrer Klasse sie über den Schulhof schubsten und ihnen die

Pausenbrote klauten.

Susanne war Annas beste und einzige Freundin in der Klasse

gewesen, aber vor einigen Wochen war sie weggezogen und

seitdem war sie allein, völlig allein.

Der kalte Wind trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie griff in

ihre Hosentasche nach einem Taschentuch. Und wie sie dort so

herumwühlte, fand sie zwischen all den Tüchern doch

tatsächlich den Hausschlüssel.

Als sie endlich oben war, war es beinahe sieben Uhr. Der Tag

war fast um, wieder einer dieser trüben Tage, der ohne jede

Freude an ihr vorübergezogen war. Und der Anblick der leeren

Wohnung stimmte sie kaum fröhlicher. Da es nur 14°C war,

beeilte sie sich, die Heizung einzustellen.

Ihre Mutter würde erst sehr spät nach Hause kommen, weshalb

sie sich selber Abendbrot machte. Sie holte Brot, Käse und

Wurst aus dem Kühlschrank, in dem ansonsten gähnende Leere

herrschte. Sie stellte das Radio ein. Zu dieser Zeit wurden fast

nur noch Weihnachtslieder gespielt wurden, was ihr allmählich

auf die Nerven, wo ihr selbst doch kein bisschen nach

Weihnachten zumute war. Schweigend kaute sie an einer Stulle

und hörte zu, wie ein paar Kinder ihre Wunschzettel vorlasen.

Mein Gott, was hatten die nur für Ansprüche!

Vor lauter Wut drehte sie wieder ab. Sie selbst wünschte sich

in diesem Moment doch nichts sehnlicher, als dass ihre Mutter

endlich nach Hause käme.

Sie sah sich in der Küche um und stellte fest, dass ihre

Wohnung von innen genauso unweihnachtlich aussah wie von

außen. Außer einem Schneeflockenbild, das sie in der Schule

gemalt hatte, erinnerte nichts daran, dass Weihnachten vor der

Tür stand. Sie hatte in der Schule zwar auch noch einen roten

Weihnachtsmann aus Pappe mit einem flauschigen Wattebart

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gebastelt, aber den hatte Inga, die blöde Ziege, zerrissen.

Einfach nur so aus Spaß. Und auch mit der Ordnung war es

nicht gut bestellt. Auf der Spüle stapelte sich das Geschirr und

geputzt hatte schon lange keiner mehr. Es war ein trauriger

Anblick.

Doch da kam ihr plötzlich eine Idee! Eine Idee, wie ihr

vielleicht doch noch ein wenig weihnachtlich zumute werden

konnte. Ach, es war eine wundervolle Idee, aber zunächst

musste sie das Geschirr abwaschen und ihre Einkaufstaschen

leeren.

Zu der Wohnung, die Annas Mutter gemietet hatte, gehörte

auch ein kleiner Kellerraum. Den benutzten sie zum Abstellen

ihrer Fahrräder, für Lebensmittel und Werkzeuge. Ansonsten

war der ganze Raum voll von gestapelten Kisten und Kartons

aus ihrem alten Haus. Sie hatten in ihrer Wohnung viel zu

wenig Platz und lagerten die meisten ihrer übrig gebliebenen

Habseligkeiten im Keller.

Anna kam manchmal hierher, wenn sie allein sein wollte. Dann

sah sie sich all die alten Sachen an und erinnerte sie sich an die

schöne, alte Zeit zurück, als sie noch alle zusammen auf dem

Bauernhof gelebt hatten: Sie, Mama und Papa, Oma, Tante

Elke und natürlich ihre Cousins Frank und Tom.

Es war eine wirklich tolle Zeit gewesen. Sie war mit ihren

Cousins und den Nachbarskindern durch die Wiesen und

Wälder ihres Dorfes gezogen, hatten Hütten und Staudämme

gebaut und in einem Baggersee das Schwimmen gelernt. Und

dann all die vielen Tiere auf dem Hof. Zu herrlich!

Immer wenn Anna im Keller auf ihrem kleinen Hocker saß,

lebte sie wieder in der alten, heilen Welt, die ihr ansonsten so

unerreichbar weit entfernt vorkam und musste nicht mehr an

die schlimmen Erlebnisse in der Schule denken. Dafür wurde

sie umso trauriger und niedergeschlagener, wenn sie in ihre

kleine, trostlose Wohnung zurückkehren musste. Deswegen

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kam sie nur selten hierher.

Diesmal war sie aber nicht gekommen, um an alte Zeiten zu

denken, sondern um etwas zu suchen: Eine

Weihnachtspyramide aus dem Erzgebirge. Tante Elke hatte sie

der Oma im letzten Jahr zu Nikolaus geschenkt, als sie so

krank gewesen war und immer nur im Bett liegen musste. Da

hatte sie ein bisschen Abwechslung gehabt und fühlte sich

nicht so allein, wenn die aus Holz geschnitzten Hirten, Schafe

und Engel auf ihrem Nachttisch Karussell fuhren.

Anna erinnerte sich, wie sie damals bei der Oma am Bett

gesessen und die Pyramide beobachtet hatte. Oh, wie hatten sie

sich da auf das Weihnachtsfest gefreut. Besonders schön war es

am Abend, wenn sich vom Schein der Kerzen und dem

Schatten des Propellers die geheimnisvollsten Muster an der

Decke bildeten, wie bei einem Gespenstertanz.

Und genau deswegen kramte sie sie jetzt wieder hervor. Damit

ihr ein klein wenig weihnachtlich zumute wurde.

Allerdings durfte sie sich nicht von der Mutter erwischen

lassen. Die hatte die Pyramide bei ihrem Umzug wegwerfen

wollen. Sie meinte, sie fände sie kitschig, aber in Wirklichkeit

wollte sie nur alle Erinnerungen an Tante Elke ausmerzen.

Anna hat nie so richtig verstanden, warum sich die beiden

gestritten hatten, denn ihre Mutter sprach mit ihr nicht darüber,

egal wie oft sie danach fragte. Sie ahnte nur, dass es etwas mit

dem Tod der Oma und des Vaters zu tun hatte.

Die Weihnachtspyramide hatte sie dennoch retten können. Sie

hatte sie in einen Karton gepackt und diesen heimlich in den

Möbelwagen geschmuggelt. Und nun musste dieser Karton

irgendwo zwischen all den vielen anderen Kisten liegen. Der

Raum war ziemlich zugerümpelt, aber nach einem langen und

mühsamen Hin- und Hergeräume hielt sie ihn schließlich in der

Hand. Na endlich!

Als sie oben angekommen war, war ihre Mutter immer noch

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nicht zu Hause. Trotzdem schoss sie sicherheitshalber die Tür

ihres Kinderzimmers hinter sich ab.

Ihr Zimmer war ziemlich klein. Sie hatte ein Etagenbett, unter

dem sich ein Kleiderschrank befand. Außerdem gab es dort

noch einen Schreibtisch, der vorm Fenster stand und an der

Wand ein kleines Bücherbord. Das war dann aber auch schon

alles. Und trotzdem blieb ihr kaum Platz zum Spielen.

Nun aber stellte sie die Pyramide auf dem Schreibtisch ab. Sie

steckte in jeden der sechs Kerzenhalter eine Kerze und zündete

mit einem Streichholz alle Dochte der Reihe nach an. Schon

setzte sich der Propeller in Gang und mit ihm drehten sich die

beiden Ebenen und ihre Figuren: auf der oberen Ebene drei

Engel, auf der unteren drei Hirten und zwei Schafe. Nachdem

Anna auch noch das Licht ausgeknipst hatte, wurde es richtig

unheimlich im Zimmer, wie das Bett, der Schrank, das Regal

und die Zimmerwände nur noch von dem schwachem Schein

der Kerzen angestrahlt wurden. Sie sah nach oben. Es sah aus,

als jagten sich die Geister des Lichts und die Geister des

Schattens gegenseitig über ihre Zimmerdecke. Sie rannten im

Kreis, wichen voreinander zurück, aber keine Seite schaffte es,

die andere zu besiegen.

Ach, was war das schön, so ruhig und entspannend. Sie mochte

es lieber ein wenig gruselig, als von riesigen, protzigen

Lichterketten angestrahlt zu werden. Viele Minuten saß sie nur

da und genoss das einzigartige Schauspiel, blickte in den

Schein der Kerzen, wie die Steinzeitmenschen vor Tausenden

von Jahren stundenlang ins Lagerfeuer geschaut hatten.

Langsam aber wurde sie müde. Ihre Augenschlitze wurden

enger und sie fiel in einen Trance, in dem sie alles andere um

sich herum vergaß.

Plötzlich aber schreckte sie hoch!

Etwas Seltsames war geschehen. Sie ließ sich in die Stuhllehne

zurückfallen und sah sich die Pyramide noch einmal aus der

Ferne an, stellte aber fest, dass alles genauso aussah wie

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immer. Trotzdem konnte sie das Gefühl nicht loswerden, dass

einer der Hirten leicht mit dem Kopf genickt hatte. Es war

keine besonders große, sondern nur eine winzig kleine

beiläufige Bewegung gewesen, die sie nur am Rande bemerkt

hatte. Aber nun, als sie ein wenig genauer hinschaute, war

davon absolut nichts mehr zu sehen.

„Vielleicht habe ich mich ja doch getäuscht“, murmelte sie.

Sie vergaß, was sie gesehen hatte und blickte wieder stumm

und starr in das Kerzenlicht. Die Müdigkeit breitete sich immer

weiter in ihr aus. Sie merkte, dass es nicht mehr lange dauern

würde, bis sie…

Sie schreckte auf!

Was war das?

Wieder hatte sie das Gefühl, mit der Pyramide sei etwas

passiert. Da hatte einer der Engel doch tatsächlich mit dem

Flügel geschlagen und war sogar ein klein wenig in die Höhe

geflogen. Und auch das Muster an der Decke war nicht mehr

das Gleiche. Es war kaum noch zu sehen, da der Raum

oberhalb der Kerzen erfüllt war von bunten, leuchtenden

Farben, die aufgeregt umherschwirrten.

Aber auch diesmal war es nur ein sehr kurzer Eindruck, der

verschwand, sobald sie genauer hinsah.

Trotzdem wurde ihr die Sache langsam unheimlich.

Irgendetwas schien hier zu passieren! Mit der Pyramide war

etwas nicht in Ordnung, obwohl sie genau wusste, dass das

alles völlig absurd war und überhaupt nicht sein konnte. Sie

beugte sich vor, um das Ganze etwas genauer zu untersuchen.

Sie hielt den Propeller fest, dass die Ebenen zum Stillstand

kamen und fuhr mit dem Finger über all die hölzernen Figuren,

auch über den Engel, der gerade noch mit dem Flügel

geschlagen hatte. Aber nichts geschah, in den kleinen

Holzfiguren war nicht der geringste Hauch von Leben. Sie zog

ihren Finger wieder zurück und ließ dem Propeller freien Lauf.

Eigentlich sollte ich damit aufhören, dachte sie.

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Es war einfach alles zu verrückt, um sich noch weiter damit zu

beschäftigen. Sie sollte die Weihnachtspyramide lieber wieder

verstecken, bevor die Mutter zurückkam. Als sie aufstand

blickte sie ein letztes Mal in das Gesicht des Engels, aber es

blieb völlig starr und leblos.

Dann holte sie tief Luft um die Kerzen auszublasen… Und

genau in diesem Moment hörte sie plötzlich ein Geräusch!

Es war nicht besonders laut. Wäre es im Zimmer nicht so still

gewesen, hätte sie es wahrscheinlich gar nicht gehört, aber da

war tatsächlich der Laut eines Tieres gewesen, genauer gesagt,

das Blöken eines Schafes. Vor lauter Schreck verschluckte sie

sich an der eigenen Puste. Sie fing an zu husten, stieß dabei

gegen den Stuhl, verlor das Gleichgewicht und dann fielen sie

beide, Anna und der Stuhl, hintenüber und landeten auf dem

Pappkarton.

„Au!“ schrie sie, als sie sich den Hinterkopf an der Tür stieß.

Auch ihr Rücken, mit dem sie direkt an eine Kante des Stuhls

gestoßen war, tat weh. Einige Sekunden lang ließ sie ihren

Tränen freien Lauf. Aber die Überraschung über das, was

gerade geschehen war, war größer als der Schmerz.

Was war das? Wie konnte es sein, dass im 3. Stock eines

Mietshauses mitten in der Großstadt plötzlich ein Schaf blökte?

Sofort fiel ihr Blick zur Pyramide, die sich weiterdrehte wie

bisher und mit ihr die beiden Schafe der Hirten.

Das konnte kein Zufall mehr sein! Ein drittes Mal hatte sie sich

sicher nicht geirrt! Die Figuren schienen tatsächlich lebendig

zu werden. Anna war so verblüfft, dass sie eine gute Weile nur

dasaß und nicht mehr wagte sich zu bewegen oder etwas zu

sagen.

Doch dann kam plötzlich Leben in sie!

Sie sprang auf. Mit einem Riesenschritt schritt sie auf den

Schreibtisch zu, griff nach dem Band des Rollos und zog es mit

wenigen, kräftigen Zügen hoch. Ständig sah sie sich

angsterfüllt zur Pyramide um. Was war, wenn die Engel

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plötzlich auf sie zugeflogen kamen und sie hinterrücks

überfielen?

Als das Rollo oben war, griff sie nach dem Fenstergriff und riss

das Fenster mit einem Ruck auf. Es gab ein großes Geschepper,

als ihre Blumentöpfe von der Fensterbank herunterpurzelten

und zu Boden fielen. Beinahe hätte sie auch noch die Pyramide

mit umgerissen. Für eine kurze Zeit stockte Anna der Atem,

aber sie beruhigte sich schnell wieder. Sie hatte jetzt wichtigere

Dinge zu tun.

Hastig ergriff sie die Weihnachtspyramide, obwohl es ihr davor

gruselte, sie zu berühren. In Windeseile hob sie sie in die Höhe

und warf sie in hohem Bogen aus dem Fenster hinaus.

Nicht eine Sekunde länger wollte sie mit diesem unheimlichen

Ding in einem Raum sein! Sie knallte das Fenster zu, stellte

ihren Stuhl wieder auf und setzte sich unruhig hin. Sie knetete

ihre Hände, die vor Aufregung nur so zitterten, die Gedanken

schossen ihr durch den Kopf.

Ihre Mutter hatte Recht gehabt. Man hätte die Pyramide sofort

wegschmeißen sollen. Sie bereute nun, dass sie sie gegen ihren

Willen aufgehoben hatte, aber damals hatte sie ja nicht wissen

können, dass die Figuren lebten. Sie stellte sich vor, sie wären

mitten in der Nacht zum Leben erwacht und hätten in ihrem

Zimmer herumgespukt. Ein kalter Schauer lief ihr über den

Rücken.

Nach einer Weile kehrte die Ruhe in ihren Körper zurück.

Ohne den Schein der Kerzen war es im Zimmer fast völlig

dunkel und sie knipste das Licht wieder an. Da fiel ihr Blick

unter den Tisch und sie sah, was sie angerichtet hatte. Einer der

beiden Blumentöpfe war völlig zerbrochen und überall hatte

sich dunkle Blumenerde ausgebreitet. Sie stellte den heilen

Topf auf die Fensterbank zurück und bückte sich, um die

Scherben des Anderen aufzusammeln. Da erstarrte sie

abermals.

Was das auf einmal für ein seltsames Rauschen?

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Es schien von draußen zu kommen. Sie schreckte hoch und

stieß sich den Kopf an der Tischplatte.

„Aua!“

Dieser Tag war einfach zu viel für sie. Alles in ihrem Kopf

schien hin- und herzuschwanken. Langsam krabbelte sie unter

dem Tisch hervor, stand auf und sah zum Fenster hinaus, wo

langsam, aber sicher etwas Helles auftauchte, das sie jedoch

kaum erkennen konnte. Sie ging zur Tür zurück, stellte das

Licht wieder aus und als sie dann abermals hinausblickte, sah

sie es ganz deutlich vor sich.

Diesen Anblick würde sie ihr Leben nicht mehr vergessen!

Selbst fünfzig Jahre später sollte es noch manchmal

vorkommen, dass sie davon träumte. Sie erzählte diese

Geschichte all ihren Kindern und Enkelkinder, aber niemand

von ihnen wollte ihr glauben. Sie alle hielten es für eine

erfundene Geschichte, aber sie war tatsächlich wahr!

In der Luft vor dem Fenster flog die Weihnachtspyramide, die

noch vor wenigen Minuten auf ihrem Tisch gestanden hatte.

Zuerst war nur ihr Propeller und die obere Etage mit den

Engeln zu sehen, aber sie kämpfte sich Stück für Stück nach

oben, bis sie schließlich in voller Größe, direkt vor ihrem

verblüfften Gesicht, stehen blieb.

Ja, es war tatsächlich ihre Weihnachtspyramide, aber irgendwie

war sie es auch wieder nicht. Die Kerzen waren keine

gewöhnlichen Kerzen mehr, deren gelbe Flammen harmlos vor

sich hinflackerten und von jedem leichten Windstoß gelöscht

werden konnten. Jetzt sahen sie vielmehr aus wie

Flammenwerfer und die Flammen selbst glichen den kaum

sichtbaren, magisch blauen Flammen eines Sturmfeuerzeugs.

Erst als die Pyramide stehenblieb, wurden sie wieder etwas

gelber und schwächer. Der Propeller drehte sich von diesen

Flammen viel schneller als üblich, fast so wie der eines

Hubschraubers und daher kam auch das laute Rauschen. Über

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dem Propeller tanzten bunte, durchsichtige Farbwesen umher,

genau wie sie es vor ein paar Minuten schon einmal gesehen

hatte. Aber in der Dunkelheit hatte das Ganze einen noch weit

magischeren Anblick.

Vor lauter Staunen konnte Anna überhaupt nichts sagen. Mit

offenem Mund stand sie da und schaute sich die

ungewöhnliche Flugschau an. Dann gab es plötzlich ein

hässliches, knirschendes Geräusch, als der Propeller gegen die

Scheibe rammte. Anna bekam eine Gänsehaut, aber die

Pyramide driftete sofort wieder zurück und legte sich schief.

Der Propeller bewegte sich von der Scheibe weg, während der

untere Teil der Pyramide an ihr andocken wollte.

Dann erkannte sie, wie sich einer der Hirten am unteren Gerüst

der Pyramide entlang hangelte. Um nicht herunterzufallen,

klammerte er sich mit einem Arm an einer Kerze fest. Mit der

Hand des Anderen klopfte er an das Fenster.

Sofort erwachte Anna aus ihrer Starre. Sie drehte sich um, griff

nach der Tür und wollte aus dem Zimmer flüchten. Aber

gerade, als sie die Klinke heruntergedrückt hatte, hörte sie die

leise Stimme des Hirten rufen: „Bitte lauf nicht weg, wir

werden dir nichts tun!“

Fassungslos blickte sie sich um.

Vielleicht träume ich einfach, dachte sie. Sie schloss ganz fest

die Augen und kniff sich mehrmals in den Arm, aber das Bild

vor dem Fenster war noch immer das Gleiche, nur dass der

Hirte wieder zurück zu seinen Kollegen auf dem Gerüst

getorkelt war. Er winkte ihr zu.

„Hallo! Kannst du uns verstehen ?“ brüllte er, so laut er nur

konnte. „Mach bitte das Fenster auf!“

Endlich hatte Anna den Mut zu antworten.

„Wer seid ihr?“ fragte sie und ging zaghaft auf das Fenster zu.

„Sprich etwas lauter, wir verstehen dich nicht!“ kam es vom

Hirten zurück. Anna wagte es tatsächlich die Frage ein zweites

Mal etwas lauter zu stellen.

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„Das sagen wir dann, wenn du uns geöffnet hast!“ war die

Antwort.

„Woher soll ich wissen, dass ihr mir nichts tut?“

„Warum sollten wir dir etwas tun?“

„Ich habe euch eben aus dem Fenster geworfen.“

„Wir werden dir verzeihen. Aber nun mach bitte das Fenster

auf. Wir können uns nicht mehr lange in der Luft halten. Die

Kerzen sind so schlecht.“

Und als sie genauer hinsah, erkannte sie, dass die Pyramide

tatsächlich ein wenig am Schwanken war, als könne sie jeden

Moment abstürzen.

Endlich kam sie über ihre Furcht hinweg. Sie öffnete das

Fenster und konnte ihren Arm kaum rechtzeitig zurückziehen,

so schnell, wie die Pyramide zu ihr hereingeflogen kam. Sie

kehrte genau an den Ort zurück, an dem sie auch schon zuvor

gestanden hatte. Die Landung war nicht ganz sauber, denn sie

wackelte noch eine kurze Zeit hin und her, bis das Flackern der

Kerzen immer schwächer und der Propeller immer langsamer

wurde.

Als sie endlich stillstand, führten zwei der Hirten die Schafe

von der Pyramide herunter. Der Andere, der so etwas wie der

Pilot zu sein schien, lief währenddessen aufgeregt auf der

oberen Plattform umher. Er musste wohl kontrollieren, ob alles

ordnungsgemäß verlaufen war. Die Engel hingegen flogen

sofort in die Höhe hinauf. Jeder zog eine Trompete aus seinem

weißen Kleid hervor und feierte mit lauter Musik die

glückliche Landung.

Anna beobachtete das geschäftige Treiben aus einer sicheren

Entfernung. Sie wahr zu schüchtern, um die kleinen Wesen

anzusprechen. Außerdem war sie sich immer noch nicht ganz

sicher, ob sie nicht doch träumte. Alles in ihrem Kopf schien

sich zu drehen.

Doch plötzlich wurde sie von einem der Hirten angesprochen:

„Liebes Kind. Komm doch näher.“

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Es war derjenige, der gerade am Fenster geklopft hatte.

Langsam bewegte sich Anna auf den Tisch zu.

„Setzt dich doch hin. Wenn du deinen Kopf so weit oben hast,

kann man sich schlecht mit dir unterhalten.“

Anna setzte sich. Sie tat nun alles, was der kleine Kerl ihr

sagte.

„Wie heißt du?“ fragte er.

„Anna.“

„Wie alt bist du ?“

„Neun Jahre. Aber wer seid ihr? Warum lebt ihr?“

„Haben wir nicht das Recht zu leben? Du lebst ja schließlich

auch“, giftete der zweite Hirte, der den beiden Schafen durchs

Fell kraulte, zwischen denen er es sich gemütlich gemacht

hatte.

Anna war etwas verblüfft über diese Antwort, dass sie für eine

kurze Zeit stumm wurde.

Dann war auch der Pilot mit seiner Arbeit fertig und kam zu

den anderen heruntergeklettert. Und als am Ende auch noch die

Engel ankamen, stand schließlich die komplette Besatzung vor

ihr auf dem Schreibtisch.

„Liebe Anna“, sprach der Pilot. Er hatte graues, gelocktes Haar

und einen Rauschebart, fast so wie der Weihnachtsmann. Er

schien schon recht alt zu sein und war offenbar nicht nur der

Pilot, sondern auch insgesamt der Anführer der Gruppe.

„Wir danken dir, dass du uns aus unserer Starre erlöst hast“,

fuhr er fort.

„Wieso habe ich euch erlöst?“ fragte Anna vollkommen

verwirrt.

„Durch die Wärme der Kerzen und die Wärme deiner Blicke,

ist auch die Wärme in unsere ausgekühlten Körper

zurückgekehrt. Wir danken dir dafür.“

„Wir danken dir dafür“, wiederholten die Engel im Chor und

donnerten einmal kurz in ihre Trompeten.

„Das verstehe ich nicht“, antwortete Anna. „Ihr ward doch

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eben noch aus Holz... Wieso?“

„Ein böser Fluch wurde vor vielen hundert Jahren über uns

gelegt, aber der ist nun gelöst. Jedenfalls, solange die Kerzen

noch brennen.“

„Ja“, rief der Hirte, der bei den Schafen saß. Er schien noch

älter zu sein als der Pilot, war jedoch sehr klein und wirkte auf

Anna ein wenig komisch, wie ein leicht verwirrter, alter Mann

eben.

„Es war eine bösartiger Zauberer, der das getan hat“, schimpfte

er, „aber jetzt sind wir wieder lebendig. Und wenn ich den in

die Finger kriege, dann kann er was erleben, der Dreckskerl,

dieser Verfluchte, dieser, dieser…!“

„Darf ich dir vorstellen, dass ist mein Onkel Chrazzius“, sagte

der Pilot. Und dies“, er wies auf den dritten, noch eher jungen

Hirten, „ist Jonas, dann kommen die Engel Mio, Leo und Egon,

sowie die Schafe Polli und Wolli. Mein Name ist Dario. Ich bin

der Anführer und Pilot dieser Pyramide.“

Er streckte Anna die Hand aus und sie hielt ihm zum Schütteln

einen Finger hin. Das Gleiche tat sie auch bei den anderen

Passagieren.

„Seid ihr mir nicht böse, dass ich euch beinahe umgebracht

habe?“ fragte sie.

„Du konntest nichts dafür“, antwortete Dario. „Du hast dich zu

sehr erschrocken. Glücklicherweise konnte ich schnell genug

aus der Starre erwachen, um die Pyramide vor einem Aufprall

mit dem Erdboden zu bewahren.“

„Woher kommt es eigentlich, dass die Pyramide fliegen kann?“

wollte Anna voller Neugier wissen.

„Weiß du, mein Kind, dies ist keine gewöhnliche Pyramide“,

erklärte Dario. „Es ist eine Flugpyramide. Durch die Wärme

des Kerzenfeuers wird der Propeller so stark angetrieben, dass

sie fliegen kann wie ein Heißluftballon. Leider sind dies

ziemlich schwache Kerzen, die nicht viel taugen. Nur Kerzen

aus Bienenwachs können den Propeller so stark antreiben, dass

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man damit hinfliegen kann, wohin man will, genau wie ein

Vogel oder eine Biene.“

„Wohin man will?“ fragte Anna aufgeregt.

„Wohin man will“, wiederholte Dario nickend.

„Auch in die Südsee?“

„Auch in die Südsee.“

Anna musste daran denken, dass Inga in den Ferien in der

Südsee gewesen war und wundervolle Photos mitgebracht

hatte. Sie gab mächtig mit ihren Reisen an, denn kein anderer

aus der Schulklasse war jemals so weit fort gewesen.

„Ach, wenn ich doch auch einmal in die Südsee fahren

könnte“, murmelte sie träumerisch vor sich hin.

„Wenn du willst ,können wir gerne einmal zusammen in die

Südsee fliegen“, meinte Dario. „Wir sind dir etwas schuldig.“

„Wie soll denn das funktionieren?“ wollte Anna erstaunt

wissen.

„Na mit unserer Pyramide natürlich, dummes Kind!“ zischte

der alte Chrazzius hervor.

Anna tippte sich an die Stirn.

„Ich bin doch viel zu groß. Wie wollt ihr mich denn

mitbekommen?“

„Wir müssen dich natürlich erst kleiner machen. Das ist doch

wohl klar!“ kam es von dem Alten zurück, der sich danach

wieder voll und ganz den Schafen widmete.

„Das ist doch wohl klar“, wiederholte Anna leise. Er hatte es

gesagt, als sei es das einfachste und normalste auf der Welt.

Nun ergriff Dario wieder das Wort: „Er hat Recht. Wir können

dich tatsächlich kleiner machen. Du musst nur einmal mit

deinem Finger durch alle sechs Kerzen streifen, einen

Zauberkeks essen und mir danach deine Hand geben. Dann

spreche ich einen kurzen Zauberspruch und schon bist du

genauso klein wie wir.“

„Aber es dauert doch einige Zeit bis man in der Südsee

angekommen ist“, fiel Anna ein. „So lange kann ich doch nicht

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wegbleiben. Ich müsste erst mit meiner Mutter darüber

sprechen.“

„Bitte nicht!“ rief Dario. „Rede mit keinem Erwachsenen über

uns. Das könnte gefährlich für uns werden, weißt du?

„Aber meine Mutti ist nicht böse“, erwiderte Anna.

„Lass es bitte sein!“ widersprach Dario. „Wir können

Erwachsenen nicht trauen. Wir haben viele schlechte

Erfahrungen mit ihnen gemacht, weil wir so klein sind. Wenn

einer von ihnen in die Nähe kommt, musst du uns sofort

verstecken! Hörst du?“

Anna nickte und der Pilot kam wieder zum eigentlichen Thema

zurück.

„Mit dieser Pyramide können wir jedenfalls schneller reisen,

als du denkst“, sagte er. „Es könnte noch heute Abend

losgehen.“

„Oh nein“, meinte Anna. „Meine Mutti könnte jeden Moment

wiederkommen.“

„Nun gut. Wir müssten ja sowieso erst Kerzen aus

Bienenwachs haben“, sagte Dario. „Sobald deine Mutter

wiederkommt, bläst du die Kerzen aus und versteckst uns im

Schrank. Wir werden dann wieder aus Holz sein, aber wenn du

die Kerzen anzündest und in die Flammen siehst, dann werden

wir wieder auferstehen. Am besten siehst du immer im Kreis

herum, entgegen der Drehrichtung des Propellers. So geht es

nämlich am schnellsten. Du musst uns auf jeden Fall

versprechen, es zu tun, denn sonst müssten wir für immer aus

Holz bleiben.“

Anna versprach es ihnen mit einem deutlichen Nicken. Der

Gedanke an eine Reise in die Südsee begeisterte sie sehr. Sie

wollte einfach nur weg aus diesem kalten Land.

Selbstverständlich würde sie am nächsten Tag die Kerzen

anzünden. Die ganze Nacht würde sie an nichts anderes mehr

denken können.

„Dann ist es gut“, sagte Dario beruhigt. „Vielleicht sollten wir

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das mit der Verkleinerung schon einmal ausprobieren, damit du

dich daran gewöhnst.“

„Au ja!“

Anna wurde es ganz warm vor Begeisterung, obwohl ihr bei

dem Gedanken daran auch ein klein wenig mulmig wurde.

Wie würde es wohl sein, plötzlich so klein wie eine Holzfigur

zu sein? Und wie würde es erst einmal sein, mit dieser

Pyramide zu fliegen?

Schließlich war sie noch nie im Leben geflogen. Dieser Tag,

der gerade eben noch so fürchterlich gewesen war, schien nun

der aufregendste ihres ganzen Lebens zu werden. Aber ein

plötzliches Klappern an der Haustür verhinderte die

Verwandlung.

„Auwei, ich glaube meine Mutti kommt zurück“, rief sie.

Sofort sprangen Chrazzius und Jonas auf und trieben die

beiden Schafe auf die untere Etage der Pyramide zurück. Als

das getan war, stellten sie sich selber ganz brav und ordentlich

auf, während die Engel zurück auf die obere Etage flogen.

Alles ging furchtbar schnell und als sie wieder an Ort und

Stelle standen, pustete Anna hastig die Kerzen aus. Sofort

verwandelten sich die kleinen Personen wieder zu Holz und

das geheimnisvolle Flimmern über dem Propeller verschwand

ebenfalls. Es wurde völlig dunkel im Zimmer und Anna wusste

nicht, wo sie mit der Pyramide so schnell hin sollte. Sie stellte

sie aufs Bett, legte vorsichtig die Bettdecke darüber und hofft

inständig, dass es keine Wachsflecken gab.

Dann ging draußen auch schon die Tür auf und sie hörte die

Schritte ihrer Mutter im Flur.

„Anna?“ rief sie. „Schläfst du schon?“

„Nein, Mama. Ich bin noch wach.“

Sofort öffnete Anna die Tür des Kinderzimmers, rannte auf die

Mutter zu und fiel ihr in die Arme.

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