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    Joachim Fernau wurde am 11. September 1909 in Bromberg gebo-ren, ging in Hirschberg (Riesengebirge) zur Schule und studiertenach dem Abitur in Berlin. Hier schrieb er als Journalist fr Ullstein,

    bis er 1939 zur Wehrmacht eingezogen wurde. Seit 1952 lebt er alsfreier Schriftsteller in Mnchen und in der Toscana.Fernau, der temperamentvolle Konservative, hat ber zwanzigBcher geschrieben - die meisten haben ber 200 000, manche bereine Million Auflage. Es sind vor allem seine Werke zur Geschichteund Zeitgeschichte, die stets heftiges Fr und Wider auslsen und frebenso viel Jubel bei den Lesern wie fr rgernis bei den Kritikernsorgen.Fernau ber sich: Man nennt mich (richtiger: schimpft mich)

    konservativ. Das stimmt, wenn man darunter einen Mann versteht,dem das Bewahren des Vernnftigen und Guten im Geistigen ebensowie im Alltglichen wichtiger ist als das ndern um des nderns unddas Verwerfen um des >Fortschritts< willen und der nicht um jedenPreis >in< sein will, wie man heute zu sagen pflegt. In allen Bchernhabe ich mich bemht, wahrhaftig und unabhngig im Denken zusein . . .

    Auer dem vorliegenden Band sind von Joachim Fernau alsGoldmann-Taschenbcher erschienen:

    Rosen fr Apoll. Die Geschichte der Griechen (3679)Caesar lt gren. Die Geschichte der Rmer (3831)

    Deutschland, Deutschland ber alles . . .Von Anfang bis Ende (3681)Sprechen wir ber Preuen.

    Die Geschichte der armen Leute (6498)Disteln fr Hagen. Bestandsaufnahme der deutschen Seele (3680)

    Halleluja. Die Geschichte der USA (3849)Und sie schmeten sich nicht. Ein Zweitausendjahr-Bericht (3867)Die Gretchenfrage. Variationen ber ein Thema von Goethe (6306)

    Komm nach Wien, ich zeig' dir was. Zweitausend

    Jahre Wiener Mdl (6383)

    Mein dummes Herz. Lyrik (6480)

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    Fernau

    Die Genies

    Wilhelm Goldmann Verlag

    Joachim

    derDeutschen

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    Ungekrzte Ausgabe

    1. Auflage Mai 1979 1.- 40. Tsd.

    2. Auflage Dezember 1980 41.- 60. Tsd.3. Auflage Mai 1982 61.- 70. Tsd.4. Auflage September 1982 71.- 95. Tsd.5. Auflage September 1982 96.-120. Tsd.

    Made in GermanyGenehmigte Taschenbuchausgabe 1972 by F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, Mnchen/Berlin

    Umschlagentwurf: Atelier Adolf & Angelika Bachmann, MnchenDruck: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gtersloh

    Verlagsnummer: 3828Lektorat: Martin Vosseler Herstellung: Peter Papenbrok/Er

    ISBN 3-442-03828-6

    Sc/PR JaBayV.1.0

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    INHALT

    Die irdische Unsterblichkeit.........................................6Die Anatomie des Genies...........................................16Auf der Suche............................................................35

    Otto I. ......................................................................40Ein Wunder ohne Namen?......................................... 63Albertus Magnus .......................................................77Die Entdeckung der Freiheit ...................................... 86Albrecht Drer...........................................................94bergabe des Feuers................................................ 107

    Martin Luther .......................................................... 110Das verlorene Paradies............................................. 130Nikolaus Kopernikus ............................................... 134Der abgetrennte Rembrandt ..................................... 148Johann Sebastian Bach............................................. 162Der Apfel vom Baum der Erkenntnis....................... 183Immanuel Kant........................................................ 194Der Durchbruch der Dichtung.................................. 218Friedrich Gottlieb Klopstock.................................... 222Leid-Entdeckung und Leid-Stolz ............................. 243Ludwig van Beethoven............................................ 249Der Richter .............................................................. 268Johann Wolfgang von Goethe.................................. 273Das neunzehnte Jahrhundert .................................... 294Albert Einstein......................................................... 308Abschied von den Genies der Deutschen.................. 329

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    D I E I R D I S C H E U N S T E R B L I C H K E I T

    Es ist kaum mehr als eine Handvoll Sand in einer Wste,was an Gedanken, Werken und Namen die Jahrtau-sende berdauert hat. Vlker kamen und gingen, dieZeit deckte mit Staub und Ruinen zu, wo einstmalsKulturen blhten, das Leben der Sahara verwehte, undAtlantis versank mit ihren Palsten im Meer. Die Men-schen, Geschlecht auf Geschlecht in endloser Folge, haben

    gelebt, geliebt, gelacht, geweint wie wir und sind ver-gangen, wie wir vergehen werden. Die Mchtigen, wennsie nichts als nur Herr ber Leben und Tod waren, dieReichen, die ein Leben lang rafften, sind vergessen, dieSchnen, die Begehrten, die Glcklichen sind vom Windeverweht.Es sind die Namen ganz anderer, weniger Menschen, die

    unsterblich wurden. Sand und Meer haben sie nicht ver-schtten knnen, die Zeit hat sie nicht ausgelscht. DieErde, auf ihrer rtselhaften Wanderung durch das Welt-all, trgt sie weiter.Es sind die Namen der Genies.Immer hat es irgendein Volk, irgendein Land an einemZipfel der Welt gegeben, das das Gedchtnis an sie be-

    wahrte. Eine Kette von Hnden hat die Zeugnisse ihrerWerke weitergegeben, oft ber Jahrhunderte hinweg, indenen die Namen, die Gedanken, die Schpfungen die-ser Groen fr ganze Erdteile vergessen waren.

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    Denn wir verdanken es den alten, den mde und weisegewordenen Vlkern, da wir die Genies der Mensch-heitsgeschichte kennen. Immer, zum Glck, ist irgendwoauf der Erde ein Volk in diesem Stadium.Junge Kulturen, Vlker im Frhling ihrer Kraft, habenkein Gefhl dafr. Sie sind egozentrisch wie die Kinderund grausam gegen die Vergangenheit. Solange Grie-chenland und Rom jung waren, lebten sie in der Wuchtdes Augenblicks. Die Vergangenheit war fr sie ver-

    gangen, war tot und kaum mehr als eine Sage.In dieser Zeit mssen alte Vlker am anderen Ende derWelt das Wissen hten, sonst wre es lngst verloren.Wenn dann der Frhling vorbei ist, kommen die erstenVorboten: zuerst die Helden, dann die Heiligen. Abernoch nirgends fllt ein Wort, das an das groe Myste-rium des Genies rhrt. Als Drakon vor zweieinhalb-

    tausend Jahren in Griechenland die Verehrung alterHelden als Kult in sein Gesetzbuch aufnahm, nahm ersie nicht als Vorfahren aus Fleisch und Blut, sondern alsHalbgtter. Noch niemand empfand den Bogen, dieKette des Menschengeschlechts, niemand sah die Erdegeheimnisvoll durch das Nichts wandern.So fhlte auch das Abendland bis zum Mittelalter. An

    den Kaminen der winterlich verschneiten Burgen lieman sich das Nibelungenlied vom schnen Siegfried undschrecklichen Hagen vorsingen, wie einst in Athen dieIlias vom schnen Paris und schrecklichen Hektor.Das war keine faustische Sehnsucht. Alle fhlten rck-sichtslos gegenwrtig wie die Kinder.Es ist also eigentlich eine Elegie, da wir, nun uns selbst

    das Verstndnis dafr aufgegangen ist, darin zugleichdie Gewhr sehen knnen, da wir alt geworden sind.Wenn das Blut mder wird und die Kultur sich langsam

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    abwrts zu neigen beginnt, tritt die groe Wandlung ein.Wenn es Abend wird, beginnt man zu frsteln.Dann ist der Augenblick da, wo man anfngt, Museenzu bauen.Ein neuartiges, zuvor nie gekanntes Gefhl fr Ver-gnglichkeit kommt auf. Man sieht diesen groen Bogendes Menschengeschlechts pltzlich. Man steht gedanken-voll vor den Vitrinen, in denen man nun die Vergangen-heit einweckt, und spricht zum erstenmal das inhalts-

    schwere Wort Menschheit aus, das Wort, zu dem derWeg so weit war.Man beginnt, in der Vergangenheit Menschen zusehen, Ahnen, Vter, darunter groe Beweger und Zei-tenwender. Genies, deren Taten und Gedanken sichber alle Zeiten erhalten haben und vor denen nun an-dachtsvoll der Urenkel steht. Und man sprt die Mg-

    lichkeit irdischer Unsterblichkeit.Das geschah bei uns vor 500 Jahren. Als der Renais-sance-Mensch das Wort Genie zum erstenmal aus-sprach, als den Menschen die Augen aufzugehen began-nen fr die Gre und das Geheimnis der Weltbeweger,machte sich mit der unerbittlichen Gesetzmigkeit, mitder die Vertreibung aus dem Paradies auf die Erkennt-

    nis folgt, das Abendland gerade fertig zum Abstieg.Es war faustisch geworden, sehend, sehnend, frstelnd.In dem Mae, wie der Himmel der glcklichen Kindheitversank und die alten Gtter, die trstenden Schreineder Heiligen, die feste Burg Luthers in einem Meer vonZweifeln und im Grbeln untergingen, stieg aus demHorizont das Bild der Genies herauf.

    Zunchst das Bild der Genies alter, lngst vergangenerZeiten. Fremde Genies. Die Kette der eigenen hatte ebenerst begonnen, man erkannte sie noch nicht.

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    Aber wenig spter, als die Distanz grer wurde zu denersten neuen Perlen der Kette, erkannte man auch sie.Wie dieses Erwachen zustande kommt, ist im letztenGrunde unerklrbar.Generation auf Generation fgte nun die Namen neuergroer Mnner und Werke hinzu und gab dieses Wissenber gute und schlechte Zeiten, ber Kriege und Friedenweiter. Neue Gren entthronten zwar alte Gren;frhere Mastbe wichen mitunter schon neuen.

    Aber das schien nicht bedenklich, man lie sich belehren,man las sie aus den Werken heraus. Die Genies selbstbestimmten sie. Man stand mit einem so universellenWissen und zugleich solcher Ehrfurcht und Demut vorihnen, wie es heute gar nicht mehr denkbar ist. Heutemeiden wir in unserer Arbeit tunlichst jede Erinnerungan den Lehrmeister oder an die Vorbilder, die uns ge-

    formt haben, wie die Pest. Ein Wort wie er malt in derArt von Lovis Corinth oder er erinnert an Litai-pekann tdlich mikreditieren. Damals aber war die An-dacht und Dankbarkeit gegenber den gewaltigen Ahnenund Genies noch so naiv und gro, da man stolz war,direkt als von Drer oder von Erasmus kommend er-kannt zu werden. Selbst der Grere hufte auf den von

    ihm Entthronten seine Ehre.Sie alle wurden die Nothelfer der Klugen, Wissenden,Verstehenden, Ehrfrchtigen.Wenn im Leben Perioden des Sturmes und Drangesherrschten, wie im 16. und 18. Jahrhundert, so wurdendiese Mnner zu Fackeltrgern, zu Trgern im Windeknatternder Fahnen. In Zeiten der Stille und der Resi-

    gnation wurden sie zu melancholischen, trstendenFreunden. Immer waren sie zur Stelle. Sie, die selbst oftso wenig im Leben sich zurechtgefunden hatten, waren

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    Trster, Helfer, Wegweiser, Mahner und Richter durchihr Werk.In der Romantik des 19. Jahrhunderts erreichte die Be-geisterung fr die Genies sprunghaft einen wahren Tau-mel. Man sah sie als die einzigen unerhrt souvernschaffenden Geister der Menschheitsgeschichte an. Niezuvor und nie mehr darnach ist Geschichte so geliebtworden. Um dieser Groen willen. Man ging so weit, sieals die einzigen zu bezeichnen, um derentwillen es sich

    lohnte, Mensch zu sein. Sie schienen die Vollendung, derSinn des menschlichen Lebens schlechthin. Sie alleinwaren es, die die Hoffnung gaben, da das Menschen-geschlecht sich aus der Trostlosigkeit des irdischen Da-seins einmal befreien und den Sinn seines Lebens erken-nen wrde.Ein Schritt von groer Tragweite fllt in diese Zeit: In

    der Romantik ist das Bewutsein fr Genie, Ruhm undGre auch in das einfache Volk gedrungen. In seinenAugen waren die Genies Helden mit leuchtenden Augenund wehendem Mantel, mit hohen Stirnen, wunderbar

    beneidenswerte Gestalten, deren Worten stndig eineganze Nation gelauscht hatte. Raffael schritt fr sie un-entwegt kniglich durch die Stanzen des Vatikans; um

    Shakespeare brandete Weimarer Jubel allabendlich auf,die Florentiner hatten nichts anderes zu tun, als Tag undNacht auf Zehenspitzen um die von flackernden Kerzenerleuchtete Werkstatt Michelangelos zu kreisen; undAristoteles ging sein Leben lang mittleren Alters mitAlexander dem Groen Arm in Arm in Piniengrtenauf und ab.

    Vor dieser irdischen Unsterblichkeit standen die ein-fachen Menschen mit anderen Gefhlen, als die wirklichWissenden bisher gestanden hatten. Ihre Masse und das

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    Aufkommen der Gromacht Presse, die zu allen Zeitenvon Halbbildung durchsetzt gewesen ist, gaben den Aus-schlag, da sich das Bild des Genies wieder zurck-zuentwickeln begann zu dem primitiven Bild der Vor-zeit: dem Helden. Ein Vorgang, der eigentlich ganzverstndlich ist, denn die Masse als Geniebegreifer isteben ein Widerspruch in sich.In ihrem Staunen war von Anfang an Neid gewesen.Helden beneidet man.

    Diesen schwrmerischen Schwung der Massen findet manan der gleichen Stelle der Entwicklung im Leben jedesVolkes. Er ist gnzlich unfruchtbar.Es sollte sich bald zeigen, was daraus entstehen wrde,und wir werden am Schlu des Buches sehen, da darineine Wirkung von noch viel grerer als nur zeitlicherTragweite lag.

    Nach der Jahrhundertwende setzte die Vermassung ein.Masse Mensch stand auf. Das Wort scheint hart, aber estrifft leider zu.Der Wahn von der Gleichheit und Brderlichkeit wurdeunter besonderen Schutz der Humanitas gestellt.Der billigste gesunde Menschenverstand wurde heilig-gesprochen, da Kultiviertheit und Wissen fr die faule

    Menge nicht billig genug erreichbar waren.Mit dem ganzen Instinkt eines gekrnkten Haufensprotestierte sie von nun an gegen den Ausreiversucheinzelner Menschen aus der Normung. Sie sprte sofort,da hier ihre neueste heilige berzeugung, da alleMenschen gleich seien, in Gefahr geriet; da sich hier

    jemand befreien wollte, da er ausbrechen wollte aus

    dem Kollektiv.Nichts kann die blinde Wut einer zur Herrschaft gelang-ten Masse mehr erregen!

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    Wer sich irgendwie ber den Gesichtskreis des Pbelszu erheben wagt, gilt fr gechtet ..., hat schon dergroe Humanist Konrad Celtis vor 450 Jahren in sei-nem Antrittskolleg an der Ingolstdter Universitt ge-sagt. Nur konnte es ihm damals egal sein.Inzwischen hatten sich die Machtverhltnisse grndlichverndert.Mediziner, Psychologen, materialistische Philosophenund Analytiker machten sich gegen das geringe Entgelt

    persnlichen Erfolges und der Originalitt mit Bienen-flei an die Arbeit, eine neue Wahrheit ber die Geniesblozulegen, und es wre ja verwunderlich gewesen,wenn ihnen nicht htte gelingen sollen, was selbst einemKinde bei der Untersuchung seiner Puppe gelingt: Esentdeckt, da sie aus Tuch und Seegras besteht.Die Psychoanalytiker lieen vor dem Volk die kleine

    Schar der Genies nun mal aufmarschieren! Da kamensie, die Unsterblichen: grauhaarig, gebckt, pathologisch,griesgrmig, rmlich, irrsinnig, unscheinbar, im Schlaf-mantel, mit ungeputzten Schuhen, ohne Auto, mit ihremPudel murmelnd, den Hauswirt devot grend, Kchen-geruch im Haar und ein kmmerlich-irdisches Bewer-

    bungsschreiben zum Briefkasten bringend.

    Die Masse betrachtete befriedigt das Seegras.Endlich brauchte man kein Minderwertigkeitsgefhlmehr zu haben!Es ging also alles mit rechten Dingen zu. Man selbst warnicht mehr klein und winzig, man spielte das gleicheAchtellos in der Lotterie wie alle anderen.Das Gefhl fr Gre und irdische Unsterblichkeit hatte

    damit seine letzte Wandlung durchgemacht.An diesem Punkt stehen wir heute. Es ist mig, sichetwas vorzumachen.

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    Eine andere Erscheinung, im zweiten Viertel des 20. Jahr-hunderts, war vorauszuberechnen. Folgendes:Genieverehrung setzt historisches Gefhl voraus. DieMasse aber lebt ganz in der Gegenwart. Die Vergangen-heit sagt ihr wie einem egozentrischen Kinde nichts.Folglich wnschte sie den ganzen Komplex der Ruhm-

    bildung in die Gegenwart verlegt. Mehr noch: Siewnschte das Kontingent an Gre und Bedeutung selbstzu verteilen. Was fr einen Sinn hatte fr sie das Spielen

    eines Achtelloses, wenn die Ziehung erst in 100 Jah-ren war. Nein, die Gewinnauszahlung mute soforterfolgen!Seitdem lcheln uns von den Huserwnden, von denFilmflchen, aus den Seiten der Illustrierten die kreidi-gen Gesichter der Stars an; Rudolf Valentino ist un-sterblich, Millionen weinen an seinem Sarkophag; auf

    Tausenden von Fotografien, sorgsam in jedes Dorf ge-tragen, entsteigt irgendein leeres Gesicht einem Luxus-auto, und die Unterschrift hmmert allen den Namendieses Millionrssohns ein. Schriftsteller, die das Plus-quamperfekt nicht vom Imperfekt unterscheiden kn-nen, aber eine neuartige, khne Auffassung von derMoral eines Deserteurs oder Straenmdchens haben,

    steigen zu schwindelnder Hhe auf. Das Wort be-rhmt ist in aller Munde. Das kleine, neunjhrige Md-chen, das ein Lied von eigentmlicher Primitivitt be-sonders allgemeingltig singen kann, ist berhmt; derBoxer, der mit einem Schlag einen Ochsen umlegen kann,ist berhmt; die Halbwchsige, die sich bei einem Festvordrngt, um ihren originellen Appell an das Gute im

    Menschen loszuwerden, wird berhmt; die Stimme, dieim Radio allabendlich die gleichen Tanzschlager mit dergleichen schiefen Munterkeit ansagt, ist berhmt; und

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    der Mann, der die Rcke der Damen zum erstenmal um30 Zentimeter lnger schneidert, ist berhmt.Das sind sie, die die Genies abgelst haben, die neuen

    Nothelfer der Masse, die kein eigenes Minderwertig-keitsgefhl mehr aufkommen lassen.

    Nichts wre falscher, als darber zu lcheln. Natrlichist das ein leichter Weg, in den Ruf des Darberstehenszu kommen. Die tdliche Belehrung folgte bei allen Kul-turen auf dem Fue. In einem Zeitalter, in dem Men-

    schen und Stimmen nicht mehr gemessen, sondern ab-gezhlt werden, ist diese skurrile Ruhmverschiebungnicht damit abgetan, da man ber ihr steht. Jede Zeithat letztlich nur eine Wahrheit. Die heutige ist diese!Hier bettigt sich nicht eine Sekte, dies hier ist Staats-religion.Da Ruhm und Verehrung jetzt so haarscharf neben

    jedermann einschlagen, das macht, wie in der Lotterie,Mut! Und die Masse des 20. Jahrhunderts braucht Mut!Denn sie hat, seit sie die Puppe ffnete, nichts mehr,nichts, gar nichts.Es ist Sptabend geworden.

    Selbstverstndlich darf man das nicht sagen!

    Man spricht in einem Krankenzimmer, seit Dr. OswaldSpengler die Diagnose gestellt und es verlassen hat, nichtvom Sterben. Im Gegenteil, nach jeder neuen Stufe ab-wrts, nach jeder neuen Katastrophe ist es genau wienach jedem neuen Kriege die vornehmste Aufgabe aller

    blinden Hennen, die im Legen ihrer drngenden Eiernicht gestrt werden wollen, zu erklren, da in Wahr-

    heit die Welt schn und der Mensch gut sei. Die ein Zen-timeter ber dem Horizont hngende Sonne wird zuraufgehenden Sonne ernannt.

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    Aber sie geht nicht auf, sie geht unter.Wir sind die Zeugen - die von der Nachwelt vielleichteinmal viel beneideten Zeugen - des letzten Aktes einesDramas.Es ist leider so gut wie sicher.Der Blick zurck auf die groen Geister der Vergangen-heit ist von den wenigen Orientierungen, die uns heutegeblieben sind, die unbestechlichste und sicherste.Wir werden am Schlu unserer Untersuchung sehen, da

    in ihr sogar eine Prophetie von uerster Konsequenzfr die Zukunft liegt: ein bisher verdeckt gelegener Aus-blick auf ein neues Zeitalter. Ein Ausblick, wie er gro-artiger nicht denkbar ist!

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    D I E A N A T O M I E D E S G E N I E S

    Wenn Genie etwas organisch Bedingtes ist, mu es zufassen sein. Begeben wir uns also in den Saal der Ana-tomie, den die rzte, sie werden wissen warum, dasAnatomische Theater zu nennen pflegen.Auf dem Seziertisch liegt eine tote, also eine bereitshistorische Gestalt. Dies hat den Vorteil, da eine Unter-suchung fr den Autor ungefhrlich ist.

    Die Gestalt mge ein Genie sein. Dort unter dem weienTuch liegt sie. Wir wollen sie einmal grndlich unter-suchen.Es bedarf jedoch keiner besonderen Feierlichkeit unse-rerseits. Die Genies - die meisten jedenfalls - warenihrer schon zu Lebzeiten ungewohnt.Die Gestalt auf dem Seziertisch ist nicht besonders ehr-

    furchtgebietend. Sie ist alltglich. Sie ist weder sehr gronoch sehr klein, weder stets blond noch stets dunkel, siemu weder athletisch noch leptosom, weder pyknischnoch asthenisch sein. Nirgends ist ein ungewhnlichesMerkmal zu entdecken. Genie scheint nichts uerlicheszu sein.ffnen wir also den Mann. Vielleicht bringt das Messer

    Klarheit.Dies hier ist das Herz. Das Herz des Genies! Es ist einnormales Herz, wie Sie sehen.Dies ist das Blut. Gruppe A, Gruppe B, Gruppe O.

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    Hier ist die Lunge. Es ist die Lunge wie von mindestenstausend Millionen Menschen.Alle inneren Organe sind normal. Sie mssen zweifelloseinmal normal funktioniert haben.Das Gehirn ist mal gro, mal klein, meistens mittel. DerBefund der Hirnrinde sowie der gesamten Grohirn-halbkugeln, die den hohen seelischen Regungen dienen,ist ohne Sonderheiten.Die fnf Sinne mssen normal funktioniert haben. Auf

    einen weiteren, unbekannten deutet nichts hin.Unzhlige Male sind solche Untersuchungen durchge-fhrt worden.Psychopathische Anlagen sind im durchschnittlichenMae mglich. Nietzsche, Hlderlin, Schumann wurdenwahnsinnig, Kant, Goethe, Kopernikus, Bach hattennoch im hohen Alter einen glasklaren Verstand. Zieht

    man die moderne Statistik und ihre Ausdeutung, dieSoziologie und Umweltskunde, hinzu, so ergibt sich dieErkenntnis, da der Prozentsatz der Geistesgestrtenunter den Genies nur wenig hher ist als unter der All-gemeinheit. Es ist zu bercksichtigen, da ein Genie demallgemeinen Interesse und der scharfen Beobachtung un-vergleichlich strker ausgesetzt ist als ein Namenloser.

    Ferner ist in Rechnung zu stellen, da das Genie vielgrerer seelischer und geistiger Belastung ausgesetzt istals die Masse. Das heit, es ist viel wahrscheinlicher, daGenie geistige Strungen zur Folge haben kann alsumgekehrt. Nichts, aber auch gar nichts deutet daraufhin, da Geisteskrankheit die Ursache der Genialittoder gar eine Voraussetzung ist.

    Die wie ein Alpdruck auf allen Gemtern liegenden tief-sinnigen Abhandlungen ber den Zusammenhang vonGenie und Irrsinn, die sich inzwischen zu Bergen von

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    Bchern getrmt haben, besagen also sachlich und nch-tern gesehen lediglich: Diese Untersuchungen ntzen derErforschung des Irrsinns, nicht aber des Genies. Leider.Wir sind am Ende. Wir haben etwas Absolutes, das alsGenie in diesem Krper htte stecken knnen, nicht ge-funden.Bedauerlicherweise hat sich damit die Frage nach demWesen des Genies nicht erledigt, und wenn ich es mirrecht berlege, so scheint mir, da das Rtsel Ruhm

    und Gre ungelst bleibt, solange nicht die Frage ge-klrt ist, warum Rembrandts Bild Die Nachtwachevierzig Millionen Mark kostet und Zabateris bekanntesSchlafzimmerbild Der Elfenreigen nicht mehr als100 Mark und 50 Pfennige.Die Gedankenverbindung beider Fragen hat nur schein-

    bar etwas Verblffendes an sich. Die Khnheit tuscht.

    Tatschlich deckt das Beispiel mit der Nachtwacheund dem Elfenreigen fr die Geniefrage einen neuenWeg auf.Das Rijksmuseum in Amsterdam soll nach dem Kriegeals letztes Angebot aus Amerika die Summe von zehnMillionen Dollar fr die Nachtwachegenannt bekom-men haben. In auffallendem Gegensatz steht dazu die

    Tatsache, da die Nachtwache als Kopie oder Repro-duktion hchstens in hundert Wohnungen auf der gan-zen Erde hngt, also offenbar von nur hundert Personenzur Erbauung als stndiger Anblick gewnscht wird.Es ist eine andere Tatsache, da der bewute Elfen-reigen auch als Original nicht mehr als den vierhun-derttausendsten Teil kosten wrde. Seine Reproduktion

    hngt jedoch in schtzungsweise einer Million Schlaf-zimmern.Es ist offensichtlich, da hier an Fragen gerhrt wird, die

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    keineswegs mehr spaig, sondern bengstigend und un-heimlich sind.Wer ist dieser Rembrandt? Wer sind diejenigen, die dieungeheure Macht besitzen, gegen den Willen von Millio-nen anderen Menschen diesen Preis, dieses Werturteilber Rembrandt festzusetzen? Es ist doch sicher, da dieMasse dieses Urteil weder versteht, noch ihm in derPraxis zu folgen bereit ist. Dennoch nimmt sie es als Ge-setz hin. Es liegen einige Antworten auf der Hand, die

    aber alle falsch sind:Die Antwort, da fr die Masse das Gebiet unzugng-lich ist und sie daher Fachleuten vertrauen mu, ist nichtmglich. Es handelt sich ja nicht um Mathematik oderHindustanisch, sondern schlicht um einen Anblick.Da der Maler aus seinem Gemlde ein Rtsel oder eineVorlesung macht, ist eine Erfindung der modernen De-

    kadenz.Vor den Bildern Rembrandts drfen Gehirne sehr wohlarbeitslos bleiben. Rembrandt hatte das nicht ntig. DasAuge, das gleiche Auge, das eine Wolke, eine Blume, einFiligran betrachtet, gengt. Der Masse ist also von vorn-herein gar nichts verschlossen.Die Antwort, da die Nachfrage den Preis regelt, ist

    hier ebenfalls falsch. Es wurde gerade festgestellt, dader Elfenreigen weit mehr gefragt ist.Auch stimmt es nicht, da etwa in einem kleinen, ex-klusiven Kreis eine bestndige Nachfrage den Brsen-wert, gerade diesen ungewhnlichen Brsenwert, be-stimmt hat. Die Nachtwache war nie im Handel. Ja,

    bei genauerer Betrachtung stellt sich sogar heraus: auch

    diese angenommene kleine Schicht von Menschen weioffensichtlich nichts von einem absoluten Gesetz undurteilt nicht zeitlos. Johann Sebastian Bachs gesamtes

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    Werk, zu Lebzeiten hochgeschtzt, war 100 Jahre langverkannt und vergessen. Auch von jenem Kreise. Wal-ther von der Vogelweide war einst weltberhmt und istes heute wieder. Dazwischen liegen 500 Jahre, wo ernichts galt.In diesen bescheidenen berlegungen sind wir unmerk-lich immer mehr darauf gekommen, da bei dieser Fragedas Publikum interessanter ist als das Bild, und derVerbraucher des Genies wichtiger als das Genie.

    Ganze Generationen haben diese Mglichkeit nicht ge-sehen. Sie waren alle vom Genie als etwas Absolutem,Zeitlosem, Beziehungslosem berzeugt. Man war sehrlange von der Vorstellung eines geeichten Metermaes

    beherrscht, das man an einen Mann und sein Werk an-legen knne. Das 19. Jahrhundert entdeckte zum ersten-mal, da das Ma nicht mehr stimmte. Da sich beispiels-

    weise Walther von der Vogelweide nicht gewandelthatte, denn er war ganz und gar tot, muten sich dieMenschen, die Verbraucher der von Walther angebo-tenen Ware, gendert haben!Und damit schien die Frage nach Genie, Ruhm undGre als etwas ganz Neues entlarvt: nmlich gar nichtmehr als eine Suche nach etwas Absolutem im Werk

    selbst, sondern als eine Frage des Zeitgeschmacks, alseine Frage der Verbraucher, als eine Frage, in welcherVerfassung sich der Betrachter befindet.Kurz als eine sogenannte soziologische.Bei diesem Stichwort mge man mir bitte eine sofortigeabgrundtiefe Skepsis nicht verbeln.Die Soziologie, die Forschung nach den Grnden von

    dem Verhalten der Menschen in der Gesellschaft, ist eineErrungenschaft, die etwa vergleichbar ist mit deraustralischen Karnickelplage. Die ich rief, die Geister,

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    werd' ich nun nicht los ... Die Idee, Kaninchen indieses so wenig Mglichkeiten bietende Land einzufh-ren, war einstmals ausgezeichnet. Leider haben sie sichzu einer Landplage entwickelt, fr die die gewinnreichePelzausfuhr wirklich nur ein schwacher Trost ist.Das Wesen der Soziologie, solange sie nicht politischvergewaltigt ist, was ihr bereits im zarten Alter wider-fuhr, besteht darin, keinerlei Werturteile, keinerlei ab-solute Mae zu verknden, sondern stets nur relative

    Beziehungen feststellen zu wollen.Folgerichtig sagt die Soziologie nun zu der Frage derRembrandtschen Nachtwache und des Elfenreigens:Jede Zeit urteilt aus ihrer Sicht, jeder Kreis aus seinerSicht, und wrde ein Zeitgeist kommen, der die Nacht-wache fr peinlich und den Elfenreigen fr genialhielte, so wre das kein kurzlebiger Witz, sondern genau

    so gltiger Ernst wie das heutige Urteil. Die Soziologie,die heute so viel konsultierte, versetzt also wissen-schaftlich der Hoffnung auf ein absolutes Wertma an-scheinend den Todessto.Der Satz ist aus dem Munde der Soziologie keine groeberraschung, aber er mte mit Bestrzung erfllen,wenn er sich bewahrheiten wrde. Denn er meint ja

    nicht, da es Zeiten gibt, die bestimmte bleibende Wertenicht erkennen, sondern er stellt die ungeheuerliche Be-hauptung auf, da die wenigen trstlichen Fixsterne, dieunser Blick in der Vergangenheit sieht, gar keine Sternesind, sondern Laternen, die wir uns erst selbst angezn-det haben. Er sagt, da der Mann und sein Werk seinknnen wie sie wollen, sie werden erst von den Menschen

    zu dem gestempelt, als was sie gelten. Und das jeweiligeUrteil dieser Menschen setzt sich nicht aus einem Ge-fhlswert, etwa dem malerischen bei einem Bild, zusam-

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    men, sondern wird mitbestimmt von Tausenden vonGefhlsverbindungen, die zum groen Teil mit dem Bildselbst gar nichts mehr zu tun haben, sondern unsichtbarzusammenhngen mit der Lebenslage, der Politik, derKrperkonstitution, der Ernhrung, der Religion undder Geographie.Scharf ausgedrckt lautet z. B. fr die RembrandtscheNachtwache die Erklrung der Soziologie so: DieMasse lebt vorwiegend in einer Umwelt, die halbdunkel

    ist wie das Rembrandtgemlde, pflichtbedrckt wie dasMotiv der Nachtwache und von den gleichen peinigen-den Sozial- und Rangunterschieden gedemtigt, wie aufdem Bilde. Da die Masse nicht gelernt und auch keineVeranlassung hat, in der Wiederholung der Wirklichkeiteine erfreuliche Entspannung zu sehen, sucht sie Ent-spannung in naiven Farbtrumen mit Motiven, die die

    Erinnerung an Zwang, Arbeit und Unterschiede ver-meiden. Also etwa in dem Elfenreigen. Die geistig ge-schultere und kultiviertere kleine Gruppe, die den Rem-

    brandt liebt, hat ganz andere Wunschziele und Gefhle.Sie nimmt ihre Macht, das eigene Urteil als gltig zuerklren, auch gar nicht aus der Logik, sondern aus ihrersozialen Stellung: sie ist die im Alltag mchtigere

    Gruppe, die in wichtigen Positionen sitzt, die die Publi-zistik beherrscht und die Mglichkeit hat, durch die Thea-tralik und Feierlichkeit der Museen die Masse zu einemVerhalten wie in der Kirche zu bewegen. Das ist alles.Es gibt auch fr Rembrandt kein Mehr.Dies gilt heute als die tiefste bisher gelungene Lotung.Aber es erhebt sich der schreckliche Verdacht, da es eine

    sogenannte Echo-Lotung war und da das, was hierausgelotet wurde, nicht der Meeresboden, sondern einSchwarm ambulanter Heringe gewesen ist.

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    Es ist ein trauriges Ergebnis, und das einzige wirklichErfreuliche daran ist seine Unglaubwrdigkeit.Wenn man das Experiment macht, einen bettelarmen

    jungen Menschen in seiner sorgenvollen, bedrcktenUmgebung zu lassen, ihm aber die Mglichkeit einerguten Bildung zu vermitteln, so whlt er von nun annicht mehr den Elfenreigen, sondern den Rembrandt.Andererseits hngt der Elfenreigen in den Wohnun-gen zahlloser reicher Menschen, die die Sorgen nur vom

    Hrensagen kennen. Noch viel mehr liee sich gegengrundstzliche Unterstellungen der Soziologie sagen. Soist die Unterstellung, das Milieu irgendeines Kreises sei

    bedrckend, schon ein absolutes Werturteil von sehrzweifelhafter Geltung.Ein noch interessanterer Einwand aber ist der: Bei jedem,der auf der Stufe des Elfenreigens steht, ist eine Ver-

    wandlung zum Rembrandt hin denkbar. Umgekehrtaber ist eine Rckverwandlung unvorstellbar. Noch keinRembrandtverehrer ist reumtig zum Elfenreigen zu-rckgekehrt.Wer je die Flamme Umschritt, bleibe der Flamme Tra-

    bant, sagt Stefan George.Alles das deutet darauf hin, da Genie und echte Gre,

    so wenig sie etwas Organisch-Greifbares darstellen,ebensowenig etwas gnzlich Schwankendes sein knnen.Dieser seelische Fort-Schritt von einer Stufe zur an-deren, der so erstaunlicherweise keinen Rckschritterlaubt, mu logischerweise bestimmte Krfte als Ur-sache haben, Krfte, die in den Werken und damit inder Person des Genies stecken. Die seelische Verwand-

    lung mu, da sie so unwiderruflich ist, zweifellos eineHherentwicklung sein. Sie mu einer wesentlichenVermehrung der Erkenntnis und des Gefhlsreichtums

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    gleichkommen. Es ist nicht nur etwas anders gewor-den, sondern mehr.Ja, es ist nicht nur ein mehr geworden, sondern auchein hher, denn es ist ein typisches Merkmal, da derMensch, der sich weiterentwickelt hat, die frher zurck-gelegten Stufen nun berblickt. Der Verwandelte kanndurch rckblickende Erklrung Zeugnis ablegen vonseinem Fortschreiten. (Das ist es, was die Masse ein-schchtert und nachdenklich macht!) Daher nimmt er

    seine Macht. Er ist imstande, die Stufen souvern zu be-schreiben und zu sezieren.Vorwrts jedoch, aufwrts zu blicken, ist er nicht imgeringsten imstande. Er ahnt hchstens, da es nochHheres gibt. Dies tut er nur, solange er seelisch nochin Bewegung ist. Ist der Stillstand erfolgt, hlt er seinePlattform fr die hchste.

    Hiermit ist das ominse Wort gefallen.Welche ist die hchste?Wer kennt sie?Wir haben uns mit Mhe und Not von der trostlosenGleichmacherei und allgemeinen Relativitt befreit undstehen nun vor einer neuen Unsicherheit. Es ist die ber-haupt entscheidende Frage: Wo fngt das Genie an?

    Wo hrt es auf?Tausende von Namen sind uns als gro aus der Ver-gangenheit berliefert, Tausende lieben wir, Tausendelassen uns gleichgltig. Bcklin hat Rembrandt gehat,Schiller hat Hlderlin nicht begriffen, Beethoven hatKaiser Napoleon verachtet. Es ist eine riesige Schar vonAspiranten, von Thronanwrtern da, aber aus dieser

    Flle von Genies hat Liebe oder sthetik immer an-dere auf den Thron gehoben.Alle bisherigen scharfsinnigen Versuche, das Wesen des

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    Genies herauszuschlen, sind daran gescheitert, da manauer ethischen und sthetischen Vorstellungen keinenanderen Mastab sah, und da diese Vorstellungen ebenwandelbar sind. Wohl war man sich ber den Abstandvon bedeutenden Gren zu unbedeutenden Menschenim klaren, aber in der groen Schar der im Laufe derZeiten als Genies gesammelten Namen schien es immernoch grere und kleinere zu geben, gewaltigere undzierlichere, ehrfurchtgebietende und rhrungerweckende.

    Und es schien fast hoffnungslos, Tatgenies wie Kolum-bus mit Formgenies wie Stefan George vergleichenoder auf irgendeinen gemeinsamen Nenner bringen zuwollen. Selbstverstndlich sprach man von dem GenieAdolf Menzels oder van Goghs, von dem Genie Fried-richs II. oder Leibniz', aber jedes Buch, jede Abhand-lung, jede Aufzhlung war von vornherein vor die Not-

    wendigkeit gestellt, eine Auswahl zu treffen, und lievielleicht Menzel und Leibniz aus. Das letzte Urteil wardamit der Zeit, der sthetik und der Liebe berlassen.Man zeigte also groe Mnner aus der Schar groerMnner. Man zeigte glnzendste Leistungen aus derFlle glnzendster Leistungen.Einen schrferen, einen bleibenden Mastab schien es fr

    die Schar der Genies nicht zu geben. Dieses Wort ist be-achtenswert: fr Genies. Die Bezeichnung ist gebliebenfr die ganze Schar, man anerkennt sie weiter, mannennt sie weiter so, man kann ja auch nicht anders, auchwenn eine Generation sie aussortiert. Nein, sie sind nochalle Genies, nur: relative. Und setzt eine Zeit einmaleinige von ihnen ab, so drfen sie wie ausgediente Ma-

    jore hinter ihren Rang die Buchstaben a. D. setzen, undes wird ihnen bescheinigt, da sehr wohl eine Zeit kom-men kann, wo sie wieder reaktiviert werden knnen.

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    Dies ist das Fazit aller bisherigen berlegungen.Es sagt ber das Wesen des Genies so gut wie nichts aus!Man mu also entweder die Frage aufgeben und sie alsein Scheinproblem betrachten, oder man mu annehmen,da ein grundstzlicher Denkfehler die Beantwortungder Geniefrage bisher verhindert hat.Verstehen Sie mich recht: Wenn ich mich immer wiederhartnckig weigere, jene groe Gruppe von berhmten

    Namen als Genies anzusprechen und mich damit zufrie-

    denzugeben, da sie in der Wertschtzung eben wechseln,so bin ich mir natrlich sehr wohl darber im klaren,da ich sie Genie nennen knnte. Und ich wre auch so-fort bereit, mich dieser landlufigen Meinung anzuschlie-en, wenn mich das der Sorge entheben wrde, danneben einen anderen, neuen Namen fr jene kleine Scharvon Mnnern zu erfinden, die, wie wir Grund haben zu

    vermuten, historisch feststellbar absolut mehr sind.Es soll versucht werden, dies zu beweisen.Es ist notwendig, bei unseren berlegungen ohne alleVoraussetzungen zu beginnen, um nicht alte Fehler zubernehmen. Denn: in allen bisherigen berlegungensteckte ein hartnckiger Denkfehler. Wir werden sehen,da er darin bestand, da man zuerst Genies ernannt

    und dann ihre Stabilitt untersucht hat. Man hat auseiner Flle von im voraus bezeichneten, zum Teil un-tauglichen Namen festgestellt, da ihr Wert im Wandelder Zeiten schwankt, und daraus geschlossen, da es frGenies keinen bleibenden Mastab gbe.Die Reihenfolge der Gedanken war falsch. Beginnen wiralso voraussetzungslos.

    Wir wollen einmal alle Namen vergessen. Wir wollenannehmen, keiner wre uns berliefert und kein Werkwrden wir kennen, gar keines. Wir wissen nichts von

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    ihnen. Wir suchen lediglich die unbekannten X. Wirknnen also weder sie noch ihr Werk untersuchen.Wir wissen nicht einmal, auf welchem Gebiet sie etwasgeschaffen haben. Ja, die bloe Vermutung, es htte be-deutende Gren gegeben, wre allein schon eine khneBehauptung. Wir wollen annehmen, wir wten selbstdas nicht gewi.Aber es wird nicht lange dauern, da wird uns eins ge-lingen: an irgendwelchen Punkten der Geschichte des

    geistigen Lebens unseres Volkes eine starke WirkungUnbekannter festzustellen und dadurch zu beweisen,da sie existierten und da ihre Wirkung unabhngigvon unserem heutigen Gefallen, Nichtgefallen oderKennen historisch ist.Schon an dieser Stelle kann man mit Sicherheit sagen,da ihre Anzahl nicht sehr gro sein wird, und man ahnt

    bereits, da es sich hier um ganz andere Mnner handelnknnte, als um wohlgefllige Knner und virtuose Ta-lente. Fr eine riesige Schar von Bewunderten schwindetdie Hoffnung, zu dieser Gruppe zu zhlen, bereits dahin,so herrlich auch ihre Werke, so gro sie selbst sein mgen.Es ntzt ihnen nun nichts, da Urgrovater, Grovaterund Vater sie mit Liebe in der Schublade aufbewahrt

    haben. Wer sagt, da die, die wir finden werden, je ge-liebt worden sind?Aber immer noch kennen wir niemand. Wir kennen nurdie Tatsache ihrer Spuren, die also dort zu finden seinmssen, wo die Kraft dieser Unbekannten in die Ge-schichte unseres geistigen und seelischen Lebens einge-griffen hat.

    Stellen wir uns vor, wir wrden das wechselvolle geistigeund seelische Leben unseres Volkes in einer graphischenLinie veranschaulichen knnen, einer Linie, die sich bald

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    nach links, bald nach rechts neigt, je nach den unter-schiedlichen geistigen Strmungen.Das gengt fr die Behauptung, da die Spuren dergroen unbekannten X-Gestalten jene Punkte dar-stellen, wo diese graphische Linie eine Richtungsnde-rung erfahren hat: wo sie z.B. zu einer Kurve anhebtoder wieder zur Geraden wird.Eines ist bereits klar: Solche gigantischen Wirkungen imgeistigen Leben eines ganzen Volkes mssen Verursacher

    von gleichem gigantischen Format haben! Wer und wieviele es immer sein mgen, die das ganze Denken undFhlen herumgeworfen haben: es sind die groen Sin-neswender, die Wandler und neuen Gefhlsgeber.Die groen, die geschichtlichen Seelenbeweger und Sin-neswender, das mssen die Genies sein, die sich unendlichber die Masse und ber alle Majore erheben - ob

    wir sie lieben oder nicht.Die Jahreszahlen ihrer Spuren sind schlechthin Schlach-tendaten unserer Geschichte vergleichbar!Wir kennen ihre Namen noch nicht, es interessiert unsauch noch nicht, aus welchem Lager sie kommen und wasfr Menschen uns erwarten.Um nun den nchsten Schritt zu tun und zu sehen, wann

    es Vernderungen von solchem Ausma gegeben hat,also wo die gedachte graphische Linie Richtungsnde-rungen anzeigt, ist es notwendig, die Geschichte unseresgeistigen und seelischen Lebens zu untersuchen.Wir Deutsche haben in unserer Geschichte Periodendurchlaufen, in denen wir ganz von weltanschaulichenund religisen Fragen beherrscht waren, dann Perioden,

    m denen die Blickrichtung ganz auf eine Gemeinschafts-bildung, Raumordnung, Lebensordnung, Staatsbildungging, oder Perioden, in denen die seelische und geistige

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    Haltung der Zeit durch die erste Bekanntschaft mit derMusikalitt geprgt war. Wie, wo und wann diese Perio-den liegen, wollen wir zunchst nicht untersuchen. Abersie sind historisch nachweisbar, und zwar ziemlich leicht.Wir knnen eine, diesen Periodenwechsel verdeut-lichende Linie zeichnen, angefangen von frhester Zeit

    bis heute, die in unregelmigen Wendungen und Kur-ven durch die verschiedensten Lebensbereiche, durch dieverschiedensten Rubriken luft.

    Das knnte so aussehen:

    Wir wissen es noch nicht. Wir wissen nur, da das Prin-zip richtig ist (und sei es, da es auch nur so weit rich-tig ist, wie es Bilder und Symbole, die sich der mensch-liche Geist als Brcken baut, berhaupt sein knnen).Jede Richtungsnderung, ob es der Ansatz zu einerKurve oder der bergang von ihr in eine Gerade ist, ist

    die Spur derer, die wir suchen, der Ort, an dem wirgraben mssen!Es ist leicht zu berblicken, welche ungewhnlichen Fol-gerungen sich aus diesen Erkenntnissen ergeben.Es ist zunchst nicht mehr vorstellbar, da es ein frei

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    im Raum schwebendes Genie gbe. Ein Genie-Werk inder Schublade gibt es nicht. Genie ist Wirkung und ber-haupt nur an Hand der geschichtlichen Linie eines Vol-kes erkennbar. Ein Genie ohne Rckhalt in einemVolk, ohne Rckhalt in einer bestimmten geistigenSchicksalsgemeinschaft kann seine angebliche historischeWirkung einfach nicht beweisen, ist beziehungslos, alsounvorstellbar als Genie.Dies gleicht einem mathematischen negativen Beweis.

    Genies werden vom eigenen Volk erlebt, von anderenVlkern nurgesichtet.Genies mssen einem Volk zugerechnet werden knnen,einer geistigen Lebensgemeinschaft. Genieer, Verbrau-cher des Genies aber knnen viele, es kann die ganzeWelt sein. Ein Genie kann von einem fremden Volk undeiner fremden geistigen Schicksalsgemeinschaft gesichtet

    und genossen werden, entweder als auerordentlicheKraft, oder als mittlere, ja sogar als winzige, nie jedochso wie im eigenen Volk erlebt werden. Es wird bei be-sonders leuchtenden Namen dem fremden Volk viel-leicht so scheinen, aber es ist im letzten Grad eben eineTuschung. Es stehen Mittler, grere oder kleinerebersetzer der Kraft dazwischen.

    Zwischen Genies verschiedener Vlker und Kulturkreisegibt es auch keine Vergleichsmglichkeiten ihrer Gre.Einzelne Genies des eigenen Volkes mgen heller leuch-ten als andere des gleichen Volkes, aber zu fragen obKonfuzius oder Luther das grere Genie ist, wreunsinnig.Ein anderer Gedanke von Tragweite ist, da notwen-

    digerweise alle, die einmal als ein X, als ein Zeiten-und Sinneswender klar erkannt worden sind, es auch

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    bleiben. Kein spterer Zeitgeist wird sie mehr absetzen,denn als Zeitenwender liegen sie historisch im Ge-schichtsablauf fest.Eine weitere Folgerung: Wenn wir Genies als Zeiten-wender begreifen, liegt auch ihre Zahl fest; denn dieeinschneidenden geistigen und seelischen Verwandlungenin unserer Geschichte sind erkennbare historische Fak-ten. Das heit nicht mehr und nicht weniger als: jedesVolk hat in seiner Vergangenheit nicht beliebig viele,

    sondern nur eine bestimmte Anzahl von Genies. Sie istzwar nicht von vornherein, sondern rckblickend ausdem tatschlichen Geschichtsablauf begrenzt.Dieser Tatbestand lockt zu einem Vergleich mit einerSituation, die die chemische Wissenschaft vor 100 Jahrendurchlaufen hat.Wir mssen das untersuchen.

    Die beiden Chemiker Mendelejew und Lothar Meyerwaren damals wie alle Welt auf der Suche nach den so-genannten Elementen, den chemischen Grundstoffen dermateriellen Welt. Es waren damals bereits einige Dut-zend Elemente bekannt, aber es wurden immer wiederneue gefunden. Wie lange sollte das weitergehen? Gabes unendlich viele oder eine berechenbare, naturbedingte

    Grenze? Mendelejew und Meyer erkannten 1869, dasich die Atomgewichte der Elemente durch eine gesetz-mige Steigerung unterschieden. Sie ordneten so dem-entsprechend die damals bekannten Elemente zu einerReihe. Es wurde eine lckenreiche Linie, und die beidenForscher waren berzeugt, da die Lcken auf noch un-entdeckte Elemente hinwiesen. Zugleich entdeckten sie,

    da bestimmte Elemente gleiche Merkmale, gleicheEigenschaften aufwiesen. Sie stellten sie jeweils in senk-rechten Rubriken untereinander. Nun rutschten damit

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    auch die Lcken, also die Stellen, wo man ein unentdeck-tes Element vermuten mute, jeweils in die verschieden-sten Rubriken. Mendelejew und Meyer zogen darausden khnen aber richtigen Schlu, da auch das nochunentdeckte Element die gleichen Eigenschaften wie die

    Nachbar-Elemente seiner Rubrik haben werde. Lag einsolches Loch in der Rubrik der Gase, so konnte man dar-auf schlieen, da das fehlende Element ein Gas war.Lag es bei den Metallen, so wrde man ein Metall fin-

    den. Kannte man in einer Gruppe, zum Beispiel in derRubrik Nr. I wenigstens ein Element, also etwa denWasserstoff, so konnte man darauf schlieen, da dieanderen noch unbekannten in dieser Gruppe hnlicheEigenschaften und gleiche chemische Wertigkeit besaen.Man wute also, wo, in welchem Lager man nach ihnenzu suchen hatte. Ferner konnte man an den Lcken des

    Schemas ablesen, wie viele Elemente noch fehlten, wieviele nur noch fehlen konnten.Diese Erkenntnis und Grundlage ist bis heute nicht um-gestoen.Die Gesetzmigkeit in der Folge der chemischen Ele-mente ist fr unsere systematische Suche nach den Genieszumindest interessant. Sie stt uns fr ihr Auffinden

    auf einige weitere Parallelerscheinungen hin. Mendele-jew und Meyer waren noch der Ansicht, da an einembestimmten Platz des Schemas nur ein ganz bestimmtesElement stehen knne. Heute wei man, da von diesemElement auf gleichem Platz eine oder mehrere Variantengefunden werden knnen, die sogenannten Isotopen.Auch das wird sich analog bei der Untersuchung der

    geistigen X-Gestalten abspielen. Auch hier mu dieZeit korrigieren.Wir werden auch Punkte an der graphischen Linie ent-

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    decken, wo zwar ganz sicher ein Unbekannter X,wahrscheinlich sogar mehrere, gestanden haben mssen;wir werden ihre Spuren sehen; es mssen ungeheureGren gewesen sein, und dennoch werden alle unsereberlegungen und Nachforschungen vielleicht vergeb-lich bleiben. Ihre Namen sind vllig im Dunkel, alleDokumente, alle Hinweise sind verschollen, ihre persn-lichen Werke unerkannt. Wir sehen nur ihre Spuren.Wenn wir Glck haben, bekommen wir wenigstens

    einen heraus. Dieser Fall wird uns bald zu Anfang desBuches an einer Stelle begegnen.Denn der faszinierendste Teil beginnt erst jetzt!Wir wissen, wo und wie wir zu graben haben, aber es istein weites Feld: die Historie der Herzen eines Volkes.Wen wir finden werden, ist noch vllig ungewi!Wer wei, welche Namen und Antlitze hinter den X

    auftauchen werden.Werden es Staatsmnner sein? Tyrannen? Philosophen?Erfinder? Ist es denkbar, da auf diesen Pltzen ein-fache Maler und Musiker gestanden haben?Wird uns das Gesicht eines Dichters anblicken?

    Gleichviel! Wir haben nicht das Recht, zu whlen, wie

    mangelhafte Genie-Erkenntnis es bisher glaubte. DieGenies sind nicht Gewhlte, sie sind von Gottes Gnaden.Wie antike Knige.Sie sind das, ob wir sie lieben oder nicht.Sie haben regiert, ob die Masse wollte oder nicht.Unser Herz ist die Summe ihrer Herzen.

    Nennen wir sie klein, so sind wir klein.

    Nennen wir sie gro, so sind wir gro.Andere Groe mgen uns erbauen, sie haben uns ge-staltet.

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    Alle die Menschen aber, die heute noch die Andacht vorden Genies im Herzen hten und die Siegel bewahren,sind der wahre und letzte Adel im Volke!Sie sind es, die den Richterspruch ber die Nachtwacheund ber den Elfenreigen fllen. Aber glauben Sienicht (denn es ist nicht wahr), da ihre Macht auf demlppischen, profanen Alltag und auf fhrenden Stellun-gen beruht. Glauben Sie nicht, was den heutigen Zeit-geist-Destillateuren als letzte Weisheit erscheint. Die

    geistige Macht kommt woanders her:Es ist die Macht des leidenschaftlichen Einstehens, dieMacht des Bekennermutes.Er war von jeher ein Vorrecht adliger Menschen.

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    AUF DER SUCHE

    Die Reise in die Vergangenheit ist fr manche Vlker

    nur eine kurze Fahrt. Man reist zwischen Wolkenkrat-zern ab, der Weg bleibt klar und deutlich wie ein Konto-auszug in der Mittagssonne, und mit der Mayflower,dem ersten Einwandererschiff, endet er.Fr das uralte China dagegen ist es ein Weg, der endlosscheint, der nie ganz hell ist, aber auch nie ganz dunkel.So weit man zurckgeht, immer schon war das Gesicht

    Chinas wie altes Pergament und anscheinend niemalsjung.Der Weg in die Vergangenheit der deutschen Geschichteendet nach 2000 Jahren im Dunkel. In der Dmmerungund Stille.Die endlosen Wlder rauschen, man hrt ein Summenund Raunen, aber man sieht keine Gestalt und kein ge-

    meinsames Schicksal.Wir sind viel zu weit zurckgegangen!Es mssen noch ein paar hundert Jahre vergehen. DieRmer-Mrchengestalten erscheinen, und die Vlker-wanderung geht ber das Land hinweg. Dann stt eineneue Religion vor, die schon den weiten Weg von Klein-asien bis Rom siegreich zurckgelegt hat. In langen Jah-

    ren verblassen die alten gehrnten und hammerschleu-dernden Gtter und machen dem groen Dulder Jesusvon Nazareth Platz. Die abendlndische Gestalt Karls

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    des Groen unternimmt den Versuch, alle, die soebendieses gemeinsame gewaltige Glaubenserlebnis hatten,zusammenzuschweien. Er ist ganz erfllt davon, dadas als Bindung gengt. Er kommt viel strker, als wirwahrscheinlich ahnen, vom Religisen her.Aber was er erschafft, ist weit entfernt von Staat, Volkoder Nation. Es ist ein Glaubensreich.Sein Reich zerbricht als politisches Gebilde erst noch ein-mal vollstndig, ehe sich dann Vlker herauskristallisie-

    ren. Es bedarf noch groer Erschtterungen, ehe vl-kische Schicksalsgemeinschaften wie Kristalle in einerSalzlauge erstarren und sich zusammenballen. Dies aberist die Grundlage fr den Beginn einer Linie. Es istzugleich stets die erste Rubrik.Fr uns, ebenso wie fr Frankreich zum Beispiel, liegtalso das Erlebnis Christus vor dem Beginn der Linie.

    Das Religionserlebnis hat sich fr uns auch spter nichtmehr wiederholt, denn was 700 Jahre darnach MartinLuther tat, darf nicht damit verwechselt werden. Wirwerden sehen, da es etwas anderes ist.Wir sind also dadurch, da dieses Erlebnis in die Vorzeitfllt, einer Rubrik Glaubensfassung oder Religions-erfassung oder wie man sie nennen mag, verlustig ge-

    gangen.Zwei, drei Generationen spter kann man dieses Aus-kristallisieren, von dem ich sprach, deutlich erkennen.Tiefe Einschnitte, Brche, Caons ziehen sich durch dasehemalige Glaubensreich. Drei, vier Riesenmolekle bil-den sich. Jedes der Stoff fr eine vlkische Schicksals-gemeinschaft und einen spteren Staat.

    Die drei groen Komplexe Frankreich, Lothringenund Deutschland heben sich ab, ohne einstweilen we-der die Namen Deutschland und Frankreich zu fhren,

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    noch zu verdienen. Der Mittelteil Lothringen erweistsich spter als politischer Irrtum, als kein Grundstock zueinem Volksgebilde oder Staat; er zersplittert und flltden Nachbarn rechts und links anheim.Von diesem spteren Schicksal ahnt zunchst noch nie-mand etwas. Niemand wrde verstanden haben, wiesodas das Los des Zwischenlandes Lothringen seinmute. Begriffe wie Nation und Volksstaat fehlen noch.Man ist sich lediglich bewut, in einem mehr oder min-

    der zuflligen Machtbereich zu leben. Die Gedankenkreisen um die alten Begriffe, das Leben um Hof, Fa-milie, Sippe. Der Stamm, die nchst grere Gemein-schaft, ist zugleich die letzte, die uerste, die welten-fernste, bis zu der gedanklich vorzustoen fast wie einVorsto ins Globale ist.Hier und da, vereinzelt, flackert es auf; es ist die Zeit,

    in der jemand das Hildebrandlied aufschreibt; aber wirwissen nicht, wer. In der das Wessobrunner Gebet ent-steht; aber wir wissen nicht, durch wen. Wo in den Wl-dern des Nordens der Heliand gedichtet wird; aber wirwissen nicht, von wem.Kriegerische Ereignisse, Schlachten, Krnungen hebensich heraus. Um 900 herum sieht man, wie sich die In-

    seln, die Kristalle schrfer gegeneinander abgrenzenund in sich enger zusammenfgen.Als im stlichen Teil, dem spteren Deutschland, derletzte Ostkarolinger Knig Ludwig das Kind im Jahre911 stirbt, da holt man sich nicht aus dem Westen(Frankreich) einen neuen, obwohl dort die Karolingernoch nicht ausgestorben sind. Man whlt einen Knig

    aus den eigenen Eingeweiden, wie ein Zeitgenosseschreibt. Da deutet sich also schon ein Gefhl an, daslediglich noch nicht verstandesmig begriffen ist. Auch

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    von Knig Konrad I. und Knig Heinrich I. noch nicht,ganz zu schweigen davon, da sie imstande gewesenwren, ihr Volk diesen neuen Begriff Nation ver-stehen und erleben zu lassen.Aber noch einmal eine Generation spter ist das Landnun pltzlich ungeheuer in Bewegung! Es ist gar nicht zuverkennen, da das groe geistige und seelische Erlebnisstattgefunden haben mu!Die Menschen haben sich verndert!

    Sie sprechen und denken Neues. Mnche schreiben Ro-mane, Nonnen dichten Dramen, der Stabreim wird ab-getan, Verse tauchen auf, man hrt norddeutsche Lautein Bayern, frnkische in Schwaben, schwbische in Sach-sen. Ein seltsames, zuvor nie gekanntes Lebensgefhl istsichtbar.Was ist das?

    Es wird gehmmert, gemeielt, geschrieben, neue Be-griffe bilden sich, die Masse der Menschen ist in einemMae innerlich daran beteiligt wie noch nie zuvor insolcher klar abgegrenzten Geschlossenheit; der Blick geht

    bald mit Leichtigkeit ber Hof, Familie, Sippe undStamm hinweg. Im Planen sprt man bis ins kleinste einGemeinschaftsziel: die Bauern fhren die Dreifelder-

    wirtschaft ein, die Siedlungen den Ausgleichsvorrat.Neue Stnde entwickeln sich, eine neue Lebensweise.Jeder ist begierig, das Neue zu hren, das aus dem Land,aus Deutschland, gemeldet wird.Kein Zweifel: die deutsche Geschichte beginnt! DieLinie setzt ein.Aus allen Lebensuerungen der damaligen Zeit, aus

    allen Dokumenten und allen Handlungen leuchtet klarund eindeutig diese neue geistige und seelische Haltung,diese neue Blickrichtung der Deutschen heraus.

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    Noch ist es eine prosaische, amusische Haltung, aber baldwird daraus auch die Romanik entstehen! Die Mnchevon Gernrode, Quedlinburg und Worms sitzen schonber den Plnen.

    Hier, an dieser Stelle liegt also die Spur des ersten gro-en Zeiten- und Sinneswenders! Hier, in diesem Zeit-abschnitt liegt die Spur des ersten X. Sie ist vongeradezu klassischer Klarheit, und alles, jede Einzelheit,

    weist nur auf einen einzigen Mann hin.Der Wesenszug der neuen Zeit, die Richtung der Ge-danken, die Art der Umwlzungen, alles deutet, durchBerge von Dokumenten belegt, nicht auf mehrere Er-reger, sondern auf einen einzigen Menschen hin, eineneinzigen Mann, der damals unter der Regierung Ottos I.gelebt haben mu.

    Es ist kein Dichter, kein Baumeister, kein Philosoph,kein Maler, kein Snger, kein Mnch, kein Prediger, derdie Menschen innerlich so verwandelt hat.Es ist der Kaiser selbst!

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    OTTO I.

    Deutscher Knig und Kaiserdes Rmischen Reiches Deutscher Nation

    Geboren am 23. November 912 in WalhausenGestorben am 7. Mai 973 in Memleben

    In den Augusttagen 936 sind in den deutschen Wlderneine Menge Reitertrupps unterwegs.Sie kommen von der Krnung Ottos in Aachen.Sie befinden sich auf dem Heimweg.Der alte Herzog Eberhard, den langen weien Bart berdie Schulter gelegt, reitet nach Franken zurck.Der alte Hermann ist auf dem Wege nach Schwaben.

    Der alte Arnulf kehrt in sein Bayern heim.Lauter alte Herren.Nur einer ist jung: der neue Knig.Der Vierundzwanzigjhrige ist in Norddeutschland aufdem Wege nach Hause.Er reitet quer durch sein riesiges Herzogtum Sachsen.Dann von Magdeburg fluaufwrts zur Knigspfalz

    nach Memleben.An der Saale hellem Strande,

    stehen Burgen stolz und khn.Alle unter seinem Vater erbaut, seine Erfindung.Vor drei Jahren sind an diesen Burgen die Horden derUngarn zerschellt.

    Ihre Mauern sind zerfallen,und der Wind streicht durch die Hallen,Wolken ziehen drber hin.

    936 sind die Mauern noch frisch. Aber der Wind streichtschon durch die Hallen.

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    Es gibt noch keine Glasfenster.Hfe und Drfer liegen in den Waldtlern und an denFlulufen hingest wie eine Handvoll Krner in denFurchen.Vor zehn Jahren hat jeder neunte Mann das Dorf ver-lassen und ist in die Mauern als Brger gezogen.Das war auch eine Erfindung des Vaters.Auf jedem Hof ist ein Sohn als Reiter ausgebildet. Inseiner Kammer hngt eine Rstung.

    Der Vater war ein Soldatenknig.Er hat das Reiterheer geschaffen.Gold und Silber in den Gewlben von Memleben ge-stapelt.Es ist alles tadellos geordnet.Er hat ihm den Staat hinterlassen, wie Friedrich Wil-helm I. dem jungen Fritz.

    Der Trupp, mit dem Knig in der Mitte, reitet schweig-sam.Otto ist in sich gekehrt und still.Das wirkt nach dem Trubel in Aachen, als lge etwas inder Luft.In Memleben erwartet den jungen Knig die gesamteFamilie.

    Eine seltsame Familie.Da ist die Kniginwitwe.Eine kluge, herrische, riesenhafte Frau. Urenkelin Witte-kinds und der sagenumwobenen Friesin Reinhildis.Im Hintergrund steht eine zweite Frau, schchternlchelnd.Das ist Ottos Gemahlin Edith, Tochter des englischen

    Knigs.Dann ein dreiigjhriger unruhiger Mann.Das ist Thankmar, Ottos lterer Halbbruder. Sohn einer

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    vornehmen Nonne. Ein rastloser, merkwrdiger Geist.Dann ist ein sechzehnjhriger Jngling da.Ottos jngerer Bruder Heinrich. Ein schner, liebens-wrdiger junger Mann. Porphyrogenetos, purpur-geboren. Das heit, der Vater war bei seiner Geburtschon Knig.Das Wort hat er aus Byzanz gehrt. Es spukt seitdem inseinem Kopf herum.Dann ein Knabe von 12 oder 13 Jahren.

    Bruno. Jngster Bruder. Repetiert in Gedanken latei-nische Vokabeln.Hinter ihm drcken sich noch zwei Schwestern herum.Gerberga und Hathui.Auf die Zehenspitzen gereckt, um den gekrnten Bruderzu sehen. Sie sind recht enttuscht. Er hat keine Kroneauf.

    Er ist am schlichtesten von allen gekleidet. Er hat diegeschnrte leinene Hose und das Wams der einfachenSachsen an.Er ist ziemlich gro von Gestalt, blond, blauugig, mitfarblosen Wimpern, wie man sie heute noch auf Schrittund Tritt bei den Ost- und Westfalen findet, mit hellenAlbinobrauen und einer goldgelben Lwenmhne auf

    der Brust.Alle Chronisten erwhnen das ausdrcklich.Er ist ruhig in seinen Bewegungen.Er reitet ausgezeichnet. Seine Tapferkeit ist erprobt. Ertrinkt und it gern, aber mavoll. Er jagt gern.Er kann sehr schlagfertig sein, berlt das Reden aberebenso bereitwillig anderen.

    Er singt auch.Schsisch.Und dann hat er noch eine Kuriositt an sich: er spricht

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    im Schlaf. Und zwar so klar und deutlich, da manlange glaubte, er sei in Wahrheit wach und mache sichnur einen Witz.Dieser Mann, 24 Jahre alt, ist jetzt Herzog und Knig.

    Nachdem ihn alle lange genug rtselratend betrachtethaben, sieht er es als seine vorderste Aufgabe an, sichzunchst einmal auszuschlafen.

    Der Alltag kommt mit seinen Aufgaben von selbst.

    Das ist eine ganz einfache Methode. Man kann es alsoabwarten. Arnulf, Giselbert, Eberhard und Hermannmachen es so. Das ist Beamtentechnik. Damals wie heute!Was soll Otto sonst vorhaben?Man wacht des Morgens auf, und die Ereignisse liegenauf dem Tisch wie die Morgenpost.Hagelschlag hat den Roggen vernichtet.

    Die Gaue mssen die Lebensmittel ausgleichen.Eine Fehde hat einen Kleinkrieg mit zwanzig Totenentfesselt.Es mu Gerichtstag gehalten werden.Die Normannen sind in Friesland gelandet und habenein Dorf geplndert.Die Bhmen haben die Grenzen berschritten.

    Das Heer der Dienstmannen mu zusammengerufenwerden.Abgaben mssen eingetrieben werden.Die Kapelle zum Heiligen Benedictus mu geweihtwerden.Was macht der Schwabe?Der Franke? Der Sachse? Der Lothringer? Der Bayer?

    Sie machen alle das gleiche.Vor allem wehren sie sich ihrer Haut.Im Norden fallen die Normannen ein. Im Osten pln-

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    dern die Slawen. Im Sden brennen die Ungarn. ImWesten rsten die Franzosen.Wenn der eine um sein Leben kmpft, sehen die anderenimmer interessiert zu.Im Augenblick richten sich alle Blicke nach Norden, undman findet es sehr spannend, da die Bhmen ihrenHerrn, den Wenzel, totgeschlagen haben und in Rich-tung Sachsen reiten, und da die Slawen sich erhebenund die Elbe berschreiten. Und wenn nicht alle Mel-

    dungen trgen, befindet sich auch ein ungarisches Heerbereits jenseits der Donau im Marsch auf Sachsen.Das ist alles sehr spannend.Fr Otto natrlich weniger.Mit der Exaktheit eines preuischen Generalstblers be-ruft er das schsische Heer ein. Es funktioniert tadellos.Der kampferprobte vierundzwanzigjhrige Herzog setzt

    sich an die Spitze.Sein erster Feldzug beginnt!In wenigen Tagen, wie unter seinem Vater, rollt dasGeschehen ab. Die Slawen werden vernichtend ge-schlagen.Er lt eine Wendung von 90 Grad machen und reitetgleich weiter nach Sden.

    Im Schutz der Saale wartet er auf die gefrchtetenUngarn. Man meldet ihm laufend die Standorte.Sie nhern sich.Aber unmittelbar vor der schsischen Grenze verzichtensie dankend auf einen Zusammensto mit dem Slawen-Besieger.Sie schwenken im groen Bogen westwrts und rasen

    durch das bestrzte Franken und Lothringen.Im Nu sind sie drber weg und in Frankreich ver-schwunden.

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    Otto kehrt heim.In Magdeburg, das er sehr liebt, macht er Station.Von hier aus schickt er seinen ersten Kriegsberichtnach Corvey. Er hat sich vorgenommen, von Zeit zu Zeitber alle Ereignisse Notizen ins Kloster Corvey zugeben.Dort soll ein Mnch namens Widukind eine groe Chro-nik anlegen.Er wrde sie gern selbst fhren, aber er ist leider des

    Schreibens nicht mchtig.Ein Analphabet als Genie? Er ist noch keins.Pater Widukind wei ein Lied davon zu singen. Er ver-steht den jungen Herrn zunchst berhaupt nicht und

    begleitet seine Chronik mit vielen Wehs und Achs.Otto scheint entsetzliche Fehler zu machen:So gibt es einen Skandal, als er fr die neuen elbischen

    Grenzgebiete seine Brder und Verwandten bergehtund Hermann Billung im Norden und Gero im Sdenals Markgrafen einsetzt.Gero ist ein vllig neuer Mann. Ein Unbekannter. Ein

    Nichts. Widukind wei gar nicht, was er schreiben soll.(300 Jahre spter wird Markgraf Gero in die Helden-sagen eingehen! Otto hat eine untrgliche, eine ans Un-

    heimliche grenzende Menschenkenntnis.)Falsch!, sagt Giselbert von Lothringen.Gnzlich falsch!, sagt Eberhard von Franken.Sie setzen sich sofort mit dem tdlich beleidigten Thank-mar in Verbindung.Auch Heinrich (Porphyrogenetos) reitet ber Nachtdavon und vergrbt sich in einer seiner Burgen in West-

    falen.In Bayern stirbt der alte Arnulf, und der neue jungeHerzog denkt gar nicht daran, einen Fu zu rhren.

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    Er erscheint nicht. Er leistet keinen Treueid. Er hat Ottonicht gewhlt. Er braucht keinen Aufsichtsratsvorsitzen-den. Er schweigt. Es liegt etwas in der Luft. Sie war-ten ab.Wenn Widukind in seiner Klosterzelle in Corvey dieersten Seiten der Chronik berblickt, seufzt er.Die Mnche unterhalten einen ausgezeichneten Nach-richtendienst, und Widukind wei vieles. Er hat dieKunst des Mglichen beim alten Knig Heinrich be-

    wundert.Aber: Paterno regno nequaquam contentus - das Eiwill klger sein als die Henne, seufzt er.Was will der junge Herr? Was er tut, ist so gegen allealten Vorstellungen, da es niemand fassen kann.Warum schafft er sich so viel Feinde? Es wre so einfach,alle zu befriedigen und ruhig zu halten. Widukind sieht

    eine Lawine wachsen.Es dauert nicht lange, dann prasseln die Ereignisse los.Die Kette der rasch aufeinanderfolgenden Geschehnisse

    brennt wie ein Feuerwerk ab, mit tdlicher Gefhrlich-keit fr den Knig, der sich dabei hchst seltsam verhlt.Acht, neun Jahre lang wiederholen sich Dinge mit merk-wrdig gleichbleibendem Charakter.

    Und mit gleicher rtselhafter Hartnckigkeit weigertsich der Knig, Konsequenzen zu ziehen.Es mutet an, als wiederhole er dauernd einen Versuch.Es ist in der Tat ein Versuch!Ein Versuch von bewunderswerter Groartigkeit. Abernoch sieht es niemand.Heinrich (Porphyrogenetos) wiegelt Westfalen gegen

    den Knig auf.Thankmar verbndet sich mit Eberhard von Franken.Burgen werden berannt, Wlder niedergebrannt, Ernten

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    zertrampelt. Thankmar nimmt Heinrich gefangen undbergibt ihn den Franken als Geisel.Mit bemerkenswerter Geschwindigkeit erscheint Otto aufdem Plan. Ein kleines Sachsenheer begleitet ihn.Er zieht vor die Burgen und winkt einmal leicht mit derHand. Er steht da, sehr kniglich und gro, gelassen,milde. Neben ihm knattert die knigliche Standarte imWinde.Die Burgbesatzung ffnet die Tore!

    Thankmar, in wirrer Angst, flchtet in die Kapelle derEresburg. Er wirft Schwert und Schild von sich und er-wartet den Bruder kniend.Aber statt des Knigs strmen die Ritter herein.Ein Speer saust durch die Luft und durchbohrt den miterhobenen Hnden Knienden.(Der erste Mord im Dom!)

    Pater Widukind in Corvey trgt schaudernd in seineChronik ein: Der Knig kam zu spt. Aber er verziehseinem Bruder und ehrte den Sterbenden.Otto schlgt das Kreuz ber dem Toten und wendetsich ab.Sie fallen vor ihm nieder:Wichmann Billung, der ltere Bruder des Markgrafen.

    Herzog Eberhard.Heinrich.Er hebt sie alle auf.Widukinds Federkiel kratzt Tag fr Tag ber das Per-gament.Das eben abgerollte Geschehen wird sich nun jahrelangwiederholen!

    Der junge Bayernherzog emprt sich offen.ber Nacht steht Otto vor den Toren.Wie die Bayern am nchsten Morgen erwachen, haben

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    sie einen neuen Herzog. Widukind bekommt nchtern inein paar Stzen gemeldet: der Knig enthob den ge-flchteten Herzog seiner Wrde und setzte Berchtold,den Bruder des verstorbenen Arnulf, als Herzog ein.Wir knnen heute kaum noch begreifen, was die Mel-dung bedeutet.Stellen wir uns vor: Unter Ottos Vater, Heinrich I., warDeutschland nichts als ein loses Commonwealth undnie etwas anderes gewesen. Da es einen Knig gab, war

    ausschlielich eine freundliche Abmachung von fnfLeuten gewesen, den Herzgen von Sachsen, Franken,Lothringen, Schwaben und Bayern. Die Herzge hattenkeinen Schimmer von einem Nationalstaat, fr siewar es so eine Art Konsumgenossenschaft. Das war nicht

    bser Wille, das war das Fehlen eines Begriffes. Fr dieBevlkerung vollends hrte die Welt jenseits des Stam-

    mes auf. Dort konnte man sich gar keine Interessen vor-stellen. Dort saen Fremde. Auch der Knig war einFremder. Mit dem eigenen Herzog aber war es etwasanderes, er kam aus dem Volksstamm, er war der An-gestammte. Die Vorstellung, da ein Sachse daherkamund einen Herzog absetzte, war unerhrt und zwangnun auch den einfachen Mann in Bayern, seine Gedanken

    neu zu ordnen und sich den Knig irgendwie andersvorzustellen. Wir werden noch sehen, wie einige Jahrespter vollends alle Begriffe zusammenstrzen, wennOtto einen Nichtbayern, einen wildfremden Mann, alsHerzog einsetzt.

    Noch eine Kleinigkeit trgt Widukind in die Chroniknach: Otto nimmt den Bayernherzgen bei dieser Ge-

    legenheit das Recht ab, Bischfe zu ernennen.Eine Kleinigkeit?

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    Wir wollen sehen: Von nun an besteigen nur knigstreueMnner den Bischofsstuhl. Aber das ist nur eine Begleit-erscheinung. Das Wichtigste ist, da jetzt kein Bischofdes Morgens mehr erwacht, ohne sich bei dem erstenGedanken an sein knigliches Amt zu erinnern. DieSchranken des eigenen Herzogtums wird er jetzt stndigals enges Hindernis empfinden; bei Landstreitigkeiten,wie sie zwischen Kirche und Herzog an der Tagesord-nung sind, ist der Herzog von nun an nicht mehr zu-

    gleich Richter, sondern einfach Gegenpartei vor demKnig. Solche Gedanken gibt der Bischof natrlich anseine Geistlichen weiter, und die Priester beginnen, sieins Volk zu tragen.Eine Kleinigkeit? Mit schlafwandlerischer Sicherheitsteuert Otto auf die Verwirklichung seiner Idee zu.Inzwischen wiederholen die Aufrhrer ihr Experiment.

    Im Westen bricht es los.Der Lothringer und der Franke verbinden sich.Sie schieben Heinrich (Porphyrogenetos) vor.Ihr Heer setzt sich in Richtung Sachsen in Marsch.Bei Birten am Rhein kommt es zur Schlacht.Sie beginnt kritisch fr den Knig.Eine Stunde lang steht hier das Schicksal des ganzen

    Abendlandes am Scheidewege.Aber es tritt ein Wunder ein. Der Knig siegt.Heinrich und der alte Eberhard fliehen.Otto bietet ihnen von selbst Verzeihung an.Die beiden winken dankend ab. Sie wissen besser, was

    jetzt sogleich passieren wird. Sie haben es selbst arran-giert:

    An der Elbe greifen die Slawen an.Otto macht kehrt und eilt Gero zu Hilfe.Die Zeit gengt, die Rebellen organisieren sich neu.

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    Sie haben jetzt noch einen Verbndeten: den franz-sischen Knig.

    Die Hochverrter haben also auch noch den Schritt zumLandesverrat gewagt.Otto wendet nach einem Sieg ber die Slawen sein m-des Heer noch einmal.Einige hundert Ritter des treuen alten Hermann vonSchwaben stoen zu ihm. Das ist alles.

    Kuriere kommen und gehen.Die Franzosen sollen schon am Rhein stehen.In seinem ganzen Leben ist Otto nur noch einmal ineiner so verzweifelten Lage.Sie scheint so hoffnungslos, da ein Graf - selbst baverwundert ber seine Knigstreue - zu Otto geht undihn fragt, ob er ihm die Abtei Lorsch schenke, wenn er

    bei ihm bliebe.Ganz im Geist der alten Zeit.Otto sieht ihn freundlich an und antwortet:Vor allem Volke sage ich dir: Niemals! Laufe! Eile!Dort drben warten die Emprer auf dich!Der Graf staunt.Er bekommt einen hochroten Kopf, kniet vor dem

    Knig nieder - und bleibt.Es wre leicht gewesen, ihn zu belohnen.Aber wieder dieser merkwrdige Zug: Otto lehnt jedeKompensation fr sein Knigtum ab.Einige Tage spter stiebt die ganze Gefahr, in der Ottoschwebt, wie ein Spuk auseinander:Zwei schwbische Grafen stoen bei Andernach auf

    einige biwakierende Herren, erkennen die Aufrhrerhchst persnlich und greifen ohne Besinnen zumSchwert.

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    Der alte Eberhard fllt im Kampf, Giselbert von Loth-ringen ertrinkt im Rhein.Heinrich aber entwischt in Richtung Frankreich.Das Wunder von Birten hat sich wiederholt!Das Volk sprt einen mystischen Schauer.Whrend Otto mit der rechten Hand wieder diverseKniende aufhebt, winkt er mit der linken zum Auf-

    bruch nach Frankreich. Er will sich den Bruder holen.Ein groer Augenblick ist gekommen. Otto betritt das

    fremde Reich! Was wird geschehen?Wilde Gerchte kommen ihm entgegen. Aber wie eineSeifenblase zerplatzt alles.Auf der alten Knigspfalz an der Aisne wirft sich demKnig der Herzog von Paris zu Fen.Otto hebt ihn auf.Dann eilt Louis IV. von Frankreich herbei, strzt zu

    Otto und huldigt ihm.Otto hebt ihn auf.Und nun folgt Heinrich.Porphyrogenetos.Der Landesverrter, Hochverrter, Friedensbrecher,Verschwrer.Otto hebt auch ihn auf.

    Da steht er nun.28 Jahre alt.Unter den Albinobrauen blicken seine Augen nachdenk-lich ber die drei Gestalten (einen Bruder und zweiSchwger!) hinweg in das Land.In diesem Augenblick hlt Otto das ganze Reich Karlsdes Groen in den Hnden!

    Frankreich ist offen bis zu den Pyrenen. Es liegt vorihm, er braucht blo zuzupacken!Bismarck hat einmal gesagt: Der Staatsmann mu

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    warten und lauschen, bis er den Schritt Gottes durch dieEreignisse hallen hrt - dann vorspringen und denZipfel des Mantels fassen, das ist alles.Kann es einen Zweifel fr Otto geben?Ist das der Schritt Gottes?Dem Mnch Widukind stockt die Feder, als er dieKunde erhlt. Aber Otto antwortet, wie Bismarck nachden Siegen von 1866 und 1871:

    Nein.

    Der Achtundzwanzigjhrige, der so jung ist und dasHerz eines Heiligen hat, ist als Knig vollkommenillusionslos und nchtern. Er sieht, da sich die beidenReiche in den hundert Jahren seit Karl dem Groen aus-einandergelebt haben.Es gibt nichts Schicksalhaftes mehr, was sie zueinanderzwingen knnte. Die andere Rasse, die rmische ber-

    fremdung, das Leben am Mittelmeer - eine andereWelt.Es ist hundert Jahre zu spt oder tausend Jahre zu frh.Wir wissen heute: das Riesenreich htte seinen Schpferum keine Sekunde berlebt. Das kleinere aber berstandSlawen, Ungarn, Normannen, Trken und alle Brndeim Innern. Nur in dieser kleineren Zelle war es Otto

    mglich, die Menschen zu verwandeln und sie zu einemneuen Begriff, zu einem vollstndig neuen Gefhl hin-zufhren. Dieses neue Gefhl, das wute Otto, waretwas Kostbares, eine Waffe, und keine Exportware.

    Der Knig kehrt nach Deutschland zurck.

    Damit ist eine der grten Entscheidungen der Ge-schichte gefallen!Ostern 941 verbringt er mit allen Angehrigen in Qued-linburg bei der Mutter.

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    Sie sieht ihn seit langer Zeit zum erstenmal wieder.Ein groer Ruf ist ihm vorausgeeilt.Sie kommt Otto mit Ehrfurcht entgegen. (Er ist29 Jahre alt!)Seine Gesten sind sparsam geworden.Er spricht langsam und ganz przise.Whrend sein Mund lchelt, starren seine Augen jeden

    bohrend an. Wenn er jetzt einen Raum betritt, erhebensich alle schon unwillkrlich.

    In auffallendem Widerspruch zu seiner Ruhe steht indiesen Ostertagen eine merkwrdige Unruhe seiner Um-gebung. Bestndig taucht die Leibwache auf. Ritterquirlen herum. Auch Heinrich ist nervs.

    Nach dem Fest lst sich das Rtsel furchtbar auf, einBlitz saust aus heiterem Himmel nieder:Der Knig sollte ermordet werden!

    Otto hat es gewut, aber nichts unternommen.Jetzt, nach den heiligen Tagen, schlgt er zu.Innerhalb von Minuten sind die Verschwrer verhaftetund hingerichtet. Zum ersten Male sieht man ihn kaltund mitleidlos. Aber das Haupt der Mrder ist ent-kommen: sein Bruder Heinrich.Schaudernd trgt Widukind in seiner Zelle in die Chro-

    nik ein, was sich nun schon zum vierten Male wieder-holte.Der Grund der Verschwrung?Lauter Enttuschte! Sie verstehen den Knig nicht. Siesind Mnner der bisherigen Zeit. Was sie tun, ist nichtabgrundtief schlecht und nicht teuflisch. Es sind Nibe-lungenmenschen.

    Otto brskiert sie vorstzlich. Er schickt sie seit 7 Jahrenin das Fegefeuer. Solange, bis sich die Begreifendenherauskristallisieren.

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    Was sollen sie begreifen?Ja - das ist ja das Schwierige: etwas, was noch garnicht da war!Den Staatsgedanken.Darum hebt er die Emprer immer von neuem auf. Er

    braucht Lebendige, nicht Tote. -Heinrich reitet durch Nacht und Nebel nach Lothringen.Aber jetzt erfhrt er die Auswirkungen von Ottos Er-folgen. Keiner nimmt ihn auf.

    Der mystische Ruhm des Knigs wirkt bereits.Den Heiligen Abend 941 verbringt Otto in Frankfurtam Main.In dieser Nacht schleicht sich Heinrich in die Stadt.Im Dom, der still und leer auf die Frhmesse wartet,legt er ein Berhemd an und zieht die Schuhe aus.So legt er sich auf die Stufen vor den Thronsessel.

    Die Menge und die Geistlichkeit, die als erste noch inder Dunkelheit des Wintermorgens erscheinen, sehendie Gestalt und geraten in Aufregung.Zu spt. Der Knig erscheint schon.Die Menge hlt den Atem an.Da -- er bckt sich und hebt den Bruder auf.

    Den endgltig Verwandelten.Sechs Jahre aber wartet er noch. Dann erst sind alledurch die Mhle durch. Der Rest ist brauchbar.Heinrich wird Herzog von Bayern. (Berchtold ist ge-storben.)Bruno, der jngste, gelehrte Bruder, wird Erzbischof

    von Kln.Der junge frnkische Graf Konrad, der Rote, wirdHerzog von Lothringen.

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    Hermann Billung wird, als Stellvertreter des Knigsin seinem Stammland, Herzog von Sachsen.Der Tag der Bescherung ist da, nachdem alle dieHoffnung auf ihn berwinden gelernt haben.Widukinds Federkiel kommt mit den Ereignissen kaumnoch mit. Der Mnch wei, da sich da umwlzendeDinge ereignen: Der Knig setzt Herzge und Bischfeein wie Beamte! Er tut das aus tausend Kilometer Ent-fernung! Alle Schranken sind gefallen, eine Schicksals-

    gemeinschaft ist da! Im Herzen des Abendlandes ist einStaat entstanden, der erste seit langen, langen Jahren.Die klgsten Kpfe dieser Zeit sehen:Dieser Vorsprung der Deutschen ist zunchst nicht mehreinzuholen. Otto kommt etwas zur Ruhe.Aber in diese Zeit fllt der Tod seiner Gemahlin Edith.

    Das Ereignis erschttert ihn mehr, als alle ahnen. Erwird immer schweigsamer.Seine Gedanken haben nun kein Zuhause mehr.Er beschftigt sich mit Lesen, Schreiben und Studieren,er lernt Sprachen, er geht vllig in seinem Dienst auf.Von jetzt an schweifen seine Gedanken nie mehr undzu nichts anderem mehr ab.

    Er setzt nun seinen grten Plan in Szene! Unaufflligund schweigend.Die Staatskanzlei des Knigs gibt eines Tages die an-scheinend ganz belanglose Notiz heraus: Das Herr-scherhaus in Burgund, eine schwbische Seitenlinie, hatden Knig gegen den aufstndischen italienischen Mark-grafen Berengar von Ivrea zu Hilfe gerufen. Berengar

    hat die lombardische Kniginwitwe Adelheid unterMihandlungen gefangengesetzt.

    Nun - Adelheid ist 19 Jahre alt, aber so zart besaitet

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    ist Otto nicht, da ihn irgendwelche Damen in Kerkernnicht schlafen lieen. Er ist ein Heiliger, aber mit Ner-ven wie Schiffstaue.Widukind von Corvey ist daher zutiefst bestrzt undverwirrt, als er die Meldung bekommt, da der Knigseine Hilfe zugesagt hat. Der Mnch erinnert sich Ottosweiser Beschrnkung in Paris und versteht diesen ge-fhrlichen Schritt nun wirklich und beim besten Willennicht mehr.

    Was fr ein rtselhafter Mensch ist der Knig!Er tunkt seufzend die Feder ein, schreibt voller Ahnung:Den tieferen Grund zu errtern und die kniglichenGeheimnisse aufzudecken, geht ber meine Aufgabe.Geheimnisse?Wir wissen genau soviel und sowenig wie Otto. Sehenwir Geheimnisse?

    Was sah der Knig?Folgendes:Berengar ist im Begriff, das vllig zerrissene Italien mitGewalt und notdrftig zu einen. Es ist nur noch eineFrage von Monaten. Der Papst wird damit in der HandBerengars sein. Es ist nur ein Schritt zu der Folgerung,da damit auch die deutschen Bischfe und Klster in

    der geistigen Gewalt Berengars sind. Was Otto hiersieht, ist bis zum heutigen Tag ein Begriff geblieben: dieGefahr des Transmontanismus. Aber das ist nichtalles. Italien ist ohnmchtig, aber reich. Seine Stdtesind die Tore zum Mittelmeer. Das Mittelmeer ist diegrte aller Handelsstraen. Die lombardischen Alpen-stdte halten den Schlssel zu den Gebirgspssen in den

    Hnden. Sie knnen den Riegel zuschieben und denganzen Norden vom Handel aussperren. Berengar wirddas tun. Die Italiener sind Romanen, die Sdfranzosen

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    sind Romanen, sie werden eine Basis der Verstndigungfinden. Italien hat keine Grenzfeinde, Frankreich hatkeine Grenzfeinde. Deutschland ist nach allen Seitenoffen.Diese Gedanken eilen der Zeit weit, weit voraus. Ottowei es und schweigt.Er denkt noch an etwas anderes.Das ist fr uns heute hochinteressant:Er stellt in Rechnung, da seine Zeit gnzlich in dem

    Glauben an die Prophezeiungen der Kirchenvter be-fangen ist. Er wei: im Trubel der tglichen Ereignissevergit das Volk sie leicht, aber wenn die Prophezei-ungen durch Ereignisse besttigt werden, erinnert essich erschauernd. Das Abendland glaubt zu Ottos Zeitdaran, da das alte Rmische Reich, dessen RuineItalien ist, jenes 4. Weltreich ist, von dem Daniel in der

    Bibel sagt, es werde das letzte sein und bis zum Welt-untergang dauern. Diese Prophezeiung bleibt so langevergessen, wie niemand das Rmische Reich erneuert.Aber es werden groe seelische Krfte ins politischeSpiel kommen, wenn es jemand erneuert. Das darf nichtBerengar sein.Groe Gedanken!

    Hohe Schule der Staatsfhrung.Es ist nicht der Schritt der neunzehnjhrigen Adelheid,den Otto hrt, sondern jener andere, von dem Bismarckspricht.Otto handelt schnell.Er steht eines Morgens vor Pavia.Berengar flieht.

    Adelheid flchtet aus dem Kerker.Man fhrt sie dem Knig zu.Das alles vollzieht sich in wenigen Tagen.

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    Leidenschaftslos und nchtern fat er einen Entschlu,von dem er hofft, da er seinem Werk leichter zum Zielverhelfen wird: Er heiratet Weihnachten 951 Adelheid.Aber gerade dieser Schritt lst eine unerwartete Reak-tion aus.Es ist etwas, was dem Corveyer Mnch den Schreck indie Glieder fahren lt! Er sieht schon die Jahre derBruderkmpfe sich wiederholen: Ottos Sohn Ludolfemprt sich!

    Ludolf ist 21 Jahre alt.Er durchleidet in diesem Augenblick alle die Wut-schmerzen gegen die jngere Stiefmutter, die auch heutenoch, tausend Jahre spter, die Jugend in solchem Mo-ment durchmacht.Er ist ein Ottone. Das heit: ein Michael Kohlhaas.Fr eine kurze (blutige und beschmende) Zeitspanne

    tritt er in die Futapfen seines Onkels Heinrich.Der Vater besiegt ihn.Grndlich.Dann hebt er ihn auf.Unergrndlich.Ist das nun der letzte Kelch gewesen, den der Knigleeren mu?

    Noch nicht.Dieses Drama von antiker Tragik gebiert ein neues Un-geheuer:Die Ungarn kommen!Sie wittern das Aas.Ein Schrecken geht durch Deutschland!Otto ruft den Heerbann durch Eilboten auf.

    Von allen Seiten strmen Tausende von Rittern nachSden.Das Heer formiert sich an der Donau und zieht den

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    Lech aufwrts. Die Boten melden, da die Ungarn vorAugsburg liegen, in dem sich der alte Bischof Ulrich wieein Rasender verteidigt. Hoch zu Ro. Ohne Rstung.Die Stola um die Schultern.Auf einen Augsburger kommen hundert Ungarn.Und wenn es dem Knig gelingt, noch rechtzeitig ein-zutreffen, werden auf jeden Deutschen zehn Ungarnkommen.Es ist allen klar: Der nchste Tag ist der Schicksalstag

    der Nation.In den Morgenstunden des 10. August 955 beginnt aufdem Lechfeld bei Augsburg die Schlacht mit einerfatalen Wendung.Es sieht sofort sehr bse fr die Deutschen aus.Die beiden Chroniken von Ulrich und Widukind be-richten den Verlauf des Kampfes Phase um Phase.

    Danach ist kein Zweifel, da Otto in dieser Schlacht alsFeldherr das Format eines Napoleons und unerhrtepersnliche Tapferkeit gezeigt hat.Die Schlacht wendet sich - und wird gewonnen.24 Stunden spter existieren von dem riesigen Ungarn-heer nicht mehr als ein paar Versprengte, die die Hei-mat zu erreichen versuchen. Von dieser Stunde ab

    erscheint in den Chroniken aller Lnder zum erstenmalbei dem Namen Ottos der Zusatz Imperator.Kaiser. Es ist das Urteil des Abendlandes.Das Volk hat ihn gekrnt.Sechseinhalb Jahre jedoch dauert es noch, bis PapstJohannes XII. ihm wirklich die Krone aufsetzt.Am 31. Januar 962 zieht Otto als Herr Italiens ohne

    wesentliche Kmpfe in Rom ein. Er kommt als das, wasseitdem alle Konquistadoren zu sein vorgeben, als Be-freier.

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    Er ist es wirklich!Italien ist todkrank. Die Kirche lebt in Rom vor OttosEinzug in beispielloser Schamlosigkeit und Snde. Frdie damaligen Zustnde in der Ewigen Stadt ist in dieGeschichtsschreibung ein eigener Fachausdruck eingetra-gen: Pornokratie.Papst Johannes ist ein verkommenes Brschelchen,Enkel der ekelhaften Pornokratin Marozia, Umstrzlerund Intrigant von Geblt. Nach Ottos Abreise aus Rom

    wchst wieder sein Mut. Die Marozia-Clique fegtwieder waffenklirrend und johlend durch die Straenund scheucht das verngstigte Volk in die Huser. Jo-hannes setzt sich mit Berengar in Verbindung, er schicktBoten an die Ungarn und fordert sie auf, in Deutsch-land einzufallen.Diesen Brief fngt Otto ab!

    Stehenden Fues macht er kehrt.Aber ehe er Johannes den Ausgang dieser Meinungsver-schiedenheit vor Augen fhren kann, stirbt der Papst.Aufrhrer werden gehngt. Berengar ergibt sich undendet als Gefangener. Ein neuer Papst wandert in dieVerbannung.Der Kaiser rumt auf.

    Nchtern.Sachlich.Und immer schsisch redend.Die Rmer schwren: Niemals mehr einen Papst aufdem Stuhl Petri zu dulden, ohne die Einwilligung undBesttigung des Herrn Kaisers Otto und seines Sohnes.Das Reich ist gegrndet.

    Ein Wehr, ein Staudamm ffnet sich. Italien, das alte,politisch hoffnungslos kranke, aber reiche Land, undDeutschland, das junge, entbehrungsgewohnte, stau-

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    nende, vitale Land, gleichen ihre Wasserspiegel aus.Kultur und Zivilisation strmen nach Norden. DerWind der weiten Welt weht vom Mittelmeer ber dieAlpen.Als die fhrenden Menschen in Deutschland das allesin sich aufnehmen und ihr Sinn sich weitet, geschiehtdas schon ohne Gefahr. Das Staatsbewutsein, dasVolksgefhl sind bereits ins Blut aufgenommen.Das Werk Ottos ist vollendet.

    Was nun folgt, sind Werke der Weisheit des Alters.Weitgeplante Werke der Ruhe:Er schickt Missionen nach Ungarn.Missionen gehen tief nach Ruland hinein.Seit Bonifatius kannte man nur Predigtmission.Otto verwandelt sie inMissionspolitik.Er erhebt sein liebes Magdeburg zum Erzbistum.

    Es ist einer der glnzendsten politischen Schachzge: Erunterstellt alle christlichen Polen dem neuen Erzbischofund bekommt sie damit geistig und seelisch unter deut-sche Fhrung.Alle Ideen stammen aus seinem Kopf.Selbst die grten seiner Zeitgenossen sind nichts alsseine Schler. Besiegt im Gedankenkrieg.

    Das Land, dieses vor kurzem noch waldwogende,amusische, ziellose Land, bekommt ein Gesicht!Die Romanik entsteht.Ein Stil wchst heraus. Die bahnbrechenden Bauten inQuedlinburg und Magdeburg sind Ottos Befehle. ber-all findet man Spuren seines direkten Auftrags.Die ersten Dichter stehen auf.

    Sie tun den Stabreim ab und beginnen Verse zu reimen.Historisches Bewutsein erwacht. Hundert Federkielesetzen sich in Bewegung.

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    In Corvey schreibt Widukind.In Cremona schreibt Liudprand.In Magdeburg Adalbert.In Gandersheim Hroswitha.In St. Gallen Ekkehard und Notker.Langobardische Gelehrte kommen schon mit dem Hoch-zeitszug Adelheids nach Deutschland.Sie fhren ihre Bibliotheken auf Mauleseln ber dieverschneiten Alpen.

    Im Auftrag des Knigs.Der Chronist Brunos in Kln schreibt:Der Hof des Knigs war ein Sammelpunkt der wei-sesten Mnner aus allen Lndern des Reiches. Hier zeigtesich wie in einem hellen Spiegel alles, was der mensch-liche Geist bisher auf Erden Groes und Schnes ge-schaffen hatte. Es war der Vorhof des Wissens.

    Eine Weltenw