Die Geschichten dieses Buches hat der Autor sich - dtv.de · größten Erfolg feierte er mit dem...

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Die Geschichten dieses Buches hat der Autor sichnicht selbst ausgedacht, sondern er hat sie gesammelt,wo immer sie ihm unter die Augen oder zu Ohrenkamen. Die meisten davon sind uralt: biblische Ge-schichten, Legenden, Märchen, Fabeln oder Volks-erzählungen, und manch gute Bekannte sind darunter,wie die Geschichte vom salomonischen Urteil, vomFuchs und dem Raben oder vom Tod in Samarkand.

Es sind die am weitesten verbreiteten – und schöns-ten! – Geschichten der Welt. Hier findet man sie ein-mal in einem Buch versammelt und von einem großenErzähler nacherzählt.

Sam McBratney, geboren 1943 in Belfast/Irland, stu-dierte Geschichte und Politische Wissenschaften undarbeitete jahrelang als Lehrer. Seine Bücher, Hörspieleund Geschichten schrieb er in seiner Freizeit. Heute ister freischaffender Autor und lebt in Belfast. Seinengrößten Erfolg feierte er mit dem Bilderbuch ›Weißt dueigentlich, wie lieb ich dich hab‹, das auch auf Deutschvorliegt. In der Reihe Hanser ist bereits erschienen:›Nerv nicht schon wieder, Jimmy!‹ (dtv 62266).

Julian Jusim, 1946 in Kujbyschew an der Wolga ge-boren, lebt seit 1983 in Deutschland. Er gehört seitvielen Jahren zu den renommierten deutschen Illustra-toren.

Ich will euch was erzählen

Die schönsten Geschichten der Welt

Gesammelt und aufgeschriebenvon Sam McBratney

Aus dem Englischen von Anu Stohner

Mit Bildern von Julian Jusim

Deutscher Taschenbuch Verlag

Das gesamte lieferbare Programm der Reihe Hanser und viele andere Informationen finden Sie unter

www.reihehanser.de

Deutsche ErstausgabeIn neuer Rechtschreibung

März 2009© 2005 by Sam McBratney

Titel der Originalausgabe: One Voice, Please(Walker Books Ltd, London)

© der deutschsprachigen Ausgabe:Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

MünchenUmschlagbild: Julian Jusim

Gesetzt aus der Goudy 12/15·Satz und Litho: Greiner & Reichel, Köln

Druck und Bindung: C.H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany · isbn 978-3-423-62390-2

Inhalt

Ein Wort vorab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9Essen an der frischen Luft . . . . . . . . . . . . . 10Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12Der springende Hase . . . . . . . . . . . . . . . . . 14Tagträume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16Sanfter Druck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18Der zweite Schuh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21In den Schuhen eines anderen . . . . . . . . . . 24Beim Angeln verschwunden . . . . . . . . . . . 27Viele Kleinigkeiten werden ein Großes . . . 31Der König hat den Frieden ausgerufen . . . 35Der Obermacker an der Tür . . . . . . . . . . . . 37Der gute Samariter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40Die Mäuse halten eine Versammlung ab . . 42Der Rattenfänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44Wenn man nicht miteinander redet . . . . . . 49Es könnte schlimmer sein . . . . . . . . . . . . . . 52Schöne Worte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55Der König der Lüfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59Der Große Quetscher und die kleinen

harten Kerle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61Die goldene Gabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65Das Wahrheitshölzchen . . . . . . . . . . . . . . . 68

Der Geldhut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71Unterwegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74Einzeln sind wir schwach . . . . . . . . . . . . . . 80Der Löwe und die Maus . . . . . . . . . . . . . . . 82Einmalklug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84Das zweite Säckchen Gold . . . . . . . . . . . . . 87Ein heikles Gleichgewicht . . . . . . . . . . . . . 91Eine Warnung zur rechten Zeit . . . . . . . . . 93Eine Verabredung in Samarkand . . . . . . . . 96Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98Ein Schwan wird gerettet . . . . . . . . . . . . . . 101Die Sprache und die Suche nach

der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103Die Macht der Geheimnisse . . . . . . . . . . . . 105Graf Richard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112Zwiebeln und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . 116Die Weisheit Salomos . . . . . . . . . . . . . . . . 118Klugheit trifft Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . 120Reichtümer in der Erde . . . . . . . . . . . . . . . 125Geschichte und Schwimmen . . . . . . . . . . . 128Eine kleine Stimme erhebt sich . . . . . . . . . 130Hol mich herunter! . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133Eine sehr teure Katze . . . . . . . . . . . . . . . . . 136Der Schatten eines Maultiers . . . . . . . . . . . 138Doktor Jack Powers . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140Das große Baby . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

Ein freier Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151Ist es fair? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154Sprechende Vögel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159Von einem, der um Erlaubnis bat . . . . . . . . 163Wenn einer die Wahrheit verdreht . . . . . . 166Der Elefant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170Eine verdiente Lektion . . . . . . . . . . . . . . . . 172Das Tischgebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176Der Suppenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

Ein Wort vorab

Euer Geschichtensammler erinnert sich, dass ervor Jahren einmal im Süden Irlands haltmach-te, um eine Kleinigkeit zu essen. Er fand ein ge-mütliches Lokal voller Leute, die in entspannterRunde um ein Torffeuer saßen und – so schienes – alle gleichzeitig redeten. Plötzlich rief derWirt: »Könnte bitte nur einer erzählen, immernur einer, bitte!«

Da hörten die Leute auf zu reden, und ein klei-ner Mann, der neben dem Kamin saß, räuspertesich. Er trug einen alten, verbeulten Hut auf demKopf und hatte gewaltige rote Ohren. Er heftetedie Augen auf einen Haken an der Decke undbegann, eine Geschichte zu erzählen.

Das war der Augenblick, in dem diese Samm-lung ihren Anfang nahm. Seitdem sammle ichGeschichten, wie sie sich die Leute seit eh und jeerzählt haben. Hier sind einige meiner Lieblings-geschichten, und wer aufpasst, wird bald merken:Wir kommen alle darin vor.

Und jetzt seid bitte leise: Ich will euch was er-zählen …

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Heutzutage sind die Menschen voller Wut, das muss euch auch schon aufgefallen sein.

Im Straßenverkehr, im Gewühl der Einkaufswagen im Supermarkt – überall wütende Leute.

Aber ist das wirklich etwas Neues?Kein bisschen: Die Wut ist so alt wie der Mensch.

Essen an der frischen Luft

Ein Diener hatte einen aufbrausenden Herrn, dereines Sonntags schlecht gelaunt zum Mittagessenkam.

»Die Suppe ist zu heiß!«, brüllte er und hautezornig auf den Tisch.

Nun, wenn die Suppe nicht zu heiß gewesenwäre, dann wäre sie zu kalt gewesen. Nichts hät-te ihm an diesem Tag geschmeckt. Er hätte auchStreit angefangen, wenn ihm eine perfekte Sup-pe serviert worden wäre. Er nahm den Teller undwarf ihn mitsamt der Suppe zum offenen Fensterhinaus auf den Hof.

Der gute Diener, der die Suppe gebracht hatte,zögerte keine Sekunde und warf das Fleisch, daser gerade zum Tisch trug, hinterher. Dann dasBrot. Und nach dem Brot einen Krug Wein. So-

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gar die Tischdecke mit allem, was darauf war,schmiss er zum Fenster hinaus. Es gab ein entsetz-liches Geklirre, als Besteck und Gläser unten imHof aufschlugen.

»Was, zum Teufel, tust du da?«, brüllte der Herrund sprang auf.

Da sah ihn der gute Diener mit einem wunder-bar unschuldigen Blick an. »Habe ich Euch etwafalsch verstanden? Verzeiht, mein Herr, aber alsich die Suppe aus dem Zimmer fliegen sah, nahmich an, Ihr wolltet heute an der frischen Luft es-sen. Es ist auch sehr schön draußen, der Himmelist blau … die Bienen summen um die Apfelblü-ten!«

Es war eine feine Lektion, wie man schlechtenManieren begegnet. Bleibt zu hoffen, dass derHerr genug Charakter besaß, um etwas daraus zulernen, und dass die Suppe nie mehr zum Fensterhinausflog.

Irgendwann hat jeder von uns Kummer mit dem lieben Geld.

Zeugen

Es war einmal ein Mann – nicht der erste undnicht der letzte –, der hatte ein Problem, weil erGeld verliehen hatte. Schließlich erzählte er sei-nen Freunden davon.

»Ich habe einem Vetter zehn Silberkronen ge-liehen, aber er macht keine Anstalten, sie mir zu-rückzuzahlen. Und jetzt brauche ich das Geld. Erlacht nur, wenn ich ihn darauf anspreche, undich frage mich allmählich, ob ich meine zehn Kro-nen je wiedersehen werde. Wenn ich nur Zeugenhätte! Aber ich habe ihm das Geld unter vier Au-gen gegeben und kann es nicht beweisen. DerKerl könnte alles abstreiten!«

Seine Freunde, die sich nur zu gut mit Schre-ckensgeschichten vom Borgen und Leihen aus-kannten, gaben verständnisvolle Laute von sich.

Aber der Wirt, bei dem sie saßen, sagte: »Wenndu Zeugen brauchst, kann ich dir helfen.«

»Wie?«

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»Bitte deinen Vetter, morgen Abend mit hier-herzukommen, und erinnere ihn ganz ruhig voruns allen, dass er dir immer noch hundert Silber-kronen schuldet.«

»Aber ich habe ihm doch nur zehn geliehen!«»Eben. Genau das wird er auch sagen«, sagte

der Wirt. »Und du hast deine Zeugen.«

Ihr könnt Wunder vollbringen, wenn ihr nur motiviert genug seid.

Fragt Meister Hund!

Der springende Hase

Eines Morgens im März jagte ein Hund einenHasen übers Feld. Es war eine wilde Jagd durchHecken und über Stock und Stein. Im letzten Mo-ment sprang der Hase in die Höhe, wechselte inder Luft die Richtung und entkam im offenen Ge-lände.

Ein alter Mann hatte das Ganze durch die Zwei-ge einer Hecke beobachtet.

Er sagte: »Na, Meister Hund, wie ich sehe, warder Hase heute Morgen schneller.«

»Tu nicht so, als würde dich das überraschen«,antwortete der Hund, der immer noch vor An-strengung hechelte. »Ich bin für mein Mittag-essen gerannt, aber der Hase … der rannte umsein Leben.«

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Tagträume

Es war einmal ein Töpfer, der übertraf sich selbstund schuf eine wunderschöne neue Vase. Sie warhoch und elegant, mit einer Lasur so blau wieKornblumen und schönen Verzierungen um denHals. Es war ein wahres Kunstwerk. Der Töpferging, die Vase unter dem Arm, zum Markt undwar entschlossen, sie keinesfalls für weniger alseinen Schilling herzugeben.

Auf einer Brücke blieb der Töpfer stehen, umsich ein wenig auszuruhen, und hier war es, dasser darüber nachzudenken begann, wie schön eswäre, wenn er mehr als einen Schilling für seineVase bekäme. »Heute könnte mein Glückstagsein«, sagte er zu sich. »Eine vorüberfahrende rei-che Dame könnte ihren Kutscher anhalten lassenund meine Vase für eine Silberkrone kaufen!«

Als Nächstes dachte er darüber nach, was ermit einer ganzen Silberkrone machen würde. Erkönnte davon zum Beispiel genügend Ton kaufen,um noch zehn Vasen zu töpfern, für die er nochzehn Silberkronen bekäme – und davon würde ersich eines jener kleinen Boote kaufen, die unterder Brücke am Ufer des Flusses vertäut lagen.

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Nach einigen Jahren als Töpfer und Fischer zu-gleich könnte er sich sehr wahrscheinlich ein grö-ßeres Boot leisten – ja, ein richtiges Schiff! Dannkäme er irgendwann aus dem fernen Osten miteiner kostbaren Ladung Seide und Gewürze nachHause gesegelt, und die schöne Tochter eines rei-chen Kaufmanns würde sich in ihn verlieben …

Die gewaltige Kette großer Ereignisse erschiendem Töpfer auf der Brücke so wirklich, dass er sichumschaute, ob nicht die reiche Dame schon ge-fahren kam. Das hätte ihm freilich nichts genützt,denn als er sich umdrehte, stieß er mit dem Ellbo-gen gegen die Vase, die er auf der steinernen Brüs-tung abgestellt hatte. Sie fiel und überschlug sichviele Male, bis sie tief unten auf den Ufersteinenzerschellte.

Dem Töpfer blieb nichts anderes übrig, als nachHause zu gehen. So viel zu Tagträumen, dachteer. Nächstes Mal bringe ich meine Vase schnur-stracks zum Markt und verkaufe sie dem Erstbes-ten, der mir einen Schilling dafür bietet.

Sanfter Druck

Eines Tages traf der Wind die Sonne und prahlte,wie stark er sei.

»Ich bin das Stärkste, was es auf der Welt gibt«,sagte der Wind. »Sieh nur, wie ich Bäume ausrei-ßen und das Meer toben lassen kann. Ich hoffe,du bist mit mir einer Meinung, dass es nichtsZweites gibt, was so mächtig wäre wie ich – nichteinmal du bist es.« Und als wollte er es beweisen,blies er der Sonne ein paar Wolken vors Gesicht.

»Es gibt viele Arten, mächtig zu sein«, ant-wortete die Sonne und ließ die Wolken schnelltrocknen.

»Aber hör dir die Namen an, die die Menschenmir geben. Du bist nur die Sonne, aber ich, ich binder Zyklon, der Sturm, das Unwetter, der Hurri-kan und die Sturmbö – einer, vor dem sie wahrlichAngst haben!«

Da kam tief unter ihnen auf der Erde zufälligein Bauer die Landstraße entlang. Über den nor-malen Kleidern trug er einen groben Umhang,und der Wind sagte: »Lass uns unsere Kräfte mes-sen und herausfinden, wer von uns den Manndazu bringt, den Umhang abzulegen.«

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»Wie es dir beliebt«, sagte die Sonne. »Dukannst anfangen, wenn du möchtest.«

Also begann der Wind zu blasen, und manch-mal sah es so aus, als würde der Bauer auf derLandstraße vom Boden fortgerissen. Tatsächlichwurde ihm der kleine Lederbeutel, in dem er sei-nen Proviant verwahrte, aus der Hand gerissenund fünf Felder weitergeschleudert. Aber denUmhang wickelte er sich dafür nur umso festerum den Leib. Je mehr das grobe Tuch im plötzlichaufgekommenen Sturm flatterte, desto mehrhielt es der Bauer fest, und weil der Umhang kei-ne Knöpfe hatte, holte er schließlich ein Stückfeste Schnur aus der Tasche und band es doppeltum seine Taille. Der Wind musste akzeptieren,dass er dem Mann den Umhang nicht entreißenkonnte.

Jetzt war die Sonne an der Reihe. Sie stieghoch an den Himmel und schien so stark, dass esnicht lange dauerte, bis der Mann die doppelteSchnur um seine Taille lockerte. Aber auch sokam er noch ins Schwitzen. Und nachdem er sichans Ufer des Flusses gekniet hatte, um zu trinken,blies er die Backen auf, wischte sich die Stirn undzog den Umhang aus.

Der Wind musste zugeben, dass Stärke nicht

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unbedingt dasselbe ist wie rohe Kraft und dass siemanchmal auch auf sanfte Weise zum Ziel führenkann.