Die Gestaltung von Lernumgebungen aus individualp ... · Der Freiburger Heidegger-Sch uler Eugen...
Transcript of Die Gestaltung von Lernumgebungen aus individualp ... · Der Freiburger Heidegger-Sch uler Eugen...
Rudi Krawitz
Die Gestaltung von Lernumgebungen
aus individualpadagogischer Sicht
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1. Schule als individualpadagogische Praxis
Wie auch immer uber Schule als Institution gedacht und wie kon-
trovers die Diskussion heute nach den verschiedenen internationa-
len Leistungsvergleichsstudien uber ihre Aufgaben gefuhrt wird, ei-
nes scheint unstrittig: Sie hat den professionellen Auftrag, fur Kinder
und Jugendliche moglichst wirksame Anlasse zum Lernen zu schaf-
fen. So ist es zunachst aus pragmatischer Sicht durchaus konsequent
und durfte keinem allzu großen Widerspruch Anlass geben, die Schule
als”Haus des Lernens“ zu bezeichnen, wie es die nordrhein-westfali-
sche Bildungskommission in ihrer Denkschrift”Zukunft der Bildung –
Schule der Zukunft“ bereits 1995 in programmatischer Absicht getan
hat.
Dass in der Schule gelernt werden soll, gilt als selbstverstandlich;
wie dieses Lernen jedoch padagogisch, didaktisch und methodisch zu
gestalten ist, und was die heranwachsende Generation zu lernen hat,
daruber sind sich die Betroffenen keineswegs einig. Und uber Schule,
Unterricht und Lernen mitzureden hat bekanntlich jeder; schließlich
ist jedermann in irgendeiner Weise betroffen: als Schuler, als Eltern
oder als Lehrer. Daran werden auch die inzwischen vielerorts vorge-
nommenen Versuche, sogenannte”Bildungsstandards“ zu entwickeln,
nichts zu andern vermogen.
Nachdem seit dem Erscheinen jener programmatischen Denk-
schrift inzwischen uber zehn Jahre vergangen sind, lohnt es sich, noch
einmal uber das darin vertretene Bildungsverstandnis und die daraus
resultierende Notwendigkeit der Umgestaltung der Institution Schule
nachzudenken. Die Aufgaben der Schule werden darin sehr deutlich
individualpadagogisch aufgefasst. Schulerinnen und Schuler und ih-
re Lehrerinnen und Lehrer bilden eine Gemeinschaft der individuell
Lernenden. Die Schule gibt dazu Raum und wird verstanden als ein
Ort,
–”an dem alle willkommen sind, die Lehrenden wie die Lernen-
den in ihrer Individualitat angenommen werden, die personliche
Eigenart in der Gestaltung von Schule ihren Platz findet,
– an dem Zeit gegeben wird zum Wachsen, gegenseitige Ruck-
sichtnahme und Respekt vor einander gepflegt werden,
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– dessen Raume einladen zum Verweilen, dessen Angebote und
Herausforderungen zum Lernen, zur selbsttatigen Auseinander-
setzung locken,
– an dem Umwege und Fehler erlaubt sind und Bewertungen als
Feedback hilfreiche Orientierung geben,
– wo intensiv gearbeitet wird und die Freude am eigenen Lernen
wachsen kann,
– an dem Lernen ansteckend wirkt“ (a. a. O., S. 86).
Gegen diese Bestimmung der Schule als”Haus des Lernens“ regt sich
Widerstand aus der (berechtigten?) Besorgnis, ob und inwieweit denn
in diesem”Haus des Lernens“ uberhaupt noch hinreichend Platz fur
Bildung und Erziehung sei.
Hans-Gunter Rolff, damals selbst Kommissionsmitglied, berichte-
te daruber, dass”das Wort vom Haus des Lernens (. . . ) als Leitbild
fur Schulreform, Schulentwicklung und Lehrerbildung gedacht“ sei
und in der Bildungskommission lange daruber diskutiert wurde, ob
die Schule nun als”Haus des Lernens“ oder
”des Lernens und des
Lebens“ oder”der Bildung“ oder
”der Erziehung“ zu bezeichnen sei
(Rolff 1997, S. 33).
In einem 1996 durchgefuhrten”Symposion von Wissenschaft und
Wirtschaft“ wurde besorgt die eigentliche padagogische Grundfrage
thematisiert:”Welchen Stellenwert hat Bildung in dem angedachten
Reformkonzept uberhaupt noch?“ Und in Folge dieser berechtigten
Frage wird kritisch, aber leider nicht immer frei von Polemik, nach-
gefragt:”Soll und kann in der Schule der Zukunft – wie sie den Gut-
achtern vorschwebt – Bildung stattfinden?“ (Schlaffke / Westphalen
1996, S. 14). Der von den Kritikern des Symposions eingangs formu-
lierte Anspruch hinsichtlich unverzichtbarer padagogischer Qualitats-
standards scheint zunachst konsensfahig:”Die beste Vorbereitung auf
die Zukunft wird durch eine Bildung erreicht, die beherrschtes Wis-
sen und Personlichkeitswerte miteinander verbindet. Neue Methoden
– facherubergreifender Unterricht, Gruppenarbeit, Planspiele – sind
dafur notig. Zukunftsgerechte Schulen mussen ein breit angelegtes,
fundiertes und vernetztes Allgemeinwissen bieten und mit Wert- und
Handlungsorientierung dafur sorgen, daß der Unterricht zu einer Ent-
faltung aller im Menschen angelegten Krafte und Begabungen bei-
tragt und es zur Ausformung der ganzen Personlichkeit kommt. So-
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lide Bildungsfundamente, Personlichkeit und Gestaltungskraft sind
heute starker gefragt als fruher Spezialwissen und -konnen“ a. a. O.,
S. 27).
Auch Kurt Aurin, bekannter Freiburger Erziehungswissenschaft-
ler und Bildungsforscher, initiierte als Reaktion auf die nordrhein-
westfalische Denkschrift rasch einen Sammelband mit dem Untertitel
”Brauchen wir eine
’andere Schule‘“ Die Antwort, die dieser Unter-
titel als Nein zu implizieren scheint, lautet bei Aurin differenzierter:
”Erneuerung durch Weiterentwicklung des Bewahrten“ (Aurin / Wol-
lenweber 1997, S. 221).
Die Kritiker und Skeptiker befurchten, dass es um die Zukunft
von Bildung, Erziehung und Leistung im”Haus des Lernens“ der
Bildungskommission schlecht bestellt sei, weil sie sowohl Lehrern wie
Schulern offensichtlich nicht zutrauen, diesen oben in den sechs Punk-
ten beschriebenen Freiraum des Hauses des Lernens bildungswirksam
auszugestalten:”In der Realitat der Schulen, mit Normalschulern
– konzentrationsunfahig, nur in geringem Maße motivierbar und
in der intellektuellen Belastbarkeit recht unterschiedlich – und mit
Durchschnittspadagogen, die verstandlicherweise auch mit mensch-
lichen Unzulanglichkeiten zu kampfen haben, wurde das Lernkon-
zept schlichtweg zum Chaos im Schulalltag und zum Leistungsabfall
fuhren mussen“ (a. a. O., S. 36).
Dabei will das”Haus des Lernens“ zunachst einmal, wie jede Be-
hausung, vor allem Schutz gewahren; den notwendigen Schutz nam-
lich, den Kinder und Jugendliche brauchen, um sich in der konstrukti-
ven wie kontroversen Auseinandersetzung mit den Mitmenschen und
den Sachen selbsttatig bilden zu konnen; sowohl in kritischen Diskur-
sen wie aber auch im bloßen Sicheinlassen auf die vielfaltigen Phano-
mene der Welt. Als mit”Kopf, Herz und Hand“ sehende, denkende
und handelnde Individuen, d. h. als unteilbare (in-dividuelle) Leib-
Seele-Geist-Gestalt- und Haltungseinheiten sollen die Kinder und Ju-
gendlichen mit padagogischer Begleitung sich bilden konnen.
Dieses”Haus des Lernens“ sollte am Jahrhundertende jenen
Schutz fur Bildung gewahren, den Theodor Ballauff bereits in den
sechziger Jahren gegenuber vielfaltigen padagogischen Entfremdungs-
erscheinungen mit seiner noch viel starkeren Metapher vom’Bollwerk
fur Bildung‘ massiv einklagen musste.
Es ist nach wie vor die unverzichtbare Aufgabe von Schule als”In-
stitution zur Verteidigung der Bildung“ (Ballauff 1964, S. 28), Kin-
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dern und Jugendlichen in der Tradition der griechischen PAIDEIA,
Raum und Begleitung fur ihre individuelle Entfaltung, Pragung, Ver-
wandlung und Umwendung zu gewahren. Bildung wird in dieser Tra-
dition unverandert durch PAIDEIA als”Geleit zur Umwendung des
ganzen Menschen in seinem Wesen“ gewahrt (Heidegger, GA. Bd. 9,
S. 217). Padagogik als Begleitung ermoglicht in der Schule”die Frei-
gabe der Individualitat, d. h. eines eigenen Weges des Heranwachsen-
den, auf dem er die ihm gemaßen Aufgaben findet und selbstandig
und verantwortungsbereit zu losen versucht“ (Ballauff 1964, S. 17).
Der Freiburger Heidegger-Schuler Eugen Fink begreift den Bil-
dungsauftrag in ahnlicher Weise individualpadagogisch:”Der Mensch
wird begriffen als das seltsame Ding inmitten der Dinge, das nicht
einfach bleiben kann, wie es die Natur entlaßt, das nicht in fester
Art steht wie Fels und Welle, wie Pflanze und Tier, – das sich viel-
mehr eine Fassung geben muß, eine Sinngestalt, eine Pragung, ein
Gesetz“ (Fink 1970, S. 13). Der Mensch selbst also bildet sich, PAI-
DEIA ist die dazu notwendige Begleitung, das Haus des Lernens ist
der Schutzraum.
”Der Mensch bildet sich“, so heißt auch die Formel, die Hartmut
von Hentig inzwischen in bewusst einfach gewahlter Sprache verwen-
det:”Bilden ist sich bilden. Der pragnante Sinn des Wortes Bildung
kommt jedenfalls in der reflexiven Form des Verbums am klarsten
zum Ausdruck“ (von Hentig 1996, S. 39).
Es gilt nun, vielfaltige Anlasse zu schaffen, die Kinder und Ju-
gendliche herausfordern sich zu bilden. Dies ist – sehr einfach und
allgemein formuliert – der Auftrag der Schule als”Haus des Lernens“
in all ihren vielfaltigen Erscheinungsformen. Diesen Auftrag professio-
nell auszufuhren, erfordert eine neue individualpadagogische Praxis,
– in der die umfassende padagogische Aufgabe der Bildung als in-
dividuelle Entfaltung, Pragung, Verwandlung und Umwendung
des ganzen Menschen nach innen und außen und in all seinen
Moglichkeiten nicht reduziert wird auf die reine Geistesbildung
im Sinne des verengten elitaren intellektualistischen Bildungs-
verstandnisses des 19. Jahrhunderts;
– in der die durch Unterricht und Lernen zu ermoglichende Er-
kenntnis in der subjektiven Wechselwirkung zwischen Sinnlich-
keit und Verstand, Anschauung und Begriff, Empfindung und
Erscheinung nicht in einer rationalistischen lehrtheoretischen
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Didaktik reduziert wird auf die bloß kognitive Komponente des
’kurzschlussigen‘ Begriffslernen;
– in der der institutionalisierte Unterricht als eigentlich, wesent-
lich und ursprunglich immer aktiver (selbsttatiger) Prozess des
Sich-kundigmachens nicht zum lehrgangszentrierten passiven
Konsum von fertigen und richtigen Wissensbrocken verkommt;
– in der die Verantwortung fur die Erziehung als begleitender
Beistand zum Aufbau einer je”eigenen strukturellen Klarheit“
(Rombach, 1979, S. 144) nicht einfach nur der Zufalligkeit der
alltaglichen Intuition außerschulischer Sozialisationsinstanzen
uberlassen bleibt.
2. Bildung durch Unterricht und Erziehung
2.1 Padagogik als Handlungsorientierung
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheint die Padagogik, auch wenn sie
sich vielerorts in der kritisch-rationalen Identitat einer streng erfah-
rungswissenschaftlich prozedierenden Erziehungswissenschaft prasen-
tiert, fur viele kaum mehr geeignet, praktisch wirksame oder gar
ethisch verbindliche Handlungsorientierungen fur Bildungs-, Erzie-
hungs- oder Unterrichtsprozesse bereitzustellen. Padagogik befindet
sich in der immer wieder als pluralistisch etikettierten”postmoder-
nen“ Konsum- und Informationsgesellschaft in einer erheblichen Legi-
timationskrise. Die groß angelegten strukturellen Versuche von Schul-
und Bildungsreformen des 20. Jahrhunderts mussen insgesamt ent-
weder als praktisch gescheitert oder aber als politisch verhindert be-
trachtet werden. Ubrig blieben am Ende des Jahrhunderts bescheide-
ne pluralistische”Suchbewegungen“ der Erziehungswissenschaft, wie
Oelkers und Tenorth es 1991 – selbst etwas hilflos – zum Ausdruck
brachten.
Padagogische Systemversuche gelten heute als naiv anachroni-
stisch; die theoretische Beschaftigung damit wird in Fachkreisen le-
diglich noch unter historischen Gesichtspunkten und Fragestellungen
akzeptiert. An die Stelle padagogischer oder erziehungswissenschaft-
licher Systemversuche treten jetzt Versuche der Systematisierung des
in der Praxis immer schon vorhandenen und sich weiterentwickelnden
padagogischen Wissens.
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Erziehungswissenschaft wird so reduziert auf ihren analytischen
Aspekt der methodisch organisierten Beobachtung padagogischer
Praxis. Der synthetische Aspekt von Erziehungswissenschaft als prak-
tischer Padagogik mit dem praskriptiven Anspruch der Handlungs-
orientierung wird nicht mehr als wissenschaftlich relevante Aufgabe
angesehen.
Die Situation der Praxis von Unterricht und Erziehung ist dement-
sprechend uneinheitlich, eben’pluralistisch‘. Pragmatismus tritt an
Stelle wissenschaftlich-praktischer Handlungsorientierung. Padagogik
verliert als praktische Wissenschaft ihre Bedeutung. Die”Anstren-
gung des Begriffs der Bildung“ (vgl. Fischer unter Berufung auf Na-
torp 1989, S. 17) wird erst gar nicht mehr unternommen.
Die Fachwissenschaften, die in den Unterrichtsfachern der Schu-
le (insbesondere in der Sekundarstufe I und dann noch deutlicher in
der Sekundarstufe II) mehr oder minder abgebildet werden, deter-
minieren den Bildungs- und Unterrichtsprozess einseitig zugunsten
materialer Wissensinhalte und formaler Fertigkeiten.
Bildung wird dabei stark reduziert auf die intellektuelle Außensei-
te der Geistesbildung, die subjektive Innenseite von Bildung als Ent-
faltung, Pragung und Umwendung des ganzen (individuellen) Men-
schen mit allen seinen Moglichkeiten wird dabei weitgehend vernach-
lassigt. In logischer Konsequenz dieser Sichtweise werden jetzt wieder
– wie schon in den 1970er Jahren – formale und materiale Bildungs-
standards formuliert.
Wahrend die Grundschule schon in den 1980er Jahren vielerorts
eine durchaus padagogische Neurorientierung als Lebens-, Lern- und
Erfahrungsraum fur Kinder erfuhr, fehlt der Sekundarstufe I unseres
gegliederten Schulsystems zu Beginn des neuen Jahrhunderts nach
wie vor eine klare strukturelle Identitat.
Nachdem schon nach dem Zusammenbruch des nationalsoziali-
stischen Terrorstaates die Chance einer qualitativen und organisato-
rischen Neuordnung des Bildungssystems in Deutschland versaumt
wurde (vgl. Tenorth 1988), haben alle spateren Reformversuche kei-
ne einschneidenden Strukturveranderungen mehr bewirken konnen.
So ist das Schulwesen im Bereich der Sekundarstufe I in allen Bun-
deslandern Deutschlands nach wie vor padagogisch und didaktisch
unterentwickelt. Auch in den neuen Bundeslandern ließen sich nach
der Vereinigung keine wesentlich neuen Strukturen durchsetzen und
etablieren.
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Nach wie vor haben wir es so in Deutschland mit einem foderali-
stisch schulpluralistischen Bildungswesen zu tun, das sich ganz beson-
ders im Bereich der Sekundarstufe I als extrem uneinheitlich erweist:
– Gymnasium,
– Realschule,
– Hauptschule,
– Gesamtschule
– und bis zu zehn verschiedene Sonderschultypen,
daruber hinaus in einzelnen Bundeslandern noch weitere neue Schul-
typen, wie beispielsweise in Rheinland-Pfalz
– Regionale Schule,
– Duale Oberschule,
teilen sich die zehn- bis sechzehnjahrigen Kinder und Jugendlichen
der Klassen 5 bis 10 nach keineswegs immer eindeutigen und padago-
gisch vernunftigen Auslesekriterien.
Studium und praktische Ausbildung ihrer Lehrerinnen und Lehrer
(aufgeteilt in zwei Phasen) sind bislang ebenfalls uneinheitlich struk-
turiert und organisiert. Die fachwissenschaftlichen, fachdidaktischen
und erziehungswissenschaftlichen Anteile in Studium und Referen-
dariat sind je nach Studiengang und angestrebter Fakultas hochst
unterschiedlich gewichtet.
Diese pluralistische Uneinheitlichkeit des stark horizontal geglie-
derten und foderalistisch organisierten und verantworteten Bildungs-
systems muss zunachst als status quo und nur bildungspolitisch zu
verandernden Ausgangslage aller weiteren Uberlegungen zu einer pa-
dagogisch verantwortlichen Gestaltung schulisch organisierter Bil-
dungsprozesse hingenommen werden.
Trotz anstehender oder begonnener Bildungs- und Studienrefor-
men kann eine padagogische Innovation und Schulentwicklung im Sin-
ne einer wirklichen und wirksamen”Anstrengung des Begriffs der
Bildung“ gegenwartig nur innerhalb der je einzelnen Schule, ihrer
Lehrerinnen und Lehrer wie selbstverstandlich unter Beteiligung der
Schulerinnen und Schuler und ihrer Eltern erfolgen. Bildung durch
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Unterricht und Erziehung erfordert so die Entwicklung und Reali-
sierung eines eigenstandigen padagogischen Konzepts, das von allen
Beteiligten im Sinne eines fur die eigene Schule geltenden Mindest-
konsens im Sinne einer”Corporate Identity“ akzeptiert und getragen
werden muss.
2.2 Die padagogische Doppelaufgabe’Unterricht
und Erziehung‘ aus bildungstheoretischer Sicht
Aus der Sicht transzendental-kritischer Padagogik zeigen sich die
padagogischen Phanomene von Unterricht und Erziehung vorrangig
als subjektive Aktivitat des einzelnen Individuums. Lehrerinnen und
Lehrer begleiten und unterstutzen diese subjektiven Prozesse der Ei-
genaktivitat lediglich dialogisch. Alfred Petzelt pragte fur diese An-
nahme die Formel:”Unterricht und Erziehung gehoren zum Ich, wel-
che Verhaltnisse sie auch antrafen, und welche Formen sie immer
annehmen mochten. Sie begleiten das Ich in jeder Lage und in jedem
Alter“ (Petzelt 1964, S. 12).
Aus der ontologischen Perspektive wird zwar die Vorrangigkeit des
Seins vor dem Subjekt betont, doch ist es auch in dieser bildungstheo-
retischen Sicht immer nur das einzelne Individuum, das selbsttatig
dem”Einbezug ins Denken“ folgen kann, wie Theodor Ballauff deut-
lich zu machen versuchte:”Die padagogische Aufgabe, aus der der
Unterricht und seine Theorie hervorgehen, kann nur lauten: denken
lernen in der Entziehung aus der Verfremdung durch Vermittlung ins
Denken“ (Ballauff 1970b, S. 16).
Und als Fundamentaleinsicht einer transzendental-kritischen”Lo-
gik des Lernens“ formuliert Lutz Koch daher konsequent:”Lernen
ist nicht rezeptive Abbildung gegebener Objekte im Lernenden, son-
dern eben synthetische Erzeugung jener begrifflichen Einheit, die
unser Verstandnis von Gegenstanden erst konstituiert“ (Koch 1991,
S. 177f.).
In der Orientierung an der Transzendentalphilosophie Kants, der
daraus abgeleiteten transzendental-kritischen Padagogik Alfred Pet-
zelts und unter Berucksichtigung der Hegelschen Idee einer”Phano-
menologie des Geistes“, lasst sich ein bildungstheoretisches Verstand-
nis von Erziehung und Unterricht im Spannungsfeld von Fachwissen-
schaft, Didaktik und Padagogik anhand einer Begriffsskizze erlautern:
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Bildung des Individuums durch Unterricht und Erziehung
Absoluter Geist
als belebendes Prinzip
der vernunftigen Natur
Objektiver Geist
als
soziale Welt
Subjektiver Geist
das
Individuum
verfugt uber: verfugt uber
Theoretische Vernunft ⇓ Praktische Vernunft⇓ ⇓philosophisch: PHILOSOPHIE philosophisch:
⇓ ⇓Erkenntnistheorie Moralphilosophie
padagogisch: padagogisch:
Erkennenlernen ⇓ Handelnlernen
erfordert: wird konkret: erfordert:
⇓ ⇓UNTERRICHT PADAGOGIK ERZIEHUNG
⇓ ⇓folgt der Idee von folgt der Idee von
Wahrheit ⇓ Wahrhaftigkeitwendet sich vermittelt uber:
⇓ ⇓
dient dem Erwerb von
KenntnissenDIDAKTIK
verschafft Einsicht
in die Notwendigkeit
sittlicher Ordnung⇓ an das ⇓
⇓
fuhrt zu
Wissen
INDIVIDUUMals
transzendentales Bewusstsein
fuhrt zu
Haltung
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2.3 Padagogik als konkrete Philosophie
Die padagogische Aufgabe erschopft sich also vollgultig darin, Kinder
und Jugendliche zum rationalen Urteilen und zum verantwortlichen
Handeln zu befahigen. Das Urteilen-Lehren und das Handeln-Lehren
konnen so begrifflich die beiden Zielrichtungen padagogischer Ak-
tivitat aus der Sicht der unterrichtenden und erziehenden Padago-
gen kennzeichnen. Schuler sollen sowohl zum angemessenen Urteil
uber die mannigfaltigen Erscheinungen der Welt als auch zum ver-
antwortlichen Eingreifen auf dem sozialen Handlungsfeld der zwi-
schenmenschlichen Interaktion befahigt werden. Die Handlungsori-
entierung fur diese zielgerichtete Aktivitat konnte eine als konkrete
Philosophie zu kennzeichnende Padagogik als Prinzipienwissenschaft
liefern, die – ohne in dogmatische Normativitat zu verfallen – der lei-
tenden Maßgeblichkeit der Ideen von Wahrheit und Wahrhaftigkeit
lediglich in transzendental-kritischer Normativitat verpflichtet ist.
Dieser Grundbestand transzendental-kritischer Padagogik muss
heute immer noch gegenuber positivistischen, hermeneutisch-le-
bensphilosophischen, fundamental-ontologischen und kommunikati-
ven Konzepten verteidigt werden (vgl. Fischer 1989; Krawitz 1980,
1997). Das kompromisslose Festhalten am”Philosophieren als Kri-
tik der Vernunft und ihrer Leistungen“ (Fischer 1979, S. 274), gewis-
sermaßen das Erbe des padagogischen Neukantianismus, ist unver-
zichtbares Grundprinzip jeder vernunftgeleiteten und der Aufklarung
verpflichteten Padagogik.
Dieses Philosophieren als prinzipiengeleitetes Fragen uber die
Selbstreflexion des Ich als transzendentales Bewusstsein wird dabei
zur padagogischen Aufgabe fur die Erziehungspartner auf beiden Sei-
ten, die Kinder wie die Erwachsenen und damit zur praktischen Er-
ziehungsaufgabe schlechthin. Padagogisches Handeln als ein vernunft-
geleitetes Miteinander-Umgehen versteht sich so immer als Philoso-
phieren-Lehren und Philosophieren-Lernen im Medium argumentie-
render Vernunft :”Wer die besseren Argumente hat, ist Lehrender,
wer die Argumente des anderen anerkennt, ist Lernender“ (Heitger
1978, S. 23). Es ist die gemeinsame Verpflichtung auf die Vernunft ,
deren Moglichkeiten und Grenzen vom erkennenden und handelnden
Ich immer nur argumentierend ausgemessen werden konnen, die der
Padagogik ihr oberstes allgemeines und formales Prinzip zumutet –
eine Einsicht die aus der transzendental-kritischen Aufklarungsphi-
losophie uber den Neukantianismus bis zur Kritischen Theorie der
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Frankfurter Schule der Padagogik bewahrt werden konnte. Denn es
ist nicht einzusehen,”wie wir ohne Philosophie imstande waren, eine
Identitat auf einem so zerbrechlichen Boden, wie die Vernunft ihn be-
reitet, auszubilden und zu sichern“ (Habermas 1976, S. 58; vgl. auch
ders. 1981). Der Auftrag der Padagogik ist und bleibt Vernunftbildung
im umfassenden Sinne; er darf nicht technisch reduziert werden auf
zweckrationale Ausbildung, auch wenn dies in unserer gegenwartig
radikal konsumistisch orientierten Welt zweckmaßig schiene.
Das Kantische Prinzip der Endzweckmaßigkeit der Menschlichkeit
im Menschen, auch wenn es haufig genug mit Fußen getreten wird,
muss ganz besonders in der Padagogik aufbewahrt bleiben. Die Kin-
der sollen dieses oberste sittliche, Autonomie ermoglichende, eman-
zipatorische Prinzip im denkenden und handelnden Umgang mit den
Sachen und den Mitmenschen in zunehmender Verantwortlichkeit er-
kennen und anerkennen lernen.
Die Einsicht, dass dieses Erkennen- und Anerkennenlernen des
moralischen Grundprinzips von der Menschlichkeit des Menschen als
Endzweck ohne manipulative Indoktrination zu geschehen hat, ver-
pflichtet padagogisches Handeln streng und allein auf den Dialog.
Die eigene, stellungnehmende Urteilskraft des Kindes soll im padago-
gischen Dialog herausgefordert werden. Es soll lernen, die normative
und legitimierende Relevanz vorhandener Geltungsanspruche kritisch
zu prufen, um sie selbstverantwortlich anerkennen oder aber verwer-
fen zu konnen. Lehrer und Erzieher erhalten ihren padagogischen
Fuhrungsauftrag lediglich aus der Notwendigkeit des Aufbaus eines
Vernunftwillens, der beim sinnlich zunachst fremdbestimmten Kind
noch nicht vorhanden ist. Schon Kant hat uns in seinen Aussagen uber
Padagogik auf diese Aufgabe hingewiesen und Paul Natorp hat ihr
in seiner”Sozialpadagogik“ (1899) systematische Geltung verschafft.
Erziehung und Unterricht dienen so diesem Aufbau eines Ver-
nunftwillens, der uber das eigene Bewusstsein als Ich lediglich den
Prinzipien von Wahrheit und Wahrhaftigkeit verpflichtet bleibt und
sich als Vernunftwille im Ideal von jeder Form der Fremdbestim-
mung denkend losen kann. Erziehende und unterrichtliche Maßnah-
men ermoglichen dadurch, dass sie rein dialogisch ausgerichtet sind,
Emanzipation in einem idealistischen Verstandnis des Begriffs: eman-
cipation, das heißt Entlassung aus der (vaterlichen) Gewalt; Befreiung
aus der Abhangigkeit und der Fremdbestimmung fremden Denkens
und Gefuhrtwerdens zur Freiheit als Autonomie des Vernunftwillens .
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Gerade heute muss es wieder verstarkt darum gehen, das ohnehin
sehr eng institutionalisierte Feld padagogischen Handelns vor drohen-
der Fremdbestimmung durch zweckrationale, bildungsokonomischen
Prioritaten folgenden Anforderungen zu bewahren und der regula-
tiven Idee von Bildung als umfassender Vernunftwillensbildung zu
ihrem Recht zu verhelfen. Dazu hat padagogische Theorie vor allem
zu verhindern,
– dass das padagogische Denken der Gegenwart der aufklareri-
schen und transzendental-kritischen Tradition entfremdet wird,
– dass dem Geltungsanspruch von Vernunftsprinzipien nicht mehr
gefolgt wird,
– dass Psychologie und Didaktik losgelost vom philosophisch-pa-
dagogischen Grundgedanken das Erziehungs- und Unterrichts-
handeln technologisch verkurzen,
– dass rationalistisch reduzierte Erziehungs- und Unterrichtskon-
zepte kritiklos Anwendung finden und Lehrer zu bloßen System-
funktionalisten missbraucht werden
– und dass das Philosophische aus der Frage nach der Bildung
des Menschen generell eliminiert wird.
2.4 Der dialogische Aspekt der Vernunftbildung
Erziehung und Unterricht als Akte padagogischen Handelns zwischen
Heranwachsenden und Erwachsenen werden heute in der modernen
Padagogik, deren Einzug in die Schulstuben allerdings noch viel zu
oft auf sich warten lasst, am allgemeinsten, prozessual und inhalt-
lich noch nichts festschreibend und festlegend, als Kommunikations-
prozesse bezeichnet. So konnen die wechselnden Aktivitaten der Er-
ziehungspartner und ihre prinzipielle Berechtigung in einem perma-
nenten, nie abschließbaren Prozess des Sichverstandigens angemessen
auf den Begriff gebracht werden. Freilich bleibt dieser Begriff fur die
Padagogik so lange leer, bis er in einem theoretischen Rahmen sei-
nen systematischen Ort zugewiesen bekommt. Geht man etwa vom
Verstandnis einer kybernetisch-technologischen Informationstheorie
aus, die heute angesichts der neuen computergestutzten Kommuni-
kationsmoglichkeiten wieder an Bedeutung gewinnt, so ist Kommu-
nikation als nahezu monologische Ubermittlung von Informationen
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(Nachrichten) von einem Kommunikator zu einem Kommunikanten
zu verstehen. In technologischer Diktion ausgedruckt, ließe sich da-
nach der Kommunikationsablauf allgemein etwa folgendermaßen um-
schreiben: Eine Quelle liefert uber einen Sender unter Ausnutzung
eines Kanals eine Nachricht, die einen potentiellen Empfanger als Ziel
erreichen soll. Der Empfanger seinerseits hat dabei mehr oder minder
große Moglichkeiten der Ruckmeldung (feed back) an die Quelle, um
Verstandnis oder Missverstandnis zu signalisieren. Mit einem solchen
Kommunikationsverstandnis ist allerdings in einer dem Vernunftprin-
zip verpflichteten Padagogik nichts anzufangen, da das von vornher-
ein unterstellte starke Informationsgefalle der dialogischen Grund-
struktur des padagogischen Handelns generell widerspricht.
Demgegenuber zeigt sich in Watzlawicks, Beavins und Jacksons
(1974)”provisorischen Formulierungen“ pragmatischer Kommunika-
tions-Axiome eher eine padagogische Dimension im Sinne des Dia-
logischen, indem dort deutlich auf die padagogisch relevante prozes-
suale Wechselbeziehung zwischen den Kommunikationspartnern mit
ihren inhaltlichen und personalen Implikationen eingegangen wird.
Ihre axiomatische Unterstellung, nach der alles Verhalten Kommu-
nikation genannt werden musse, nimmt dem Begriff allerdings wie-
der seine systematische Eignung zur Begrundung eines dialogischen
Verstandnisses von padagogischem Handeln in Erziehung und Un-
terricht. Naturlich ist es logisch richtig zu behaupten, dass der Ent-
zug aus der Kommunikationssituation besonders auf der Beziehungs-
ebene geradezu einen vieldeutigen Kommunikationsbeitrag darstellt,
doch verliert der Kommunikationsbegriff durch diese universalisti-
sche Uberdehnung jene Trennscharfe, die von einem systematischen
padagogischen Begriff, der zur Handlungsorientierung herangezogen
werden soll, verlangt werden muss. Watzlawicks, Beavins und Jack-
sons Kommunikationsbegriff, dem bloß analytische Bedeutung zu-
kommt, eignet sich demnach wenig, das padagogische Handeln von
Lehrern und Erziehern synthetisch zu leiten; er ist jedoch hilfreich in
der padagogischen Situationsanalyse.
Die Padagogik sollte sich daher weniger an dieser psychologisch-
pragmatischen Konstruktion orientieren, als vielmehr an Jurgen Ha-
bermas’ philosophisch-transzendentaler Theoriereflexion. Denn Ha-
bermas kommt in seinen philosophischen Uberlegungen zu einem dif-
ferenzierteren synthetischen Begriff von Kommunikation, der fur das
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padagogische Handeln programmatischen Charakter annimmt und
direkt handlungsleitend wirkt. Er unterscheidet dabei begrifflich
– das kommunikative Handeln von Menschen im Medium der All-
tagssprache im Rahmen von (zunachst kritiklos) verbindlich an-
gesehenen Geltungsanspruchen
– vom Diskurs, als dem von Vernunft geleiteten sprachlichen Ver-
such, bestrittene oder problematisierte Geltungsanspruche ra-
tional zu thematisieren, zu kritisieren und einem nach Maßgabe
von Vernunftargumenten vorlaufig wahrheitsfahigen Konsensus
zuzufuhren.
Wahrend
– kommunikatives Handeln unter der naiven Voraussetzung der
Geltung von Sachverhalten und Sinnzusammenhangen inner-
halb eingelebter und normativ abgesicherter Sprachspiele ab-
lauft,
– soll im Diskurs”ein problematisiertes Einverstandnis, das im
kommunikativen Handeln bestanden hat, durch Begrundung“
wieder hergestellt werden (Habermas 1971, S. 115).
Erziehung zur Diskursfahigkeit wird so zum Programm einer aufge-
klarten kritischen Padagogik, der es darum geht, erkenntnisleitende
Interessen zu entdecken und Widerspruche rational aufzuklaren, um
so die Heranwachsenden auf ihre demokratische Teilnahme und Teil-
habe an gesellschaftlichen Prozessen vorzubereiten.
Um Diskurse mit dem Zweck eines wahrheitsfahigen Konsensus
uberhaupt vernunftig fuhren zu konnen, bedarf es jedoch einer tran-
szendentalen Unterstellung, eines Leitprinzips fur rationale Kommu-
nikation: Eine ideale, herrschaftsfreie, allein dem rationalen Argu-
ment verpflichtete Sprechsituation muss”kontrafaktisch“ vorausge-
setzt werden. D. h., obgleich oder gerade weil der historische Regelfall
von Kommunikation durch Storungen und Verzerrungen gekennzeich-
net ist, bedarf es eines transzendentalen Prinzips, an dessen Maß-
geblichkeit jene Fehlformen von Kommunikation zuallererst gemessen
und dadurch kritisiert werden konnen. Wenn uberhaupt, dann nur am
Maßstab der kontrafaktischen, idealen, bloß denkbaren Konstruktion
einer rationalen (vernunftgeleiteten) Sprechsituation sind irrationale
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Scheinargumente von Vernunftargumenten zu scheiden und als unbe-
rechtigt zuruckzuweisen. Die Konsensustheorie diskursiv erschlosse-
ner Wahrheit unterstellt im Urteil die Moglichkeit der Zustimmung
jedes vernunftigen Erkenntnissubjekts zum vernunftig erkannten Ar-
gument und dessen Geltung.
Jeder, der redet, auch wenn er beabsichtigt, wissentlich die Un-
wahrheit zu sagen, muss notwendig von der Unterstellung ausgehen,
dass durch die vernunftige Rede Wahrheit erzeugt werden kann.
Die Konsensustheorie von Wahrheit verkennt nicht, dass Alltags-
sprachhandeln dem Anspruch auf diskursive Begrundung oft nicht
entspricht, ja geradezu zuwiderlauft. Gerade das padagogische Han-
deln jedoch, wenn es primar prozesshaft als kommunikatives Handeln
bzw. Dialog gefasst wird, verlangt das Problematisieren von Normen
und Sinnorientierungen, von Geltungsanspruchen und Herrschafts-
verhaltnissen in der Spielsituation von Schule als antizipierende Si-
mulation moglicher Realsituationen gesellschaftlicher Praxis. Schule
ist ein außerst geeigneter Ort der Erprobung jener Prinzipien, die zu
einer Steigerung der Diskursfahigkeit der eine demokratische Gesell-
schaft tragenden vernunftigen Burger beitragen. So darf das padago-
gische Feld der Schule nicht bloß affirmativ als ein Ort gesellschaft-
licher Reproduktion gefasst werden, sondern vielmehr offensiv und
idealistisch als ein Ort der Produktion, Konstruktion und Erprobung
humaner Moglichkeiten.
Allgemeinstes und formales Ziel der Erziehung ist so die Dis-
kursfahigkeit des Vernunftsubjekts. Zu erreichen ist es allein uber
die argumentierende Vernunft im Bildungsdialog.
Uber den Erwerb rationaler Diskursfahigkeit erreicht das Bil-
dungssubjekt in zunehmendem Maße die Kompetenz zur sachlichen
und verantwortlichen Argumentation, die es nach und nach aus der
Situation der Abhangigkeit fremder Autoritaten befreit und damit
der Mundigkeit zufuhrt. Emanzipation zur Mundigkeit als das nor-
mative Postulat jeder Vernunftpadagogik (als konkreter Philosophie)
erfordert vom padagogischen Praktiker Rucksichtnahme auf die Ent-
wicklungsstufe der Vernunftwillens-Aktivitaten des Kindes, wie Paul
Natorp uberzeugend gezeigt hat, bzw. auf das”individuelle Posses-
sivverhaltnis“ des kindlichen Ich in der Sichtweise des Neukantia-
ners Alfred Petzelt. Aber uber dieser gewissermaßen psychologisch-
technischen Faktenanalyse des Erziehungs- und Bildungsprozesses
muss die faktische philosophische Potentialitat des kindlichen Ich ge-
17
sehen werden. Nur durch die prinzipielle Annahme der umfassen-
den, uneingeschrankten individuellen Bildungsfahigkeit eines jeden
Kindes wird ihm der Aufbau eines Vernunftwillens ermoglicht. Das
Hinstarren auf seine Begrenztheiten und das Diagnostizieren seiner
Schwachen fuhren sowohl das Kind wie seine Lehrer in die Hand-
lungsunfahigkeit eines padagogischen Defatismus.
Im Vernunftbildungsdialog herrschen nicht Erzieher oder Lehrer
uber die Kinder, sondern es herrscht der Logos des verbindlichen Ar-
guments, von dem man nicht von vornherein schon weiß, ob er sich
einstellt und wer uber ihn verfugt.
2.5 Die Universalitat des Vernunftbildungsdialogs
Lehren und Lernen sind nur in einer oberflachlichen Betrachtungswei-
se die jeweiligen, eindeutig zu unterscheidenden und zuzuordnenden
Aufgaben von Lehrern einerseits und Schulern andererseits. Gewiss
ist es ublich und liegt im Begriff, dass wir dem Lehrer die Aufgabe
des Lehrens und dem Lerner, den wir Schuler nennen, die des Ler-
nens zuweisen. Der Lehrer hat schon gelernt, er ist der’Gelehrte‘,
der der Sache, in der es in seiner Lehre geht, bereits nachgespurt hat.
Der Schuler hingegen ist der’Lehrling‘, der die Spur der Sache verfol-
gen, der lernen soll. Kompetentes Lehren ist dem Lehrer offenbar nur
nach vorausgegangenem Lernen moglich; allein wer angemessen ge-
lernt hat, vermag auch zu lehren. Zum Lehrer wird man also nur uber
das Lernen, und dies allerdings in einem unabschließbaren Prozess,
denn Lernen als eine besondere systematische Weise des Erkennens,
ist eine dem Erkenntnissubjekt grundsatzlich zugemutete unvollend-
bare Aufgabe der diskursiven Welterschließung. Der Lehrer ist so,
seinen Schulern gleich, ein lebenslang Lernender, also angesichts ihm
immer noch ungelost anstehender Fragen selbst Schuler.
Als Schuler muss so der Lehrer die Rolle seiner Schuler aus der
eigenen aktuellen, immer wiederkehrenden Erfahrung kennen. Aber
seine Schuler wiederum kennen auch die Rolle des Lehrers, und zwar
aus einer doppelten eigenen Erfahrung heraus: Zum einen werden
sie in den unterschiedlichsten Lehr- und Lernsituationen selbst zum
Lehrer ihrer Mitschuler, wenn sie als bereits Belehrte oder Gelehrte
den noch nicht auf die Spur gekommenen Lernenden selbst helfend
anleiten. Zum andern aber sind die Schuler in einem dialogisch ver-
standenen Unterricht immer wieder aufgefordert, den Lehrer daruber
zu belehren, wie und was sie gelernt haben. D. h. die Schuler erpro-
18
ben quasi lehrend, den gelernten Zugang zu einer Sache darzustellen,
indem sie versuchen, mit dem Gelernten angemessen lehrend umzu-
gehen.
Lehrer und Schuler tauschen so lehrend und lernend im Wechsel
ihre jeweiligen Sicht- und Zugangsweisen zum Gegenstand aus.
Nachdem der Schuler die Sichtweise des Lehrers kennengelernt
hat, belehrt er ihn seinerseits uber die eigene, die er uber die Lehre
durch das eigene Lernen erworben hat. Argumente bilden dabei das
dialogische Vehikel zur Darstellung der eigenen Position. Ein dem
erkenntnis-kritischen Verstandnis von Lernen angemessener Unter-
richt verlauft so im standigen Wechsel der argumentierenden Verstan-
digung zwischen Lehrer und Schulern uber ihren jeweiligen subjektiv-
theoretischen Zugang zum Erkenntnisobjekt.
Das dialogische Prinzip erfordert, dass die Lehre im Erkennt-
nisunterricht, die innerhalb der Grenzen theoretischer Vernunft den
Schulern die Welt zu erschließen sucht, nicht lediglich Fakten darstellt
und Wissen vermittelt, sondern die Schuler zur urteilenden Stellung-
nahme auffordert. Wichtiger als die Kenntnis der Fakten ist fur die
Schuler die Urteilsfahigkeit.
Im Urteilen lernen die Schuler
– das angemessene Erschließen des Faktischen (als das Wahre
nach Maßgabe von Sachlichkeit),
– zum anderen aber daruber hinaus das verantwortliche Einschat-
zen des Faktischen (als das Gute nach Maßgabe von Verant-
wortlichkeit) im praktischen Urteil,
– oder aber das’Seinlassen‘ der Sache bzw. das
’Sich-einlassen‘
auf die bloß asthetische Betrachtung des Faktischen (als das
Schone nach Maßgabe des Geschmacks).
Das dialogische Unterrichtsverstandnis beachtet demnach alle Per-
spektiven des menschlichen Inbeziehungtretens mit der Welt. Er-
kenntnis-Unterricht, Asthetik-Unterricht und Handlungs-Unterricht
sind so keine deutlich abzugrenzenden Unterrichtsgebiete, sondern
unverzichtbare Perspektiven des urteilenden Umgangs mit Sachen
und Menschen.
Im Vernunftbildungsdialog soll gemeinsam nach der Geltung des
uberzeugenden Arguments gesucht werden, wobei im Idealfall Lehrer-
und Schulerrolle prinzipiell ausgetauscht werden konnen. Wo auch
19
immer um Geltungsanspruche’gestritten‘ wird, handelt es sich um
einen Bildungsdialog. Man lasst sich belehren und lernt, oder man
lehrt selbst und belehrt damit andere. Das dialogische Prinzip hat
universalistischen Charakter. Es gilt fur jede vernunftgeleitete Begeg-
nung zwischen Menschen, sofern sie zugeben, noch nicht’ausgelernt‘
zu haben.
2.6 Bildung durch Unterricht
Anerkennt man als Padagoge die Geltung formaler Orientierungs-
punkte als transzendentale (vernunftgeleitetes Denken und verant-
wortliches Handeln ermoglichende) Prinzipien a priori, wie sie die
transzendental-kritische Philosophie und Padagogik seit Kant in un-
terschiedlicher Gewichtung aber genereller Ubereinstimmung der an-
gestrebten Zielrichtung postuliert, so ergeben sich eindeutige, unum-
gehbare Konsequenzen fur die Organisation intentionaler padagogi-
scher Prozesse, deren Durchsetzung in der padagogischen Praxis al-
lerdings noch immer unbewaltigtes Desiderat ist.
Unterricht als Bildungsprozess ist nur dann transzendental-pada-
gogisch zu verantworten, wenn er den transzendentalen Prinzipien –
das sind die Ideen von Wahrheit, Schonheit und Wahrhaftigkeit –
folgt und dabei dem einzelnen, von Verstand, Urteilskraft und Ver-
nunft geleiteten Bewusstsein in seinem Anspruch auf eigenverant-
wortliche (autonome) Welterschließung gerecht wird. Die grundlegen-
de Einsicht,
– dass Lernen, als Sonderform von Erkennen immer nur ange-
messen zu verstehen ist als die synthetische Leistung des sub-
jektiven Bewusstseins
– und dass Handeln, als verbindliche Tatigkeit autonomer Wil-
lensaktivitat, immer selbst gewahlten und eigenverantwortli-
chen Maximen folgen soll,
erfordert eine spezifische, naher zu kennzeichnende Strukturierung
der padagogischen Handlungsfelder und Beschreibung der darauf
agierenden Erziehungspartner. Folgende Aspekte sind dabei zu be-
rucksichtigen:
20
2.6.1 Unterricht ist padagogische Praxis
Fur den Lehrer, der immer gleichzeitig (auch wenn dies nicht sei-
ner ausdrucklichen willentlichen Absicht entspricht) Erzieher ist,
konnte die transzendental-kritische Reflexion eine wesentliche Hilfe
zur Handlungsorientierung bieten. Denn padagogische Aufgaben sind
durch die bloße Anwendung didaktischen und methodischen Fachwis-
sens nur teilweise verantwortlich zu erfullen. Es bedarf daruber hinaus
der eigenen antizipierenden philosophischen Reflexion, Begrundung
und Kritik, der das Handeln leitenden Prinzipien und Maximen. Die
durchaus notwendige Orientierung an entwicklungs- und lernpsycho-
logischen Grundlagen und Einsichten und das Ausrichten unterricht-
licher Prozesse nach didaktischen und fachwissenschaftlichen Maßga-
ben muss in die umfassende padagogische Gestaltung der erzieheri-
schen und unterrichtlichen Situation integriert werden. Lehrer mussen
sich als Padagogen begreifen lernen.
Dies ist eine, so scheint es, tautologische Forderung. Doch, beob-
achtet man die praktische Arbeit vieler Lehrer in den verschiedenen
Schularten unseres gegliederten Schulsystems, oder bedenkt man ihre
Einstellungen zum unterrichtlichen Handeln, wie sie sich in manchen
Gesprachen erschließen lassen, erscheint das Bild des padagogischen
Lehrers eher der Ausnahmeerscheinung oder dem bloßen Idealbild
zu entsprechen. Lehrer orientieren sich stark an Fachwissenschaften
und Didaktik, manchmal an Psychologie oder einer mehr oder minder
vorwissenschaftlichen Anthropologie, selten aber an Padagogik (vgl.
Krawitz 1997).
2.6.2 Padagogische Praxis ist philosophische Praxis
Die Padagogik als Wissenschaft muss deutlich machen, dass sie der
praktischen Handlungsorientierung dient, indem sie ihre leitenden
Prinzipien auf die Handlungsebene transponiert und anhand konse-
quenter und einsichtiger Forderungen an die Praxis auch konkreti-
siert. Das heißt: Die Padagogik muss sich als Handlungswissenschaft
begreifen.
Sie muss befreit werden aus dem ihre jungere abendlandische Wis-
senschaftsgeschichte hartnackig begleitenden Vorurteil, lediglich eine
abstrakte Bildungsmetaphysik zu sein, die lediglich der geistigen Er-
bauung der sie spekulativ am Leben erhaltenden idealistischen’Ka-
thetergelehrten‘ und deren immer mehr schwindenden Zahl’traum-
21
ender Junger‘ diene. Sie muss aber genauso aus der Umklammerung
jener pragmatischen Machte befreit werden, die sie’Erziehungswis-
senschaft‘ nennen und ihr die Handlungsrelevanz durch Anleihen auf
andere Wissenschaften (Psychologie, Soziologie, Anthropologie, Oko-
nomie) erschleichen oder durch Verkurzungen ihres umfassenden Auf-
gabenfeldes zu erzwingen suchen. Padagogik muss als konkrete Phi-
losophie rehabilitiert werden. Sie muss das ganze Gewicht ihres phi-
losophischen Anspruchs geltend machen, um die Schule aus der bil-
dungsokonomistischen Entfremdung zu befreien und vor ihrem dro-
henden Verfall zur zweckrationalen Ausbildungsinstitution zu retten.
Padagogik als konkrete Philosophie und damit Unterricht als phi-
losophische Praxis sind neben einer verantwortlichen demokratisch-
autonomen Politik, die bisher immer noch Idee geblieben ist, die ein-
zig denkbaren Moglichkeiten, die Welt verantwortlich zu gestalten.
Uber die Bildung des Vernunftwillens wird das einzelne Bildungssub-
jekt identisch mit den Vernunftprinzipien einer Welt der Menschlich-
keit und der Sachlichkeit (vgl. Ballauff 1964; 1970a,b; 1989), in der
alles Unmenschliche und Unsachliche der erbarmungslosen Kritik des
Vernunftarguments ausgeliefert wird.
Die Frageformel:”Darf der Mensch, was er kann?“ (Eppler 1979)
deutet die Richtung des von Urteilskraft geleiteten radikalen Argu-
mentierens nach Vernunftprinzipien an. Sie ist die gegenwartig wohl
noch immer aktuelle Umformulierung des kategorischen Imperativs
in einen Interrogativ.
– Wie sollte diese Frage anders abgehandelt werden als mit den
Mitteln des umfassenden Vernunftgebrauchs, der die Grenzen
der formallogischen wie zweckrational-technischen Argumente
zu ubersteigen vermag?
– Wo sollte diese Frage angemessener aufgehoben sein als inner-
halb des Argumentationsrahmens praktischer Philosophie?
– Und wer anders konnte das Einzelbewusstsein fur die Vernunft-
argumente praktischer Philosophie aufschließen als die konkrete
Philosophie der Padagogik, die den ontogenetischen Entwick-
lungsprozess einzelner Menschen zuallererst zum Vernunftbil-
dungsprozess werden lasst?
22
2.6.3 Unterricht als philosophische Praxis dient der Ver-
nunftwillensbildung
Der Schuler muss in der philosophischen Praxis des Unterrichts als
Vernunft- und Willensautonomie erkannt und anerkannt werden. Sei-
ne Willensautonomie muss das Ziel aller padagogischen Bemuhun-
gen sein. Er ist weniger der Adressat belehrender Wissensvermittlung
und erzwingender Moralisierungsbemuhungen als vielmehr der Dia-
logpartner in einem immer wieder erneut und selbstandig zu erschlie-
ßenden Zusammenhang von Sache und Verantwortung, von Lehrer
und Lernendem, in welchem er jederzeit als Aktivitat selbst zur ei-
genen Stellungnahme herausgefordert wird. Der Schuler muss sich
als Willen, die Schule als Ort der Vernunftwillensbildung begreifen
lernen.
Dem Schuler ist von Seiten der Belehrenden der nur scheinbar wi-
derspruchliche Einwand:”Das weiß ich . . . , aber das glaube ich nicht
. . .“ (Bichsel 1969) jederzeit zuzugestehen. Der elementare Fragewil-
le, auch wenn er noch wenig zielgerichtet erscheint, ist die treibende
Kraft des erwachenden Erkenntnissubjekts und dessen vielseitiger In-
teressen.
Doch durch das fortwahrende Verdrangen der kindlichen Inter-
essen im institutionalisierten Schulsystem verstummen die unlogi-
schen aber kreativen Kinderfragen nach und nach. Der Geist wird
vollgestopft mit Bucherwissen und eingerichtet nach einer fremden
Logik, die als einzig richtige anzusehen gelehrt und gelernt wird.
Das Kind richtet sich nach und nach ein in der Heteronomie frem-
der Willen, die ihrerseits vielleicht schon fremdbestimmt vorgege-
benen Ordnungen fraglos folgen. Der eigene Wille wird so in die
Zucht vorgetauschter Kausalitat genommen, die durch hierarchische
Bildungssysteme, pragmatisch-verlassliche Lehrplane, Curricula, Bil-
dungsstandards, maßregelnde Gesetze, Verordnungen und Erlasse
wiederum heteronom legitimiert wird. Man richtet sich ein in einem
System der Notwendigkeiten und verliert zunehmend den Mut, sich
seiner eigenen Vernunft und Willenskraft zu bedienen und die Gel-
tungsanspruche vermeintlicher Notwendigkeiten der Kritik der eige-
nen Vernunftargumente auszusetzen.
Die Schule als Ort der unbehinderten Vernunftwillensbildung zu
rehabilitieren und zu sichern, ist in einer Zeit des vordergrundig
okonomischen Denkens und Rechnens der Bildungverwalter, die vor-
dringlichste Aufgabe praktischer Padagogik.
23
Bildung ist keine Ware!
3. Bildung in individualpadagogischer
Sicht
3.1 Sehen, Denken, Handeln – Asthetik, Logik,Ethik
Die Philosophie der Aufklarung des ausgehenden 18. Jahrhunderts
mit ihrer ohne Ubertreibung als kopernikanisch zu bezeichnenden
’Entdeckung‘ der subjektiven Vernunft des Individuums, bietet heu-
te noch immer die gemeinsame philosophische wie padagogische Ar-
gumentationsbasis, unter deren Niveau trotz aller geistiger Weiter-
entwicklungen und Stromungen weder in der Alltagskommunikati-
on noch im wissenschaftlichen Diskurs zuruckgegangen werden kann.
Wir verdanken es der theoretischen Anstrengung des Konigsberger
Philosophen Immanuel Kant (1724–1804), dass sich die Philosophie
vom bloßen”Herumtappen“, wie er es nannte, fortan auf den Weg
einer kritischen Wissenschaft aufmachte und dadurch dem einzelnen
Menschen padagogisch Mut machen konnte, sich selbst seines”ei-
genen Verstandes zu bedienen“, sich aus der Bevormundung unge-
prufter normativer Dogmen zu befreien und sich zu emanzipieren,
aber auch dadurch selbstverantwortlich zu werden.
Ich behaupte, diese von Kant eingeleitete, kritisch-konstruktive
Bewegung der Aufklarung ist bis heute nicht abgeschlossen. Wir le-
ben nach wie vor im Zeitalter der Aufklarung, das all zu oft und
immer wieder von unglaublichen irrationalen Ruckfallen erschuttert
wird. Erwahnt sei in diesem Zusammenhang nur, dass es mir heu-
te, aufgrund der erschreckenden nationalistischen und fremdenfeind-
lichen Exzesse von unaufgeklarten Jugendlichen und unbelehrbaren
Erwachsenen, wieder dringend notwendig erscheint, mit meinen Stu-
dentinnen und Studenten der Padagogik jenen padagogisch funda-
mentalen Text von Adorno aus dem Jahre 1966 zu lesen, dessen erster
Satz eindringlich mahnt:”Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch
einmal sei, ist die allererste an Erziehung“ (Adorno 1966, S. 88). Ad-
orno glaubte, dass diese Forderung fur eine aufgeklarte Gesellschaft
so selbstverstandlich sei, dass sie eigentlich keiner weiteren Erklarung
und Begrundung mehr bedurfe. Gleichzeitig sah er jedoch die stets
24
vorhandene latente Gefahr der Wiederholung solcher ungeheuerlichen
Vergehen an der Menschlichkeit.
Nur durch eine unerschutterliche und immer wieder padagogisch
geubte und politisch praktizierte Bindung an die Kraft der Vernunft
wird Aufklarung praktisch verwirklicht werden konnen. Jede Gene-
ration ist dabei mit padagogischer Unterstutzung von neuem auf den
Weg zu bringen. Adorno sah, ebenso wie die anderen Reprasentanten
der Frankfurter Schule der Kritischen Theorie, deutlich, dass Auf-
klarung eine unabschließbare und von jeder Generation immer wieder
selbst zu leistende Aufgabe bedeutet und dass eine sozial, politisch
und padagogisch tragfahige Theorie der Gesellschaft nie zu einem
geschlossenen statischen System erstarren durfe, sondern stets dyna-
misch offen und ideologiekritisch argumentieren musse.
Zur Vorbereitung der folgenden Thesen zu einer Asthetik der In-
dividualitat und der daraus resultierenden individualpadagogischen
Sichtweise von Bildung zunachst zuruck zu Kant: Von ihm haben
wir die philosophisch wie padagogisch plausible Einteilung unserer
subjektiven Erkenntnisvermogen in Verstand, Vernunft und Urteils-
kraft, die es uns ermoglichen, subjektiv verantwortliche Verstandes-
urteile, moralische Urteile und asthetische Urteile abzugeben. Wohl-
gemerkt, es handelt sich bei dieser philosophischen Einteilung und
Deutung Kants nicht um eine fragwurdige vermogenspsychologische
Interpretation, sondern um eine prinzipielle voraussetzende Annah-
me zur Begrundung der notwendigen Bedingungen der Moglichkeit
von subjektiver Erfahrung und verantwortlichem Handeln. Verstand,
Vernunft und Urteilskraft sind philosophisch, padagogisch und di-
daktisch die fur alles subjektiv verantwortliche Sehen, Denken und
Handeln a priori (d. h. prinzipiell) anzunehmenden Moglichkeitsbe-
dingungen, ohne deren konstitutive Geltung Erfahrung rein zufallig
und Handeln vollig unverbindlich bliebe, so dass alles subjektive Se-
hen, Denken und Handeln unkritisierbar ware, weil es ohne sie weder
Maßstabe der intersubjektiven Geltung noch der subjektiven Verant-
wortung gabe.
In der Padagogik geht es im Zusammenhang mit ihren zentralen
Aufgaben von Bildung, Erkenntnis, Unterricht und Erziehung (vgl.
Krawitz 1997) immer um Sehen, Denken und Handeln. Das Sehen
kommt dabei allerdings sehr oft zu kurz, weil wir viel zu oft und
vorschnell blind an die vermeintlich rationale Klarheit und prazise
Treffsicherheit der Begriffe im Sinne der Logik glauben. Aber gerade
25
das kontemplative Sehen, das im Sinne Kants zwar einerseits sub-
jektiv eingeengt und andererseits von Begriffen a priori vorbestimmt
(determiniert) wird, ist die notwendige Voraussetzung fur das Ent-
decken des Wesentlichen. Und bei diesem Akt des kontemplativen
Sehens kommt der subjektiv konstruierenden Einbildungskraft, als
der Fahigkeit aus einer außeren (zunachst diffusen) Sinnesmannig-
faltigkeit ein inneres asthetisches (oder besser gesagt: aisthetisches)
Bild zu entwerfen, eine entscheidende Funktion zu.
Im offenen kontemplativen Sehen auf das Sichzeigende das Wesen
(griechisch das EIDOS) zu entdecken, hat nach Kant philosophisch
die Phanomenologie von Edmund Husserl (1913) in den Mittelpunkt
des Erkenntnisinteresses zu rucken versucht. Und padagogisch ging
Heinrich Rombach (1979) diesem aisthetischen Aspekt der Wesens-
struktur eines Phanomens, leider mit viel zu wenig Resonanz, in sei-
ner phanomenologischen und strukturpadagogischen Sichtweise des
Erziehungsgeschehens nach.
Sehen steht fur mich als Metapher fur eine von Einbildungskraft
geleitete sinnliche Anschauung. Den gesamten Bereich der sinnlichen
Anschauung (Wahrnehmung) nennen wir seit alters her AISTESIS, in
der Moderne als Asthetik ubersetzt. Das umfassende Feld der Asthe-
tik ist dabei nicht modernistisch zu verkurzen auf eine bloße Leh-
re vom Schonen. Bei den Griechen war die AISTETIKE EPISTEME
grundsatzlich die Wissenschaft der sinnlichen Wahrnehmung. Und
der philosophische Kritiker unserer postmodernen Lebenswelt, Wolf-
gang Welsch fordert meines Erachtens zu Recht, Asthetik heute wie-
der im ursprunglichen Sinne als Aisthetik zu verstehen:”als Themati-
sierung von Wahrnehmungen aller Art, sinnhaften ebenso wie geisti-
gen, alltaglichen wie sublimen, lebensweltlichen wie kunstlerischen“
(Welsch 1993, S. 9 f. und auch S. 46).
Am Anfang aller Ein-Sicht, die zu Erkenntnis fuhren kann, steht
in dem von mir angedeuteten metaphorischen Sinne also das Sehen.
Die begriffliche Fassung dessen, was ich wahrgenommen (gesehen,
gehort, gespurt) habe, richtet sich nach den Gesetzen des Denkens,
und diese sind in der Logik aufgehoben. Greife ich durch selbsttatiges
und eigenverantwortliches Handeln in ein Geschehen ein, orientiere
ich mich an der Maßgeblichkeit prinzipieller Grundsatze, die ihrer-
seits in der Ethik aufgehoben sind. Asthetik, Ethik und Logik sind
demnach seit alters her die drei theoretisch konstruierten Systeme
zur Darstellung, Beschreibung und Kritik des subjektiven vernunft-
26
geleiteten Sehens, Denkens und Handelns. (Wolfgang Welsch geht
philosophisch heute sogar soweit, das aisthetische Moment der Er-
kenntnis nicht nur auf die Wahrnehmung zu beschranken, sondern
auch durch”asthetisches Denken“ eine unangemessen verkurzende
rationalistische Logik zu uberwinden.)
3.2 Individualpadagogisches Sehen, Denken undHandeln
Mit der Formel’individualpadagogisches Sehen, Denken und Han-
deln‘ versuche ich, in meiner gesamten theoretischen wie praktischen
padagogischen Arbeit in Erziehung und Unterricht drei wesentliche
Momente (Bewegkrafte) zum Ausdruck zu bringen:
3.2.1 Erstes Moment: Die individualpadagogische Sichtweise
von Erziehung und Unterricht – Der unteilbare Mensch in
seiner Besonderheit
Um zu verhindern, dass die unvoreingenommene asthetisch-phanome-
nologische Sicht auf einen Menschen von vornherein unangemessen –
gewissermaßen formallogisch – verstellt wird, vermeide ich in Erzie-
hung und Unterricht alle Formen negativ etikettierender Begriffe. Ich
beziehe mich dazu auf einen alten Topos, von dem ich glaube, dass er
mein padagogisches Anliegen, asthetisch, logisch und ethisch prazise
trifft: Individualpadagogik. Dies ist ein Begriff, den der Kantianer Jo-
hann Christoph Greiling 1793 pragte, um deutlich zu machen, dass fur
alles praktische padagogische Handeln in Erziehung und Unterricht
eine Allgemeine Padagogik wie eine Spezielle Padagogik als Grundla-
ge verantwortlichen Erziehungs- und Unterrichtshandelns nicht aus-
reichen. Im padagogisch verantwortlichen Umgang mit dem einzelnen
und unverwechselbaren Individuum ist daruber hinaus unbedingt ei-
ne von Urteilskraft geleitete praktische Kompetenz der handelnden
Padagogen notwendig: die individualpadagogische Orientierung. In
Greilings Sprache von 1793:”Denn eben aus der Beobachtung eines
gewissen Individuums und der Anwendung der allgemeinen und spe-
ciellen Bildungsregeln auf das so oder so geeigenschaftete Subjekt,
entstehet erst die Individual Padagogik. Diese muß sich demnach ie-
der Erziehungskunstler selbst entwerfen, wozu scharfe Beobachtung,
und richtige Anwendung der allgemeinen und speciellen Gesetze und
Regeln oder praktische Urtheilskraft gehoret“ (Greiling 1793, S. 120).
27
Mit dem Titel’Individualpadagogik‘ mochte ich einen aus mei-
ner Sicht notwendigen und radikalen, als asthetisch zu kennzeichnen-
den Sichtwechsel postulieren: Im Zentrum des padagogischen Sehens,
Denkens und Handeln steht das leiblich-geistig-seelisch unteilbare
und unverwechselbare einzelne Kind mit seinen spezifischen Moglich-
keiten und subjektiven Bedurfnissen, aber auch mit seinen immer
vorhandenen Begrenzungen und Behinderungen.
Die asthetische Bedeutung des Individuellen tritt dabei in den
Vordergrund. Die padagogisch oft heimlich unterstellte Norm einer
Durchschnittsentwicklung wird ersetzt durch die Einsicht und das
Geltenlassen einer Vielfalt moglicher menschlicher Existenz- und Ge-
staltungsmoglichkeiten. Ahnlich wie im Bereich der modernen und
postmodernen Kunst, wo schon lange”eine Koexistenz des Heteroge-
nen“ (Welsch 1993, S. 69) herrscht, geht die individualpadagogische
Sichtweise radikal von der Heterogenitat der sich bildenden, zu erzie-
henden und zu unterrichtenden Individuen aus.
Das Kind als Individuum zu sehen, bedeutet allerdings nicht, wie
vielleicht missverstandlich angenommen werden konnte, im Sinne ei-
nes neuzeitlichen Individualismus’ die egoistischen Bedurfnisse des
Einzelnen gegenuber den sozialen Erfordernissen der Gemeinschaft
zu bevorzugen oder gar auf Kosten der Gruppe zu kultivieren. In-
dividuum steht vom lateinischen Ursprung her fur das Unteilbare,
fur die Ganzheit. Der unteilbare Mensch als Ganzheit in seiner Be-
sonderheit steht fur mich im Mittelpunkt des asthetischen Sehens, des
begrifflichen Denkens und des individualpadagogischen Handelns. Der
asthetisch unteilbaren Ganzheit’Kind‘, mit all seinen vorhandenen
Starken und Schwachen, Moglichkeiten und Grenzen durch Erziehung
und Unterricht zur Bildung ihrer individuellen Struktur zu verhelfen,
kennzeichnet den individualpadagogischen Auftrag der Schule.
3.2.2 Zweites Moment: Das unvoreingenommene Sehen – die
asthetische Sensibilisierung des individualpadagogischen Se-
hens
Mir geht es um die Rehabilitation eines verlorengegangenen astheti-
schen Verstandnisses von Sehen. Wie schon angedeutet, bedeutet es
eine Einengung von Asthetik, sie auf eine Lehre vom Schonen und
der Kunst zu beschranken. In Kants Transzendentalphilosophie er-
hielt die Asthetik als Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung, wie
sie in der griechischen Antike verstanden wurde, ihre erkenntnislei-
28
tende Bedeutung zuruck und wurde neben der transzendentalen Lo-
gik unverzichtbarer Teil einer transzendentalen Elementarlehre fur
die Erkenntnistheorie. Uber die reinen Formen der sinnlichen An-
schauung, Raum und Zeit, die als Prinzipien der Erkenntnis fur je-
den menschlichen Erkenntnisprozess a priori vorausgesetzt werden
mussen, sind dem Erkenntnissubjekt die Erscheinungen der Sinnlich-
keit zuganglich. Uber die Urteilskraft und den Verstand werden diese
sinnlichen Erfahrungen schließlich als Erkenntnisse in einen Begriff
gefasst. Die Bedingungen der Moglichkeit von Erkenntnis uberhaupt
liegen im Zusammenspiel von Anschauung (nach Maßgabe transzen-
dentaler Asthetik) und Begriff (nach Maßgabe transzendentaler Lo-
gik). Dies ist eigentlich eine Binsenweisheit, deren padagogische und
didaktische Bedeutung jedoch immer wieder missachtet wird, indem
besonders in Unterrichtsprozessen, quasi im Sinne eines asthetischen
Kurzschlusses, lediglich kognitiv begriffslogisch gearbeitet wird und
die Kinder daher nichts wirklich begreifen konnen.
Was heißt nun individualpadagogisches Sehen? Was ist uberhaupt
zu sehen? Zunachst heißt es einfach, den Blick frei zu bekommen fur
eine unvoreingenommene Begegnung mit dem einzelnen Kind und sei-
ner Situation. Dazu muss auf die immer vorhandenen Hindernisse fur
eine offene und unverzerrte Wahrnehmung achtgegeben werden. Die-
se Hindernisse lassen sich leider wohl nie generell ausraumen, doch
wenn sie als Moglichkeiten der asthetischen Wahrnehmungsverzer-
rung erst einmal erkannt werden, verlieren sie zumindest einen Teil
ihres negativen Einflusses. Es sind vor allem
– die Vorurteile, die eine vernunftige, von unbefangener Anschau-
ung und reflektiertem Begriff geleitete Wahrnehmung verhin-
dern,
– das fremdbestimmte Denken, das eben zu bestimmter Sicht
zwingt,
– die heimlichen Theorien, die den Blick fehllenken,
– die statisch fixierenden Begriffe, die eigene Anschauungen ver-
stellten und’blind‘ machen,
– die nur aspekthafte (selektive) Wahrnehmung, die den Blick
einengt.
29
Diese Wahrnehmungsverzerrungen lassen sich nur aufdecken und
uberwinden durch eine konsequente Blickrichtungsanderung. Die
asthetische Gestalt (das ist die leiblich-seelisch-geistige Ganzheit) des
einzelnen und unverwechselbaren Kindes ist in den Blick zu rucken.
Individualpadagogisch heißt das
– die Merkmale seiner einmaligen Erscheinung und unverwech-
selbaren Identitat zu entdecken,
– die spezifischen Lebensbedingungen in seiner sozialen Situation
zu erkennen,
– die subjektiven Ausdrucksmoglichkeiten seiner Personlichkeit zu
entschlusseln,
– und die speziellen Interaktionsformen in seinen Kontakten mit
der Mitwelt und seinen Mitmenschen kennen zu lernen.
Mit einem solchermaßen asthetisch’wachen Blick‘ und in begrifflich
skeptischer Zuruckhaltung ist dann im Dialog mit dem Kind selbst
zu klaren, in welche Richtung und mit welchen Zielen eine individu-
alpadagogische Begleitung sinnvoll moglich sein wird. Aber nur durch
eine sorgfaltige asthetische Sensibilisierung des individualpadagogi-
schen Sehens kann durch Lehrerinnen und Lehrer auf die sinnliche
Mannigfaltigkeit der sehr verschiedenen Ausdrucksformen des einzel-
nen Kindes in Erziehung und Unterricht angemessen reagiert werden.
Der leider viel zu fruh verstorbene Wurzburger Padagoge Wilhelm
Pfeffer hat in seiner phanomenologisch orientierten theoretischen
Arbeit mit leiblich, seelisch und geistig schwer behinderten Men-
schen (1988) gezeigt, wie eine asthetisch sensibilisierte und begrifflich
aufgeklarte Haltung hilft, den Dialog selbst unter derart erschwer-
ten Bedingungen aufzunehmen und dadurch wirkliche und wirksame
Entwicklungs- und Bildungsmoglichkeiten auch fur schwer behinder-
te Menschen zu schaffen; davon konnte die traditionelle norm- und
lehrgangsorientierte Schulpadagogik viel lernen.
30
3.2.3 Drittes Moment: Die dialogische Struktur des individu-
alpadagogischen Handelns – die sinnliche Mannigfaltigkeit
der verschiedenen Ausdrucksformen des einzelnen Kindes
und die unterschiedlichen menschlichen Lebensmoglichkei-
ten
Individualpadagogisches Handeln als verantwortliche Begleitung je-
des einzelnen Kindes mit dem Ziel der Bildung einer individuellen
Struktur vollzieht sich allein im Dialog. Dabei ist von zwei Pramis-
sen auszugehen:
1. Bildung ist weit mehr als intellektuelle Geistesbildung.
2. Der Dialog ist weit mehr als verbale Kommunikation.
Das in unseren Schulen bis heute vorherrschende bildungstheoretische
Verstandnis von Erziehung und Unterricht erweist sich in seiner star-
ren Orientierung am Bildungsdenken des 19. Jahrhunderts als unan-
gemessene intellektualistische Reduktion (vgl. Krawitz 1997). In dem
Maße wie der griechische LOGOS philosophisch auf die neuzeitliche
Ratio verkurzt wurde, reduzierte sich Bildung auf eine reine Geistes-
bildung. Im nur intellektuellen und rationalen und damit gewisserma-
ßen”anasthetischen“ (Welsch) Bildungsdenken bleibt so wenig oder
gar kein Platz fur Kreatives, Außergewohnliches und Abweichendes,
fur Phantastisches, Irrationales und Unbekanntes. Ein solches redu-
ziertes Bildungsverstandnis tut sich daher auch schwer, fremde kultu-
relle Einflusse gelten zu lassen, andere ungewohnte Lebensformen zu
akzeptieren, einfachere Sprachmuster zuzulassen und letztlich ganz
besonders das Bildungsverstandnis auch auf Menschen auszudehnen,
denen infolge kognitiver Beeintrachtigungen die Teilhabe eben an die-
ser traditionellen intellektualistischen Bildung versagt bleibt.
Sieht man aber Bildung – wie beispielsweise Otto Friedrich Boll-
now (1950, S. 39 f.) – als die”harmonische Formung des Menschen
durch vielseitiges Verstehen menschlicher Lebensmoglichkeiten“, so
bedeutet dies wohl doch, dass auch ganz unterschiedliche menschliche
Lebensmoglichkeiten berechtigt sind und jeweils spezifisch bildungs-
wirksam sein konnen. Und das heißt fur Kinder, dass sich Bildung
besonders wirkungsvoll in der Erprobung ihrer Moglichkeiten in kon-
kreten Lebenssituationen ereignen kann.”Der Mensch bildet sich“
und”Das Leben bildet“. Dies sind die Formeln, mit denen Hartmut
von Hentig (1996) in bewusst schlichter Form die Schule rugt, da sie
”aus Bildung Schulbildung gemacht“ hat.
31
Nimmt man Bollnows sehr allgemeine Aussage uber die Bildung
als”harmonische Formung des Menschen durch vielseitiges Verste-
hen menschlicher Lebensmoglichkeiten“ und von Hentigs reflexives
Bildungsverstandnis ernst, so erweist sich der aus dem 19. Jahrhun-
dert in unsere Schulgegenwart tradierte Bildungsbegriff mit seiner
einseitigen Fixierung auf eine reine Geistesbildung als nicht mehr
tragfahig.
Die Berucksichtigung der dialogischen Struktur der individualpa-
dagogischen Interaktion, in der die jeweils beteiligten Individuen ihre
von inneren Bildern gepragte aisthetische Weltsicht je mit ihren Mit-
teln und Moglichkeiten ausdrucken durfen, kann ein neues revidiertes
asthetisches Bildungsverstandnis ermoglichen:
Das einzelne Individuum erwirbt im Dialog mit anderen seine eige-
ne und unverwechselbare individuelle innere Gestalt, die als gebildete
Haltung asthetisch nach außen und auf andere wirken kann.
So wird auch der gebildete geistig behinderte Mensch nicht mehr
als Defizitwesen angesehen werden konnen, sondern er beeindruckt
im Dialog mit seinen Mitmenschen durch die Echtheit des Ausdrucks
der Moglichkeiten seines inneren Wesens. Der Neurologe Oliver Sacks
(1989) betont in seinen Aussagen uber geistig behinderte Menschen
immer wieder deren”Wurde“, die sich vor allem in der
”Konkretheit“
ihrer’einfaltigen‘ Ausdrucksformen zeigt. In der traditionellen ratio-
nalistisch klassifizierenden Sonderpadagogik wird dieses Phanomen
intellektuell herablassend vielerorts immer noch als”Konkretismus“
(dis)qualifiziert.
Asthetisch gebildet zu nennen ist aber nicht der kognitiv-rationa-
listisch geschulte Kopf, sondern die sinnliche Erscheinung der unteil-
baren Gestalt einer Person in ihrer Haltung als Personlichkeit.
3.2.4 Jung, schon, fit – Die konsumistische Asthetisierung
unserer Lebenswelt und die Anasthesie des Einzelnen
Bildung im asthetischen Zusammenhang von Gestalt und Haltung
zu thematisieren, konnte nun heute leicht als hoffnungslos roman-
tische padagogische Nostalgie identifiziert werden. Gestalt und Hal-
tung kennzeichnen sensible Phanomene, die sich einer rationalisti-
schen operationalen Begriffsdefinition, nach der in der szientistisch
orientierten Welt vor allem gefragt wird, entziehen.
Wir leben inzwischen weitgehend in den Verhaltnissen einer kon-
sumistisch asthetisierten Lebenswelt, in der uns die Flut der auße-
32
ren Bilder die eigene produktive Einbildungskraft und damit unse-
re inneren Bilder zuschuttet. Die aufdringlich bunte Bilderwelt von
Werbung, elektronischen und Printmedien fuhrt dabei nicht zu ei-
ner Asthetisierung unserer Wahrnehmung, sondern bewirkt genau
das Gegenteil, namlich die Anasthesie unserer Sinnlichkeit. So wie in
der medizinischen Anasthesie die Empfindlichkeit des Korpers aus-
geschaltet werden kann, besteht fur uns heute die Gefahr durch die
Bilderflut sinnlich anasthesiert zu werden. Asthetische Empfindungs-
losigkeit bis zur totalen Abstumpfung ist die Folge. Fur Wolfgang
Welsch (1993) lasst sich unsere gesamte gegenwartige (als postmodern
etikettierte) Lebenswelt in allen Bereichen durch diesen Widerspruch
zwischen Asthetik und Anasthetik generalisierend kennzeichnen.
Performance ersetzt heute Haltung und die individuelle Gestalt
wird angepasst an kollektive Modeklischees. Das Individuum in sei-
ner Einmaligkeit und Eigenart wird durch die herrschende anasthe-
tisierende Wirkung der Warenasthetik konsumistisch enteignet.
Padagogik hat hier energisch gegenzusteuern!
4. Die individualpadagogische Gestaltung
von Lernumgebungen
Zur Vorbereitung und Planung von Unterricht ist in der didaktischen
Literatur der letzten drei Jahrzehnte immer wieder viel gesagt wor-
den (vgl. z. B. Gebauer u. a. 1977, Moser 1978, Adl-Amini u. a. 1980,
Konig u. a. 1980, Meyer 1980, Peterßen 1982, Becker 1991 ff., Glockel
u. a. 1992, Hell u. a. 1993, Gonschorek / Schneider 2000). Planungs-
vorlagen und Vorbereitungsschemata wurden entwickelt und immer
wieder – vielfaltig modifiziert – vorgeschlagen, waren jedoch meist
theoretisch zu anspruchsvoll konstruiert, konnten sich dadurch kaum
durchsetzen und wurden von den Lehrerinnen und Lehrern in den
Schulen deshalb nur unter berechtigtem skeptischem Vorbehalt an-
genommen. Die Rede von der strikt auf der Grundlage einer’Feier-
tagsdidaktik‘ konzipierten Unterrichtsvorbereitung einerseits und der
lediglich auf einen’Spickzettel‘ reduzierten Vorbereitung auf der Ba-
sis einer durch die Praxis erworbenen’Alltagsdidaktik‘ andererseits
(Meyer 1980) machte bald die Runde. Und besonders heute, da auf-
grund der stark veranderten Rahmenbedingungen eine streng nach
Plan vorgenommene geschlossene Konzeption von Unterricht obsolet
33
geworden ist, sind die zahlreichen Vorschlage zu einer differenzierten
schriftlichen Unterrichtsvorbereitung umstrittener denn je.
Dennoch ist es wohl notwendig, sowohl Studentinnen und Studen-
ten wie den jungen Berufsanfangern im Referendariat – gewisserma-
ßen heuristisch – konzeptionelle Vorbereitungs- und Planungshilfen an
die Hand zu geben, mit deren Hilfe die Komplexitat und Interdepen-
denz von Intentionen, Inhalten, Methoden und Medien mit den indi-
viduellen Besonderheiten jeweiliger Lernender durch Planung in einen
sinnvollen Zusammenhang gebracht und dadurch in der realen Inter-
aktionssituation’Unterricht‘ professionell angemessen durchgefuhrt
werden kann.
Was professionell guten Unterricht ausmacht, ist didaktisch und
padagogisch allerdings bis heute nicht unstrittig.”Langweilig zu sein
ist die argste Sunde des Unterrichts“, hat schon Johann Friedrich
Herbart 1806 geklagt. Aber immer noch reimen Schulerinnen und
Schuler oft:’Wenn alles schlaft und einer spricht, so heißt das Ganze:
Unterricht‘. Ist es vielleicht der institutionalisierten Schulveranstal-
tung’Unterricht‘ eigen, langweilig und uninteressant zu sein? Her-
bart war selbst skeptisch gegenuber den padagogischen Moglichkeiten
des institutionalisierten Rituals’Unterricht‘. Fur ihn kann Unterricht
immer nur”Erganzung“ von sachlicher Erfahrung mit den Erschei-
nungen der Welt und dem praktischen Umgang mit den Mitmenschen
sein, ersetzen kann er diese nicht. In seiner beruhmten Schrift”All-
gemeine Padagogik aus dem Zwecke der Erziehung abgeleitet“ von
1806 untersucht er subtil, was institutionalisierter Unterricht vermag
und was nicht, und er beschreibt dies treffsicher in einer schonen
Metapher:”Der Unterricht spinnt einen langen, dunnen, weichen Fa-
den; den der Glockenschlag zerreißt, und wieder knupft; der in jedem
Augenblick die eigne Geistesbewegung des Lehrlings bindet, und, in-
dem er sich nach seinem Zeitmaß abwickelt, ihr Tempo verwirrt, ih-
ren Sprungen nicht folgt und ihrem Ausruhen nicht Zeit laßt“ (ebd.,
S. 167). In einem von seinem Schuler Sallwurk notierten Aphorismus
beklagt Herbart die Tendenz institutionalisierten Unterrichts zu ei-
nem didaktischen Rationalismus (vgl. dazu Krawitz 1997), der das
Individuum und seinen individuellen Lernprozess zu wenig beruck-
sichtigt:
”Dem Schulwesen liegt immer ein sehr allgemeines Bedurfnis nach
Unterricht fur viele zum Grunde. Dabei wird die Wirksamkeit der
Lehrmittel vorausgesetzt, aber nicht padagogisch mit Rucksicht auf
34
die Verschiedenheit der Individuen erwogen“ (Herbart / Sallwurk
1896, Bd. 2, S. 451).
Unterricht, der nicht institutionalisiert verkurzt und didaktisch
rationalisiert wird, kann auch als ganz individuell-subjektiver Pro-
zess des Sich-kundig-machens des einzelnen Lernenden verstanden
werden. Dazu ist Muße (ubrigens die ursprungliche Bedeutung des
lateinischen Wortes’schola‘ –
’Schule‘) notwendig, um dem besinn-
lichen Anschauen und dem besonnenen Begreifen der einzelnen Ler-
nenden zu ihrem Recht zu verhelfen. In Herbarts Metapher von 1806
heißt es demnach weiter:
”Wie anders die Anschauung! Sie legt eine breite, weite Flache auf
einmal hin; der Blick, vom ersten Staunen zuruckgekommen, teilt,
verbindet, lauft hin und wieder, verweilt, ruht, erhebt sich von neu-
em, – es kommt die Betastung, es kommen die ubrigen Sinne hinzu,
es sammeln sich die Gedanken, die Versuche beginnen, daraus ge-
hen neue Gestalten hervor und wecken neue Gedanken, – uberall ist
freies und volles Leben, uberall Genuß der dargebotenen Fulle! Die-
se Fulle, und dies Darbieten ohne Anspruch und Zwang, wie will es
der Unterricht erreichen! – (. . . ) In der That, wer mochte Erfahrung
und Umgang bei der Erziehung entbehren? Es ist, als ob man des
Tages entbehren, und sich mit Kerzenlicht begnugen sollte!“ (ebd.,
S. 168 f.).
Kann man in diesen bildschonen Satzen Herbarts von 1806 nicht
ein fruhes Votum fur einen, wie wir heute sagen wurden, erfahrungs-
offenen Unterricht erkennen, in den die Lebenswelt der Kinder und
auch der Lehrer hereingeholt wird; ein Unterricht, in dem die Betei-
ligten es wagen durfen, aus dem Elfenbeinturm traditioneller gymna-
sialer akademisch-propadeutischer Wissensvermittlung ebenso auszu-
brechen wie aus dem”Bildungskeller“ (Hiller 1989, S. 11) weniger at-
traktiver Bildungsgange unseres differenzierenden und selektierenden
Klassen-Schul-Systems. Dabei sollten allerdings die Moglichkeiten in-
stitutionalisierter Padagogik auch nicht uberschatzt werden, denn es
ist wohl niemals moglich, das wirkliche Leben im Unterricht der Schu-
le didaktisch verbindlich’abbilden‘ zu konnen.
Dialogischer Unterricht, der das Subjekt als selbsttatigen Kon-
strukteur seines Erkenntnisprozesses ernstnimmt, geht davon aus,
dass der Schuler selbst die Moglichkeit hat, seine eigenen vorlaufi-
gen Erfahrungen, die vielleicht begrifflich noch wenig strukturiert
sind, in den Unterrichtsdialog einzubringen. So entsteht ein frucht-
35
barer Wechselwirkungsprozess von Lehren und Lernen. Nicht ein ein-
seitiger monokausaler Kommunikationsablauf vom’wissenden‘ Leh-
rer zum’unwissenden‘ Schuler bestimmt den Unterricht. Der Leh-
rer gibt vielmehr seine dominante Rolle des wissenden Belehrenden
auf. Er muss dabei keineswegs seine Autoritat als der erfahrende Er-
wachsene verlieren. Das padagogische Verhaltnis wird gestaltet als
Begegnung prinzipiell gleichwertiger Personen, die jeweils ihre sub-
jektiven Erlebnisse und vorlaufigen Begriffe in einem Bildungsdialog
zusammentragen, um dadurch zu neuen erweiterten Anschauungen
und Erfahrungen zu gelangen. Die Dialogpartner suchen dabei nach
der Geltung von vernunftigen Argumenten, wobei Lehrer wie Schuler
dieselben gleichberechtigt einbringen durfen. Wird dabei Geltung ge-
funden, wird gelernt. Wer die gultigen Argumente vorbringt, ist ge-
wissermaßen der jeweilige’Lehrer‘; wer sie als gultig akzeptiert und
in seine eigene subjektive Weltsicht aufnimmt, ist’Schuler‘. So sind
die Rollen von Lehrer und Schuler im dialogischen Unterricht nicht
statisch fixiert, sondern dynamisch flexibel. Der Lehrer erfahrt die
Sichtweisen seiner Schuler, die Schuler lernen gegenseitig ihre Argu-
mente und subjektiven Erfahrungen sowie die ihres Lehrers kennen
(vgl. dazu Heitger 1963, Poppel 1992).
Anton Menke kommt in seiner systematischen Analyse zum”Ge-
genstandsverstandnis“ der dialogischen Padagogik Martin Bubers
und Romano Guardinis zu vergleichbaren Konsequenzen:
”Es kann auch geschehen, daß der Schuler in die Irre geht. Jetzt
wird der Lehrer nicht tatenlos zu-sehen. Er wird aber auch nicht den
Schuler am Gangelband fuhren; was er tun wird ist, mit dem Schuler
gemeinsam’gegenstandsgemaße‘ Argumente zu suchen und zu finden.
Er steht jetzt mit ihm in der gemeinsamen Situation, allerdings’an
beiden Enden‘ und’ein Stuck Wegs tiefer in sie hinein‘. Hat sich der
Erzieher zum’Organ‘ (Buber) des
’Gegenstandes‘ erzogen, dann laßt
er den’Gegenstand‘ selbst sprechen“ (Menke 1964, S. 94).
So gewinnt im dialogischen Unterricht der Interaktionsaspekt ne-
ben dem Sachaspekt gleichrangige Bedeutung.
Schon Kant ging als erkenntniskritischer Subjektivist in seinen
padagogisch relevanten Aussagen (in der Metaphysik der Sitten von
1797) konsequent von einem dialogischen Verstandnis von Unterricht
aus:”Denn wenn jemand der Vernunft des Anderen etwas abfragen
will, so kann es nicht anders als dialogisch, d.i. dadurch geschehen:
daß Lehrer und Schuler einander wechselseitig fragen und antwor-
36
ten“ (Kant, Akademie Textausgabe Bd. VI, S. 478). In der Sicht dieses
erkenntnistheoretisch-kritischen Subjektivismus, der die theoretische
Grundlage fur einen dialogischen Unterricht abgibt, beginnt jeder Er-
kenntnisprozess und damit jeder Lernprozess (der nichts anderes als
eine besondere Form des Erkenntnisprozesses ist) im zeitlichen Sinne
zunachst mit einem durch sinnliche Anschauung vermittelten Erleb-
nis. Fur Kant ist dies”das erste Produkt, welches unser Verstand
hervorbringt, indem er den rohen Stoff sinnlicher Empfindung be-
arbeitet“ (Kant, KrV A 1). So gesehen verhalt sich das erkennende
Subjekt im ursprunglichen Sinne empirisch-induktiv, indem es sich
von der umgebenden sinnlich wahrnehmbaren Welt’belehren‘ lasst.
Richtet man aber kritisch den Blick auf die Bedingungen dieses ver-
meintlich intuitiv-kontemplativen, phanomenologischen Prozesses des
lernenden und erkennenden Erkenntniserwerbs, wird deutlich, dass
erfahrungsbedingende bzw. erfahrungsbegrundende Prinzipien diesen
Prozess von Erfahrung und Lernen (a priori) strukturieren. Es sind
damit theoretisch-heuristisch zwei Strange oder Stamme der lernen-
den Erkenntnis anzunehmen:
– die Sinnlichkeit im Erlebnis lernbarer Zusammenhange und
Fakten
– und der Verstand als die ordnende Instanz der Begriffe, die
helfen, die diffuse Mannigfaltigkeit der Erlebnisse zu ordnen
und kommunizierbar zu machen.
Zwischen diesen beiden Stammen oszillierend, bewegt sich die intel-
lektuelle Entwicklung eines lernenden Kindes, so wie es Piaget mit
seiner Theorie des Aquilibrationsprozesses von Assimilation und Ak-
kommodation plausibel beschrieben hat.
Diese erkenntnistheoretische und damit auch lerntheoretische
Zwei-Stamme-Pramisse vom Zusammenspiel von Sinnlichkeit (An-
schauung) und Verstand (Begriffe) kann heuristisch und didaktisch
als vereinfachtes Modell fur das komplexe, noch immer dunkle und
schwer zu analysierende Erkenntnisproblem herangezogen werden,
wenn es darum geht, durch Unterricht Kindern selbsttatiges Lernen
als begreifende Erfahrung zu ermoglichen. Lernen als Erkennen ist
so nicht nur Erkennen von Seiendem (Lehr-Lernstoff im materialen
Sinne), sondern auch Erkennen von Erkenntnisstrukturen (Methode
im formalen Sinne des spezifischen Zugangs zur Realitat). Materiale
37
und formale Aspekte des Unterrichts werden so aufgehoben im kate-
gorialen Sinne (vgl. Klafki 1959), und Unterricht erhalt die Aufgabe,
– dem Schuler die Moglichkeit zu schaffen, aus der Mannigfaltig-
keit der sinnlich gegebenen Anschauung subjektiv eine sinnkon-
stituierende Zusammenschau als Synthese herzustellen
– und durch ordnende Begriffe dieser subjektiven Synthese eine
kommunizierbare Einheit zu geben.
Dieses Verstandnis von lernendem Erkennen im Unterricht in der
Wechselwirkung von Anschauung und Begriff erscheint zunachst sehr
formalistisch und abstrakt, wenn man nicht die besonderen Moglich-
keiten der vorab wirkenden erkennenden Phantasie, als Mittlerin
zwischen Anschauung und Begriff, miteinbezieht. Phantasie (Ein-
bildungskraft) liefert ein zusammengesetztes Bild, das der subjektiv
Lernende auf den Begriff bringt. Dieses Bild erst wird zum’Gegen-
stand‘ des lernenden Erkennens. Es mag zunachst sehr vage sein, holz-
schnittartig, grobgerastert und jeweils subjektiv sehr unterschiedlich
ausfallen. Im Unterricht wird es der eigentliche Inhalt des dialogi-
schen Lernens zwischen Schulern und Lehrer. Das lernende Erken-
nen im dialogischen Unterricht konnte demnach in folgender Weise
theoretisch begrifflich gefasst werden:
– Etwas Diffuses ist der subjektiven Anschauung des Lernenden /
Erkennenden gegeben und ist unter den Erkenntnisbedingungen
von Raum und Zeit zu erfassen.
– Der Lernende / Erkennende schafft aus diesem Diffusen eine
Synthese mit Hilfe seiner subjektiven Phantasie, d.h., er kon-
struiert sich das Bild eines zusammengesetzten Gegenstandes.
– Der Lernende / Erkennende wendet Begriffe an, um der von ihm
geschaffenen Einheit des im Bild gewonnenen Gegenstandes die
abschließende, aber auch immer nur vorlaufige logisch-rationale
und kommunizierbare Struktur zu geben, die das subjektive
Begreifen im Sinne der Integration in das eigene System (in
Piagets Terminologie: Schema) ermoglicht.
Fur das didaktisch-methodische Vorgehen in einem dialogischen Un-
terricht folgt daraus:
38
– Ein auf subjektive Erkenntnisse ausgerichteter Unterricht ist so
zu planen und zu organisieren, dass in erster Linie der subjek-
tive Blick fur die diffuse Vielfalt der Sinnlichkeit so geoffnet
wird, dass der individuell Lernende zu moglichst vielfaltigen
und mehrdimensionalen Synthesen der subjektiven Anschauung
gelangen kann.
– Der Lehrer hat dabei in seiner Unterrichtsplanung zu beruck-
sichtigen, dass die Struktur des Unterrichtsgegenstandes nie ob-
jektiv vorhanden ist, sondern vielmehr die jeweils eigenen sub-
jektiven Erkenntnisse den Gegenstand synthetisch konstruieren
und konstituieren. Diejenigen Erkenntnisse, von denen die Un-
terrichtsplanung des Lehrers ausgeht, lassen sich insofern nicht
einfach als Fakten vermitteln. Der jeweilige lernende Adressat
muss sie als eigene Erkenntnisse subjektiv selbst erwerben.
– Ohne subjektive Erlebnisse in der Sinnlichkeit als erste Anre-
gung des Lernenden kommt ein Erkenntnisprozess uberhaupt
nicht in Gang. Das erfordert, dass der Unterricht nicht aus-
schließlich die begrifflichen Abstraktionsleistungen des Schulers
fordert und fordert, sondern Sinnlichkeit (konkrete Erlebnisse)
als Feld der jeweils subjektiven Synthese im dialogischen Lernen
ausdrucklich zulasst.
– Erst danach macht es Sinn, vom Schuler abstrakte Verstan-
desleistungen im Sinne der Begriffsbildung zu verlangen und
’abzufragen‘.
– In einem am dialogischen Prinzip der subjektiven Erkenntnis
orientierten Unterricht kann als grundsatzliche Voraussetzung
die Bildsamkeit eines jeden Kindes angenommen werden. Dia-
logfahig ist jeder Mensch dadurch, dass er immer etwas uber sei-
ne subjektive Weltsicht ausdrucken kann, was nicht ausschließ-
lich in einer elaborierten Verbalsprache erfolgen muss, sondern
in vielfaltigen anderen Ausdrucksformen moglich ist.
Zusammenfassend ist zu sagen:
– Lernen im dialogischen Unterricht muss immer als oszillierender
Prozess zwischen Sinnlichkeit und Verstand begriffen werden.
”Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe
sind blind“ (Kant, KrV B 75, A 51).
39
– Das”Ding an sich“ ist der Erkenntnis nicht zuganglich, sondern
immer nur Erscheinungen desselben.
– Das Erkennen und damit das Lernen als Sonderform des Erken-
nens ist immer als aktives Bearbeiten sinnlicher Empfindungen
zu verstehen.
– Erkenntnis ist ein Interaktionsprozess zwischen Subjekt und Ob-
jekt.
– Wirklichkeit ist immer eine Konstruktion durch das Subjekt.
Daraus ergeben sich im Unterricht als Erkenntnis- bzw. Lernprozess
folgende notwendige didaktische Schritte:
– in der außeren Welt ist dem Erkennenden / Lernenden zunachst
eine diffuse Menge sinnlicher Wahrnehmungsmoglichkeiten ge-
geben (zunachst also ein Chaos);
– der Erkennende / Lernende schafft durch seine subjektive Ein-
bildungskraft eine Synthese (Zusammenschau);
– dadurch wird das Bild eines zusammenhangenden Gegenstandes
konstruiert;
– durch den Begriff erhalt dieses Bild eine logisch-rationale Struk-
tur.
Die traditionelle Vermittlungsdidaktik, die noch stark von der Idee
eines konsequent vom Lehrer geplanten lehrstofforientierten Unter-
richts mit vorgegebenen geschlossenen Artikulationsschemata aus-
ging, wird heute meistens nicht mehr so eng umgesetzt. Sie wird
erganzt durch eine Arrangementsdidaktik, in der der Lehrer seine di-
daktische Aufgabe eher in der Planung und Vorbereitung von Lern-
situationen und der Prozesssteuerung des Unterrichts sieht.
Die sich heute allmahlich durchsetzende Subjektorientierung der
Didaktik verlangt vom Lehrer weniger eine geschlossene, einseitig
an einer als feststehend angenommenen Struktur des Unterrichtsge-
genstandes orientierte Unterrichtsplanung, sondern das Arrangieren
von Lernsituationen, gewissermaßen die”Modellierung von Lernwel-
ten“ (Kosel 1993) bzw.”die Vermittlung einer personlich richtigen
Lernhilfe“ (Homfeldt 1996) unter Berucksichtigung der individuell-
spezifischen Dispositionen und subjektiven Lernvoraussetzungen der
einzelnen Kinder.
40
Die Einsicht, dass Lernen nicht linear durch Lehren bewirkt wer-
den kann, sondern immer aktive Tatigkeit des einzelnen Schulers ist,
erfordert eine starkere Prozessorientierung in der Planung und Ge-
staltung des Unterrichts. Die Struktur des Unterrichtsgegenstandes,
die der Lehrer in seiner didaktischen Analyse erschließt, ist Ergebnis
seiner aktiven Vorbereitungstatigkeit. Die Schulerinnen und Schuler
erschließen sich im aktiven, selbsttatigen Lernprozess des Unterrichts
jedoch eine eigene subjektive Struktur des Unterrichtsgegenstandes.
Im unterrichtlichen Dialog konnen sie dann ihre je subjektiven Ein-
sichten und Erkenntnisse miteinander austauschen, die einzelnen Er-
kenntnisaspekte auf ihre Geltung uberprufen und zu einem gemein-
samen Konsens gelangen.
Wenn der einzelne Schuler jeweils als Subjekt seines Lernens ver-
standen wird, verlangen sowohl eine nicht mehr so eng festgelegte
Vermittlungsdidaktik wie auch eine offene Arrangementsdidaktik ei-
ne professionell adaquate individualpadagogische Unterrichtsvorberei-
tung, -gestaltung und -reflexion, zu der die nachfolgenden Leitfragen
handlungsleitende Hinweise geben konnen:
41
Leitfragenzur individualpadagogischen Unterrichtsvorbereitung,
-gestaltung und -reflexion
1. Didaktische Analyse1.1 Didaktische Begrundung des Unterrichtsgegenstandes1.1.1 Zukunftsbedeutung
Welche Bedeutung kann die an diesem Unterrichtsgegenstand zu gewinnende Er-fahrung, Erkenntnis, Einsicht, Fahigkeit, Fertigkeit, Einstellung fur die Zukunftdieser Schuler haben?
1.1.2 GegenwartsbedeutungWelche Bedeutung hat der Gegenstand im gegenwartigen Leben dieser Schuler?
1.1.3 Erschließende BedeutungWelchen Sinn- oder Sachzusammenhang soll dieser Unterrichtsgegenstand exem-plarisch, genetisch oder hermeneutisch erschließen;bzw. welche Handlungskompetenz soll durch ihn vermittelt werden?
1.1.4 Lehrplanbezug / Bezug zum SchulprogrammWelche Bedeutung hat der Unterrichtsgegenstand im Lehrplan bzw. im Schul-programm?Warum wird er aufgegriffen, obwohl er nicht im Lehrplan oder Schulprogrammenthalten ist?
1.1.5 Strukturanalyse des Unterrichtsgegenstandes:Welche Struktur hat dieser Unterrichtsgegenstand aus der Sicht des vorbereiten-den Lehrers?
1.1.6 LernvoraussetzungenWelche Vorkenntnisse und Methoden sind zur Auseinandersetzung mit diesemUnterrichtsgegenstand notwendige Voraussetzungen?
1.1.7 Einstiegs- und AnknupfungsmoglichkeitenIn welchem großeren Zusammenhang steht dieser Unterrichtsgegenstand?Ergeben sich Moglichkeiten der Anknupfung an vorausgegangene Inhalte?
1.1.8 DifferenzierungErmoglicht der Unterrichtsgegenstand Zugange auf unterschiedlichem Niveau?Ist eine Zieldifferenzierung moglich?
1.2 Didaktische Begrundung der ZieleWelche Lernziele werden im Einzelnen angestrebt?Welche Lernziele sollen am Ende des Lernvorgangs uberpruft werden?
2. Individualpadagogische Analyse2.1 Sozio-kulturelle Voraussetzungen
Wodurch ist die besondere Lebenssituation der Schuler gekennzeichnet?Welche Bedeutung haben ihre spezifischen sozio-kulturellen Lebensverhaltnisse?Welches soziale Klima und welche außeren Arbeitsbedingungen resultieren daraus?Gibt es bei einzelnen Schulern besondere Lebensprobleme?
2.2 Sachstruktureller Entwicklungsstand, Methoden- und Sozialkompetenz derSchulerWelche konkreten Vorerfahrungen konnen bei den Schulern im Hinblick auf denUnterrichtsgegenstand erwartet oder vorausgesetzt werden?Welche Lernmethoden, Arbeits-, Interaktions- und Kooperationsformen sind beidiesen Schulern moglich?Mit welchen Erschwernissen, Lernproblemen oder Behinderungen ist bei einzelnenSchulern zu rechnen?
2.3 Interessen- und Motivationslage der SchulerWas ist uber die spezifische Leistungsmotivation der Schuler und die moglicheLernmotivierung zu sagen?Gibt es spezielle Interessenlagen der Schuler?Konnen besondere Beitrage einzelner Schuler zum Thema erwartet werden?
3. Methodische Strukturierung3.1 Schulerbeteiligung
Inwieweit konnen Schuler in die methodische Planung einbezogen werden?Welche Schwierigkeiten stehen im Weg?
42
3.2 Strukturierung des UnterrichtsinhaltsWelche Lernschritte ergeben sich?
3.3 Lehrformen / LernformenWelche Lehr- und Lernformen erscheinen adaquat und konnen eingesetzt werden?Wo konnten Probleme auftreten?Welche alternativen Lehr-/Lernformen stehen zur Verfugung, um darauf reagierenzu konnen?
3.4 SozialformenWelche Sozialformen sind im Blick auf den Unterrichtsgegenstand einzusetzen?Welche Sozialformen sind hinsichtlich der speziellen Kooperations- und Kommu-nikationsformen der Klasse angemessen?
3.5 MedienWelche Medien kommen zum Einsatz? Begrundung!
3.6 ErgebniskontrolleWie werden die Lernergebnisse gefestigt, registriert und uberpruft?Gibt es Moglichkeiten des Transfer?
4. Vorgesehene Verlaufsplanungeventuell nach folgendem Schema:
Phase Unterrichtsaktivitaten Sozialformen Medien AnmerkungenZeit Alternativen
5. Reflexion im und nach dem Unterricht5.1 Unterrichtsatmosphare
Haben sich die Schuler und der Lehrer wohl gefuhlt?Wodurch entstanden emotionale Spannungen?Welche Unterrichtsstorungen traten auf?
5.2 Unterrichts- und LernverlaufWar das Unterrichtskonzept nach der Thematik, den Zielen und Inhalten fur alleSchuler angemessen?Waren die Interaktions- und Kommunikationsformen angemessen?Waren Methoden, Medien und Organisation angemessen und zureichend?Welche Situationen hatten lernprozessdiagnostische Einsichten zur Folge?
5.3 Unterrichts- und LernaktivitatenWelche Moglichkeiten hatten die Schuler zu Selbsttatigkeit und Kooperation?Welche Funktion ubernahm der Lehrer?Welche Schuler oder Gruppen wurden besonders herausgefordert?Wie war das Verhaltnis von Lehrer- und Schuleraktivitat?
5.4 SozialformenEntsprachen die gewahlten Sozialformen dem Konzept des Unterrichts?Gab es einen Bruch zu den Gewohnheiten der Klasse?
5.5 DifferenzierungWelche Maßnahmen wurden als Differenzierung wirksam (Aufgabenart, Schwie-rigkeitsgrad, Medieneinsatz, Bearbeitungszeit)?Welche weiteren Differenzierungsmaßnahmen waren fur einzelne Schuler notig ge-wesen?
5.6 ErgebniskontrolleWaren die eingesetzten Maßnahmen zur Ergebniskontrolle angemessen?Haben die Schuler uber ihren Lernerfolg selbst Ruckmeldung erhalten?Was haben die Schuler eventuell im Sinne des
”Geheimen Lehrplans“ gelernt?
Wie ist das Verhaltnis von Ergebnis und Aufwand zu beurteilen?Muss die Weiterfuhrung des Unterrichts korrigiert werden?Mussen die Schuler bei einer Weiterfuhrung neu und anders interessiert werden?
43
Die vorgestellten Leitfragen zur individualpadagogischen Unter-
richtsvorbereitung, -gestaltung und -reflexion beziehen sich auf funf
– lediglich heuristisch zu trennende – Teilbereiche der komplexen Zu-
sammenhange von Vorbereitung, Durchfuhrung und Reflexion pro-
fessionell guten Unterrichts:
– die didaktische Analyse,
– die individualpadagogische Analyse,
– die methodische Strukturierung,
– die vorgesehene Verlaufsplanung,
– die Reflexion im und nach dem Unterricht.
Alle funf Teilbereiche stehen innerhalb eines lebendigen Interaktions-
feldes’Unterricht‘, in dem immer auf die besonderen situativen Be-
dingungen flexibel einzugehen ist, prinzipiell in einem untrennbaren
Zusammenhang, der nur zum Zwecke einer differenzierten professio-
nellen Unterrichtsplanung in Teilaspekte zerlegt werden kann.
4.1 Zur didaktischen Analyse
Die traditionelle, aus der geisteswissenschaftlichen Padagogik ent-
wickelte und besonders von Wolfgang Klafki vertretene bildungstheo-
retische Didaktik sah in der didaktischen Analyse den Kern der Un-
terrichtsvorbereitung. Durch eine intensive und kritische didaktische
Auseinandersetzung hat der Lehrer zu klaren, welcher Bildungsgehalt
der jeweils zu unterrichtende Unterrichtsinhalt enthalt. Analyse be-
deutet Zerlegung einer komplexen Ganzheit in ihre Einzelteile. In der
didaktischen Analyse als Teil der Unterrichtsvorbereitung wird die
Bedeutungsganzheit des Unterrichtsgegenstandes zum Zwecke einer
rationalen Unterrichtsplanung heuristisch zerlegt.
Die von Klafki dazu erstmals 1958 formulierten funf fundamenta-
len Grundfragen
– nach der Gegenwartsbedeutung,
– nach der Zukunftsbedeutung,
– nach der Sachstruktur,
– nach der exemplarischen Bedeutung
44
– und nach der Zuganglichkeit
sind bis heute unverzichtbarer Bestandteil jeder sachgerechten wie
schulergemaßen Unterrichtsvorbereitung. Aus diesem Grunde sind
Klafkis Grundfragen, die er auch in der Weiterentwicklung seiner
kritisch-konstruktiven Didaktik beibehalten hat, unter Punkt 1.1 der
hier vorgeschlagenen Leitfragen zur Unterrichtsvorbereitung (begriff-
lich teilweise modifiziert) integriert.
Es ist heute davon auszugehen, dass besonders die Frage nach der
Zukunftsbedeutung von Unterrichtsgegenstanden von großter leben-
spraktischer Relevanz fur die Schulerinnen und Schuler als spatere
Erwachsene ist, so dass dieser Aspekt hier an den Anfang der in ei-
ner didaktischen Analyse zu klarenden Probleme gestellt wurde. Es
ist dabei die Frage zu beantworten, inwiefern der vorgesehene Unter-
richtsgegenstand dazu geeignet ist,
– Erfahrungen,
– Erkenntnisse,
– Einsichten,
– Fahigkeiten,
– Fertigkeiten,
– Einstellungen
zu gewinnen, die fur die Zukunft der Schulerinnen und Schuler be-
deutsam, nutzlich oder gar unverzichtbar sind.
Gleichzeitig darf selbstverstandlich die Bedeutung des Unter-
richtsgegenstandes im’Hier und Jetzt‘ nicht ubersehen werden. Bil-
dung ereignet sich vorrangig durch eine aktive Auseinandersetzung
mit den Phanomenen der gegenwartigen Lebenswelt, mit dem Ziel
der Einsicht, des Verstehens und des verantwortlichen Handelns.
Die Frage nach der erschließenden Bedeutung eines Unterrichtsge-
genstandes wird bei Klafki unter dem Gesichtspunkt seiner”exempla-
rischen Bedeutung“ gesehen. Auf der Basis der geisteswissenschaftli-
chen Tradition Wilhelm Flitners hat dagegen Ernst Begemann nach
seinem Verstandnis von”Lernen als Eigenwelterweiterung“ (zuerst
1968, zuletzt 1996) auf den weiter gefassten Begriff der”fundamen-
talen Erschließung“ zuruckgegriffen. Exemplarische Bedeutung hat
ein Unterrichtsgegenstand, wenn an seinem Beispiel ein allgemeiner
45
Sachverhalt oder ein allgemeines Problem in seiner Bedeutung fur
andere ahnliche Sachverhalte und Probleme – eben exemplarisch –
erschlossen werden kann. Ein Unterrichtsgegenstand muss aber auch
in seinem Entstehungs- und Entwicklungszusammenhang – das heißt
in seiner genetischen Bedeutung – gesehen werden. Und schließlich ist
der Aspekt der Deutung, Auslegung, Interpretation in den Blick zu
rucken; die hermeneutische Perspektive zum Unterrichtsgegenstand.
Dass der Lehrplanbezug des geplanten Unterrichtsgegenstandes of-
fengelegt werden muss, gehort selbstverstandlich zur didaktischen In-
haltsbegrundung.
Die sogenannte”Sachanalyse“ ist begrifflich angemessener zu fas-
sen als Strukturanalyse des Unterrichtsgegenstandes – und zwar le-
diglich und vorlaufig aus der Sicht des Unterricht vorbereitenden Leh-
rers. Denn die Struktur eines Gegenstandes steht nicht fest (als Ding
an sich), sondern erschließt sich immer erst als Erscheinung (Phano-
men) in der subjektiven Sicht des jeweiligen Erkenntnissubjekts. So
werden die einzelnen Schulerinnen und Schuler im Prozess des Un-
terrichts und der aktiven, moglichst selbsttatigen Auseinandersetzung
mit dem Unterrichtsgegenstand dessen Struktur fur sich zu allererst
selbst erschließen mussen. Dies entbindet den Lehrer allerdings nicht
von der Verpflichtung einer sorgfaltigen Strukturanalyse aus seiner
Erkenntnisperspektive, um gegebenenfalls jedem einzelnen Schuler
die notwendige”personlich richtige Lernhilfe“ (Homfeldt 1996, S. 188)
bereitstellen zu konnen.
Im Rahmen der didaktischen Analyse ist weiterhin zu klaren,
welche allgemeinen Lernvoraussetzungen im Sinne von notwendigen
Kenntnissen und Methodenkompetenzen erforderlich sind, damit die
Schuler sich uberhaupt mit dem Unterrichtsgegenstand auseinander-
setzen konnen. Diese vorbereitenden Uberlegungen wiederum stehen
in engem Zusammenhang mit der Frage nach sinnvollen Einstiegs-
und Anknupfungsmoglichkeiten. Denn sinnvolles Lernen ist immer
sowohl”fortschreitendes Lernen“ als auch
”Zuruckkommen auf schon
Gelerntes“, wie Heinrich Rombach in seinen phanomenologischen Re-
flexionen uber die Anthropologie des Lernens eindrucksvoll darlegt
(Rombach 1969; Krawitz 1997, S. 152ff.). Es ist demnach (zunachst
allgemein und noch nicht auf die spezifischen Lernmoglichkeiten und -
probleme der einzelnen Schuler bezogen) zu klaren, in welchem große-
ren Zusammenhang der vorgesehene Unterrichtsgegenstand steht und
46
welche Vorerfahrungen zum Verstandnis und zur Aneignung unver-
zichtbar sind.
Die Frage nach den Moglichkeiten der Differenzierung, die der
Unterrichtsgegenstand bietet, bekommt im Rahmen der individu-
alpadagogischen Analyse, in der auf die individuellen Lernvorausset-
zungen und Besonderheiten der einzelnen Schuler eingegangen wird,
noch besondere Bedeutung. Im Rahmen der didaktischen Analyse ist
jedoch schon vorab zu fragen, ob der Unterrichtsgegenstand uber-
haupt Zugange auf unterschiedlichen Niveaus zulasst und ob eine
Differenzierung der Lernziele fur einzelne Schuler moglich ist.
Die didaktische Begrundung der angestrebten Lernziele und de-
ren mogliche Uberprufung am Ende des Lernvorgangs beschließen die
didaktische Analyse.
4.2 Zur individualpadagogischen Analyse
Der individualpadagogische Teil der Unterrichtsvorbereitung stellt
die einzelnen Schuler als selbsttatig mit Kopf, Herz und Hand (Pesta-
lozzi) lernende In-dividuen in den Mittelpunkt der padagogischen
Uberlegungen zu einer differenzierten Unterrichtsvorbereitung, -ge-
staltung und -reflexion (zur individualpadagogischen Sichtweise vgl.
Krawitz 1997). Das In-dividuum ist das unteilbare Leib-Seele-Geist-
Wesen, das sich als Erkenntnissubjekt seinen individuell-spezifischen
Zugang zur außeren Welt der vielfaltigen Erscheinungen schafft. Ne-
ben die didaktische Analyse, die sich im wesentlichen mit der Struktur
des Unterrichtsgegenstandes und dessen Bedeutung beschaftigt, tritt
jetzt eine differenzierte individualpadagogische Analyse, in der die
einzelnen Schulerinnen und Schuler, deren sozio-kulturelle Lebenssi-
tuation, ihr jeweiliger sachstruktureller Entwicklungsstand sowie ihre
spezifische Interessen- und Motivationslage bedacht, analysiert und
zur didaktischen Analyse in Beziehung gesetzt werden mussen.
Da die Lernprobleme der Schuler sehr oft durch ihre Lebenspro-
bleme verursacht sind, muss eine individualpadagogisch orientierte
Unterrichtsvorbereitung die besondere Lebenssituation der einzelnen
Schuler mit ihren sozio-kulturellen Besonderheiten in den Blick ruk-
ken und die unterrichtlichen Maßnahmen, soweit es moglich ist, dar-
auf einstellen.”Die Lebensprobleme der heute heranwachsenden Kin-
der sind soviel großer als ihre Lernprobleme, sie schieben sich gebiete-
risch vor diese oder fallen ihnen in den Rucken, daß die Schule, wenn
sie uberhaupt belehren will, es mit den Lebensproblemen aufnehmen
47
muß: sie muß zu ihrem Teil Leben ermoglichen“ (von Hentig 1976,
Einband und 1987, S. 15).
Das soziale Klima und die spezifischen Arbeitsbedingungen in
einer Klasse wiederum resultieren zum Teil aus diesen besonderen
sozio-kulturellen Lebensverhaltnissen, in denen die Schuler aufwach-
sen. Sie beeinflussen die organisatorischen Rahmenbedingungen, in-
nerhalb derer Unterricht erfolgreich verlaufen oder aber hoffnungslos
scheitern kann.
Bei unterrichtsvorbereitenden Uberlegungen zum sachstrukturel-
len Entwicklungsstand der Schuler sind besonders deren vorhande-
ne Vorerfahrungen und subjektiven Vorverstandnisse (vgl. dazu Girg
1994) zu berucksichtigen. Sie lassen sich allerdings oft erst im Prozess
des Unterrichts selbst erschließen, so daß an dieser Stelle die Grenzen
der Moglichkeiten einer alle Einflussfaktoren antizipierenden Unter-
richtsplanung deutlich werden. Insofern ist es notwendig, innerhalb
der methodischen Planung und der Verlaufsplanung des Unterrichts
Phasen vorzusehen, in denen der weitere methodische und inhaltliche
Fortgang gemeinsam mit den Schulern erschlossen und geplant wird.
Im Zusammenhang mit der Analyse des jeweiligen sachstrukturel-
len Entwicklungsstandes der einzelnen Schuler ist auch die Frage der
Erschwernisse, der Lernprobleme oder Behinderungen bei einzelnen
Schulern nachzugehen.
Die spezifische Interessen- und Motivationslage der Schuler zu
berucksichtigen verhindert, dass die Kinder in der Schule immer nur
Antworten auf Fragen bekommen, die sie gar nicht gestellt haben.
Denn”methodisch richtig lehren konnen heißt nicht, Lernende auf
dem schnellsten Weg zum richtigen Wissen zu fuhren, sondern Sach-
verhalte so darzustellen, aufzugreifen und einzufuhren, daß sie frag-
lich und fragwurdig werden, und dann, ausgehend von den Fragen der
Lernenden, die Antworten zu entwickeln und zu erarbeiten“ (Benner
1989, S. 52).
4.3 Zur vorgesehenen methodischen Strukturierungund Verlaufsplanung
Was unter dem Begriff’Unterrichtsmethoden‘ zu verstehen ist, da-
ruber konnte sich bis heute keine einheitliche Auffassung durchsetzen.
Dies hangt mit der Komplexitat von Unterricht zusammen. So werden
in Veroffentlichungen zur Unterrichtsmethode sehr unterschiedliche
48
Schwerpunkte gesetzt. Auch wenn es keine eindeutige Begriffsklarung
gibt, lassen sich doch wesentliche methodische Aspekte erkennen, die
das Unterrichtsgeschehen bestimmen. Diese stehen in einer Interde-
pendenz zueinander. Es sind die Unterrichtsschritte oder Phasen, die
Lehr- und Lernverfahren, die Sozialformen und schließlich die Medi-
en.
Obwohl eine konsequente gestufte, in Form eines Artikulations-
schemas aufgebaute Verlaufsplanung von Unterrichtsprozessen immer
wieder versucht wurde (vgl. z. B. die Zusammenstellung von Vogel
1973 oder Keck 1983), ist es besonders bei der Vorbereitung offener,
beweglicher bzw. schulerorientierter Unterrichtsvorhaben schwierig,
einen gestuften Ablauf des Unterrichts verbindlich vorzuschreiben
oder aber auch nur den moglichen Verlauf zu antizipieren. Glockel
unterscheidet daher idealtypisch zwolf”methodische Grundstruktu-
ren (Typen der Artikulation, Stufenkonzepte)“ und sagt ausdruck-
lich:”Es durfen nicht zu wenige solcher Grundstrukturen sein, weil
sie sonst zu allgemein und’abgehoben‘ sind, aber auch nicht zu viele,
damit man sie noch handhaben kann“ (Glockel 1992, S. 172).
Glockel versteht seine Zusammenstellung methodischer Grund-
strukturen von Unterricht als”offene Liste, die Erganzung und Varia-
tion erlaubt und mit inneren Uberschneidungen rechnet“ (S. 172). Sie
eignet sich gerade fur noch unerfahrene Anfanger (Studenten oder Re-
ferendare) als außerordentlich praktikable Hilfe bei der Planung und
Vorbereitung von Unterricht. Als ein Beispiel fur eine angemessene
Stufung von Unterrichtsprozessen in der vorbereitenden und planen-
den Antizipation sei hier der Vorschlag Glockels fur die”Bewalti-
gung komplexer Handlungsprobleme, Vorhaben, Projekte“ exempla-
risch vorgestellt:
Bewaltigung komplexer Handlungsprobleme, Vorhaben, Projekte
(nach Glockel):
– Begegnung mit einem praktischen Problem, einer zu losenden
Aufgabe
– Zielsetzung in freier Entscheidung
– Sichtung der Aufgabe, Planung und Verteilung der Arbeit, Be-
reitstellung der Mittel
– Ausfuhrung in Teilschritten, Auseinandersetzung mit unvorher-
gesehenen Problemen, wenn notig Anderung des Plans, Gewin-
49
nung notwendiger Informationen und Fertigkeiten, dabei Pha-
sen der Arbeitsteilung und Arbeitseinigung, Fassung von Zwi-
schenergebnissen
– Fassung des Ergebnisses, Prufung, Fixierung, Auswertung,
Ruckblick auf den Arbeitsweg, Selbstkritik
– Einordnung in den großeren Zusammenhang, Ausblick auf wei-
tere Aufgaben
Bei naherer Betrachtung lasst sich in ausdifferenzierten Stufungsmo-
dellen fur nahezu alle Lernhandlungen ein Dreischritt erkennen:
– Vorbereitung,
– Erarbeitung,
– Ergebnissicherung / Anwendung
Zumindest dieses Grundmodell des Lernens sollte der Lehrer auch bei
den Formen offenen Unterrichts im Blick haben, damit diese moder-
nen Unterrichtskonzeptionen nicht strukturlos bleiben.
Lehrhandlungen des Lehrers und Lernhandlungen der Schuler
sind im Unterricht wechselseitig aufeinander bezogen. Sie werden im
Lernprozess durch Ziele und Inhalte, aber auch durch die jeweili-
gen Lernvoraussetzungen und Vorerfahrungen bei den Schulern be-
stimmt. Der angestrebte Lernprozess ist vom vorbereitenden Lehrer
immer unter diesen Aspekten vorausschauend zu uberdenken, wobei
er im Sinne eines individualpadagogischen Handelns die Lernbiogra-
phien der einzelnen Schuler mit ihren subjektiven Bedurfnissen im
Blick haben muss.
Bei den Lehr- und Lernhandlungen wird es sich je nach dem Ak-
tivitatsanteil des Lehrers und der Schuler um unterschiedliche For-
men handeln: Es konnen Formen der Darbietung sein, Formen der
Erarbeitung durch unterschiedliche Gesprachsformen, und schließlich
kann es sich um weitgehend selbstandige, vom Schuler selbstgesteuer-
te und sogar selbstorganisierte Lernverfahren handeln. Fur den Fall,
dass Probleme und Schwierigkeiten den Lernprozess behindern, sollte
der Lehrer moglichst alternative Moglichkeiten bereit haben.
Unmittelbar mit den Lehr- und Lernverfahren stehen die Sozial-
formen in einer engen Beziehung, ja sogar in einer gewissen Abhangig-
keit; denn die Lehr- und Lernverfahren bestimmen im Lernprozess
50
doch sehr eindeutig auch die sozialen Beziehungen der Schuler un-
tereinander sowie diejenigen zum Lehrer. So kommt es einmal zur
Gruppenarbeit, ein anderes Mal zur Partnerarbeit oder zum Unter-
richt im Plenum.
Die Auseinandersetzung mit den Medien bei der Vorbereitung
von Unterricht ist ein umfangreiches Feld, das oft fur den Lehrer
unuberschaubar geworden ist. Medien lassen sich in sehr unterschied-
lichen Funktionen nutzen. Der Lehrer muss auf der Basis der ihm zur
Verfugung stehenden Medien eine begrundete Auswahl treffen und
sich uber ihre Funktionen im Lernprozess im Klaren sein.
4.5 Zur Reflexion im und nach dem Unterricht
Das Konzept eines schulerzentrierten, individualisierenden, differen-
zierenden, selbsttatiges Lernen fordernden Unterrichts erfordert und
ermoglicht eine professionelle Lernbegleitung mit einer Lernprozess-
diagnostik, in der die Beobachtung von individuellen Lernprozessen
und die kritische Reflexion des Unterrichtsverlaufs besondere Bedeu-
tung gewinnen. Lehrerinnen und Lehrer, die nicht mehr allein im
streng lehrgangsorientierten Unterricht versuchen, Lernprozesse zen-
tral zu steuern, sondern differenzierend individuelle Lernangebote ma-
chen und selbstgesteuertes Lernen zulassen, gewinnen im Unterrichts-
verlauf Freiraum fur lernprozessdiagnostische Aufgaben.
Auch im Sinne einer kontinuierlich weiterfuhrenden Unterrichts-
vorbereitung, die Erfahrungen aus vorhergehenden Unterrichts- und
Lernprozessen aufgreift und fur die weitere Planung berucksichtigt,
kommt der Reflexion von Unterrichtsablaufen einschließlich ihrer Sto-
rungen eine zentrale Bedeutung zu. Insofern konnen die unter Punkt 5
vorgeschlagenen Leitfragen als Strukturierungshilfe fur die eigene Un-
terrichtsbeobachtung und -reflexion verstanden werden. Sie werden
daher nachfolgend kurz erlautert.
Von ganz wesentlicher Bedeutung fur ein erfolgreiches Lernen ist
die Lern- und Unterrichtsatmosphare, die jeweils von vielfaltigen Ein-
flussen bestimmt wird. Die subjektive Befindlichkeit von Schulerinnen
und Schulern wie ihrer Lehrerin oder ihres Lehrers wirkt sich immer
auf die soziale Stimmung in der Klasse aus und kann sogar die At-
mosphare der ganzen Schule positiv wie negativ beeinflussen. Es ist
daher padagogisch außerst wichtig, die jeweilige Stimmung von Un-
terrichtssituationen wahrzunehmen und zu versuchen, die Ursachen
51
fur Missstimmungen zu ergrunden, um daraus Konsequenzen abzu-
leiten und Maßnahmen fur eine Verbesserung bzw. Umstimmung zu
finden. In diesem Zusammenhang sind auch die auftretenden Unter-
richtsstorungen zu analysieren. In aller Regel handelt es sich dabei in
den meisten Fallen um Storungen, die nur auf dem Hintergrund des
Gesamtkontextes und -verlaufs’Unterricht‘ gedeutet werden konnen.
’Fur sich allein‘ stort ein einzelner Schuler selten. Er
’stort‘ vielmehr
innerhalb eines ganz spezifischen Interaktionsgeschehens. Gestort ist
so nicht der einzelne Schuler, sondern der Interaktionsprozess. In-
sofern ist es fur die Reflexion des Lehrers hilfreich, sowohl schon
wahrend des Unterrichtsverlaufs wie auch nach dem Unterricht mogli-
che Storvariablen zu erkennen und darauf durch Veranderung des
didaktischen Arrangements oder methodische Variationen zu reagie-
ren, um die Lern- und Unterrichtssituation bereits situativ reagie-
rend zu verbessern oder aber fur kunftige Weiterfuhrungen alterna-
tive Moglichkeiten zu finden.
Im engen Zusammenhang mit diesen verschiedenen zu beachten-
den Aspekten der’Unterrichtsstimmung‘ stehen die Fragen nach der
Angemessenheit des jeweiligen Unterrichtskonzeptes, der Thematik,
der Ziele, der Inhalte in Bezug auf die besondere Situation der Schule-
rinnen und Schuler. Aus der von didaktischer Skepsis gegenuber dem
eigenen Handeln geleiteten (selbst-)kritischen Analyse
– der beobachteten Wirkungen des eigenen Unterrichtskonzepts,
– der Effektivitat der darin realisierten methodischen Moglichkei-
ten
– und der Beurteilung der Angemessenheit der Lerninhalte und
-ziele
ergeben sich konstruktive Konsequenzen fur die Weiterfuhrung des
Unterrichts unter Berucksichtigung einer stetigen Modifikation und
Verbesserung und des favorisierten eigenen Unterrichtskonzepts und
-managements.
Die sorgfaltige Beobachtung der verschiedenen Schuleraktivitaten
gibt dem Lehrer Kriterien an die Hand, die er in konstruktiver Kritik
an die Schuler mit dem Ziel der Verbesserung individuellen Lern-
verhaltens weitergeben kann. Durch eingeschobene Phasen der Un-
terrichtskritik zwischen Schulern und Lehrer, dem sogenannten Me-
taunterricht, lernen Schuler wie Lehrer den selbstkritischen Umgang
52
mit ihren eigenen Lehr- und Lernmethoden und konnen so gemein-
sam fur eine stetige Verbesserung des Unterrichtskonzeptes, der Un-
terrichtsmethoden sowie der verschiedenen Sozial-, Interaktions- und
Kommunikationsformen sorgen.
Die stets wiederkehrende kritische Ruckfrage nach den Maßnah-
men der Differenzierung ist in einem subjektorientierten Unterricht
unverzichtbar. Aus jedem Unterrichtsverlauf, in dem den Schulern
Phasen des selbsttatigen Lernens zugemutet und dadurch subjektive
Zugangsweisen zugelassen werden, konnen Konsequenzen fur noch
weitergehendere Differenzierungsmaßnahmen abgeleitet werden. Je
intensiver ein Lehrer als’Lernbegleiter‘ Schuler in ihrem spezifischen
Lernverhalten beobachtet und dadurch kennengelernt hat, desto mehr
Moglichkeiten findet er, ihnen besondere Lernhilfen, -medien, -metho-
den anzubieten bzw. auch die Lerninhalte auf die jeweils besonderen
Lernvoraussetzungen und Vorerfahrungen abzustimmen.
Schließlich ist in einer kritisch reflektierenden Analyse des Unter-
richtsverlaufs die Frage nach der Ergebniskontrolle und den daraus
resultierenden weiterfuhrenden Konsequenzen bedeutsam. Und hier-
bei darf auch die in mancher Hinsicht durchaus berechtigte okono-
mische Frage nach dem Verhaltnis von Aufwand und Ergebnis ge-
stellt und selbstkritisch beantwortet werden. Außerdem ist dabei das
Nachdenken daruber angebracht, was die Schulerinnen und Schuler
im Unterricht eventuell an padagogisch kontraproduktiven Inhalten
oder Verhaltensweisen im Sinne des sogenannten”Heimlichen Lehr-
plans“ (’hidden curriculum‘) gelernt haben. Hoffentlich nicht: Unter-
richt ist halt – wie immer – langweilig und uninteressant, und wir
haben wieder einmal nur fur die Schule gelernt.
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