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1 Die Grammatik der Groß- und Kleinschreibung im Deutschen: Fragen an den Experten Ein Interview mit Zvi Penner Die Groß- und Kleinschreibung ist für das Deutsche charakteristisch und wirft oft Fragen nach dem „Warum?“ (warum muss man das groß schreiben?), dem „Wo?“ (wo muss man groß schreiben?) oder dem „Wie?“ (wie kann man das lernen?) auf. Für viele Schüler stellt genau dieses Thema ein großes Problem dar, da die Groß- und Kleinschreibung von einer „Vielzahl von Ausnahmeregelungen durchsetzt“ erscheint und somit über keine unmittelbar einsichtige Systematik verfügt. Aus diesem Grund wird sie von vielen als „unlernbar“ und „lästig“ empfunden. Die „Regellosigkeit“ der Groß- und Kleinschreibung ist jedoch nur scheinbar. Ebenso wie in anderen Bereichen der Orthographie stellt die Sprache auch hier einen geeigneten Mechanismus zur Verfügung, der eine einfache und systematische Regelführung der Groß- und Kleinschreibung erkennen lässt. Welcher Mechanismus uns das Geheimnis hinter der Groß- und Kleinschreibung entdecken lässt, erfahren wir im Gespräch mit Dr. Zvi Penner. Hören wir aber zunächst einmal 5 Standpunkte, die die eigentliche Problematik erläutern: Standpunkt 1: B. ist 15 Jahre alt. B. sucht seit mehreren Wochen eine Lehrstelle. Er will Maschinenschlosser werden. Er sitzt gerade an seinem Schreibtisch und schreibt einen Bewerbungsbrief. Wie geht es ihm dabei? Sorgen macht ihm die Rechtschreibung. Er darf keinen Fehler machen. Viele Orthographiefehler würden seine Chancen, eine Lehrstelle zu finden, schmälern. Es ist vor allem die Groß- und Kleinschreibung, die B. verunsichert. Der Unterricht in der Schule war für ihn so verwirrend ... eine Liste

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Die Grammatik der Groß- und Kleinschreibung im Deutschen: Fragen an den Experten

Ein Interview mit Zvi Penner Die Groß- und Kleinschreibung ist für das Deutsche charakteristisch und wirft oft Fragen nach dem „Warum?“ (warum muss man das groß schreiben?), dem „Wo?“ (wo muss man groß schreiben?) oder dem „Wie?“ (wie kann man das lernen?) auf. Für viele Schüler stellt genau dieses Thema ein großes Problem dar, da die Groß- und Kleinschreibung von einer „Vielzahl von Ausnahmeregelungen durchsetzt“ erscheint und somit über keine unmittelbar einsichtige Systematik verfügt. Aus diesem Grund wird sie von vielen als „unlernbar“ und „lästig“ empfunden. Die „Regellosigkeit“ der Groß- und Kleinschreibung ist jedoch nur scheinbar. Ebenso wie in anderen Bereichen der Orthographie stellt die Sprache auch hier einen geeigneten Mechanismus zur Verfügung, der eine einfache und systematische Regelführung der Groß- und Kleinschreibung erkennen lässt. Welcher Mechanismus uns das Geheimnis hinter der Groß- und Kleinschreibung entdecken lässt, erfahren wir im Gespräch mit Dr. Zvi Penner. Hören wir aber zunächst einmal 5 Standpunkte, die die eigentliche Problematik erläutern: Standpunkt 1: B. ist 15 Jahre alt. B. sucht seit mehreren Wochen eine

Lehrstelle. Er will Maschinenschlosser werden. Er sitzt gerade an seinem Schreibtisch und schreibt einen Bewerbungsbrief. Wie geht es ihm dabei? Sorgen macht ihm die Rechtschreibung. Er darf keinen Fehler machen. Viele Orthographiefehler würden seine Chancen, eine Lehrstelle zu finden, schmälern. Es ist vor allem die Groß- und Kleinschreibung, die B. verunsichert. Der Unterricht in der Schule war für ihn so verwirrend ... eine Liste

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von unverständlichen Ausnahmen, die man niemals behalten kann ... hätten wir doch alles einfach klein geschrieben ...

Alles eine Liste unlernbarer Ausnahmereglungen?

Standpunkt 2: G., 32 Jahre alt ist Grundschullehrerin in einer Großstadt in

Norddeutschland. Sie ist frustriert. Tagein tagaus merkt sie, wie die vielen Fehler der Groß- und Kleinschreibung die Leistungen der Schüler nach unten drücken. Sie beobachtet auch, wie die Schüler daran scheitern, den roten Faden in den vielen Einzelbestimmungen der Groß- und Kleinschreibung zu finden ... Dabei fehlt ihr ein geeignetes Lehrmittel, um diese Misere zu beseitigen .... Auch während ihrer Ausbildung wurde dieses Thema nur unzureichend gelehrt ...

Keine geeigneten Lehrmittel?

Standpunkt 3: H. ist Sprachwissenschaftlerin an einer traditionsreichen

Universität und hat das Leseverständnis bei Grundschüler jahrelang untersucht. Auch H. ist frustriert. Aus ihrer Forschungsarbeit weiß sie, dass die Groß- und Kleinschreibung im Deutschen keine chaotische, willkürliche Liste von Bestimmungen/Konventionen, sondern eine hochgradig regelgeleitete Form der Verschriftlichung ... Darüber hinaus ist die Groß- und Kleinschreibung für die Kinder auch ein sehr nützliches Instrument des Leseverständnisses ... Was H. schon seit Jahren beschäftigt ist: warum gelangen diese Erkenntnisse nicht bis zur Praxis?

Wichtig für das Leseverständnis?

Standpunkt 4: K. ist 6 Jahre alt. Ein neugieriger Junge, der sich auf das Lesen-

und Schreibenlernen sehr freut. K.s Bereitschaft, neues zu lernen, ist erstaunlich groß ... Es muss für ihn nur Sinn machen. Für K. macht alles Sinn, was er mit seinen Wissens- und Lernressourcen und mit Regellernen vereinbaren kann. Ist das auch der Fall in der Groß- und Kleinschreibung?

Rechtschreibung = Regellernen?

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Standpunkt 5: P. ist Spracherwerbsforscherin und K.s Mutter. Was hält sie von der Groß- und Kleinschreibung? Sie weiß genau: Die Groß- und Kleinschreibung ist wichtig für ihren Sohn, damit er in der Schule bei Diktaten gute Noten schreibt. Sie fragt sich jedoch, ob die Lernressourcen ihres Sohnes in der Schuldidaktik ausreichend gefördert werden? Sie glaubt an eine ausreichend entwickelte Schreibkompetenz ihres Sohnes, doch wird sie genügen, um das Problem der Groß- und Kleinschreibung zu bewältigen? ...

Die Meinungen zur Groß- und Kleinschreibung gehen also stark auseinander. Wer hat eigentlich Recht? Gibt es eine „allgemeine Wahrheit“ oder hat jeder Standpunkt etwas auf sich? Um mehr darüber zu wissen, haben wir Zvi Penner, Spracherwerbsforscher, interviewt, der sich mit der Frage nach dem Zusammenhang zwischen sprachlichem Wissen bei Kindern und der Rechtschreibung intensiv auseinandergesetzt. Seine Antworten werfen neues Licht auf das Thema „Groß- und Kleinschreibung“.

1. Frage: Beginnen wir ganz tief unten. Sehr oft wird im Zusammenhang mit der Rechtschreibung der Begriff der „Schreibkompetenz“ verwendet. Was bedeutet eigentlich dieser Fachbegriff?

Antwort: „Kompetenz“ bedeutet in der Lerntheorie die Fähigkeit, Regeln zu erkennen und korrekt anzuwenden. Der Begriff „Schreibkompetenz“ bedeutet, unbekannte Wörter und Texte im Sinne der zugrunde liegenden Regeln korrekt zu schreiben, und zwar weitgehend unabhängig davon, ob das Kind die Wörter und Sätze kennt, also: unabhängig von der Erfahrung.

Hier ist ein einfaches Beispiel. Wir erfinden einen Satz mit „Quatsch-Wörtern“:

Dank der Regeln, die wir im Kopf haben, können wir problemlos korrekt schreiben. Dies betrifft einerseits die Groß- und Kleinschreibung und andererseits orthographische Regeln wie die Dehnung oder Dopplung:

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Heute [Großschreibung am Satzanfang] Magend [Großschreibung] befneit Peter [Großschreibung von Eigennamen] die Muhme [Großschreibung und Dehnung] seines Fasers [Großschreibung nach Pronomen], um worgen die Marre [Großschreibung und Dopplung] zu reparieren.

2. Frage: Welches Niveau der Groß- und Kleinschreibung soll im Sinne des Begriffs „Schreibkompetenz“ erreicht werden?

Antwort: Eigentlich können wir in kurzer Zeit sehr weit kommen. Wir erwarten, dass ein Kind, das die Regel der Groß- und Kleinschreibung entdeckt hat, sehr schnell erkennen kann, dass wir „heute Abend“ und „am Abend“ groß schreiben, wobei „abends“ klein geschrieben wird. Dies gilt auch für „morgens“ (klein) versus „meines Erachtens“ (groß). Solche Lernleistungen sind durchaus denkbar, wenn das Kind das richtige Werkzeug und die richtige Verbindung zu seinem vorschulischen Wissen erhält.

3. Frage: Was leistet eigentlich die Groß- und Kleinschreibung? Inwiefern hängt sie mit der Grammatik zusammen?

Antwort: Aus der Sicht des Kindes betrachtet, ist die Groß- und Kleinschreibung eine geniale Erfindung. Sie zeigt uns Lesern mit einfachen graphemischen Mitteln, nämlich mit dem Wechsel von Groß- und Kleinbuchstaben, wie ein Satz inhaltlich und syntaktisch strukturiert ist. Die Groß- und Kleinschreibung ist in dem Sinne die Verschriftlichung der Satzstruktur, wobei diese Verschriftlichung im Grunde genommen die Linearisierung einer zweidimensionalen Struktur ist.

4. Frage: Können Sie ein konkretes Beispiel dafür geben?

Antwort: Die Struktur von Sätzen erinnert ein wenig an chemische Strukturen. Der Kern eines Satzes ist das Verb einer Handlung. Das Verb „bindet“ Satzglieder, die bezeichnen, wer was macht. So bezeichnet das Verb „verkaufen“ eine Handlung des Besitzerwechsels. Dementsprechend bindet das Verb drei Satzglieder: der alte Besitzer, der neue Besitzer und die Ware. So entsteht ein deutscher Satz wie „der Bäcker hat meiner Oma teures Mehl verkauft“. Diese Satzglieder werden durch die Großschreibung markiert. Somit erfüllt die Großschreibung eine sehr wichtige Funktion im Leseverständnis: Sie zerlegt den Satz in „inhaltliche Blöcke“ und hilft dem Kind, sofort zu entdecken, welche Handlung hinter dem Satz steckt, d.h. die Großschreibung ist für uns ein sehr nütliches „Tool“, um die Welt hinter dem geschriebenen Text zu entdecken.

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5. Frage: Können wir die Funktion der Großschreibung mit etwas aus unserem Alltag vergleichen?

Antwort: Vielleicht mit einer Straße in der Stadt. Hier bekommt jedes Haus ein Nummerschild. Mit Hilfe dieser Nummerschilder können wir uns auch in einer unbekannten Stadt besser orientieren und bestimmte Adressen finden. Die Großschreibung ist gewissermaßen das Gegenstück zu den Hausnummern.

6. Frage: Gibt es eine Regel, oder besser gesagt ein einziges Prinzip, das die Groß- und Kleinschreibung steuert?

Antwort: Ja. Fachsprachlich ist hier die Rede von der „Majuskelschreibungs-regel“ (kurz: MSR). Mit dem Begriff „Majuskel“ (Latein. maiusculus → etwas größer) bezeichnet man in der Typografie die regelgeleitete Verwendung des Großbuchstaben des Alphabets. Die MSR besagt, dass jedes Satzglied ein Mal (und nur ein Mal) graphemisch über einen Großbuchstaben am Wortanfang markiert werden muss. Hier wird der Vergleich zu den Hausnummern noch deutlicher.

7. Frage: Was zählt nun als Satzglied?

Antwort: Als Satzglieder für die MSR zählen zunächst die vom Verb gebundenen Subjekte und Objekte sowie die Ergänzungen von Präpositionen („vor dem Haus“, „mit der reichen Tante“ etc.). Zunächst bekommen die so definierten Satzglieder die „Hausnummern“ in Form von Großbuchstaben. Deshalb schreiben wir zum Beispiel „Peter hat mit Mehl einen Kuchen gebacken“. .

8. Frage: Wie entstehen aber die sogenannten „Besonderheiten“ der Großschreibung?

Antwort: Gewisse Ausdrücke wie beispielsweise „heute Abend“ stehen den echten Satzgleidern sehr nahe. Dies hat damit zu tun, dass hier ein bestimmter Abend gemeint ist. Wenn dasselbe Wort nur als allgemeine Beschreibung wie in „er isst immer abends warm“ verwendet wird, wird die Regel nicht angewandt.

9. Frage: Ist das alles?

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Antwort: Nicht ganz. Satzglieder erscheinen nicht immer in vollständiger Form. Hier ist ein einfaches Beispiel. Betrachten wir mal das „Vollkorn-Satzglied“ „diese zwei dicken Könige“ aus dem Satz „ich haben gestern diese zwei dicken Könige gesehen“. Als gleichwertige Varianten dieses Satzgliedes verwenden wir gelegentlich auch die Kurzformen davon, nämlich „die zwei Dicken“ oder sogar „die Zwei“.

Wir fragen uns nun: Wie funktioniert nun die MSR? Stellen Sie sich einen Gabelstapler vor, der seine Last möglichst schnell abladen soll. Auch unsere Regel scheint so zu funktionieren. Sie ist mit einem Großbuchstaben beladen, den sie möglichst schnell „abstoßen“ will. Wie geschieht das? Zunächst erkennt die Regel das Satzglied. Dann „rollt“ sie von rechts nach links und versucht so schnell wie möglich den Großbuchstaben bei einem Wort „abzuladen“. Steht in der Langform ganz rechts ein Nomen wie in „diese zwei dicken Könige“, so bekommt dieses die Großschreibung. Steht in der Kurzform das Adjektiv im rechten Rand so wie in „diese zwei Dicken“, so bekommt das Adjektiv die Großschreibung. Steht in der noch kürzeren Form das Zahlwort ganz rechts so wie in „diese Zwei“, so bekommt das Zahlwort die Großschreibung. Das ist ein ganz einfacher Mechanismus, der an und für sich mit „Wortarten“ nichts zu tun hat.

10. Frage: Das klingt zwar plastisch, jedoch sehr akademisch. Haben Kinder überhaupt Zugang zu solchen „Regeln“ und „Strukturen“?

Antwort: Akademisch klingt nur unsere technische Formulierung. Im Grund genommen haben die Kinder den Begriff der Satzglieder mit der Haupt- und Nebensatzstruktur schon sehr sehr früh erworben. Dies geschieht bis zum Alter von 2½. Danach wird die genaue Grammatik der Satzglieder etabliert. Dies bedeutet, dass die Kinder, das für die korrekte Anwendung der Großschreibung notwendige Wissen in den Anfangsunterricht mitbringen. Anders gesagt: die Hauptlernressource steht den Kindern praktisch vor der Einschulung zur Verfügung. Die Schule müsste den Kindern vermitteln, dass dieses Wissen mit Hilfe von Großbuchstaben markiert wird.

11. Frage: Weiß die Schule das alles?

Antwort: Es sieht leider nicht so aus. In der Schule ist es eher eine „Kampfsituation“ mit der Großschreibung als „Erzfeind“. Einerseits wird oft

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versäumt, den Kindern zu vermitteln, wie hilfreich und nützlich die Großschreibung sei. Andererseits erhalten die Kinder für die Großschreibung „rezeptähnliche“ Anweisungen, die ihnen jedoch eher „unnatürlich“ erscheinen, da sie kein Prinzip erkennen lassen, das mit ihrem Wissen und den vorhandenen Ressourcen vereinbar ist.

12. Frage: Wozu führt diese „Kampfsituation“?

Antwort: Da die Kinder nur wenig Logik hinter den schulischen Rezepten der Großschreibung sehen, fangen sie sehr oft an, ihre eigenen Regeln zu „basteln“. Hier ist ein interessantes Beispiel dafür: Der achtjährige M. hat vor einigen Tagen sein drittes Schuljahr begonnen. Wir haben mit ihm ein „Quatschdiktat“ mit sinnlosen Wörtern, jedoch klar erkennbaren grammatikalischen Strukturen gemacht. Welche Regel hat M. nun im Kopf. Sehen Sie sich den folgenden Text an:

Von seiner Lehrerin hat M. die folgende Anweisung bekommen: „Jedes Nomen wird groß geschrieben. Ein Nomen ist das, was einen Artikel davor hat“. M. kann diese Regel auswendig und hat sie in einem Gespräch mit uns mehrmals wortwörtlich zitiert. Wendet es diese Regel aber wirklich an? Offensichtlich nicht, denn die Fälle „die großen“, „die kleinen“, „ein mendelgramm“ und „das fahren“ lässt er vollkommen unberücksichtigt, obwohl sie einen Artikel davor haben. Auch

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andere Nomen schreibt er klein. Unser Schüler hat anscheinend eine eigene Sytematik entwickelt, die da lautet: „Suche dir den Satzteil mit der Präposition und gib dem Element, das am rechten Rand davon steht, einen Großbuchstaben“. Diese Systematik zeigen die Fälle „mit Wandeln“ (kein Artikel!), „am Nachmittag (kein separater Artikel!), „auf den Superrand“, „für die Pizza“ und „mit dem Gus“. Diese Systematik ist bis auf einen Fall („*auf seinem weg“) konsequent durchgezogen. Hier sieht man ganz klar, dass die schulische Anweisung, das Nomen als Wortart unbegründeterweise groß zu schreiben, bei M. nicht wirklich ankommt. Stattdessen sucht er unbewusst in seinem eigenen Wissen eine natürlichere Lösung. Spracherwerbsforscher würden in diesem Fall die Meinung vertreten, dass er eine „Untermenge“ (subset) der Zielregel korrekt erfasst hat und deshalb gute Chancen hat, die Prinzipien der Groß- und Kleinschreibung selbst zu entdecken.

13. Frage: Wie sieht es dann in der Schule aus? Mit welchen Kindern haben die Lehrkräfte zu tun?

Antwort: Aus der Sicht der Lehrkräfte sollen hier zwei Aspekte berücksichtigt werden. Einerseits haben wir Kinder, die - wie im Fall von M. – den eigenen Weg zur Zielregel der Groß- und Kleinschreibung Schritt für Schritt selber suchen. Dabei benutzen sie unbewusst, jedoch erfolgreich ihre gesunde Intuition. Die Grundlage dieser gesunden Intuition ist sicherlich die gut entwickelte Grammatik, die sie in den Anfangsunterricht mitbringen.

Andererseits haben die Lehrkräfte mit Kindern zu tun, deren sprachliches Wissen bei der Einschulung völlig ungenügend ist. Dabei geht es in erster Linie um Kinder mit Spracherwerbsstörungen und Migrantenkinder. Diese zwei Untergruppen tragen ein erhöhtes Risiko und laufen Gefahr, mit der Groß- und Kleinschreibung in eine Sackgasse zu geraten. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die grammatikalische Grundlage der MSR fehlt!

14. Frage: Wie sollten wir auf diese Sachlage reagieren?

Antwort: Auf jeden Fall differenziert. Unsere Antwort hat auch hier zwei Seiten. Bei der Nicht-Risikogruppe ist es wichtig, die bereits existierenden Lernressourcen und das vorhandene Wissen der Satzstruktur bei den Kindern geschickt und optimal auszunutzen. Man sollte den Kindern keine „Rezepte“ aufzwingen, die mit den Prinzipien ihres Spracherwerbs nicht übereinstimmen, sondern eine direkte Verbindung zum grammatikalischen Wissen herstellen. Die Groß- und Kleinschreibung ist ein schönes Beispiel dafür, wie man es leicht tun kann, indem die Satzgrammatik als Basis benutzt wird.

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Bei den Risikokindern, deren sprachliches Wissen mangelhaft ist, müssen wir anders vorgehen. Bie diesen Kindern fehlen die grammatikalischen Lernressourcen der Groß- und Kleinschreibung und müssen daher zunächst etabliert werden. Dies bedeutet, dass vor der eigentlichen Vermittlung der Groß- und Kleinschreibung im Unterricht sichergestellt werden muss, dass die Kinder die Satzstruktur und die Grammatik der Satzglieder lückenlos beherrschen. Ohhe diese Grundkompetenz wäre die Vermittlung der Groß- und Kleinschreibung im Unterricht lerntheoretisch betrachtet nicht kindergerecht.

15. Frage: Bedeutet dies „Therapie“ in der Schule?

Antwort: Na ja, nur nicht dramatisieren. Der Begriff »Therapie« im modernen Sinne entstand im 18. Jahrhundert aus dem altgriechischen »therapeía« (Dienst, Pflege) und wird in der Regel in einem klinischen Zusammenhang verwendet. Die Kinder, von denen wir hier sprechen, sind ja nicht „krank“. Sie sind jedoch auf gezielte Fördermaßnahmen und –programme angewiesen, die sich im Regelunterricht problemlos einsetzen lassen. Ein solches Programm ist das Kon-Lab-Programm, das unter www.kon-lab.com und in zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen erläutert wird.

Wie kann man die wichtigsten Punkte dieses Interviews zusammenfassen? • Die Groß- und Kleinschreibung ist die typographische Abbildung der Satzstruktur.

Sie unterliegt einer einzigen Regel, die durch die Grammatik der Satzglieder gesteuert wird.

• Die Groß- und Kleinschreibung trägt positiv zum Leseverständnis bei • Die grammatikalische Grundlage der Groß- und Kleinschreibung gehört zu den

wichtigsten Lernressourcen, die die Kinder bei der Einschulung mitbringen. • Der Unterricht soll dieses Wissen optimal aktivieren und den Kindern keine

„Rezepte“ vermitteln, die ihrer Spracherwerbslogik widersprechen. • Schüler mit sprachlichen Defiziten sollen vor Beginn der Vermittlung der Groß-

und Kleinschreibung das grammatikalische Wissen zur Satzstruktur etablieren können.

Anmerkung der Interviewerin: Zur Zeit wird ein neues Programm für die Groß- und Kleinschreibung entwickelt und erprobt, das den im Interview besprochenen Grundprinzien systematisch Rechnung trägt. Das neue Programm soll Anfang 2009 erscheinen. Wollen Sie mehr wissen? Bitte kontaktieren Sie: Sandra Lenz: [email protected]

Interview: Cornelia Dietz