Die heilende Dimension des Glaubens · auch die Sozialwissenschaft Heilung zu ihrem Aufgabengebiet...

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1 Die heilende Dimension des Glaubens Antworten auf eine wachsende Sehnsucht Difäm Studienheft Nr. 5

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Die heilende Dimensiondes GlaubensAntworten auf eine wachsende Sehnsucht

Difäm Studienheft Nr. 5

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Impressum

“Die heilende Dimension des Glaubens”Studienheft Nr. 5Mai 2007

Herausgeber:Difäm - Gesundheit in der Einen WeltPaul-Lechler-Str. 2472076 Tübingen

Tel.: 07071/ 206-512Fax: 07071/ 206-510E-Mail: [email protected]

Spendenkonto:Ev. Kreditgenossenschaft eG Stuttgart406 660 (BLZ 600 606 06)

Titelbild: © Vie de Jesus Mafa, Versailles, FrankreichTous droits réservés, Vie de Jesus Mafa, 24 rue du Maréchal Joffre, F-78000 Versailles, www.jesusmafa.com

Redaktion: Dr. Beate Jakob, Dr. Ramona Gresch-Bruder, Salomo Strauß

Layout und Satzherstellung: Petra Kriegeskorte

©2007 Verlag Difäm, TübingenGesamtherstellung: TC Druck Tübingen und Difäm

ISBN-13: 978-3-9811722-0-1

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Inhalt

VorwortDr. Rainward Bastian

Auf der Suche nach Heilung und GesundheitAnnäherungen und DefinitionsversucheDr. Beate Jakob

„Dein Glaube hat dir geholfen”Trägt der Glaube zu Gesundheit und Heilung bei?Dr. Beate Jakob

Heilungssehnsucht in der säkularen GesellschaftLernchancen im Dialog mit der britischen Heilungsbe-wegungDr. Dietrich Werner

Der Heilungsdienst der KircheAuszug aus: A Time to HealChurch of England, übersetzt von Dr. Dietrich Werner

Kirche als heilende GemeinschaftDie christliche Gemeinde und ihr Heilungsauftrag heuteDr. Beate Jakob

Der Heilungsauftrag der KircheAuszug aus: The Healing Mission of the ChurchÖkumenischer Rat der Kirchen (ÖRK), übersetzt vom ÖRK-Sprachendienst

Christliche Identität, alternative Heilungsansätze und moderne EsoterikGrundsätze zur Orientierung für Kirche und GemeindeUlrich Laepple, Dr. Harald Lamprecht, Dr. Reinhard Hempelmann, Dr. Dietrich Werner,

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VorwortDer boomende „Wellness-Bereich“, Gesundheitsmessen und die Ver-heißung „ganzheitlicher“ Heilung durch Angebote aus dem Bereich der Esoterik entsprechen der Sehnsucht nach Gesundheit und Heilung in den westlichen Gesellschaften zu Beginn des dritten Jahrtausends.

Welche Antworten haben die christlichen Kirchen und Gemeinden in die-ser Situation? Wollen und können sie die Suche der Menschen unserer Zeit aufnehmen? Die protestantischen Kirchen zögerten im letzten Jahrhundert lange, sich den Themen Gesundheit und Heilung anzunehmen, und verwiesen auf die – wichtige – Unterscheidung von Heil und Heilung. Seit einigen Jahren jedoch lässt sich eine neue und wachsende Bereitschaft beobachten, der heilenden Dimension des Glaubens in der Liturgie und im Leben der Ge-meinden Raum zu geben.

Diese Entwicklung ist mit der Suche nach einem biblisch fundierten christ-lichen Verständnis von Gesundheit und Heilung und dem Heilungsauftrag der Gemeinde verbunden. Hierzu möchte dieses Difäm-Studienheft beitragen. Die Beiträge wurden – im Wesentlichen – verfasst von Difäm-Referentin Beate Jakob und von Dietrich Werner, der Studienleiter im Christian-Jensen-Kolleg des Nordelbischen Missionszentrums in Breklum ist. Dadurch findet die jahrzehntelange enge Verbundenheit beider Insti-tute einen sichtbaren Ausdruck. Autorin und Autor bringen die Einsich-ten der ökumenischen Diskussion um Gesundheit und Heilung und ihre eigenen Erfahrungen aus der weltweiten Kirche ein und machen sie für die Diskussion in Deutschland fruchtbar.

In den Beiträgen von Beate Jakob – „Auf der Suche nach Heilung und Gesundheit“, „Dein Glaube hat dir geholfen“ und „Kirche als heilende Gemeinschaft“ – werden Sie, liebe Leserinnen und Leser, mit hinein ge-nommen in die Fragen: Wie können wir als Christinnen und Christen Gesundheit definieren und den Zusammenhang von Glaube und Hei-lung verstehen und welche Herausforderungen ergeben sich daraus für die christlichen Gemeinden?

In „Heilungssehnsucht in der säkularen Gesellschaft“ beschreibt Diet-rich Werner die heutigen Suchbewegungen und einen Prozess der Begeg-

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nung zwischen der lutherischen und der anglikanischen Kirche, den er in Breklum begründete.

Die Anglikanische Kirche und die außereuropäischen Kirchen sind uns in der Aufnahme der Heilungsthematik ein Stück voraus. Deshalb ist es uns wichtig, Dokumente aus diesen Kirchen für Deutschland zugänglich zu machen. Dietrich Werner übersetzt in seinem Beitrag „Gesichtspunkte und Gestaltungskriterien für einen Heilungsdienst der Kirche“ ein wich-tiges Kapitel aus dem Dokument „A Time to Heal“ der Anglikanischen Kirche. Mit „Der Heilungsauftrag der Kirche“ nehmen wir ein Vorberei-tungsdokument des Weltrats der Kirchen für die Weltmissionskonferenz in Athen (Mai 2005) in der deutschen Übersetzung auf. Dieses Dokument wurde von einer internationalen Kommission erarbeitet, der Beate Jakob und Dietrich Werner angehörten.

Bei der Öffnung der Kirchen und Gemeinden für das Heilungsthema stoßen wir immer wieder an Grenzfragen und Fragen der Abgrenzung ge-genüber den Angeboten aus dem Bereich der Esoterik. Diese werden in „Christliche Identität, alternative Heilungsansätze und moderne Esoterik. Grundsätze zur Orientierung für Kirche und Gemeinde“ – einem Grund-satzpapier der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, an dem Dietrich Werner mitgearbeitet hat – aufgenommen und zu beant-worten gesucht.

Unsere Aufsatzsammlung möchte Sie einführen in die heilende Dimension des Glaubens und Sie zur eigenen Auseinandersetzung mit diesem Thema anregen.

Ihr Rainward BastianDirektor des Difäm

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Auf der Suche nach Heilung und GesundheitAnnäherungen und Definitionsversuche

Beate Jakob

„Heilung“ ist ein Begriff, der die Sehnsucht Vieler in unserer Zeit bün-delt. Die Heilungsversprechen von Menschen und Institutionen stoßen auf reges Interesse. Ganz unterschiedliche heilende Maßnahmen werden oft teuer bezahlt, aber: Was ist eigentlich Heilung? Und, damit in Zusam-menhang, wie können wir das Ziel der Heilung, Gesundheit, definieren?

Heilung zu erreichen, ist erstes Ziel all derer, die im medizinischen Bereich tätig sind. Um Heilung geht es aber auch den Theologinnen und Theolo-gen und die Rede von der „Heilung gestörter Beziehungen“ zeigt, dass auch die Sozialwissenschaft Heilung zu ihrem Aufgabengebiet zählt.Beim Begriff „Gesundheit“ denken wir in erster Linie an das körperliche oder seelische Wohlbefinden und bei Störungen der Gesundheit suchen wir Heilung durch die Möglichkeiten der Medizin und der Psychologie bzw. Psychotherapie. Die folgenden Ausführungen sind ein Versuch, auf verschiedenen Wegen dem Wesen von Heilung und Gesundheit auf die Spur zu kommen.

In wessen Kompetenz liegen Heilung und Gesundheit? Eine historische AnnäherungWährend Psychologie und Soziologie „Kinder der Neuzeit“ sind, galten Theologie und Medizin lange als die „klassischen“ heilenden Disziplinen. In der Antike waren Heilung und Religion untrennbar verbunden und der, der heilte, war der Priesterarzt. Es galt die Überzeugung: Gesundheit und Krankheit des Körpers sowie jede Heilung sind von Gott gegeben, also im-mer religiöser Natur. Dementsprechend war die Behandlung, die Kranken zuteil wurde, religiös geprägt und vermittelt. Mit Hippokrates im vierten Jahrhundert vor Christus begann die natur-wissenschaftliche Betrachtung der Krankheiten. Er war einer der ersten, die den natürlichen Ursprung der Krankheiten lehrten. Nach seiner Lehre waren Krankheiten nicht durch die Götter, sondern durch konkrete „in-

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nerweltliche“ Ursachen wie Klima und falsche Lebensführung der Men-schen verursacht.Zur Zeit Jesu war die Einheit von Heilung und Religion eigentlich schon aufgebrochen und im Laufe der Jahrhunderte gewann die abendländische Medizin zunehmend an Wissen und Möglichkeiten. Die Medizin wurde immer mehr unabhängig von den anderen Disziplinen, insbesondere von der Theologie. Die Theologie ihrerseits gab den Bereich „Heilung“, der nach dem Zeugnis der Evangelien bei Jesus einen sehr hohen Stellenwert gehabt hatte, immer mehr an die naturwissenschaftlich orientierte Medi-zin ab. Dies heißt aber nicht, dass die Medizin und die Ärzte ein hohes gesell-schaftliches Ansehen genossen hätten. Im 16. Jahrhundert riet der Schrift-steller Montaigne: „Wenn du krank wirst, hole keinen Arzt, sonst hast du zwei Krankheiten.“ Und es war in der Tat so, dass die Ärzte vielen Krankheiten recht hilflos gegenüber standen und die Heilmethoden oft rein spekulativ waren.Noch im 18. Jahrhundert formulierte Voltaire den Spott, mit dem viele über Ärzte redeten: „Oh, diese Ärzte! Sie geben Stoffe, die sie nicht ken-nen, in Körper, die sie nicht verstehen.“Das Vertrauen zur ärztlichen Kunst erstarkte erst in der Mitte des 19. Jah-rhunderts. Der naturwissenschaftlich orientierten Medizin gelang der ei-gentliche Durchbruch, als Biologie, Physik und Chemie sich als eigene Wissenschaften etablierten und revolutionäre Kenntnisse über den men-schlichen Körper und über die Ursachenzusammenhänge in Bezug auf Ge-sundheit und Krankheit zutage brachten.Diese Entwicklung leistete der Medizingläubigkeit vieler Menschen enor-men Vorschub. Das Phänomen Gesundheit geriet immer mehr in die Ge-staltungshoheit der naturwissenschaftlich orientierten Medizin.

Ohne diese Entwicklung unserer Medizin hin zur „Hochleistungsmedizin“ in irgendeiner Weise schmälern oder gar als nicht segensreich darstellen zu wollen, nenne ich einige Punkte, die nachdenklich machen: - Trotz der gewaltigen Fortschritte der Medizin ist – auch in den wirtschaftlich reichen Ländern – das Leiden eigentlich nicht weniger ge-worden. Wir haben zunehmend Menschen, die an medizinisch nicht heil-baren chronischen Krankheiten leiden.- Unser hoch technisiertes westliches Gesundheitssystem ist fast unbezahl-bar geworden und hat oft ein unmenschliches Gesicht. - Der Zugang zu den medizinischen Möglichkeiten steht nur einem Teil der Menschheit zur Verfügung. Etwa ein Drittel der Menschen in unserer

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Einen Welt hat immer noch nicht die Möglichkeit, adäquate Gesundheits-versorgung zu erhalten.Wir sehen: Die Engführung von „Heilung“ im Sinne der Inanspruch-nahme der Möglichkeiten der modernen Medizin ist eine Entwicklung der vergangenen zwei Jahrhunderte und ist ein auf unsere westlichen reichen Länder beschränktes, sehr teures und in Zukunft so nicht mehr finanzier-bares Phänomen.

Die sprachlichen Wurzeln der Begriffe Gesundheit und HeilungWichtige Hinweise für den Bedeutungsgehalt von Heilung und Gesund-heit bekommen wir, wenn wir nach den Wurzeln der Begriffe suchen, wenn wir ihnen sprachlich „auf den Grund gehen“.Im Deutschen bedeutet „heilen“ ursprünglich: etwas, das zerstört ist, zer-brochen ist, wieder „ganz“, „heil“ zu machen. Bis zum Mittelalter war der Ausdruck „heilen“ immer religiös geprägt und umfasste die Bedeutung von „retten“, „erlösen“. Die Etymologie des deutschen „gesund“ weist auf körperliche Eigen-schaften hin: Der Begriff kommt vom althochdeutschen „geschwind“ und bedeutet soviel wie „stark sein“.Das englische Wort für „heilen“, „heal“, und das Wort „Gesundheit“, „health“, das Wort „ganz“, „whole”, und „heilig“, „holy“, gehen alle auf die gleiche angelsächsische Wurzel „hal“ zurück, die soviel bedeutet wie „ganz“. Im Englischen ist es also eindeutig: Bei „Gesundheit“, „Heilung“ und auch bei „Heiligkeit“ geht es um den Aspekt von „Ganzheit“ und die Wiederherstellung von „Ganzheit“. Heilung und Gesundheit haben sprachlich eine religiöse Dimension.Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die Herkunft des Wortes „Medizin“, das auf das lateinische „medicina“ zurückgeht. Auf „medicina“ gehen das englische „remedy“, „Arznei“, aber auch die Beg-riffe „meditate“, „meditieren“, und „measure“, „Maß“, zurück. Und die ursprüngliche Bedeutung ist: „durchdachtes Handeln, um eine Ordnung wieder herzustellen“.

Der Mensch als vieldimensionale EinheitWenn wir sagen, einen Menschen zu heilen, habe damit zu tun, ihn „ganz“ oder „heil“ zu machen, dann stellt sich die Frage: Wann ist ein Mensch „ganz“? Oder noch allgemeiner gefragt: Was macht den Menschen zum Menschen, was gehört unabdingbar zum Menschen dazu? Denn: Jedem

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Begriff, jeder Vorstellung von Heilung, liegt ein bestimmtes Menschenbild zugrunde.Ich denke, kaum jemand wird heute noch der Meinung sein, ein Mensch sei gleichzusetzen mit seinem Körper. Niemand mehr bestreitet die Wich-tigkeit der seelischen Dimension und die vielfachen Wechselwirkungen zwischen Körper und Seele, denen die psychosomatische Medizin nach-geht. Wenn es um Störungen in diesen Bereichen geht, sind Medizin und Psychologie bzw. Psychotherapie die heilenden Disziplinen.Als bedeutend für das Menschsein ist auch die soziale Dimension anerkannt: Menschen sind auf die Beziehung zu ihren Mitmenschen angewiesen und in ein soziales Gefüge eingebunden. Für die Wiederherstellung gestörter sozialer Beziehungen werden Erkenntnisse der Soziologie herangezogen.Darüber hinaus gehört zum Menschen auch die geistige Dimension – sie macht das Menschsein geradezu aus. In der geistigen Dimension sind zum Beispiel Phänomene wie das Selbstbewusstsein, die Liebe oder das Gewis-sen und die Beziehung zu Gott, die Religiosität, lokalisiert. Wenn es um die Beziehung zu Gott geht, reden wir auch von der spirituellen Dimen-sion. Heilende Disziplinen in diesem Bereich sind:- die Philosophie, wenn es zum Beispiel darum geht, den Sinn des Lebens zu bedenken und zu finden,- die Psychiatrie, wenn die Persönlichkeit eines Menschen fundamental gestört ist,- die Theologie, wenn die Beziehung zu Gott thematisiert wird.

Für unser Verständnis von Gesundheit und Heilung ist in diesem Zusam-menhang wichtig: - Wenn wir von Heilung und Gesundheit reden, dann müssen wir im-mer den ganzen Menschen im Blick haben. Menschen, die über einen gestählten Körper verfügen und vor körperlicher Gesundheit „strotzen“, aber keine Beziehung zu ihren Mitmenschen haben, können wir eigentlich nicht als gesund bezeichnen. Sind Menschen, die über eine hervorragende körperliche Gesundheit verfügen, aber nicht um den Sinn ihres Lebens wissen, nicht in einer ganz wesentlichen Hinsicht krank? Und ist jemand, der sich seiner Umwelt verschließt und sich nur um sich selbst dreht, nicht auch krank? Und – andererseits – können wir Menschen mit chronischen Krankheiten, die gelernt haben, mit dieser Erkrankung zu leben, ihrem Leben, so wie es ist, Sinn und Inhalt zu geben, und oftmals ein Segen für ihre Umwelt sind, nicht eigentlich als gesund bezeichnen?

- Und das Zweite: Die einzelnen Dimensionen des Lebens stehen in viel-

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facher Wechselwirkung miteinander. So drückt sich eine Störung im sozi-alen Bereich oft in körperlichen Symptomen aus. Und umgekehrt wirken auch alle heilenden Maßnahmen immer auf den ganzen Menschen. Ein Beispiel dazu: Ein Patient liegt mit einer Lungenentzündung im Kran-kenhaus. Er wird medizinisch optimal betreut, ist aber sehr bedrückt und die Heilung macht keine so richtigen Fortschritte. Erst nachdem er Be-such bekommen hat von einem Menschen, mit dem er in Streit gelebt hatte und es zu einer Versöhnung gekommen ist, kommt der Heilungspro- zess in Gang. Oder – ein Phänomen, das immer wieder zu beobachten ist –: Wenn es körperlich Kranken möglich ist, frei zu werden von etwas, das ihnen „schwer auf der Seele“ liegt, wenn sie Frieden mit sich und mit Gott schließen können, dann sieht man geradezu, wie da heilende Kräfte, Kraftquellen, im Menschen frei werden, die die medizinischen Maßnah-men erst richtig zur Wirkung kommen lassen. Man kann hier von einem „inneren Arzt“ reden, der entscheidend zur Heilung beiträgt.

GesundheitsdefinitionenVor dem Hintergrund der bisher dargelegten Annäherungen möchte ich jetzt versuchen, dem Begriff „Heilung“ durch die Diskussion verschie-dener Definitionen von Gesundheit näher zu kommen. Heilung zielt auf Gesundheit. Und wenn wir das Ziel der Heilung kennen, erschließt sich uns der Inhalt von „Heilung“.

Aus der Fülle der Definitionen, die es gibt, werden einige wenige heraus-gegriffen. Und wir werden sehen: Alle Definitionen von Gesundheit spie-geln jeweils ein bestimmtes Menschenbild wider und beinhalten auch Aus-sagen zu der Frage, welche Werte uns leiten und was der Sinn des Lebens ist.- Auf wenige Dimensionen des Menschen beschränkte Definition von Ge-sundheit:„Gesundheit ist das subjektive Fehlen körperlicher und seelischer Stö- rungen bzw. die Nichtnachweisbarkeit entsprechender krankhafter Verän-derungen“ (Roche Lexikon Medizin).- Definitionen von Gesundheit, die mehrere Dimensionen des Menschen im Blick haben:„Gesundheit ist der Zustand eines vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen“ (Weltgesundheitsorganisation WHO 1948).„Gesundheit ist eine dynamische Seinsart des Individuums und der Ge-

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sellschaft, ein Zustand des körperlichen, seelischen, geistigen, wirtschaftli-chen, politischen und sozialen Wohlbefindens, der Harmonie mit den anderen, mit der materiellen Umwelt und mit Gott“ (Christian Medical Commission CMC des Weltrats der Kirchen 1989).

Die erste Definition sieht am Menschen nur den Körper und die Seele und begreift Gesundheit als das Funktionieren des Körpers bzw. der Seele. Gesundheit wird gesehen als die Abwesenheit von Störungen im „Apparat“ des Körpers bzw. der Seele. Die zwei anderen Definitionen gehen von einer mehrdimensionalen Sicht des Menschen aus und versuchen, ein „Mehr“ von Gesundheit aufzuzei-gen.

Die WHO-Definition von Gesundheit wird viel zitiert und meist scharf kritisiert: Diese Definition sei utopisch – wer ist nach dieser Definition überhaupt gesund? – und es handle sich eigentlich eher um eine Definition von Glück als von Gesundheit. Kritisiert wird auch der Ausdruck „Wohl-befinden“, der nahe legt, dass es nur um eine subjektive Befindlichkeit geht. Darüber hinaus wird immer wieder gesagt, diese Definition leiste einem Anspruchsdenken Vorschub: Einzelne werde geradezu angeregt, alle Möglichkeiten zum Erreichen des umfassenden Wohlbefindens einzu-fordern.Diese Vorwürfe sind verständlich und auch berechtigt. Dennoch möchte ich versuchen, der WHO-Definition etwas Positives abzuringen:Diese Definition zeigt deutlich das „Mehr“ von Gesundheit auf. Und sie wurde in erster Linie im Hinblick auf die schwierigen Lebensverhältnisse der Menschen in den wirtschaftlich armen Ländern erarbeitet. Sie soll dazu dienen, der Gesundheitspolitik weitgehende Ziele zum Wohl benach-teiligter Menschen zu setzen. Staaten und Gesellschaften sollen angespornt werden, sich mit verschiedenen Kräften für die Gesundheit ihrer Bürger-innen und Bürger einzusetzen. So ist das Hauptanliegen dieser Defini-tion, deutlich zu machen, dass Heilung eben mehr ist als das, was das me- dizinische System bietet.

Auf die Definition der CMC treffen die gegen die WHO-Definition geri-chteten Vorwürfe zunächst einmal auch zu, denn der Katalog der Kriterien wurde ja noch größer. Bei genauerem Hinsehen gibt es aber entscheidende Unterschiede:- Gesundheit wird als „dynamische Seinsart“ begriffen. Niemand ist zu einem bestimmten Zeitpunkt ganz gesund oder ganz krank, sondern wir

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befinden uns immer in einem Zustand von mehr oder weniger gesund und krank. Jede/-r von uns hat zu jedem Zeitpunkt gesunde und kranke Anteile.- Gesundheit wird nicht ausschließlich individuell gefasst, sondern auch auf die Gesellschaft und die Stellung des Individuums in der Gemeinschaft bezogen. Es geht bei Heilung nicht nur darum, dass es Einzelnen gut geht, sondern auch das Wohl der Gemeinschaft muss berücksichtigt werden.- Die geistige bzw. spirituelle Dimension von Gesundheit wird berück-sichtigt. Der Begriff der Harmonie ist aufgenommen und weist auf die Wichtigkeit intakter Beziehungen hin. Für ein christliches Verständnis von Gesundheit ist die Beziehung zu Gott ein wesentlicher Faktor.

Gesundheitsdefinitionen als Aussagen über Werte und über den Sinn des Lebens:„Gesundheit ist Arbeits- und Genussfähigkeit“ (Sigmund Freud).„Gesundheit ist die Kraft zum Menschsein“ (Karl Barth).„Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen, sondern die Kraft, mit ihnen zu leben“ (Christoffer Grundmann).„Gesundheit ist die Kraft zur Verwirklichung der dem Menschen aufgege-benen Lebensbestimmung“ (Ulrich Eibach).„Gesundheit ist die Fähigkeit des Patienten, sein Leiden und Gebrechen in sein Leben sinnvoll hinein zu nehmen, mit Geduld und Toleranz“ (Wolf-gang Furch).

Hier wird besonders deutlich: Jede Aussage über Gesundheit, Krankheit und Heilung beinhaltet eine Aussage über die als gültig angesehenen Werte. Während die Definition von Sigmund Freud Gesundheit auf die Werte „Arbeit“, „Leistung“ und „Genuss“ beschränkt, sehen die nachfol-genden Definitionen Gesundheit darin, den Sinn des Lebens unter ganz unterschiedlichen Bedingungen zu verwirklichen. Dies beinhaltet die Überzeugung, dass der Sinn des Lebens auch dann nicht verloren geht und ein Mensch auch dann „gesund“ sein kann, wenn er nichts mehr leistet, ja wenn er leidet.

Wie können wir nun „Heilung“ definieren, wenn wir von einem erweiter-ten Verständnis von Gesundheit ausgehen? Eine ganz allgemeine Definition von Heilung könnte lauten: Heilung be-deutet die Ermöglichung von Leben für einen Menschen unter seinen je-weils gegebenen oder gewordenen Bedingungen.Heilung als die Ermöglichung von Leben geschieht oft und wesentlich

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durch die Medizin oder die Psychotherapie – aber Heilung umfasst mehr. Ein erweitertes Verständnis von Heilung und Gesundheit öffnet uns den Blick für ein weites Spektrum an heilenden Möglichkeiten. So können wir von Heilung reden, wenn ausgegrenzte und verachtete Menschen Wertschätzung und Achtung erfahren. Und Heilung geschieht auch, wenn ein Mensch durch die Zuwendung eines Mitmenschen lernt, das Leben als sinnvoll zu erfahren.

Konsequenzen einer erweiterten SichtWenn unsere Vorstellung von Gesundheit und Heilung aus einer Engfüh-rung auf die körperliche oder seelische Dimension des Lebens befreit ist, kann sich unser Blick weiten für Dimensionen von Gesundheit und Hei-lung, die in unserer Gesellschaft immer noch oft vernachlässigt werden.

Das Wissen um die soziale DimensionAls Kranke/-r bin ich von einer Erkrankung nicht nur als Individuum, sondern auch im Hinblick auf meine sozialen Bezüge betroffen und es stellt sich die Frage: Lebe ich in stärkenden und tragenden oder eher in krank machenden sozialen Beziehungen?Und andererseits ist eine Gemeinschaft immer mit betroffen von der Er-krankung eines ihrer Glieder. Die soziale Einbindung in eine tragende Gemeinschaft ist für Kranke ein heilender Faktor, der nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Unsere Gemeinden, besonders die Glaubensge-meinschaften, haben hier ein Potenzial, um das sie oft gar nicht wissen. Alle Dienste für Kranke, wie Besuchsdienste und Nachbarschaftshilfe, das Wissen umeinander und das Teilen von Sorgen und Nöten sind heilende Faktoren, die andere therapeutische Maßnahmen ergänzen und manchmal sogar unnötig machen können.

Die Wiederentdeckung der spirituellen DimensionEine „Errungenschaft“ des 20. Jahrhunderts ist die zunehmende Offenheit für den Einbezug von psychischen und sozialen Faktoren in das bei uns gültige Paradigma von Heilung und Gesundheit. Von der naturwissen-schaftlichen Medizin wurden Psychologie und Soziologie nach und nach als heilende Disziplinen anerkannt und in das therapeutische Konzept ein-bezogen. Am deutlichsten kommt dies zum Ausdruck in der Etablierung der Psychosomatik als eigene therapeutische Disziplin. So haben wir heute ein „bio-psycho-soziales Modell“ von Heilung.

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Nicht bzw. noch nicht integriert in das therapeutische Modell sind spiri-tuelle Faktoren – die therapeutische Kraft des Glaubens ist nicht allgemein anerkannt und wird selten in das therapeutische Konzept mit einbezogen.

Aufgabe der kommenden Jahrzehnte wird es sein, den Glauben an Gott, der seinen Ausdruck findet zum Beispiel im Gebet oder in religiösen Ritu-alen wie Salbung und Segnung, als Quelle von Heilung und Gesundheit wieder zu entdecken. Medizin, Psychotherapie, Soziologie und Theologie – alle Disziplinen, die sich um die Heilung der Menschen mühen – dürfen nicht in Konkurrenz zueinander stehen, sondern sollten zusammen wirken im Hinblick auf das Wohl der Menschen, die Heilung suchen.

Vom Beispiel anderer Kulturen können wir lernenWas für uns ein Umdenken bedeutet, ist in anderen Kulturen selbstver-ständlich: Während es für uns noch üblich ist, im Falle einer Erkrankung die Diagnostik und Behandlung weitgehend in fachliche Hände abzugeben und dadurch in eine gewisse Distanz zu der Erkrankung zu treten, wissen zum Beispiel afrikanische oder asiatische Menschen sehr genau, dass eine Erkrankung ihr Leben in allen seinen Dimensionen betrifft.

Was tut eine Frau in Afrika, wenn sie oder ihr Kind krank ist? Natürlich versucht sie, eine medizinische Behandlung zu bekommen. Aber gleich-zeitig geschieht mehr: Sie ist eingebunden in eine Gemeinschaft von Men-schen, die um ihre Not wissen und diese ein Stück weit zu ihrer Sorge machen. Sie und ihr Kind werden von der Gemeinschaft mitgetragen. In Afrika gibt es in vielen Gegenden „Small Christian Communities“, die sich gegenseitig stützen und das Leben teilen. Das Gebet miteinander und füreinander gehört zum Umgang mit einer Krankheit und zum Hei- lungsprozess wesentlich dazu. Es ist nicht damit getan, der/dem Kranken medizinische Versorgung zukommen zu lassen. Die Menschen wissen: Heilung bedeutet viel mehr. Von diesem Wissen und vom Beispiel anderer Kulturen können wir lernen.

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„Dein Glaube hat dir geholfen“Trägt der Glaube zu Gesundheit und Heilung bei?

Beate Jakob

„Hauptsache gesund!“ – Wer stimmt dem nicht zu, wer schätzt nicht die Gesundheit als hohes, ja als das höchste Gut? Und wenn wir körperlich oder seelisch krank sind, suchen wir Heilung. Wir nehmen die Möglich-keiten der Medizin in Anspruch und sind darüber hinaus auch vielfach offen für andere, alternative Formen des Heilens. Das Angebot von Menschen und Instituten, die uns versprechen, heilende Prozesse anzuregen, ist heute kaum zu überblicken. Voll im Trend liegen „Wellness-Kuren“, die durch Ayurveda, das uralte indische Wissen vom Leben, durch chinesische Naturmedizin, durch Schlammpackungen, Heu- und Rosenbäder und vieles mehr all denen Wohlbefinden versprechen, die sich krank oder gestresst fühlen.Die Palette der Heilungsangebote ist reichhaltig und lässt uns Christen manchmal vergessen, dass auch unser christlicher Glaube eine heilende Dimension hat. Jesus heilte Menschen von körperlichen und seelischen Krankheiten und mehrfach sagte er zu einem Menschen, den er geheilt hat: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Damit stellte Jesus eine Beziehung her zwischen Glaube und Heilung und sprach dem Glauben eine heilende Kraft zu.Glaube, Heilung und Gesundheit – was haben sie heute miteinander zu tun? Hat Spiritualität, hat der Glaube eines Menschen, einen Einfluss auf Heilungsprozesse, verhilft Glaube zu Gesundheit, leben gläubige Men-schen etwa länger als Menschen, die nicht glauben? Wenn es so sein sollte, wie können wir uns dies vorstellen? Und wie können wir heute angemes-sen von der Heilkraft des Glaubens reden? Dies sind die Fragen, auf die eine Antwort gesucht werden soll.

ZusammenhängeMit Jesus hat das Reich Gottes seinen Anfang genommen. Als Zeichen dafür wurden Menschen von den verschiedensten körperlichen und seelischen Krankheiten geheilt. Und nicht nur Jesus selbst heilte, sondern er gab auch seinen Jüngern die Vollmacht zu heilen und sandte sie aus mit dem Auftrag: „Macht Kranke gesund“(Matthäus 10,8).

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In den urchristlichen und frühchristlichen Gemeinden waren Heilungen bedeutend. Dies wissen wir durch das Zeugnis der Apostelgeschichte und die Überlieferungen der frühen christlichen Schriftsteller. Im Laufe der Jahrhunderte jedoch setzte, zumindest im abendländischen Kulturbereich, eine Akzentverlagerung ein: Aus dem Christentum als einer therapeu- tischen Religion, von der eine starke Kraft ausging, die die Menschen und ihre sozialen Beziehungen veränderte, wurde immer mehr ein Lehrge-bäude, das sich auf das Seelenheil der Menschen konzentrierte und die anderen wichtigen Dimensionen des Menschseins vernachlässigte.

Diese Entwicklung wurde gefördert durch die Entwicklung der abendlän-dischen Medizin zur reinen Naturwissenschaft mit immer mehr therapeu-tischen Möglichkeiten. So „emanzipierte“ sich die Medizin im abendlän-dischen Kulturbereich aus der Bindung an die Theologie und kam es zu einer Trennung der Kompetenzen: Die Medizin wurde zuständig für die Gesundheit im Sinne körperlichen Wohlbefindens, während sich die The-ologie auf das Seelenheil konzentrierte.1

Mit dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaften und der Etablierung neuer Disziplinen seit dem 20. Jahrhundert, wie zum Beispiel der Soziologie und der Psychologie, erfuhren das Verständnis von Gesund-heit und die Sicht heilender Faktoren eine Ausweitung. Neue Erkenntnisse gaben einen Einblick in die Zusammenhänge zwischen Seele und Körper und zwischen sozialen Beziehungen und körperlichem und seelischem Be-finden des Menschen. So werden Psychologie und Soziologie heute als hei-lende Disziplinen anerkannt und in therapeutische Konzepte einbezogen. Theologie und Spiritualität2 jedoch wurden auch im 20. Jahrhundert wei-terhin und weitgehend aus dem Spektrum der therapeutischen Disziplinen ausgeklammert, wenn nicht sogar als krankmachend abgelehnt.

Epidemiologische StudienIn neuerer Zeit jedoch zeichnet sich hier ein Wandel ab: Medizin, Psy-chologie/Psychotherapie und auch Soziologie werden offen für den Ein-bezug spiritueller Faktoren in therapeutische Konzepte. Wie kam es dazu, dass zum Beispiel der Chefredakteur der Zeitschrift „Psychologe heute“ schreibt: „Psychologen entdecken die Religion als einen lange Zeit unter-schätzten und übersehenen Heilfaktor für die seelische und körperliche Gesundheit.“3

Anstöße zum Dialog und zu einer Öffnung der Naturwissenschaften für eine Wahrnehmung von Spiritualität als Gesundheitsfaktor kamen nicht

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etwa von Seiten der Theologie oder der Kirchen, sondern von Seiten der Naturwissenschaften. In den USA werden seit Ende der 70er Jahre epi-demiologische Untersuchungen zum Zusammenhang von Spiritualität und Gesundheit durchgeführt, seit etwa zehn Jahren auch in Europa – in Deutschland an den medizinischen bzw. psychologischen Fakultäten der Universitäten Trier, Heidelberg, Witten/Herdecke; in Österreich an den Universitäten in Wien und Innsbruck sowie in der Schweiz an der Uni-versität Zürich.

Als Parameter für Spiritualität dient in den meisten Studien die quantita-tiv erfasste Teilnahme an religiösen Veranstaltungen. In einigen Untersu-chungen wird die Auswirkung von Gebeten auf die eigene Gesundheit oder die Gesundheit anderer untersucht. Inzwischen liegen mehr als 1.000 solcher Studien vor, zum Teil mit sehr großen Fallzahlen und langen Untersuchungszeiträumen (bis zu 90.000 Probanden pro Studie und Beobachtungszeiträume von bis zu zehn Jahren). Die Fragestellungen sind zum Beispiel: Welchen Einfluss hat Spiritualität auf die Lebenserwartung, auf das Auftreten von Herz-Kreislauferkran-kungen, auf die Überlebenszeit von Tumorkranken, auf die Häufigkeit des Auftretens von Depressionen und wie beeinflusst Spiritualität den Um-gang mit Krankheiten („coping“)?Diese Studien kommen in über 80 Prozent zu dem Ergebnis, dass sich Spiritualität positiv auf die körperliche und seelische Gesundheit und auch auf den Umgang mit körperlichen und seelischen Krankheiten auswirkt.4

Bei diesen Studien geht es nicht um den Hinweis auf Wunderheilungen, sondern um die Untersuchung verstehbarer Ereignisse. Dementsprechend fragen die Untersucher auch, wie dieser positive Einfluss von Spiritualität auf die leibseelische Gesundheit innerhalb naturwissenschaftlicher Kate-gorien erklärt werden kann. Als Gesundheit fördernde Faktoren von Spiri-tualität werden genannt:- Vermeiden von Risikoverhalten: Bei Menschen, die ihren Glauben prak-tizieren, ist der Konsum von Tabak, Alkohol und Drogen im Durchschnitt geringer als bei Menschen, die dies nicht tun. - Gebet, Meditation und religiöse Rituale haben einen messbaren Einfluss auf physiologische Vorgänge im Körper. So kommt es beispielsweise zu einer Senkung des Blutdrucks und einer Verringerung der Ausschüttung von Stresshormonen im Körper. Diese Vorgänge können als Stressreduk-tion durch Entspannung beschrieben werden.

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- Glaube trägt zur Sinnfindung bei.- Gläubige leben oft in einem tragenden sozialen Netz. - Gläubige Menschen können Ressourcen zum Umgang mit Krankheiten und Schicksalsschlägen mobilisieren („innere Kraftquellen“, soziale Unter-stützung).Bei dieser Aufzählung wird deutlich: Alle diese Faktoren sind allgemein an-erkannt als gesundheitsfördernd und nicht etwa spezifisch für Spiritualität. Deshalb ist der statistisch festgestellte Zusammenhang zwischen Spiritu-alität und Gesundheit zwar wahrscheinlich stichhaltig (valide), aber nicht eindeutig kausal.

Nun wurden und werden gegenüber diesen epidemiologischen Studien aber einige grundsätzliche Einwände vorgebracht:5

- Vor allem bei den älteren dieser Studien wurden Mängel im Studien-aufbau und statistische Fehler festgestellt.- Die meisten Studien wurden in den USA durchgeführt, wo Spiritualität einen ganz anderen, nämlich viel höheren, Stellenwert hat als zum Beispiel in Europa. Deshalb können die Ergebnissee dieser Untersuchungen nicht ohne weiteres auf die europäische Situation übertragen werden.- Es ist zu fragen, ob Spiritualität überhaupt messbar ist. Sagt die Teil-nahme an religiösen Veranstaltungen wirklich etwas aus über die Spiri-tualität eines Menschen? Oder sind die Ergebnisse etwa darauf zurück-zuführen, dass kranke Menschen eben nicht die Möglichkeit haben, zum Gottesdienst zu gehen und deshalb nicht erfasst werden?- Nach wie vor ist festzuhalten, dass bestimmte Formen von Spiritualität auch negative Auswirkungen auf die leibseelische Gesundheit haben kön-nen, wie zum Beispiel Angst machende Gottesbilder und enge Moralvor-stellungen.

Darüber hinaus gibt es vom christlichen Standpunkt weitere, grund- sätzliche Bedenken, sich im Hinblick auf die heilende Kraft des Glaubens auf diese epidemiologischen Studien zu beziehen. Denn, so ist zu fragen, soll der Glaube nun vor den Wagen einer von Christen durchaus kritisch zu sehenden Wellness-Bewegung gespannt werden? Liegt diesen Studien nicht ein Begriff von Gesundheit zugrunde, der nach christlichem Ver-ständnis zu eng ist? Sollen wir nun an die Kirchentüren schreiben: Wer wöchentlich hier herein kommt, dessen Lebenserwartung steigt um einige Prozente? Geht es uns eigentlich wirklich nur darum, unserem Leben ei-nige Jahre hinzuzufügen und soll unsere Glaubenspraxis einem individuel-len Gesundheitsvorteil dienen? Sollen wir nun dem „Gott Gesundheit“

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dienen anstatt dem Gott des Alten und Neuen Testaments, der auch das Leiden umfängt und ihm einen Sinn geben kann?

Alle diese Fragen sind zu verneinen, denn all dies würde bedeuten, den Glauben zu instrumentalisieren und Spiritualität im Hinblick auf einen – ohnehin fragwürdigen – Zweck zu praktizieren. Gerade das aber wi-derspricht dem Sinn der Begegnung zwischen Gott und Mensch in der religiösen Praxis.

Bei allen Einwänden und grundsätzlichen Bedenken, die genannt wurden, bleibt dennoch ein wichtiger positiver Faktor dieser epidemiologischen Studien: Sie haben Spiritualität und die Religionen bei den Naturwissen-schaften wieder „ins Gespräch“ gebracht. Nachdem lange Zeit der Graben zwischen Medizin und Psychologie auf der einen Seite und Theologie auf der anderen Seite unüberbrückbar schien, öffnen sich die Naturwissen-schaften für einen Dialog. Denn diese Studien „sprechen” die Sprache der Naturwissenschaften und können so als Türöffner dienen, um Glaube und Spiritualität bei diesen als Gesundheit fördernde Faktoren in den Blick kommen zu lassen, nachdem sie über Jahrhunderte hinweg systematisch ausgeklammert worden waren. 6

Und – nicht zuletzt ist diese Öffnung der Naturwissenschaften für den Einbezug von Spiritualität in therapeutische Konzepte auch eine Heraus-forderung für die Theologie und die Kirchen. So provozierte beim Kir-chentag 2005 ein Arzt und Psychotherapeut die Vertreterinnen und Ver-treter der Kirchen mit der Frage: „Warum überlassen Sie die Entdeckung der heilenden Dimension des Glaubens eigentlich den Medizinern und Psychologen?“

Glaube und Heilung bei JesusWie können wir als Christinnen und Christen die heilende Dimension des Glaubens näher bestimmen? Was meint Jesus eigentlich, wenn er zu einem Menschen, den er heilte, sagt: „Dein Glaube hat dir geholfen“?Betrachten wir eine Stelle im Lukasevangelium, an der Jesus diese Aus-sage macht, näher: Die Heilung der zehn Aussätzigen in Lukas 17,11-19. Zehn Aussätzige rufen: „Meister, erbarme dich unser.“ Jesus schickt sie zu den Priestern mit dem Auftrag, sich diesen zu zeigen. Auf dem Weg dorthin werden alle vom Aussatz befreit. Alle zehn sind körperlich gesund und damit könnte dieser Heilungsbericht ja zu Ende sein. Und er wäre zu

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Ende, wenn es bei Jesu Heilungen nicht um mehr, ja im Grunde um etwas Anderes als das körperliche Gesundwerden ginge. Deshalb geht die Hei-lungsgeschichte weiter: „Einer aber unter ihnen […] kehrte um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm.“ Und zu diesem Einen sagt Jesus: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Dies bedeutet nun nicht, dass die anderen Neun nicht kör-perlich geheilt sind, aber eigentlich geheilt, geheilt in einem tieferen Sinne, ist nur der Eine, der zu Jesus zurückkehrte. Die körperliche Gesundheit ist wichtig und ist ein hohes Gut, aber im Grunde ist die körperliche Heilung ein Geschehen, das mit der Heilung der Beziehung eines Menschen zu Gott zusammenhängen muss. Diese Heilung der Beziehung eines Men-schen zu Gott macht den Menschen heil in einem ganz tiefen Sinne. Wenn Jesus zu dem zurückgekehrten Geheilten sagt: „Dein Glaube hat dir ge-holfen“, dann sagt er zu ihm: Dein Glaube hat dich in zweifacher Hin-sicht geheilt – du bist körperlich gesund geworden und du bist ein neuer Mensch geworden, da du jetzt eine Beziehung zu Gott gefunden hast. Für Jesus ist also die Beseitigung der Krankheit nur die eine Seite seines heilen-den Handelns. Die körperliche Heilung ist wie eine Art Schlüssel für etwas Wichtigeres, Tieferes.„Dein Glaube hat dir geholfen“ – dies sagt Jesus noch an weiteren Stellen, zum Beispiel zu der Frau, die von ihren Blutungen geheilt wurde (Lukas 8,48) und zum Blinden von Jericho (Lukas 18,42). Aber auch die Sün-derin, die Jesus salbt und der er die Sünden vergibt, hört: „Dein Glaube hat dir geholfen“ (Lukas 7,50). Hier sagt Jesus diesen Satz, ohne dass eine körperliche Heilung erfolgt ist. Auch dies zeigt: Wenn Jesus sagt: „Dein Glaube hat dir geholfen“, dann meint er mehr als das körperliche Gesundwerden. Es geht um ein Heil- und Gesundwerden in Bezug auf mehrere Dimensionen des Lebens und es geht ganz wesentlich um die Beziehung des Menschen zu Gott.

Heilung zielt auf mehr als „Wellness“Jesus stellt zwar eindeutig einen Zusammenhang her zwischen Glaube und Heilung. Aber er macht auch unmissverständlich deutlich: Eine kör-perliche Heilung erfolgt nicht um ihrer selbst willen. Wer in Jesus nur einen Heiler für körperliche Krankheiten sieht, missversteht ihn und seine Botschaft völlig.Jesus bringt die Menschen mit der heilenden Kraft Gottes in Berührung. Wenn Menschen sich Jesus öffnen, werden sie verändert, sie werden eine neue Schöpfung. Dieses Neuwerden kann, muss aber nicht, Auswirkungen

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auf den Körper haben. Insofern können wir als Christen eigentlich nicht sagen: „Hauptsache gesund!“ und damit meinen, das Wichtigste im Leben sei die körperliche Gesundheit, sondern wir müssen eigentlich sagen: Die Hauptsache ist es, eine gesunde Beziehung zu Gott zu haben – alles andere ist diesem unterzuordnen. Bei der Heilung durch den Glauben geht es nie in erster Linie um „Wellness“, sondern eigentlich um „Wholeness“, ein Heil- oder Ganzwerden in Bezug auf mehrere Dimensionen. Eine kör-perliche Heilung ist nur ein äußerliches Zeichen für etwas Tieferes, sie ist wie eine Art Nebeneffekt einer tiefen Wandlung und Veränderung.Insofern können wir als Christen den Glauben nicht undifferenziert als das Allheilmittel für körperliche Krankheiten anpreisen und den Glauben instrumentalisieren. Was wir aus Jesu Heilungen mit Sicherheit nicht ab-leiten können, ist eine Verabsolutierung der körperlichen Gesundheit. An erster Stelle steht für Jesus die Beziehung eines Menschen zu Gott, das Heil des Menschen, alles andere ist eine Konsequenz davon und ist diesem unterzuordnen. Und auf keinen Fall dürfen wir falsche Erwar- tungen wecken und zum Beispiel sagen: Wer einmal pro Woche eine religiöse Veranstaltung besucht, kann ziemlich sicher sein, nicht an einem Herzin-farkt zu sterben. Und fatal wäre es, wenn ein gläubiger Mensch, der krank wird oder trotz Gebet krank bleibt, sich fragen müsste: Habe ich etwa zu wenig gebetet oder bin ich zu selten zum Gottesdienst gegangen?

HerausforderungenAuch wenn wir vom biblischen Befund her nun gewarnt sind, den Glauben als Allheilmittel für Krankheiten anzupreisen, so können und müssen uns die Ergebnisse der genannten wissenschaftlichen Studien doch wieder die Augen öffnen für die vernachlässigte therapeutische Dimension des Glaubens und uns anregen, diese für das dritte Jahrtausend neu zu formu-lieren.

Vor dem Hintergrund der Heilungen Jesu können wir folgende Aspekte eines christlichen Heilungsverständnisses und eines Verständnisses der Heilkraft des Glaubens aufzeigen:- Dimensionen der Heilkraft des Glaubens: Wenn wir als Christen von Heilung und von der Heilkraft des Glaubens reden, dann meinen wir verschiedene Aspekte von Heilung. Die Heilkraft des Glaubens bezieht sich auf die körperliche Dimension, ist aber keineswegs darauf beschränkt, sondern schließt folgende weitere Dimensionen mit ein:Heilung durch den Glauben bezieht sich ganz wesentlich auf die spiritu-

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elle oder geistliche Dimension: Gott wird als der erfahren, der das Leben trägt und erhält. Er wird erfahren als der, der auch angesichts von Not und Leiden die Menschen vor der Verzweiflung bewahrt. Heilung geschieht auch und besonders dann, wenn ein Mensch trotz oder gerade durch die Erfahrung von Leiden Gottes bewahrende und tragende Nähe spürt. Es gibt Heilung in einem ganz wesentlichen Sinne gerade auch dann, wenn keine körperliche Heilung erfolgt.Heilung durch den Glauben bezieht sich auch auf die soziale Dimension: Menschen können durch Christus von Entfremdung, Isolierung und In-dividualismus befreit werden. Heilung geschieht, wenn Beziehungen zwi- schen Menschen heil werden; Heilung geschieht, wenn Friede dort möglich wird, wo die Fronten verhärtet erschienen.- Das Gebet um Heilung: Beten als das in Beziehung Treten zu Gott bedeu-tet, das Leben mit seinen glücklichen Erfahrungen und mit seinen Nöten vor Gott zur Sprache zu bringen. Wir dürfen dankend, bittend, klagend und auch anklagend vor Gott treten und ihn bitten, uns von Krankheiten und Nöten zu befreien. Unser Teil ist es, uns der heilenden Nähe Gottes zu öffnen. Wesentlich aber ist, die Zukunft Gott zu überlassen. An alle unsere konkreten Bitten müssen wir anschließen: „Dein Wille geschehe!“ Und es ist ganz wichtig, keine Proportionalität zu erwarten zwischen der Quan-tität und auch der Intensität des Gebets und seiner Wirkung.- Die Beziehung zwischen der Heilkraft des Glaubens und den me-dizinischen Möglichkeiten der Heilung: Wenn wir um die heilende Kraft des Glaubens wissen und auf sie vertrauen, kommen wir dann nicht in eine gewisse Konkurrenz zur Medizin? Schließt das Vertrauen auf Gott das Vertrauen auf den Arzt aus? Nein – denn als Christen können wir auch die medizinischen Möglichkeiten als Mittel Gottes sehen, als den Menschen gegebene Werkzeuge zur Verwirklichung des Reiches Gottes. Wir dürfen die Möglichkeiten der Medizin als Gaben Gottes dankbar an-nehmen. Medizin und Glaube sollten nicht konkurrieren, sondern sich ergänzen. Ein Beispiel, wie wir uns diese gegenseitige Ergänzung vorstellen können: Einem Patienten wird ein schwieriger operativer Eingriff vorge-schlagen. Als gläubiger Mensch wird er nun nicht die Operation ablehnen, sondern darum beten und auch andere um Fürbitte bitten, dass die Opera-tion gelingen möge. Und wir vertrauen darauf, dass der operative Eingriff und das Gebet hier zusammenwirken können im Sinne einer Heilung des Patienten.- Der Glaube als Lebenshaltung: Grundsätzlich ist es wichtig zu sehen, dass der Glaube nur dann heilend und gesundheitsfördernd wirken kann, wenn er eine Lebenshaltung bezeichnet. Glauben bedeutet, eine Le-

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benshaltung des Vertrauens auf Gott zu haben und aus der Beziehung zu Gott zu leben. Der Glaube ist nichts Äußerliches. Er besteht nicht in der nominellen Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft und auch nicht in der Erfüllung bestimmter Glaubenspflichten, sondern ist eine Haltung des Vertrauens auf Gott, die den Menschen prägt. Durch den Glauben werden Kraftquellen im Menschen aktiviert, die ihn verändern und hei-lend wirken.

Die heilende Dimension des GlaubensDie Wiederentdeckung der heilenden Dimension des Glaubens fordert einerseits all diejenigen heraus, die in therapeutischen Berufen arbeiten, und andererseits auch alle, die den Glauben heute leben oder vermitteln wollen.- Die Vertreterinnen und Vertreter des medizinischen Bereichs sind her-ausgefordert. Während in den USA sehr offen und frei über die Heilkraft des Glaubens gesprochen und mit ihr gerechnet wird, ist dieses Thema bei uns fast ein Tabu. Unsere Gesundheitsforschung hat große Hemmungen, den Glaubensfaktor als gesundheitsfördernd in ihr Denken und Handeln einzubeziehen. Es wäre sehr zu wünschen, dass alle diejenigen, die sich im medizinischen Bereich um Heilung mühen, um die heilende Dimension des Glaubens wissen und sie schätzen lernen.- Die Kirchen, die Gemeinden und die Christen sind herausgefordert. Möglichkeiten, die Heilkraft des Glaubens wieder mehr ins Bewusstsein zu bringen und im Leben der Gemeinden zu verorten, gibt es zahlreiche. Alte Rituale wie Salbung und Segnung können in besonderen Gottesdiensten wieder eingeführt werden. Im Rahmen der Gottesdienste kann das Gebet für kranke und belastete Gemeindeglieder einen Platz bekommen.

Als Christinnen und Christen müssen wir uns der heilenden Dimension des Glaubens neu bewusst werden und uns der heilenden Nähe Gottes mitten in unserem Leben öffnen. Unser Zusammenleben als Gemeinde darf sich nicht darin erschöpfen, dass wir Gottesdienst feiern, ohne darüber hinaus das Leben miteinander zu teilen. In diesem Zusammenhang steht der Be-griff „heilende Gemeinde“. Damit ist nicht gemeint, dass einige Gesunde, Starke, sich der Kranken annehmen, sondern eine heilende Gemeinde ist ein Ort, an dem sich jeder mit seinen Stärken und Schwächen einbringt. Sie ist ein Ort, an dem die Menschen aneinander Anteil nehmen, sich ge-genseitig stützen und füreinander heilend wirken. Wenn wir zum Beispiel wissen, wer in der Gemeinde krank ist, dann können wir nach Möglich-

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keiten der Hilfe und Unterstützung suchen und die Kranken und ihre Familien in das Gebet einschließen.Darüber hinaus sind wir auch gefordert, als Gemeinde im Namen Jesu hei-lend in der Welt zu wirken, unseren Glauben und unsere Hoffnung zu be-zeugen. Wir müssen an den Bruchlinien unserer Gesellschaft präsent sein und den Menschen helfend und heilend beistehen, die unter Ausgrenzung und Diskriminierung leiden. Nur wenn deutlich wird, dass der christli-che Glaube uns und die Welt heilend verändern kann, werden Menschen von ihm angezogen. Diese Überzeugung formulierte Paul Tillich, indem er sagte: „Religion, die keine heilende und rettende Kraft hat, ist bedeu-tungslos.“7

Fußnoten:1 Diese Trennung wurde zum Beispiel in den afrikanischen und asiatischen Kulturen nie so vollzogen.2 Unter Spiritualität wird hier verstanden, das Leben aus der Beziehung zu Gott, zu einer höheren Macht, zu gestalten. Während Religiosität bedeuten kann, einer Religionsgemeinschaft anzugehören, ohne deren Inhalte im persönlichen Leben umzusetzen (extrinsische Religiosität), bedeutet Spiritualität eine persönliche Aneignung religiöser Inhalte (im Sinne einer intrinsischen Religiosität). 3 Heiko Ernst, Macht Glaube gesund?, in: Psychologie heute compact 8 (2004), 68.4 Umfassende Überblicke über diese Studien bis zum Jahr 2000 sind zu finden bei: Harold G. König/ Michael E. McCullough/David B. Larson, Handbook of Religon and Health, New York 2001; Dale A. Matthews, Glaube macht gesund: Erfahrungen aus der medizinischen Praxis, Freiburg 2000.5 Vgl. hierzu z.B. Michael Utsch/Simone Ehm, Glaube und Gesundheit. Historische Zusammenhänge und aktuelle Befunde, in: Dies. (Hg.), Kann Glaube gesund machen? Spiritualität in der modernen Medizin, Berlin 2005 (EZW-Texte 181), 5-16.6 Vgl. z.B. aaO.; Bernhard Grom, Religiöser Glaube – ein Gesundheitsfaktor, in: Dr. med. Mabuse September/Oktober 2002; GEO 1 (2006), Warum glaubt der Mensch? Hilft Religiosität über Vergänglichkeit hinweg? Macht sie gesünder? Und gibt es ein Gottes-Gen?; Psychologie heute compact 8 (2004), Glück, Glaube, Gott. Was gibt dem Leben Sinn?; Psychologie heute 32 (2005), Glaube und Gesundheit. Warum Hoffnung heilen kann.7 Paul Tillich, The Impact of Psychotherapy on Theological Thought, Bd. 2, New York 1960, 315.

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Heilungssehnsucht in der säkularen GesellschaftLernchancen im Dialog mit der britischen Heilungsbewegung

Dietrich Werner

Die Sehnsucht nach Heilung nimmt offenkundig zu. Viele Buchläden mit entsprechenden Angeboten und Gesundheitsshops sind ein Indiz dafür. Die verbreitete Sehnsucht nach Heilung hat etwas zu tun mit der wach-senden Skepsis gegenüber der technischen Apparatenmedizin wie mit dem zunehmenden Wissen über Möglichkeiten alternativer Heilungspraktiken. Die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin geht von einer unterschwellig zentralen Bedeutung des Heilungsthemas für den Gesamtbereich der neuen Religiosität aus. Prospekte und Werbezet-tel laden ein zur Heilung durch den Geist, zur Heilung durch Farben, zur Heilung aus früherem Leben (Reinkarnationstherapie), zur Heilung durch die Heilkraft der Gedanken, zu heilsamen Trance-Ritualen, Energe- tischem Heilen (Reiki), den heilenden Kräften der Hände und des positiven Denkens. „Geistiges Heilen ist ein wichtiges Schlagwort und das Interesse an der eigenen Heilung ist für viele das entscheidende Tor des Eingangs in die vielfältigen Ausprägungen neuer Religiosität.“1 Spirituelle Zugänge zur Heilung breiten sich auf dem Hintergrund einer dogmenfreien und individuellen Religiosität aus. Dabei werden durchaus auch archaische Religionspraktiken aufgenommen, die bislang als überwunden angesehen wurden. Diese Bewegung macht auch vor Kirchengemeinden nicht Halt. Längst sind doppelte Loyalitäten (christliche Tradition – neu-religiöse Hei-lungspraktiken) vorhanden, die Nutzung von Gemeindehäusern für Kurse nicht-christlicher Heilungspraktiken wird zunehmend zum Problem.

Heil und HeilungIn weltweiter Perspektive betrachtet wachsen in den letzten Jahrzehnten diejenigen Kirchen und christlichen Erneuerungsbewegungen am ra-schesten, die sich entweder mit einem charismatisch-pentekostalen Fröm-migkeitsprofil verbinden oder dem Zusammenhang von Heil und Heilung einen zentralen Stellenwert geben. Charismatisch-pfingstkirchliche Kreise

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sind aber durchaus nicht die einzigen, die sich mit Glaubensheilung und Krankengebet beschäftigen – auch in der Orthodoxie, im Katholizismus sowie in wichtigen historischen Kirchen des Südens, wie z.B. der Mekane-Jesus-Kirche in Äthiopien, den Batak-Kirchen Nordsumatras und der chi-nesischen Kirche, spielen Heilungen und Heilungsliturgien eine wichtige Rolle.2 Die Weltmissionskonferenz des ÖRK in Athen zum Thema „Komm Heiliger Geist – heile und versöhne uns. In Christus berufen, heilende und versöhnende Gemeinschaften zu sein“ war ein Indiz dafür, mit welchem Nachdruck charismatische und orthodoxe Kirchen das Thema Heil und Heilung erneut auf die Tagesordnung des internationalen Gesprächs brin-gen. So entsteht ein eigentümliches Bild: In Ländern der südlichen Hemi-sphäre, in denen es kein hoch spezialisiertes klinisch-medizinisches Ge-sundheitssystem gibt oder dieses jedenfalls nicht von weiten Teilen der Bevölkerung erreichbar ist, sind es die christlichen Heilungsbewegungen, die charismatischen Gruppen, die Unabhängigen Kirchen sowie einige historische Kirchen, die sich des Heilungsthemas annehmen. Im Nor-den – oder eingegrenzter: in unserer eigenen Gesellschaft – wird die Hei- lungsthematik – jedenfalls was die über den medizinisch-körperlichen Be-reich hinausgehenden Dimensionen betrifft – vorrangig in einer Szene und Bewegung artikuliert, die keinerlei Verbindung mehr aufweist zum christ-lichen Traditionszusammenhang.

Heilende Gaben des christlichen Glaubens und der Ge-meindeIn ökumenischer Perspektive gilt heute: Für eine missionarische Kirche im säkularen Kontext – und das gilt auch im ländlichen Bereich – wird das Heilungsthema einen zunehmenden Stellenwert erhalten. Wir brauchen eine Wiederentdeckung der heilenden Gaben des christlichen Glaubens und der Gemeinde. Erfahrungen wie der große Zuspruch bei einer kirchli-chen Präsenz auf einer nichtkirchlichen Gesundheitsmesse in Husum mit Vorträgen zur Tradition christlicher Heilungsbewegung sowie die anhal-tende Nachfrage nach den berufsgruppenübergreifenden Kursen „Gesund-heit, Heilung, Spiritualität“ im Christian-Jensen-Kolleg (Breklum) zeigen, dass es lohnenswert sein kann, hier das kirchliche Angebot zu profilieren und erkennbarer präsent zu sein im ortsgemeindlichen Einsatz für Kranke und Gesunde in Besuchsdienst, Gottesdienst und Liturgie, im offensiven und einladenden Dialog mit Menschen aus dem Umkreis esoterischer und alternativ-heilungsbezogener Ansätze und Strömungen sowie in dia-

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konisch-pflegerischen Handlungsbereichen. Dabei wird es auf Seiten der Kirchen darauf ankommen, auch kritisch neu-gnostischen Trends in ei-nigen Bereichen alternativer Heilungsmethoden, die von einer Vor- und Überordnung des Geistes über alles Leibliche ausgehen, kritisch entgegen-zutreten und theologisch die Unterscheidung wie Zusammengehörigkeit von Heil und Heilung zur Geltung zu bringen.

Heilende Bedeutung von Gottesdiensten, Sakramenten und kirchlicher GemeinschaftIn den deutschen lutherischen Kirchen gibt es einerseits eine breit ge-wachsene und professionalisierte diakonische Tradition, andererseits eine zum Teil anhaltende Reserve gegenüber Heilungs- und Segnungsgottes-diensten, weil sie auf antischwärmerische Vorbehalte und Sorgen vor einer religiösen Instrumentalisierung von Heilungssehnsüchten treffen. Dass der Lutherische Weltbund seine zehnte Vollversammlung 2003 in Winnipeg unter dem Motto „Zur Heilung der Welt“ gefeiert und die Kirchen auf-gefordert hat, die heilende Bedeutung von Gottesdienst, Sakramenten und der kirchlichen Gemeinschaft wieder zu entdecken, wird in den Gemein-den erst langsam rezipiert. Doch gibt es immer mehr Beispiele, die davon zeugen, dass ökumenische Impulse zur Wiederentdeckung der Bedeutung von Segnungs- und Salbungsgottesdiensten aufgenommen werden.3

Martin Luther selbst konnte im großen Katechismus durchaus noch von der heilenden Bedeutung des Abendmahls sprechen: „Man hat doch jeden-falls das Sakrament nicht als ein schädlich Ding anzusehen, vor dem man davonlaufen müsse, sondern als eine durchaus heilsame, tröstliche Arznei, die dir helfen und das Leben geben soll, beides für Leib und Seele. Denn wo die Seele genesen ist, da ist auch dem Leibe geholfen.“4 Doch gibt es bei Suchrecherchen im Internet das bemerkenswerte Phänomen, dass unter dem Stichwort „Abendmahl und Heilung“ kaum Treffer zu erzielen sind, während unter „eucharist and healing“ mehrere Tausende Treffer angezeigt werden. Woran liegt das?

In der anglikanischen Tradition – ob in Großbritannien, Amerika oder Südafrika – ist der Zusammenhang zwischen der Feier des Abendmahls und dem Segnungszeichen der Salbung mit Öl seit Jahrzehnten ein fester Traditionsbestandteil. In vielen Gemeindeblättern wird einmal im Monat oder im Vierteljahr eine Abendmahls-Andacht mit dem Titel „eucharist and healing liturgy“ angekündigt. Im Liturgischen Handbuch der Church of England gibt es ein ausführliches Kapitel über Liturgien für „Whole-

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ness and Healing“, in dem sowohl eine einfache Segnungsliturgie als auch die Kombination von Segnungs- und Salbungshandlung mit der Eucharis- tiefeier angeboten werden.In Großbritannien gibt es seit ca. 100 Jahren eine Heilungsbewegung in den Kirchen, die den Heilungsauftrag Jesu ernst nimmt (vgl. z.B. Mat-thäus 10,1. 8). Diese Bewegung muss auf dem anglo-katholischen Hin-tergrund und aufgrund eines intensiveren Dialoges zwischen Medizin und Theologie, Ärzten und Priestern in Großbritannien verstanden werden. Sie hat bereits 1907 zu einer ersten Salbungs- und Segnungsliturgie in England geführt. Schon 1920 empfahl die Lambeth Conference auf- grund der Ausbreitung von Spiritismus, Christian Science und Theosophie die gezielte kirchliche Anerkennung und theologische Begründung eines heilenden Dienstes und verschiedener Gaben der Heilung in der Kirche. 1944 entstand bereits eine ökumenische Organisation zur Förderung eines Dialoges zwischen Kirche, Theologie und Medizin, der Churches Coun-cil for Health and Healing. Es entstanden im anglo-katholischen Bereich Geschwisterschaften des Heilungsdienstes (Guild of St. Raphael seit 1915, Order of St. Luke seit 1947 in der Episcopal Church in den USA). Im Jahre 2000 wurde die bisher umfassendste ökumenische Studie im Bereich der Anglikanischen Kirche zum Verständnis eines ganzheitlichen Heilungsdi-enstes veröffentlicht: A Time to Heal. A Report for the House of Bishops on the Healing Ministry.Eine Wiederentdeckung des heilenden Dienstes der Gemeinden gibt es auch in anderen europäischen Kirchen: In der reformierten Kirche der Schweiz in Basel gab es im Jahr 2003 eine ausführliche Diskussion über den heilenden Auftrag der Kirche, ausgelöst durch einen besonderen Got-tesdienst, eine „Nacht des Heilens“, die dort in Zusammenarbeit mit Mis-sion 21 das auf Heilung bezogene Gebet und Segnen nach christlichem Verständnis darstellen sollte. Die Beteiligung von Heilerinnen mit beson-deren Gaben des Heilens rief jedoch ein kontroverses Echo hervor. Im Stu-diendokument „Der heilende Auftrag der Kirche“ wird der ganzheitliche Heilungsauftrag der Kirche neu und im ökumenischen Kontext entfaltet.

Verkündigung und HeilungIn der Wirksamkeit Jesu sind Verkündigung und Heilung untrennbar miteinander verbunden. Die Heilungswunder lassen sich nicht einfach spiritualisieren und auf ihre Bedeutung für den Glauben des Einzelnen reduzieren, sondern sind ein Ausdruck für die konkrete Sorge Jesu um die leibliche Existenz des Menschen, sein Wohlsein. Die „Entmytholo-

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gisierung“ der neutestamentlichen Heilungsberichte hat lange zu einer Verdrängung der Tatsache geführt, dass Jesus – wie andere Charismati-ker seiner Zeit – über besondere Heilungsgaben verfügte und seine Hei- lungserfahrungen als Zeichen der anbrechenden Gottesherrschaft deutete. Der „leichtere” Missionsbefehl am Ende des Matthäusevangeliums, wo es um das Reden, Lehren und Taufen im Dienst des Evangeliums geht, darf deshalb nicht abgetrennt werden vom „schwereren“ Missionsauftrag, dem Auftrag zum Heilen als der zweiten Dimension missionarischer Präsenz, wie er in Matthäus 10,7 markant beschrieben und überliefert wird: „Pre-digt: Das Reich der Himmel ist genaht. Heilet Kranke, wecket Tote auf, machet Aussätzige rein, treibet Dämonen aus! Umsonst habt ihr es emp-fangen, umsonst gebet es.“

Heilungsauftrag der GemeindeDie Gemeinde als ganze, nicht nur einzelne Menschen mit besonderen Gaben (Heiler), sind Subjekt eines heilenden Dienstes der Kirche, der dieser bleibend aufgetragen ist (1. Korinther 12,7-11; Jakobus 5,13-16). Wenn vom heilenden Dienst der Gemeinde die Rede ist, ist damit grund-sätzlich das weite Spektrum sowohl der pflegerischen und medizinischen als auch der seelsorgerlichen und therapeutischen wie der fürbittenden und liturgischen Tätigkeiten im Blick auf Gesundheit und Heilung an-gesprochen, nie einfach nur das „charismatische Heilen“ oder die beson-dere „Glaubensheilung“. In Gottes Schöpfung gibt es keine prinzipielle Hierarchie zwischen verschiedenen Gaben und Wegen der Heilung, wohl aber eine gegenseitige Ergänzungsbedürftigkeit und notwendige Verknüp-fung zwischen diesen. Es kommt heute darauf an, ein neues Bewusstsein für die Teilhabe aller Gemeindglieder an dem heilenden Dienst der Kirche zu wecken, gleich ob dabei stärker pflegerisch-medizinische, seelsorgerli-che, fürbittende, soziale Beziehungen, versöhnende oder ökologische Di-mensionen im Vordergrund stehen. Diese Teilhabe am Heilungsdienst in verschiedenen Funktionen und Kompetenzbereichen bedarf der bewussten Beauftragung, Ermutigung, Qualifizierung und Begleitung durch die Ge-meindeleitung.

Segnungs- und SalbungsliturgienSegnungs- und Salbungsliturgien können heute grundsätzlich als indivi-duelle seelsorgerlich-liturgische Handlung am Einzelnen vollzogen werden (am Krankenbett, beim Hausbesuch, im Hospizdienst), als eigener und besonders ausgewiesener öffentlicher Gemeindegottesdienst und als in die

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Abendmahlsliturgie integrierte zusätzliche Segnungsliturgie. In einer ganzen Reihe von Landeskirchen, auch in der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, wird der Zusammenhang von Heil und Heilung gegenwärtig in eigenen Segnungs- und Heilungsliturgien neu ent-deckt und gestaltet. Die Württembergische Landeskirche hat eine eigene gute liturgische Materialsammlung zum Thema.5 Für den Besuchsdienstes an Kranken gibt es eigene Vorschläge für Krankenabendmahl und Kran-kensegnung6 sowie praktische Arbeitshilfen.7

Abendmahl/Eucharistie und HeilungFür den Zusammenhang von Abendmahl/Eucharistie und Heilung kön-nen aus dem anglikanischen Kontext folgende Momente für uns wichtig werden:- Jedes Sakrament – auch die Taufe – wird im anglikanischen Bereich als ein grundlegendes Zeichen und Sakrament göttlicher Heilung angesehen.- Der Ritus der Segnung mit Handauflegung und Salbung wird in der Regel vor der Austeilung der Kommunion vollzogen, kann jedoch auch nachher stattfinden. Die Salbung mit Öl steht theologisch sozusagen zwischen Taufe und Eucharistie – sie weist auf die Erwählung und Seg-nung des Einzelnen in der Taufe zurück und weist auf die Gemeinschaft aller Glaubenden im Reiches Gottes im Mahl der Eucharistie voraus.- In der liturgisch-altkirchlichen Tradition sind Salbung und Sakrament dadurch eng miteinander verbunden, dass jedes Jahr am Gründon- nerstag eine „Chrism Mass“ gefeiert wird. Hier erneuern Priester/Pfarrer ihr Ordinationsgelübde und gleichzeitig wird das „chrism“, Salböl, vom Bischof gesegnet und dadurch freigegeben zur Verwendung bei Segnungs- und Salbungsgottesdiensten oder häuslichen Segnungs-/Salbungsfeiern für Kranke. Zwischen der Taufe (christening – Salbung), dem sacrament of chrismation (Salbungsgottesdienst) und dem Empfang der Geistesgaben (charismata) besteht ein enger Zusammenhang.- Die heilende Bedeutung des eucharistischen Sakraments wird dadurch unterstrichen, dass das Sakrament als „sacrum convivium“, als Gemein-schaft der Glaubenden aller Zeiten und Räume, verstanden wird. Die Ge-meinschaft mit den Verstorbenen, den Menschen, die weit entfernt sind oder die uns verlassen haben, wird auch liturgisch im Kirchengebet deutlich unterstrichen. Das Abendmahl wird verstanden als Versöhnungsmahl, in dem auch die Beziehungen, in denen es Verletzungen, Brüche und Span-nungen gegeben hat, erneut durch die heilende Gnade Jesu Christi berührt werden können.

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Heilung betrifft alle Dimensionen des Menschen zugleich, die soziale, kör-perliche, seelische und geistliche. Alle diese Dimensionen sind in der Feier des Abendmahls angesprochen und beteiligt – das Abendmahl ist dadurch ein seinem Wesen nach heilendes Sakrament.

Fußnoten:1 Reinhard Hempelmann, Heilung durch den Geist als Thema neuer Religiosität, in: EMW-Weltmission heute 41 (2001), 52ff.2 Vgl. zum Überblick: Michael Kusch, Heilung durch Gebet in historischen Kirchen, in: EMW-Weltmission heute 41 (2001), 17ff.3 Zur heilenden Bedeutung der Sakramente vgl. LWB (Hg.), Studienbuch zur Vollversammlung „Zur Heilung der Welt“, Genf 2002, 20f. und zum in sich vielfältigen Heilungsdienst der Kirche aaO., 173 (www.lwb-vollversammlung.org/study.html).4 Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 2. Auflage Göttingen 1955, 721.5 www.elk-wue.de/assets/567.pdf.6 VELKD (Hg.), Agende 3: Amtshandlungen, Tl. 4: Dienst an Kranken, 5. überarbeitete Auflage Hannover 2006.7 EMW (Hg.), Von der heilenden Kraft des Glaubens. Ein Arbeitsheft für Gemeinden und Gruppen, Hamburg 2005.

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Der Heilungsdienst der KircheAuszug aus: A Time to Heal1

Church of England, übersetzt von Dietrich Werner

Das „House of Bishops“ der Anglikanischen Kirche von England beauftrag-te eine Kommission von Expertinnen und Experten aus dem Bereich von Theologie, Kirche, Gemeinde und Medizin, einen Dokumentationsband zum Heilungsauftrag und -dienst der Kirchen in unserer Zeit zu erstel-len. Diese Dokumentation mit dem Titel „A Time to Heal“ wurde im Jahr 2000 veröffentlicht. Neben einer fundierten Theologie der Heilung gibt sie einen umfassenden Einblick in die Möglichkeiten und die Praxis des Heilungsdienstes der Gemeinden – hier geben wir ein Kapitel dieses Buches wieder.

Am Beginn des dritten Jahrtausend können wir feststellen, dass die ver-schiedenen Dienste der Heilung innerhalb der Kirche von England im-mer mehr zu einem festen Bestandteil des Alltags geworden sind – sei es dass sie im öffentlichen oder im mehr persönlichen Zusammenhang ihren Ausdruck finden, dass sie ökumenisch verantwortet werden oder im in-terdisziplinären Kooperationszusammenhang mit anderen pflegerischen oder ärztlichen Diensten. Diese Gesichtspunkte und Gestaltungskriterien für einen integralen Heilungsdienst der Kirche sind entwickelt worden in Antwort auf die Nachfrage von Menschen und Organisationen, die in hei-lenden Diensten tätig sind, und haben ihre Anliegen aufgenommen. In gewisser Weise reflektieren sie auch die Richtlinien, Verhaltsnormen und ethischen Maßstäbe, die bereits für die medizinischen und pflegerischen Berufsbereiche entwickelt wurden, und das diesbezügliche Material aus ei-nigen Diözesen und heilenden Sozialdiensten.Die Menschwerdung und der Dienst Jesu sind ein Zeichen für Gottes Herrschaft und den Beginn seines Reiches auf Erden. Jesus verkündigte das Reich Gottes in seinen Worten, in seinen Gleichnissen, in den Gebeten und durch die Zeichen und Wunder der Heilung. Er hat seine Jünger damit beauftragt, seinen Dienst fortzusetzen und sowohl für das Kommen des Reiches Gottes zu beten (Matthäus 6,10) als auch die Kranken zu heilen (Lukas 9,1-6; 10,9). In Entsprechung zu diesem Auftrag und dem Beispiel Jesu folgend haben seine Nachfolger Kranke geheilt, haben Heilungen in der frühen Christenheit stattgefunden und sind Dienste der Heilung bis

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in die Gegenwart hinein fortentwickelt worden. Der Heilungsdienst der Kirche gibt Zeugnis von der Barmherzigkeit Jesu, der den Menschen heil und ganz werden lassen und Zeichen für die Gegenwärtigkeit seines Reich-es auf Erden entstehen lassen möchte.

Der Heilungsdienst der Kirche wird in der gegenwärtigen Gesellschaft ent-faltet, in der sich die Werte und Rahmenvorstellungen von Gesundheit und Heilung in einem ständigen Prozess der Veränderung befinden. Die Antwort der Kirche von England auf diese Situation möchte sicherstellen, dass die verschiedenen heilenden Dienste in einer Weise ausgeführt und gestaltet werden, die theologisch begründet, verantwortet und von einer Haltung der Liebe geprägt sind, und dass sie einen Raum schaffen, in dem Menschen sich für die Wirklichkeit Gottes in ihrem Leben öffnen können. Die Art und Weise, in der wir unseren heilenden Dienst an Menschen wahrnehmen und ihn gestalten, ist eines der wichtigsten Kommunika-tionsmedien für die Begegnung mit dem Evangelium.

Die Schlüsselbegriffe für die folgenden Richtlinien- Gesundheit – ein dynamischer Prozess des Wohlergehens des Einzelnen und der Gesellschaft, der physische, geistige, geistlich-spirituelle, ökono-mische, politische und soziale Dimensionen einschließt und darin besteht, in einem Grundzustand der Harmonie mit anderen Menschen, mit der ge-schöpflichen Umwelt und mit Gott zu existieren (entsprechend der ÖRK-Definition im Bericht der Christlich-Medizinischen Kommission). - Heilung – verstanden als ein offener Prozess hin zu Gesundheit und Ganzheit.- Krankheit – verstanden als Mangel an Wohlbefinden, sei dies körper- licher, geistiger oder religiös-spiritueller Natur.- Befreiungsdienst (deliverance) – verstanden als eine Befreiung von bösen spirituellen oder religiösen Mächten oder Einflüssen, die eine Person in ihrer vollen Menschlichkeit unterdrücken und verkümmern lassen und sie daran hindern, ihre Antwort auf Gottes rettende und heilende Gnade zu geben.- Ordinierte Amtsträger (Klerus) – verstanden als alle diejenigen Men-schen, die durch einen Bischof als Priester oder Diakon zum Dienst in der Kirche von England beauftragt wurden.- Lizensierte Laien-Pastoren – verstanden als alle Laien, die durch einen Bischof dazu beauftragt wurden, einen besonderen Dienst (ministry) wahrzunehmen (z.B. Lektoren).

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- Laien-Mitglieder eines Heilungsteams – verstanden als diejenige Per-sonen, die die Billigung und Beauftragung einer Lokalgemeinde oder kirchlichen Organisation oder eines Gemeindepfarrers haben, in einem bestimmen Dienst der Heilung involviert zu sein.- Gemeindeglieder – Personen und Mitglieder einer Gemeinde, denen gegenüber die Ordinierten eine Verantwortung haben. Gemeindeglieder müssen nicht notwendig (nur) in der Gemeinde, in der sie wohnen, Dien-ste der Heilung wahrnehmen und empfangen, sondern können dies auch außerhalb tun.

Das Ziel der RichtlinienWir benötigen einen gemeinsamen Standard und gemeinsame Verhal-tensrichtlinien für alle diejenigen, die in irgendeiner Weise an den ver-schiedenen Diensten der Heilung innerhalb der Kirche von England teil-nehmen. Ein gemeinsames explizites Verständnis von Rahmenrichtlinien für den Heilungsdienst wird für alle in der Praxis Tätigen eine ermutigen-de Wirkung haben, diesen Standards auch praktisch zu entsprechen. Die Richtlinien haben ebenfalls die Funktion, zur Vertrauensbildung auf Seiten der Gemeindeglieder beizutragen und die tatsächlich gute Praxis, die in vielen Gemeinden vorherrscht, zu bestätigen und zu unterstreichen.Diese Richtlinien sind ein breiter Rahmen von Empfehlungen, die für jeden gedacht sind, der in irgendeiner Weise mit heilenden Diensten zu tun hat, auch für die, die sich der speziellen Aufgabe des geistlichen Befreiungs- dienstes widmen, in dem Sorgfalt und zusätzliche Absicherungen besonders notwendig sind. Sie sollen nicht übervorsichtig und vorschreibend bis ins Detail sein, wohl aber wollen sie Grenzen markieren, eine adäquate und sinnvolle Praxis hervorheben und die Problem- und Handlungsbereiche herausstreichen, die in besonderem Maße geistlich-theologisch-pastorale Begleitung und Aufsicht erfordern. Kein Kompendium von Rahmen- richtlinien aber kann alle Möglichkeiten abdecken oder das konkrete Han-deln in der Praxis vorschreiben und diktieren.

Die ordinierten Amtsträger, die beauftragten Laien-Pastoren und die Mit-glieder von Heilungsteams müssen selbst entscheiden, welche Empfeh-lungen jeweils in welcher konkreten Situation sinnvoll zur Anwendung kommen, und sollen die Ratschläge in einer sensiblen Weise verwenden. Es wird empfohlen, dass jede/-r, der irgendwie in einen der verschiedenen heilenden Dienste eintritt, diese Rahmenrichtlinien kennen und berück-sichtigen sollte.

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Der KontextDer heilende Dienst der Kirche ist Teil ihres Missionsauftrages im weiten Sinne des Wortes und findet seinen Ausdruck in folgenden verschiedenen Formen: - im öffentlichen Zusammenhang als Teil des Gottesdienstes in Gestalt von Heilungsliturgien, auch unter Einbeziehung von Eucharistie, Taufe und Konfirmation, in Einrichtungen wie Krankenhäusern, Hospizhäusern, Pflegeheimen, Wohnheimen für ältere und behinderte Menschen, in Ge-fängnissen und ähnlichen Einrichtungen, in Zentren der Heilung (healing centres) und heilungsbezogenen Veranstaltungen, in christlichen Freizeit- und Urlaubsstätten wie zum Beispiel Spring Harvest and New Wine, die oft ökumenisch verantwortet werden;- im privaten bzw. individuellen Zusammenhang innerhalb des Hauses, innerhalb von Krankenhäusern und Hospizen, in Seitenkapellen von größeren Kirchen;- im ökumenischen Zusammenhang in gemeinsamer Verantwortung un-terschiedlicher Denominationen, ökumenisch getragenen Sozialdiensten, Krankenhäusern und in der Gefängnisseelsorge;- in interdisziplinärer Kooperation mit medizinischen und pflegerischen Fachkräften.

Grundformen des christlichen HeilungsdienstesDie wichtigsten Formen des christlichen Dienstes der Heilung sind die folgenden:- Öffentliche und persönliche Fürbitte: Christlicher Gottesdienst hat immer Gebete der Fürbitte eingeschlossen, die normalerweise gerichtet werden an Gott, den Vater, durch den Sohn in der Kraft des Heiligen Geistes. Sie geschehen in Gemeinschaft mit dem Sohn, der für uns Für-bitte hält (Römer 8,34). Das fürbittende Gebet, in dem wir persönlich oder gemeinschaftlich für diejenigen beten, die leiden, verknüpft unsere Liebe mit der Liebe Gottes, unseren Willen mit dem Willen Gottes, so dass wir selber hineingezogen in und eins werden mit der Bewegung hin auf das Reich Gottes.- Die segnende Handauflegung: Diese liturgische Handlung, bei der eine oder mehrere Personen die Hand auf das Haupt von jemand anderem le-gen, hat ihren Ursprung im Alten und Neuen Testament und ist mit den verschiedenen Dimensionen des Segnens, der Beauftragung und der Hei-lung verbunden. Die Handauflegung kommt sowohl bei der Handlung der Konfirmation und der Ordination als auch in vielen neueren Hei-

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lungs- und Segnungsliturgien vor, die im Dienst an Kranken eine Rolle spielen. Symbolische oder liturgische Handlungen können oft „lauter sprechen als Worte“. Es ist die Berührung, die eine Botschaft der Liebe und Annahme sowie des Trostes und der Aufrichtung kommuniziert und eine enge Verbindung hat zum apostolischen Grundauftrag Jesu, die Kran-ken zu heilen. Diese Form der segnenden Berührung kann einer kranken Person das deutliche Gefühl geben, weniger alleine zu sein und weniger von Angst beherrscht zu werden als vorher. Die Hände werden bei der Handauflegung in der Regel sachte und zärtlich über dem Kopf gehalten oder nehmen das Haupt in die Mitte, können aber auch auf die Schulter gelegt werden, wobei diese Handlung durch leise oder laut gesprochene Gebete und eine Haltung der Fürbitte begleitet wird. Oftmals braucht die Handauflegung einige Zeit, in der durch Stille und Schweigen eine Atmo-sphäre der Ruhe und des Friedens entsteht (oder nach Gebeten eine Phase der Stille).- Salbung mit Öl: Die Salbung und Segnung mit Öl bestätigt unsere in-nere Beziehung zu Christus, dem „Gesalbten“ mit dem äußeren Zeichen. Wie Wasser oder Brot und Wein ist Öl ein einfaches Geschenk der Natur, das im Dienst der Kirche gesegnet und in einer sakramentalen Weise ver-wandt wird. Wir beten dabei, dass wir im gleichen Vorgang, in dem wir äußerlich mit Öl gesalbt werden, innerlich mit dem Heiligen Geist erfüllt und gestärkt werden mögen. Eine kranke Person sollte vorbereitet werden, wenn man mit ihr die Zeichenhandlung der Salbung mit Öl vollzieht. Sie sollte informiert werden darüber, was geschieht. Es ist gewöhnliche Praxis, dass eine Person mit Öl gesalbt wird, indem man mit dem (mit Öl benetz-ten) Daumen oder mit dem Mittelfinger ein kleines Zeichen des Kreuzes auf der Stirn und manchmal auf der Innenseite der Hände zeichnet. Die Salbung mit Öl wird dabei oft begleitet von der Handauflegung und wird häufig auch mit der Feier des Abendmahls und dem Zeichen des Friedens-grußes kombiniert.- Versöhnung und Vergebung: Die Beichte wird zunehmend als ein Akt der Versöhnung gesehen, der von Gott aus beginnt, indem er uns ruft, zu ihm zurückzukommen. Die anglikanische Tradition schätzt den Gebrauch der allgemeinen Beichte in der Liturgie, kennt aber auch das persönliche Sündenbekenntnis gegenüber einem Priester. Die persönliche Beichte kann in einem mehr formellen, liturgisch gebundenen Zusammenhang oder auch in einem nicht-liturgischen und eher informellen Rahmen ge-schehen. Sie kann häufig einen geistlichen Rat und Seelsorge ebenso ein-schließen wie die explizit ausgesprochene Vergebung. Die ausdrückliche persönliche Zusage der Liebe Gottes und der Vergebung ist eine besondere

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Gabe Gottes an die Kirche. Ihre Verankerung im Book of Common Prayer von 1662 – der liturgischen Ordnung für den Besuchsdienst bei Kranken – deutet die besondere Bedeutung an, die sie für den christlichen Dienst der Heilung hat.- Heilung der Familiengeschichte: Die Vergegenwärtigung der eigenen Familiengeschichte kann Menschen ein Gefühl der tieferen Zugehörig-keit vermitteln. Die Auseinandersetzung mit der Familienbiographie oder -geschichte kann auch ein Hilfsmittel dafür sein, mögliche Erklärungen für zerbrochene und schwierige Beziehungen, schmerzvollen Verlust oder verhinderten Trauerprozess, für traumatische Erfahrungen oder familiäre Zerrüttungen zu finden. Eine pastorale und seelsorgerliche Begleitung, die in einer Aufarbeitung der Familiengeschichte ihr Zentrum hat, kann zu einem späteren Zeitpunkt in einem Gottesdienst mit Abendmahl ihren Ausdruck bzw. ihren Abschluss finden. In ihm werden Mitglieder einer Familie mit all ihren irdischen Problemen mit der heilenden Liebe verbun-den, die sich in der Gemeinschaft des dreieinigen Gottes ausdrückt und in ihr lebt.- Heilung der Erinnerungen: Die Heilung des Gedächtnisses ist zu einem Begriff der gegenwärtigen Sprache geworden, mit dem beschrieben wird, dass ein Mensch in unglücklicher Weise beeinflusst oder beherrscht werden kann durch Dinge und Zusammenhänge, die – selbst wenn sie zunächst gar nicht bewusst erinnert werden – einen bleibenden (negativen) Einfluss auf seine innere Haltung und sein Verhalten haben. In dem therapeutischen Prozess der Heilung der Erinnerungen wird das Gedächtnis nicht gelöscht und werden die Erinnerungen nicht ausgeschaltet, aber sie werden in einer Weise transformiert, dass sie ihre tief schmerzhafte und lähmende Macht verlieren. Professionelle Seelsorge, Fürbitte, Handauflegung, Salbung mit Öl, Beichte und das Heilige Abendmahl gehören alle zu den angemessenen und hilfreichen Elementen, die zu einem ganzheitlichen Prozess der Hei-lung der Erinnerungen gehören.- Ganzheitlicher Dienst an Kranken: Die Kirche hat eine Schlüsselrolle dabei, den Dienst an Kranken so zu gestalten, dass er der ganzheitlichen Verkündigung der christlichen Botschaft der Heilung für die Kranken ent-spricht. Das moderne Gesundheitswesen und der ganzheitliche Dienst an Kranken müssen davon ausgehen, dass auch für die spirituellen und re-ligiösen Bedürfnisse von Patienten/-innen ebenso Sorge getragen werden muss wie für die körperlichen. Der christlich motivierte Dienst hat eine be-sondere Qualität, die in der Kommunikation der Liebe und der Botschaft des Evangeliums besteht. Der ganzheitliche Heilungsdienst wird deshalb von der Kirche angeboten – durch den expliziten Dienst der Fürbitte,

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durch religiöse Liturgien und Seelsorge – wie auch implizit von Chris-ten/-innen, die in dem Bereich von medizinischer Behandlung als Ärzte, Schwestern, Krankenpfleger und Besuchsdienstmitarbeiter tätig sind. Sie richten ihren Dienst an Kranken letztlich immer im Namen Jesu aus und dies ist nicht weniger als ein Dienst an Jesus selbst (Matthäus 25,31).- Sterbebegleitung: Für Christen ist der Tod nicht das Ende, sondern ein neuer Beginn. Der Prozess des Sterbens ist deshalb gekennzeichnet sowohl durch Momente des Schmerzes und der Traurigkeit als auch durch Mo-mente der Hoffnung für ein Leben in Fülle mit Gott. Die Hospizdienste in Großbritannien wurden von Christen in Gang gebracht. Die moderne Medizin, die viele Fortschritte in der Schmerztherapie gebracht hat, kann es Menschen ermöglichen, in Würde zu sterben und sich selbst und andere in besserer Weise auf das Sterben vorzubereiten. Menschen, die dem Tod entgegensehen, sind oftmals besorgt und voller Unruhe, weil sie mit zer-brochenen Beziehungen nicht fertig sind, noch so viele unerledigte Aufga-ben vor sich sehen oder Furcht haben vor dem, was vor ihnen liegt. Hier kann die Kirche einen Dienst der Versöhnung und des zur Ruhe Kommens anbieten, weil sie von der Gewissheit bestimmt ist, dass „weder Tod noch Leben noch irgendetwas anderes uns scheiden kann von der Liebe Gottes“ (Römer 8,38-39).- Befreiungsdienst (Deliverance): Es ist eine lange und alte Tradition in der Kirche, dass auch für die Befreiung vom Bösen gebetet wird – schon die Bitte im Vaterunser ist ein Beispiel dafür. Wenn mit Menschen im Blick auf ihre unmittelbaren Bedürfnisse und ihren Schutz vor bösen Mächten gebetet wird, ist dies schon ein angemessener Weg ihrer Begleitung. Es gibt aber auch besondere Situationen, in denen ein Pastor oder eine dazu beauftragte Person für eine verstörte Person betet, die den Anschein gibt oder selbst behauptet, von bösen Mächten oder dem Geist des Bösen be-herrscht zu sein. Ein ungeeigneter oder falsch angewandter Dienst der Befreiung kann in solchen Fällen die Situation noch sehr viel mehr ver-schlimmern. Deshalb sollten in solchen Fällen die Richtlinien des House of Bishops (1975) genau beachtet werden.

Der weitere ZusammenhangGottes Gaben der Heilung werden bei seltenen Gelegenheiten auch plötzlich und überraschend schnell erfahren, aber in den meisten Fällen wird Heilung als ein allmählicher Prozess erfahren, der Zeit benötigt, um eine Wiederherstellung des Wohlbefindens in allen seinen verschiedenen Dimensionen zu ermöglichen.

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Der christliche Dienst der Heilung sollte deshalb nicht in Isolation wahrgenommen werden. Er ist verbunden mit verschiedenen anderen Fel-dern des kirchlichen Handelns wie z.B.- Seelsorge- geistlichem inneren Wachstum- medizinischen und pflegerischen Handlungsfeldern und Sozialdiensten der Kirche- ökumenischer Zusammenarbeit, besonders auf Ortsebene und in Seel-sorgediensten- Bereichen der Gemeinwesenarbeit, Fragen von Gerechtigkeit und Gleichberechtigung und andere Fragen ethischer Relevanz auf nationaler wie internationaler Ebene- der ganzen Mission der Kirche, die in ihrem umfassendsten und tiefsten Sinne als heilende Dimension beschrieben werden kann […]

Grundsätzliche RahmenempfehlungenDer heilende Dienst der Kirche ist uns in der Nachfolge des Dienstes Jesu aufgetragen und soll immer im Geiste der gegenseitigen Achtung, der Sorg-falt, der Liebe und der Barmherzigkeit durchgeführt und gestaltet werden. Das leitende Prinzip ist immer die Wahrnehmung der Gegenwart Gottes in denen, die diesen Dienst empfangen und ausführen.

Gebet und ausreichende VorbereitungDer heilende Dienst der Kirche hat seinen Grund immer im Gebet im Namen Jesu Christi. Diejenigen, die diesen Dienst wahrnehmen, sollten dies im Geiste des Gebetes tun; sie sollten praktizierende Christen sein, die sich in der Nachfolge Jesu heilender Liebe verstehen und auch eine Bereitschaft haben, sich im Gebet neu ausrichten und sich entsprechend fachlich begleiten zu lassen, um ihren Dienst sachgemäß und sinnvoll aus-zuführen.

SicherheitAlle erforderlichen Maßnahmen sollten getroffen werden um sicherzustel-len, dass die Personen, die diesen Dienst empfangen, sich in einem Rah-men von Sicherheit und Verlässlichkeit bewegen können. Menschen haben ein Recht zu wissen, was mit ihnen geschieht und in welcher Weise ein Dienst der Heilung an ihnen vollzogen werden soll.

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Rechenschaftspflicht und Regelungen in den DiözesenJeder, der sich in einem Dienst der Heilung versteht, benötigt klare Struk-turen der Rechenschaftspflichtigkeit und muss mit denjenigen verbun-den sein, die innerhalb der Diözese ein Aufsichtsamt in dieser Hinsicht wahrnehmen. Es sollte in jeder Hinsicht sichergestellt werden, dass alle diejenigen, die etwas mit heilenden Diensten zu tun haben, über die gelten gesetzlichen Bestimmungen Bescheid wissen, die für den Heilungsdienst wichtig sind, z.B. Datenschutzbestimmungen, Zustimmungspflicht etc. Die rechtlichen Fragen müssen auch hinsichtlich der Krankenversiche-rungszuständigkeiten abgeklärt sein. Die in manchen Diözesen bestehen Regelungen müssen beachtet werden.

Aus- und FortbildungAlle an Diensten der Heilung Beteiligten müssen eine angemessene Aus-bildung für diesen Dienst haben und sich regelmäßig einer Fortbildung unterziehen, um über relevante Entwicklungen im fachlichen und öku-menischen Bereich auf dem Laufenden gehalten zu werden.

Kompetenz und KompetenzgrenzenJede Person, die an heilenden Diensten mitwirkt, sollte sich ihrer Begren-zungen und Kompetenzgrenzen bewusst sein und sicherstellen, dass sie im Rahmen der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausreichend für den Dienst vorbereitet und ausgerüstet ist. Wenn die Eignung einer Person in Zweifel steht, in Mitleidenschaft gezogen wurde oder es ernsthafte Interes-senskonflikte gibt, die die Integrität des Heilungsdienstes beeinträchtigen, sollte sich die Person aus der aktiven Wahrnehmung eines heilenden Dien-stes zurückziehen. Die professionellen Kompetenzgrenzen im Blick auf die Gesundheitsdienste und andere Seelsorge- und Beratungsbereiche sollten beachtet werden.

Persönliches VerhaltenDer heilende Dienst der Kirche ist Teil der Verkündigung des Evangeliums. Das persönliche Verhalten des Einzelnen sollte so gestaltet sein, dass es für alle Vertrauen erweckend ist, die diesen Dienst wahrnehmen, und nicht das Vertrauen beeinträchtigt. Die Sprache, die persönliche Hygiene, das generelle Erscheinungsbild, die Körpersprache und der Stil der Berührung sollten so gestaltet sein, dass sie dem Heilungsdienst angemessen sind, be-

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dacht und vorsichtig gegenüber denjenigen, die den heilende Dienst emp-fangen. An niemandem darf gegen seinen Willen ein Dienst der Heilung vollzogen werden.

Vertraulichkeit und ÖffentlichkeitDie private Vertrauenssphäre von Menschen und ihre Würde sollten durch Vertraulichkeit geschützt werden. Jede Einschränkung von Vertraulichkeit sollte im Vorhinein erklärt und besprochen werden. Jede Veröffentlichung von Einzelheiten muss begrenzt bleiben auf wirklich notwendige Informa-tionen und die wirklich notwendigen Kreise (z.B. Supervision) und sollte nicht in irgendeiner Weise missbraucht werden. Sie kann nur mit dem Einverständnis der Klienten geschehen.

Fachberatung und PsychotherapieDiese besonderen Behandlungsmethoden, die sich von seelsorgerlicher Be-ratung unterscheiden, sollten nur von fachlich professionell ausgebildetem Personal und von Therapeuten angeboten werden, die an die ethischen Verhaltenskodices ihrer eigenen Profession gebunden sind und über ihre berufsständigen Versicherungen abgesichert sind.

BefreiungsdienstDie detaillierten Richtlinien des House of Bishops (1975) sollten beachtet und die zuständigen Fachberater für den christlichen Heilungsdienst (diocesan advisors) wenn nötig konsultiert werden.

PartnerschaftDer Heilungsdienst sollte, wenn möglich, in Kooperation mit den Seel-sorgern und Vertretern anderer Konfessionen und mit unseren ökume-nischen Partnern wahrgenommen werden, ebenfalls in interdisziplinärer Kooperation mit den professionellen Diensten des Gesundheitswesens un-ter Berücksichtung der Tatsache, dass die in dem dortigen System gelten Rahmenbestimmungen beachtet werden.

Fußnoten:1 Church of England (Hg.), A Time to Heal. A Report for the House of Bishops on the Healing Ministry, London 2000, 293-327.

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Kirche als heilende Gemein-schaftDie christliche Gemeinde und ihr Heilungsauftrag heute

Beate Jakob

„Komm, Heiliger Geist, heile und versöhne. In Christus berufen, versöh-nende und heilende Gemeinschaften zu sein“ – das Thema der 13. Weltmissionskonferenz in Athen im Mai 2005 nennt ein wesentliches Merkmal unserer Kirchen und Ortsgemeinden: Wir sind nicht Gemein-schaften, die sich zufällig oder zum Erreichen eines bestimmten Zwecks zusammen gefunden haben, sondern wir sind zur Gemeinschaft berufen, es ist Wille und Werk Jesu Christi, als Christinnen und Christen Gemein-schaft zu sein. Was bedeutet es, „heilende“ Gemeinschaft zu sein? Diese Frage war immer wieder Thema in der ökumenischen Diskussion und hat durch die Thematik der Weltmissionskonferenz neue Aktualität gewon-nen.

Heilung, Gesundheit und der Auftrag zu heilenMitte des 20. Jahrhunderts war die Gesundheitsversorgung in den Län-dern in Übersee zu mehr als 50 Prozent von den Kirchen getragen. Als viele Staaten unabhängig wurden und dazu tendierten, kirchlich getragene Gesundheitseinrichtungen in staatliche Verantwortung zu überführen, stellten sich folgende Fragen: Haben die Kirchen eine Aufgabe auf dem Gebiet von Heilung und – damit verbunden – welcher Gesundheitsbegriff liegt der christlichen Gesundheitsarbeit zugrunde?Zur Klärung dieser Fragen fanden 1964 und 1967 zwei Konferenzen beim Difäm in Tübingen statt und im Anschluss daran wurde im Jahr 1968 beim Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) eine eigene Gesundheits-kommission gebildet, die Christian Medical Commission (CMC).In einem weltweiten Diskussionsprozess, der auf Initiative der CMC zwischen 1979 und 1988 in zahlreichen Konsultationen geführt wurde, wurde ein christliches Verständnis von Gesundheit, Heilung und der hei-lenden Gemeinde erarbeitet.Die Ergebnisse dieses Diskussionsprozesses sind in einer Veröffentlichung des ÖRK unter dem Titel „Das christliche Verständnis von Gesundheit, Heilung und Ganzheit“ aus dem Jahr 1990 zusammengefasst, auf die im

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Folgenden Bezug genommen wird.In den weltweiten Konsultationen stellte sich „als wichtigste Erkenntnis [...] heraus, dass Gesundheit nicht in erster Linie ein medizinisches Prob-lem ist“.Die Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika betonten:- Für Gesundheit und für jede Form von Heilung ist die Gemeinschaft wichtig.- Gesundheit und Heilung haben eine spirituelle Dimension.- Gesundheit ist in Zusammenhang zu sehen mit dem Prozess „Gerechtig-keit, Friede und Bewahrung der Schöpfung“: Armut, Gewalt und Men-schenrechtsverletzungen sowie schädigende Eingriffe in die Schöpfung sind – weltweit gesehen – die wichtigsten Ursachen für Krankheit. In-sofern sind Armutsbekämpfung, Friedensarbeit sowie der Einsatz für die Bewahrung der Schöpfung als heilende Dienste zu bezeichnen.

Dieses erweiterte, vieldimensionale Verständnis von Gesundheit zeigt auf, dass Gesundheitsarbeit weit mehr umfasst als medizinische Dienste, und weist der Kirche und den Gemeinden durchaus eine Aufgabe auf dem Ge-biet des Heilens zu.

Heilende GemeindeWas ergibt sich aus einer erweiterten Sicht von Gesundheit für das Ver-ständnis des Heilungsauftrags der Kirchen und Gemeinden heute?Das Dokument „Das christliche Verständnis von Gesundheit, Heilung und Ganzheit“ beschreibt eine heilende Gemeinde unter anderem so:Die Gemeinde nimmt ihr heilendes Amt wahr durch:– Gebet für die Kranken– Bekenntnis und Vergebung– Handauflegung– Salbung– Eucharistie– kreative Heilungsliturgien– Unterstützung derer, die heilende Tätigkeiten ausüben– Lehrstätten für Menschen in Heilberufen– Gebrauch der charismatischen Gaben– Fürsorge in der Gemeinde– Einübung neuer VerhaltensweisenDies geschieht im Dienste der Gerechtigkeit, des Friedens und der Bewah-rung der Schöpfung.

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Diese Aufzählung zeigt die Vieldimensionalität des heilenden Dienstes in den Gemeinden. Dieser schließt liturgische Handlungen und das hei-lende Handeln Einzelner wie auch der Gemeinschaft nach innen und nach außen ein.

Die neuere ökumenische DiskussionIn den 80er und 90er Jahren waren die Themen „Heilung“ und „hei-lende Gemeinde“ in den ökumenischen Diskussionen zwar immer wieder präsent, aber nicht zentral – im Mittelpunkt standen die Themen „Ge- rechtigkeit“, „Befreiung“ und „Inkulturation des Evangeliums“.Am Beginn des dritten Jahrtausends jedoch scheint aus einem Neben- ein Hauptthema zu werden, es zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab: Die Themen „Heilung“ und „heilende Gemeinde“ treten in den Vordergrund und stehen im Zentrum zahlreicher Konferenzen.Im Jahr 2003 fanden zwei große Konferenzen zum Bereich Heilung statt: Die zehnte Vollversammlung des Lutherischen Weltbunds in Winnipeg/Kanada stand unter der Überschrift „Zur Heilung der Welt“. Die zwölfte Vollversammlung der Konferenz Europäischer Kirchen in Trondheim/Norwegen behandelte das Thema „Jesus Christus heilt und versöhnt. Un-ser Zeugnis in Europa“. ImÖRK-Dokument „Der Heilungsauftrag der Kirche“ wird gefragt: „Wie kann die örtliche Glaubensgemeinschaft ein Raum für Vergebung, Versöhnung und Heilung von Beziehungen, von Leib und Seele sein?“ Als Formen des vielfältigen heilenden Dienstes der Ortsgemeinde nennt der Text die Zuwendung zu Leidenden, besondere Heilungsgottesdienste, das Suchen nach Krankheitsursachen, Hilfe für von HIV/Aids Betroffene, für Alkoholkranke und Drogenabhängige.Die 24. Generalversammlung des Reformierten Weltbunds im Jahr 2004 in Accra/Ghana stellte das Konferenzthema „Auf dass alle das Leben in Fülle haben“ ebenfalls in den Kontext von Heilung.Auf Initiative des ÖRK fanden in Hamburg (2000), in London (2002), in Accra/Ghana (2002) sowie in Santiago de Chile (2003) kleinere Kon-ferenzen im Hinblick auf die Weltmissionskonferenz in Athen statt. Bei allen diesen Konferenzen waren sich die Teilnehmenden einig: Wenn wir als Christinnen und Christen von Heilung und von heilender Gemeinde reden, dann gehen wir von einer erweiterten und vieldimensionalen Sicht von Heilung und Gesundheit aus.Die Teilnehmenden der Konferenz in London zum Thema „Towards Full-ness of Life“ einigten sich auf folgende Umschreibung für „heilende Ge-meinde“: „Die Kirche als heilende Gemeinschaft und Gemeinde soll ein

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sicherer Ort sein. Sie soll ein Ort sein, an dem Menschen sich Erfahrungen von Not und von Heilung, von Problemen und von Schmerzen erzählen können, ohne gerichtet zu werden, ein Ort, an dem man um das Gebet um Heilung bittet wie auch um die Kraft auszuhalten, ein Ort, an dem man Hilfe ersuchen kann, ohne dass Geld oder das Einhalten bestimmter Rituale die Voraussetzung sind.“

Das Thema „Glaube und Heilung“ und die Rolle religiöser Gemein-schaften in Bezug auf Heilung und Gesundheit sind auch Themen von universitären Programmen in den USA und in Südafrika.Seit über 30 Jahren gehen in den USA epidemiologische Untersuchungen der Frage nach, welchen Einfluss die Religiosität eines Menschen und seine Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft auf seine Gesundheit ha-ben. Nachdem – statistisch gesehen – ein positiver Einfluss von Religiosität auf die körperliche und seelische Gesundheit wahrscheinlich ist, rückte die Rolle der religiösen Gemeinschaften in Bezug auf Gesundheit ganz neu ins Blickfeld. An der Rollins School of Public Health der Emory University in Atlanta wurde 1992 das „Interfaith Health Program“ etabliert, das diesen Zusammenhängen nachgeht.Dieses Programm lehrt uns eine neue Sicht auf die religiösen Gemein-schaften: Anstatt, wie oft, deren Defizite zu sehen und zu benennen, werden die Möglichkeiten der Gemeinden in Bezug auf Gesundheit im weiten Sinne in den Blick genommen. Gary Gunderson, der Leiter des Programms, zeigt acht Stärken religiöser Gemeinschaften auf: „Gemeinden begleiten, bringen Menschen zusammen und bringen sie in Beziehung. Sie bieten geschützte Räume und einen Bezugsrahmen. Sie segnen, beten und sind verlässlich.“ Diese Stärken von Gemeinden „sind die Kanäle, durch die – so können wir erwarten – Gott in unsere Mitte kommt und das Leben in unseren Gemeinden wachsen lässt“.In diesem Zusammenhang wurde der Begriff „Religious Health Assets“ geprägt. „Asset“ – zunächst einmal ein Begriff aus der Ökonomie, der das zur Verfügung stehende Vermögen oder Kapital meint – bezeichnet hier die Stärken, Schätze, das Potential, die Ressourcen von Religionen und religiösen Gemeinschaften in Bezug auf Gesundheit.Von Atlanta aus wurde inzwischen ein weltweiter Prozess angeregt, der auch für andere Kontinente die „Assets“ von Religionen und religiösen Gemeinschaften dokumentieren und neu ins Bewusstsein bringen soll. Als ein erster Schritt wurde in Zusammenarbeit mit der Universität Kapstadt im Jahr 2003 das „African Religious Health Assets Program“ (ARHAP) initiiert. ARHAP setzt sich zum Ziel, für Afrika südlich der Sahara die

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Bedeutung religiöser Strukturen in Bezug auf Gesundheit im weitesten Sinne aufzuzeigen. So soll unter anderem dokumentiert werden, dass die Kirchen ein bis in die entferntesten geographischen Gebiete verzweigtes Netz bilden, das ein von den Regierungen und auch den internationalen Geldgebern noch nicht richtig genütztes gesundheitsförderndes Potential bildet. Anstatt zum Beispiel zur Bekämpfung von HIV/Aids neue staat-liche Strukturen aufzubauen, wäre es sinnvoll, die bestehenden Strukturen der Glaubensgemeinschaften zu nutzen und zusammen mit staatlichen Strukturen Synergieeffekte zu bilden.

Heilende Gemeinde angesichts von HIV/AidsDie HIV/Aids-Pandemie ist und bleibt ein Thema, das die Kirchen und Gemeinden in ganz besonderer Weise herausfordert. Von den weltweit etwa 40 Millionen Menschen, die mit HIV/Aids leben, sind schätzung-sweise 25-30 Millionen getaufte Christen. HIV-positive und aidskranke Menschen leben unter uns, auch wenn sie – besonders in den reichen Län-dern – nicht in Erscheinung treten.Wie gehen die Kirchen und Gemeinden mit dem Thema HIV/Aids und mit den betroffenen Menschen um? Die folgenden Ausführungen beziehen sich vor allem auf die Situation in den Ländern Afrikas südlich der Sahara, in denen mehr als zwei Drittel der von HIV/Aids betroffenen Menschen leben.Positiv und unbedingt hervorzuheben ist, dass die Kirchen und Ge- meinden sich schon sehr früh im Verlauf der Pandemie in der Pflege Aidskranker sowie in der Unterstützung von Waisen und Witwen ein- gesetzt haben, nicht selten in Situationen, in denen die staatliche Un-terstützung unzureichend war. Nach Schätzungen wird in Afrika jeder dritte oder sogar jeder zweite Aidskranke in einer kirchlichen Einrichtung versorgt. Im Umfeld vieler Gemeinden entstanden vorbildlich wirkende Programme zur häuslichen Pflege, Gemeinde getragene Programme zur Betreuung Aidskranker, in denen sich ungezählte ehrenamtliche Gemein-deglieder engagieren.Trotz der beispielhaften Gemeinde getragenen Zuwendung zu den von HIV/Aids Betroffenen sagten und sagen viele HIV-Infizierte und Aids-kranke in Afrika, ihre Kirchengemeinde sei „der letzte Ort“, an dem sie sich zu ihrer Infektion bekennen würden. Und in der Tat: Trotz des Engage-ments für die Aidskranken haben die Kirchen und die Gemeinden lange dazu beigetragen, das psychische Leiden der Betroffenen zu vermehren. Gemeinden betrachteten HIV/Aids als das Problem von Randgruppen,

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indem sie HIV/Aids mit Sünde, nicht akzeptierten Formen von Sexualität, mit Promiskuität, Drogenabhängigkeit und Kriminalität in Verbindung brachten und Aids nicht selten als die Strafe Gottes für individuelle Sün-den betrachteten.Inzwischen hat in den Kirchen ein Umdenken begonnen und es wird im-mer mehr gesehen, dass die Verhaltensweisen, die das Risiko einer HIV-Infektion mit sich bringen, wesentlich durch strukturelle Ursachen, durch Armut und soziale Ungerechtigkeit, bedingt sind.Eingeleitet wurde dieses Umdenken durch die Studie des Ökumenischen Rats „Aids und die Kirchen“ aus dem Jahr 1997. Mit dem Bild der Kirche als „Leib mit vielen Gliedern“ (1. Korinther 12) fordert die Studie dazu auf, „die Tatsache zu akzeptieren, wie schmerzlich sie auch sein mag, dass das Virus in unseren Leib eingedrungen ist“.Ausgehend von dieser Tatsache wird die Vision von einer heilenden Ge-meinde angesichts von HIV/Aids entwickelt: „Weil sie der Leib Christi ist, ruft die Kirche ihre Glieder auf, zu heilenden Gemeinschaften zu werden. [...] Die Erfahrung der Liebe, der Akzeptanz und der Unterstützung in-nerhalb einer Gemeinschaft, in der Gottes Liebe sichtbar gemacht wird, kann eine starke heilende Kraft freisetzen.“ In der Studie wird ausdrücklich betont, dass „heilend“ zu sein mehr bedeutet als die helfende Zuwendung zu den Betroffenen: „Volle Gemeinschaft ist mehr als Barmherzigkeit und Fürsorge. Viele HIV-Infizierte haben uns gesagt, sie wollen von uns Chris-ten keine Barmherzigkeit. Sie wollen angenommen sein, so wie sie sind. Sie wollen unsere Unterstützung in ihrem Kampf um das Leben.“Heilend für HIV-Infizierte und Aidskranke ist eine Gemeinde, die „ein Sanktuarium, ein Zufluchtsort“, „ein sicherer Ort“ ist, an dem „man sich in einer Atmosphäre der Annahme, der Liebe und der gegenseitigen An-teilnahme mitteilen kann“.

Wenn die Kirchen ihr Schweigen zu HIV/Aids brechen und Betroffene sich nicht mehr als stigmatisiert und diskriminiert erfahren, dann können Gemeinden einen enormen Beitrag zur Prävention von HIV/Aids leisten. Die religiösen Gemeinschaften etwa in Afrika können ihre Mitglieder Woche für Woche erreichen. Besonders wichtig ist die Sexualaufklärung von Jugendlichen, gerade in den afrikanischen Gesellschaften, in denen es für Eltern traditionell nicht üblich ist, mit Kindern über Sexualität zu reden. Wenn Jugendliche die Gemeinden als Orte erleben, an denen offen über Sexualität und über die Möglichkeiten, sich vor HIV/Aids zu schüt-zen, geredet werden kann, ist dies ein nicht hoch genug zu schätzender Beitrag der Gemeinden zur HIV/Aids-Prävention.

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Heilende Gemeinde – Missverständnisse und GefahrenDie Rede vom Heilungsauftrag der Gemeinde und der Ausdruck „heilende Gemeinde“ führten und führen nicht selten zu Widerspruch und Ableh-nung.Auf Ablehnung stößt die Vorstellung vom heilenden Wirken der Ge-meinde bei denen, die von unserem westlichen, naturwissenschaftlich geprägten Begriff von Heilung ausgehen und „heilen“ dementsprechend ausschließlich als die Beseitigung körperlicher oder seelischer Defizite ver-stehen. Die Rede von der „heilenden Gemeinde“ weckt dann den Ein-druck, es ginge hier in erster Linie um ein Heilen im medizinischen Sinne, eventuell geradezu in Konkurrenz zur modernen Medizin. Während im angelsächsischen Sprachraum durch die Unterscheidung zwischen „to heal“ und „to cure“ mit dem Ausdruck „healing community“ eindeutig mehr gemeint ist als das Beseitigen körperlicher und seelischer Gebrechen, haben wir im Deutschen kaum eine Möglichkeit der begrifflichen Dif-ferenzierung.Heilung – im erweiterten Sinne – geschieht zum Beispiel gerade auch dann, wenn es durch die Erfahrung eines tragenden Netzes der Gemeinschaft und des Gebets von Mitmenschen einem medizinisch unheilbar kranken Menschen möglich ist, sich mit seiner Krankheit, mit seinen Mitmenschen und mit Gott auszusöhnen. Hier geschieht Heilung in einem tiefen Sinne, obwohl eine Heilung im medizinischen Sinne nicht eintritt.Einwände gegen die Rede von der heilenden Gemeinde werden vor allem von dem Theologen Ulrich Bach vorgetragen. Er weist besonders darauf hin, dass der Begriff „heilende Gemeinde“ aktivistisch missverstanden werden kann in dem Sinne, dass in einer heilenden Gemeinde alles von menschlicher Aktivität abhinge, dass einzelne Starke, Gesunde, sich den Schwachen, Kranken, zuwenden. Zu den vielerlei Aktivitäten in den Ge-meinden käme jetzt also auch noch die Verpflichtung, heilend zu wirken. Es ist gut, auf dieses Missverständnis hinzuweisen und es ist wichtig, zu umschreiben, was wir mit dem Ausdruck meinen: Eine Gemeinde „wirkt“ nicht heilend aus sich selbst und aus eigener Kraft, sondern in der Ge- meinde ist es möglich, die heilende Nähe Gottes im Leben der Gemein-schaft und der Einzelnen zu erbitten, zu erfahren und einander mitzuteilen. Eine heilende Gemeinde ist eine Gemeinschaft von „Nicht-Perfekten“, die ihre jeweiligen Stärken füreinander und miteinander einsetzen und alles von Gott erwarten.Gibt es im Deutschen Alternativen zum Ausdruck „heilende Gemeinde“? Drücken Begriffe wie „solidarische Gemeinde“, „diakonische Gemeinde“,

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„fürsorgende Gemeinde“, „akzeptierende Gemeinde“ oder „teilende Ge-meinde“ das Gemeinte eindeutiger aus? Ich denke, nein – nur der Begriff „heilende Gemeinde“ ist weit genug, das breite Spektrum dessen auszu-drücken, was möglich ist, wenn wir uns als Gemeinschaft dem Wirken Gottes in der Welt und im eigenen Leben öffnen.

Gemeinden in Deutschland: Orte der Heilung?Man kann zwar sagen, die Kirchen verlieren in Europa zunehmend an Einfluss, darf daraus aber nicht den Schluss ziehen, Gott und die Religion würden in unserer Welt an Bedeutung verlieren und bald ein vergessenes Phänomen sein.Gerade heute sind Menschen, die sich nach körperlicher und seelischer Heilung oder nach Heilung gestörter Beziehungen sehnen, offen für Gott und auf der Suche nach lebensfördernder Spiritualität. Viele suchen und finden Antworten auf ihre Bedürfnisse und Fragen bei östlichen Reli-gionen und neuen religiösen Bewegungen. Sprechen auch unsere christ-lichen Gemeinden Menschen auf der Suche an, sind sie geeignet, Heimat und einen Bezugsrahmen zu geben, mit anderen Worten: Sind sie heilende Gemeinden?Die Menschen unserer Zeit binden sich nicht mehr deswegen an eine Re-ligionsform, weil sie um ihr ewiges Heil bangen, sondern weil sie auf der Suche nach konkreter Hilfe für ihr Leben hier und heute sind. Der Theo-loge Eugen Biser formuliert: „Empfänglich für die christliche Botschaft ist heute nicht mehr der Mensch in seinem Sündenbewusstsein, sondern der Mensch in der Heillosigkeit seiner ganzen Existenz mit seinem intensiven Bedürfnis nach Heilung.“Erfahren Menschen heute eine „Zeitgenossenschaft“ der Kirche und der Gemeinden mit ihrer Lebenswelt? Sind unsere Gemeinden Orte, an denen sie die Leben gewährende Zuwendung Gottes zu jeder und jedem erfahren? Lernen junge Menschen in den Gemeinden Menschen kennen, die – vom Geist Gottes inspiriert – ansteckende Zeuginnen und Zeugen des Evange-liums sind?

Von Europa aus wurde die ökumenische Diskussion um Gesundheit, Heilung und heilende Gemeinde seit Mitte des 20. Jahrhunderts initiiert und wesentlich beeinflusst. Innerhalb Europas jedoch, besonders auch in Deutschland, wurde die Theologie der heilenden Gemeinde kaum auf-genommen.Am Beginn des dritten Jahrtausends könnte der Prozess, der zunächst

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von Europa ausging, in umgekehrter Richtung verlaufen: Wir haben die Chance, von den Gemeinden und Bewegungen in den jungen Kirchen zu lernen und uns von ihnen inspirieren zu lassen. Wir können die Möglich-keiten, die „Assets“ der Gemeinden im Bereich von Heilung neu sehen und entdecken: die Eucharistie als Sakrament der Heilung, heilende Riten, vielfältige charismatische Gaben der Gemeindeglieder, das Gebet mitei-nander, füreinander und für andere, die Möglichkeit, ein soziales Netz zu bilden und in den Gemeinden eine Atmosphäre der Annahme und des Wohlwollens zu pflegen.

Einiges ist schon in Bewegung gekommen: In vielen Gemeinden gibt es Besuchsdienste für ältere und kranke Gemeindemitglieder. Mancherorts werden Gottesdienste gefeiert, in denen für Kranke und Belastete gebetet wird und Segnung und Salbung angeboten werden. Es bilden sich Ge-betskreise, die Menschen und Anliegen im Gebet vor Gott bringen und mittragen.„Komm, Heiliger Geist, heile und versöhne. In Christus berufen, versöh-nende und heilende Gemeinschaften zu sein“ – die Weltmissionskonferenz in Athen hat uns eingeladen, uns als weltweite Kirche dem Wirken des Geistes Gottes zu öffnen und darauf zu vertrauen, dass wir Gottes Ge-meinschaft stiftende, versöhnende und heilende Nähe in unseren Gemein-den erfahren und bezeugen dürfen.

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Der Heilungsauftrag der KircheAuszug aus: The Healing Mission of the Church1

Ökumenischer Rat der Kirchen (ÖRK),übersetzt vom ÖRK-Sprachendienst

Das vorliegende Dokument wurde von einer multikulturellen und inter-denominationellen Gruppe von Missionswissenschaftlern/-innen, Ärz-ten/-innen und medizinischen Fachkräften erarbeitet.2 Es baut auf der Tra-dition der Christlichen Gesundheitskommission des ÖRK (CMC) und deren höchst fruchtbarem Beitrag zum Verständnis des heilenden Dienstes der Kirche auf. Dieses Dokument wiederholt nicht, was in früheren Tex-ten des Ökumenischen Rates der Kirchen gut formuliert erhalten bleibt, wie in dem 1990 vom Zentralausschuss angenommenen Dokument „Hea- ling and Wholeness. The Churches’ Role in Health“ (Heilung und Ganzheit. Die Rolle der Kirchen in der Gesundheitsarbeit). Jener Text stellt den Dienst der Heilung in den Kontext der Bemühungen um Gerechtig-keit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung hinein und bleibt weiterhin ein wesentlicher Beitrag, der sich in einer inzwischen globalisierten Welt als immer dringlicher erwiesen hat. Das vorliegende Studiendokument konzentriert sich hauptsächlich auf einige medizinische und theologisch-spirituelle Aspekte des heilenden Dienstes und deren Verbindung mit ei-nem neueren ökumenischen Missionsverständnis. Es wird 2005 in Athen der Konferenz über Weltmission und Evangelisation (CWME) vorgelegt als Hintergrundpapier und als wichtiger Beitrag zu einem Dialog über die Relevanz des Konferenzthemas „Komm, Heiliger Geist, heile und versöh-ne! In Christus berufen, versöhnende und heilende Gemeinschaften zu sein“. Es sollte gemeinsam mit dem von der CWME-Kommission empfohle-nen Studiendokument über „Mission als Dienst der Versöhnung“3 gelesen werden. Das vorliegende Dokument erhebt nicht den Anspruch, letztgültige Aus-sagen über Heilung oder Mission zu machen, sondern hofft, die Debatte zu bereichern und Christen/-innen und Kirchen dazu zu befähigen, ihrer Berufung besser nachzukommen.

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Der globale Kontext von Gesundheit und Krankheit Weltweiten Statistiken über das Vorkommen und die Verbreitung von Krankheiten, über deren Belastung für Gemeinschaften und Gesellschaften und über Sterblichkeitsraten basieren auf einem wissenschaftlichen Ver-ständnis von Krankheit und auf epidemiologischen Methoden zur Bemes-sung von Krankheiten und deren Auswirkungen.4 In der medizinischen Wissenschaft bezieht sich Krankheit auf eine feststellbare Fehlfunktion der menschlichen Physiologie. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass dieses Verständnis sich wesensmäßig von einer stärker ganzheitlichen Interpreta-tion von Gesundheit und Krankheiten unterscheidet, wie sie in ÖRK-Krei-sen üblich ist, und die nach den gängigen Methoden nicht quantifizierbar und daher für statistische Analysen nicht leicht verwendbar ist. […]

Heilung und Kultur Wie Gesundheit und Heilung definiert und Krankheit und Leiden erklärt werden, hängt weitgehend vom kulturellen Umfeld und von den Sitten ab. In ökumenischen Missionskreisen wird Kultur gewöhnlich in einem wei-teren Sinne verstanden, der nicht nur Literatur, Musik und Kunst umfasst, sondern auch Wertvorstellungen, Strukturen, Weltsicht, Ethik wie auch Religion.10 […]

Die zentrale Rolle des Heilens und die Mission der Alten KircheEs lohnt sich, daran zu erinnern, dass das Wachstum der frühen Kirche im zweiten und dritten Jahrhundert unter anderem auf die Tatsache zurück-zuführen war, dass das Christentum sich gegenüber den Gesellschaften im Mittelmeerraum als eine heilende Bewegung darstellte. Die Bedeutung der verschiedenen heilenden Dienste innerhalb der Kirche kommt in den früh-en Missionsberichten im Neuen Testament zum Ausdruck. Viele Schriften der frühen Kirchenväter bekräftigen ebenfalls die zentrale Rolle der Kirche als einer heilenden Gemeinschaft und verkündigen Christus gegenüber der hellenistischen Religiosität als den Heiler der Welt.

Indem das Christentum bekräftigte, dass Gott selbst im Leben seines Soh-nes Erfahrungen der Schwachheit durchlebt hat und sogar den Tod selbst erfahren hat, verwandelte es das Gottesverständnis auf revolutionäre Weise und veränderte tief greifend die Grundeinstellung der Glaubensgemein-schaft zu den Kranken, den Alten und den Sterbenden. Es trug entschei-dend dazu bei, die konventionellen Verfahrensweisen und Mechanismen

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der Ausgrenzung, der Diskriminierung und der religiösen Stigmatisierung der Kranken und Gebrechlichen zu durchbrechen. Es beendete die Assozi-ierung des Göttlichen mit Idealen einer vollkommenen, gesunden, schönen und leidenslosen Existenz. Die veränderte Einstellung zu den Kranken, den Witwen und den Armen erwies sich als eine entscheidende Quelle für den missionarischen Erfolg und die Lebenskraft der Alten Kirche. Die Klöster blieben durch die Pflege der Kranken weiterhin Inseln der Hoff-nung. […]

Ein ganzheitliches und ausgewogenes Verständnis des christlichen Dienstes der Heilung[…] Nach einer in der biblisch-theologischen Tradition der Kirche verwur-zelten Anthropologie wird der Mensch als eine „multidimensionale Ein-heit“ verstanden.11 Leib, Seele und Geist sind nicht voneinander getrennte Größen, sondern sind miteinander verbunden und voneinander abhängig. Daher hat die Gesundheit physische, psychologische und spirituelle Di-mensionen. Der einzelne Mensch ist auch Teil der Gemeinschaft. Somit hat die Gesundheit auch eine soziale Dimension und wegen der Interak-tion zwischen der natürlichen Umwelt (Biosphäre) und Menschen oder Gemeinschaften hat die Gesundheit sogar eine ökologische Dimension.

Dies hat den Ökumenischen Rat der Kirchen zu folgender Definition von Gesundheit geführt: „Gesundheit ist ein dynamischer Zustand des Wohl-befindens des einzelnen Menschen und der Gesellschaft, des körperlichen, seelischen, geistigen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Wohlbefin-dens, des Lebens in Harmonie miteinander, mit der materiellen Umwelt und mit Gott.“12 Ein solches holistisches Verständnis geht davon aus, dass Gesundheit kein statischer Begriff ist, bei dem eine klare Unterscheidung gemacht wird zwischen denjenigen, die gesund sind und denjenigen, die es nicht sind. Jeder Mensch bewegt sich ständig zwischen unterschiedlichen Graden von gesund Bleiben und Kämpfen gegen Infektionen und Krankheiten. Ein solches Verständnis von Gesundheit kommt der Auffassung nahe, die sich in der neueren Debatte und Forschung über gesundheitsfördernde Fakto-ren abzeichnet.13 Ein solches holistisches Verständnis hat auch Konsequenzen für das Ver-ständnis der Mission der Kirche: Zum christlichen Dienst des Heilens ge-hören sowohl die Praxis der Medizin (für körperliche und geistige Gesund-heit) als auch Pflege- und Beratungsdisziplinen und spirituelle Praktiken.

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Buße, Gebet und/oder Handauflegung, göttliche Heilung, Rituale mit Berührung und Zärtlichkeit, Vergebung und das Teilhaben an der Eucha-ristie können im physischen wie auch im sozialen Bereich der Menschen wichtige und zuweilen außergewöhnliche Auswirkungen haben. Alle diese verschiedenartigen Mittel gehören zu Gottes Wirken in der Schöpfung und seiner Gegenwart in der Kirche. Die heutige wissenschaftliche Me-dizin wie auch andere medizinische Vorgehensweisen machen sich das zu-nutze, was in der von Gott geschaffenen Welt vorhanden ist. Heilung mit „medizinischen Mitteln“ ist nicht als minderwertig (oder sogar unnötig) im Vergleich mit Heilung durch andere oder durch „spirituelle“ Mittel zu verstehen. […]

Neue Versuche, das Verständnis des Heilungsauftrags der Kirche zu vertiefenEine der gründlichsten neueren Studien wurde im Namen der Kirche von England von einer Arbeitsgruppe durchgeführt, die vom House of Bishops beauftragt wurde. Sie erstellte einen bemerkenswert umfassenden Bericht, in dem folgende Definition von Heilung entwickelt wurde: „[…] ein auf Gesundheit und Ganzheit ausgerichteter Prozess […] Er umfasst, was Gott durch die Inkarnation Jesu Christi für die Menschen erreicht hat… Gottes Gaben der Heilung werden gelegentlich unmittelbar und rasch erfahren, doch in den meisten Fällen ist Heilung ein allmählicher Prozess, der Zeit braucht, um auf mehr als einer Ebene eine tief greifende Wiederherstel-lung zu bewirken.“14

Es ist auch bemerkenswert, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehrere wichtige ökumenische kirchliche Versammlungen – wie die Vollversam-mlung des Lutherischen Weltbunds (LWB) in Winnipeg/Kanada, die Vollversammlung der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) in Trond-heim/Norwegen und die Ratstagung des Reformierten Weltbunds (RWB) in Accra/Ghana ihre Aufmerksamkeit direkt oder indirekt auf den heilen-den Dienst der Kirche in einer von Leiden und Gewalt zerrissenen Welt konzentriert haben. Folgender Auszug aus dem erst kürzlich veröffentli-chten Missionsdokument des LWB spricht für viele dieser Bemühungen: „Nach der Heiligen Schrift ist Gott die Quelle aller Heilung. Im Alten Testament hängen Heilung und Erlösung zusammen und haben in vielen Fällen die gleiche Bedeutung: ‚Heile mich, Herr, so werde ich heil; hilf du mir, so ist mir geholfen’ (Jeremia 17,14). Das Neue Testament setzt jedoch Heilung von einer Krankheit nicht mit der Erlösung gleich. Es

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unterscheidet zudem zwischen Genesung und Heilung. Einige mögen ge-sund, aber nicht geheilt werden (Lukas 17,15-19), während andere nicht gesund, aber geheilt werden (2. Korinther 12,7-9). ‚Genesung’ bedeutet, dass die verloren gegangene Gesundheit wiederhergestellt wird und be-zeichnet somit eine protologische Sicht. Heilung wiederum bezieht sich auf die eschatologische Wirklichkeit des Lebens in Fülle, das durch das Christusgeschehen hereinbricht, durch den verwundeten Heiler, der an al-len Bereichen des menschlichen Leidens, Sterbens und Lebens teilhat und durch seine Auferstehung Verletzung, Leiden und Tod überwindet. In die-sem Sinne verweisen Heilung und Erlösung auf dieselbe eschatologische Wirklichkeit.“15

Neuer Dialog zwischen verschiedenen Weltsichten im Blick auf die Wirklichkeit spiritueller KräfteInfolge des raschen Anwachsens pfingstlerisch-charismatischer Bewe- gungen und ihres Einflusses quer durch das ökumenische Spektrum sind in den letzten Jahren Begriffe wie „Machtbegegnung“, „Dämon(ologie)“ und „Fürstentümer/Mächte und Gewalten“ als Themen für die heutige missiologische Diskussion und Forschung interessant geworden, wie auch insbesondere die Frage der göttlichen Heilung. Exorzismus, Austreibung böser Geister und „Hexendämonologie“ sind ebenfalls Begriffe, die heute in bestimmten christlichen Kreisen häufiger benutzt werden.16

Das Reden über Dämonen und böse Geister ist natürlich weder in der christlichen Theologie noch im kirchlichen Leben ein neues Phänomen. Die christliche Kirche hat durch ihre Geschichte hindurch – insbesondere während der ersten Jahrhunderte und später, meistens unter schwärme-rischen, charismatischen Erneuerungsbewegungen – entweder besonders begabte/gesegnete Personen für den Kampf gegen böse Mächte ernannt (Exorzisten) oder zumindest die Wirklichkeit geistiger Mächte anerkannt.

Die schnelle Verbreitung der christlichen Kirchen in den Kulturen außer-halb des Westens hat ebenfalls dazu beigetragen, dass die Frage der Dämo-nologie stärker an Bedeutung gewann. Christen/-innen in Afrika, Asien, Lateinamerika und im pazifischen Raum neigen dazu, gegenüber dem Ge-danken der Wirklichkeit solcher Mächte offener zu sein. In vielen dieser Kulturen ist auch außerhalb des christlichen Glaubens die Verbindung mit geistigen Mächten weit verbreitet. Einer der Hauptgründe, warum die westlichen Kirchen – insbesondere die

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historischen protestantischen Kirchen – während mehrerer Jahrhunderte der ganzen Frage der geistigen Mächte ausgewichen sind, hat etwas mit dem besonderen Charakter ihrer Weltsicht zu tun, die auf den Einfluss der Aufklärung zurückgeht. Die christliche Theologie und die Ausbildung der Geistlichen ignorierten dieses Thema nicht nur, sondern trugen häufig auch dazu bei, selbst die biblische Redeweise über Dämonen und geistige Mächte zu „entmythologisieren“. Frühere Texte des ÖRK über Heilung und Gesundheit haben sich mit dieser Frage ebenfalls nicht hinreichend befasst.17 Zur Zeit findet in der westlichen Kultur ein Paradigmenwechsel statt – häufig als Postmoderne bezeichnet –, der eine enge rationalistische Weltsicht und Theologie in Frage stellt.

Gottes HeilungsauftragGott Vater, Sohn und Heiliger Geist führen die Schöpfung und die Menschheit zur vollen Verwirklichung des Gottesreiches, das die Pro-pheten ankündigen und als versöhnte und geheilte Beziehung zwischen Schöpfung und Gott, Menschheit und Gott, Menschheit und Schöpfung, zwischen Menschen als Einzelpersonen und als Gruppen oder Gesell-schaften erwarten (Heilung im vollsten Sinne als „schalom“, Jesaja 65,17-25). Dies wird in der Missionswissenschaft als „missio Dei“ bezeichnet. In einer trinitarischen Sicht sind die schöpfungsbezogenen, sozio-relationel-len und geistig-energetischen Dimensionen der Heilung in wechselseitiger Abhängigkeit miteinander verwoben. Während wir die dynamische Wirklichkeit der Mission Gottes in der Welt und der Schöpfung bekräftigen, bekennen wir auch deren tiefes Ge-heimnis, das über das Erfassen durch menschliche Erkenntnis hinausgeht (Hiob 38-39). Wir freuen uns, wenn immer Gottes Gegenwart in wun-derbarer und befreiender Heilung, in Veränderungen im Leben und in der Geschichte der Menschen und als Befähigung zu einem Leben in Würde zum Ausdruck kommt. Wir schließen uns auch dem Schrei des Psal- misten und Hiobs an, um den Schöpfer herauszufordern, wenn Böses und unerklärliches Leid uns empört und auf die Abwesenheit eines gnädigen und gerechten Gottes hinzuweisen scheint: „Warum, o Gott? Warum ich, Herr? Wie lange noch?“ Inmitten einer zutiefst ambivalenten und para-doxen Welt bekräftigen wir unseren Glauben an und unsere Hoffnung auf einen Gott, der heilt und sorgt. Als Christen/-innen bekennen wir das vollkommene Bild Gottes, wie es sich in Jesus Christus offenbart, der kam, um durch sein Leben, seine Taten und Worte zu bezeugen, wie Gott sich um die Menschheit und die Schöpfung sorgt. Die Fleischwerdung Gottes

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in Christus bekräftigt, dass Gottes heilende Kraft uns nicht von dieser Welt oder vor allen materiellen und körperlichen Problemen erlöst, sondern in-mitten dieser Welt und all ihrer Schmerzen, Gebrochenheit und Zertren-nung geschieht, und dass Heilung die ganze menschliche Existenz umfasst. Jesus Christus ist Kern und Mitte von Gottes Mission, die Personalisierung des Gottesreiches. In der Kraft des Heiligen Geistes war Jesus von Nazareth ein Heiler, Exorzist, Lehrer, Prophet, Wegführer und Anreger. Er brachte und schenkte Freiheit von Sünde, Bösem, Schmerz, Leiden, Krankheit, Gebrochenheit, Hass und Uneinigkeit (Lukas 4,16ff., Matthäus 11,2-6). Was das Heilen Jesu Christi besonders auszeichnete, war sein Gespür für die Nöte der Menschen, insbesondere der Verletzbaren, die Tatsache, dass er „berührt“ wurde und mit Heilen antwortete (Lukas 8,42-48), seine Be-reitschaft zuzuhören und für Veränderung offen zu sein (Markus 7,24-30), seine Weigerung, eine Verzögerung bei der Linderung von Leiden hinzunehmen (Lukas 13,10-13) und seine Autorität über Traditionen und böse Geister. Im Gegensatz zu dem, was wir gewöhnlich bei Heilungen erleben, führten Jesu Heilungen stets zu einer völligen Wiederherstellung von Leib und Seele. Er eröffnete die neue Schöpfung, die „Endzeit“ (escha-ton) durch Zeichen und Wunder, die hinweisen auf die Fülle des Lebens, die Überwindung von Leiden und Tod, wie es von Gott verheißen und von den Propheten angekündet wurde. Doch diese Wundertaten waren nicht mehr als Zeichen oder Hinweise. Christus heilte diejenigen, die zu ihm kamen oder zu ihm gebracht wurden. Er heilte jedoch nicht alle Kranken seiner Zeit. Das bereits gegenwärtige Reich Gottes wird noch erwartet. „Heilung ist eine Wegstrecke hin zur Vollkommenheit der endgültigen Hoffnung, doch diese Vollkommenheit wird nicht immer in der Gegen-wart vollständig verwirklicht (Römer 8,22).“18

Jesu Wirken als Heiler und Exorzist weist insbesondere hin auf die Vollendung seines Dienstes am Kreuz: Er kam, um Heil zu schenken und die Beziehung mit Gott zu heilen, was Paulus später als „Versöhnung“ be-zeichnete (2. Korinther 5). Dies tat er durch Dienst und Opfer, indem er den von Jesaja (52,13-53,12) prophezeiten Dienst des „verwundeten Heilers“ erfüllte. Christi Tod am Kreuz ist somit sowohl Protest gegen alles Leiden (Markus 15,34) als auch Sieg über die Sünde und das Böse. Indem Gott Christus auferweckte, rechtfertigte Gott Jesu Dienst und gab ihm bleibende Bedeutung. Das Kreuz und die Auferstehung Christi bekräfti-gen, dass Gottes heilende Kraft nicht von der Realität des Schmerzes, der Gebrochenheit und des Sterbens losgelöst ist oder darüber steht, sondern bis in die Tiefe des Leidens der Menschen und der Schöpfung hineinreicht und in die äußerste Tiefe der Finsternis und Verzweiflung Licht und Hoff-

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nung bringt. Das Bild des auferstandenen Christus lässt sich finden unter leidenden Menschen (Matthäus 25,31-46) wie auch unter verletzbaren und verwundeten Heilern (Matthäus 28,20; 10,16; 2. Korinther 12,9; Jo-hannes 15,20).In der ökumenischen Missiologie geht man davon aus, dass der Heilige Geist als Herr und Lebensspender in der Kirche und in der Welt wirksam ist. Das beständige Wirken des Heiligen Geistes in der ganzen Schöp-fung, das Zeichen und einen Vorgeschmack der neuen Schöpfung mit sich bringt (2. Korinther 5,17), bekräftigt, dass die heilende Kraft Gottes alle räumlichen und zeitlichen Grenzen überwindet und sowohl innerhalb als auch außerhalb der christlichen Kirche am Werk ist und die Menschheit und die Schöpfung in der Perspektive der zukünftigen Welt verwandelt. Gott, der Heilige Geist, ist der Lebensquell für das Leben des einzelnen Christen und der Gemeinschaft (Johannes 7,37-39). Der Heilige Geist befähigt die Kirche zur Mission und rüstet sie mit vielfältigen Charismen aus, wie z.B. der Gabe des Heilens durch Gebet und Handauflegung, der Gabe der Tröstung und der Seelsorge für diejenigen, deren Leiden endlos zu sein scheint, der Geistesgabe des Exorzismus zur Austreibung von Geis-tern, der Vollmacht zur Prophetie, um die strukturellen Sünden anzupran-gern, die für Ungerechtigkeit und Tod verantwortlich sind, und der Gabe der Weisheit und Erkenntnis, die für wissenschaftliche Forschung und Ausübung medizinischer Berufe notwendig ist. Doch Gott, der Heilige Geist, befähigt die christliche Gemeinschaft auch zu vergeben, Wunden zu heilen, Trennungen zu überwinden und sich so auf volle Gemeinschaft hinzubewegen. So erfüllt, erweitert und entgrenzt der Heilige Geist die hei-lende und vergebende Mission Christi. Durch sein Seufzen in Kirche und Schöpfung (Römer 8) verwirklicht der Geist auch Christi Solidarität mit den Leidenden und bezeugt damit die Kraft der göttlichen Gnade, die sich paradoxerweise auch in Schwachheit und Krankheit manifestiert (2. Ko-rinther 12,9). Der Heilige Geist erfüllt die Kirche mit der verwandelnden Autorität des auferstandenen Herrn, der heilt und vom Bösen befreit, und mit der Barmherzigkeit des leidenden Gottesknechts, der für die Sünde der Welt stirbt und die Unterdrückten tröstet. Eine vom Geist geleitete Mis-sion umfasst zugleich mutiges Zeugnis und eine demütige Präsenz.

Gesundheit, Heilung und die Vorstellung von geistigen KräftenEins der hervortretenden Merkmale, mit denen der heilende Dienst Jesu im Neuen Testament beschrieben wird, ist das der letztgültigen Autorität

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über alle das Leben entstellenden und zerstörenden Kräfte einschließlich des Todes (Lukas 7,11-17; Johannes 11,11; Markus 5,35-43). Das bib-lische Weltbild setzt die Wirklichkeit der unsichtbaren Welt voraus und verbindet mit Geistern und der Geistwelt Macht und Autorität. In Jesus Christus ist das Reich Gottes nahe gekommen (Matthäus 4,17; Lukas 11,20) und ließ die Dämonen „zittern“ (Jakobus 2,19), weil sie erkannten, dass Christus gekommen war, um „die Werke des Teufels zu zerstören“ (1. Johannes 3,8; vgl. Kolosser 2,15). Da mehrere biblische Heilungsgeschichten sich auf Dämonen und böse Geister als Ursache von Krankheit beziehen, wird der Exorzismus folglich zu einem der ge-bräuchlichsten Heilmittel (Markus 1,23-28; 5,9; 7,32-35; Lukas 4,33-37; Matthäus 8,16; Johannes 5,1-8), denn die Diagnose bestimmt die The-rapie. Es gibt daher tatsächlich eine Form der Heilung, die in der Bibel als eine Machtbegegnung zwischen Christus und den bösen Kräften dar- gestellt wird, eine spezifische Form des Heilungsauftrags, die heute in meh-reren Kirchen besonders hervorgehoben wird, insbesondere in Kirchen mit pfingstlerischem und charismatischem Hintergrund. Durch Auferstehung und Himmelfahrt hat Christus alle bösen Mächte überwunden. Die Kirche feiert diesen Sieg in der Liturgie. Durch ihr Zeugnis und ihre Mission bezeugt die Kirche, dass die Mächte – alle Mäch- te – besiegt wurden und ihnen somit ihre bindende Gewalt über das menschliche Leben genommen wurde. Diejenigen, die Christus nachfol-gen, wagen es, in seinem Namen alle anderen Mächte zu brandmarken und in Frage zu stellen, und bringen so die frohe Botschaft: „Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt böse Geister aus“ (Matthäus 10,7; vgl. Markus 16,9-20). […]

Heilung, Krankheit und Sünde. Das „jetzt schon und noch nicht“ des GottesreichesWenngleich das Böse und die Sünde in Christus überwunden wurden, gibt es immer noch viele Katastrophen, Krankheiten, Mängel und Leiden (physischer, moralischer, geistiger und sozialer Art), die die Ankunft des Gottesreiches zu leugnen scheinen. Die Bibel kennt die Tradition, die be-sagt, dass Krankheit oder Unglück eine göttliche Antwort auf persönli-che oder kollektive Sünde sein kann. Die Propheten haben das Gottesvolk beständig dazu aufgerufen, Buße zu tun für seinen Ungehorsam gegenüber dem Wort Gottes. Das Neue Testament kennt die mögliche Verbindung zwischen Sünde und Krankheit (1. Korinther 11,28-34). Jesus selbst leug-

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net jedoch nachdrücklich eine direkte Beziehung zwischen persönlicher Sünde und Krankheit: „Wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern? […] es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm“ (Johannes 9,2). In ähn-licher Weise lässt er in seinen Antworten auf Fragen im Zusammenhang mit Unglücken die Frage ihrer Ursache offen (Lukas 13,1-5) und verweist stattdessen auf die dringende Notwendigkeit, zu Gott umzukehren und dem von ihm gebotenen Leben zu folgen. In der Zeit zwischen Ostern und dem Ende der Geschichte geht das Leiden weiter. Die Evangelien geben keine Erklärung für dieses Geheimnis. Doch der Heilige Geist stärkt die Kirche für ihren heilenden und versöhnenden Auftrag und befähigt Menschen dazu, im Lichte der Erlösung Christi mit der Fortdauer von Leiden und Krankheit fertig zu werden. Weil Christus den Preis für alle Sünde gezahlt hat und das Heil bringt, kann letztlich keine Macht den Menschen schaden, die ihr Vertrauen auf die in Christus offenbarte Liebe Gottes setzen (Römer 8,31-39).

Am Ende wird Christus seinem Vater das von Krankheit, Leiden und Tod befreite Reich übergeben (1. Korinther 15,24). In diesem Reich wird die Heilung vollkommen sein. Darin liegt die gemeinsame Wurzel von Hei-lung und Heil (salus). „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein“ (Offenbarung 21,4).

Kirche, Gemeinschaft und MissionDas Wesen und die Mission der Kirche ergeben sich aus der Identität und Mission des Dreieinigen Gottes selbst, mit deren besonderem Akzent auf der Gemeinschaft, in der Miteinanderteilen in dynamischer Interdepen-denz geübt wird. Es gehört zum innersten Wesen der Kirche – verstanden als der durch den Heiligen Geist geschaffene Leib Christi –, als eine hei-lende Gemeinschaft zu leben, heilende Charismen zu erkennen und zu pflegen und Dienste der Heilung als sichtbare Zeichen der Gegenwart des Gottesreiches zu unterhalten.20 […]Es muss erneut bekräftigt werden, was im Dokument „Mission und Evan-gelisation in Einheit heute“21 erklärt wurde, nämlich dass „Mission eine ganzheitliche Bedeutung hat: die Verkündigung und das Miteinander-teilen der frohen Botschaft des Evangeliums durch Wort (kerygma), Tat (diakonia), Gebet und Gottesdienst (leiturgia) und das alltägliche Zeug-nis des christlichen Lebens (martyria), Lehre als Aufbau und Stärkung der Menschen in ihrer Beziehung zu Gott und zueinander und Heilung als

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Ganzheit und Versöhnung zur Gemeinschaft (koinonia) mit Gott, Ge-meinschaft mit Menschen und Gemeinschaft mit der Schöpfung als gan-zer.“

Heilen der Wunden in Kirchen- und MissionsgeschichteWenn christliche Kirchen vom heilenden Dienst als einem unerlässlichen Element/Aspekt des Leibes Christi sprechen, müssen sie sich auch ihrer eigenen Vergangenheit und Gegenwart stellen, wo sie eine lange und oft konfliktreiche Geschichte miteinander teilen. Kirchenspaltungen, Rivalität in Mission und Evangelisation, Proselytismus, Ausgrenzung von Personen oder ganzen Kirchen aus dogmatischen Gründen, Verurteilungen verschie-dener kirchlicher Traditionen, die als häretische Bewegungen geächtet wurden, aber auch unangemessene Kollaboration zwischen Kirchen und politischen Bewegungen oder wirtschaftlichen und politischen Mächten haben in vielen Teilen des einen Leibes Christi tiefe Spuren und Wunden hinterlassen und wirken sich weiterhin schädlich auf interdenominatio-nelle Beziehungen aus. Christen/-innen und Kirchen brauchen immer noch dringend Heilung und gegenseitige Versöhnung. Die Tagesordnung der kirchlichen Einheit bleibt ein wesentlicher Teil des Heilungsauftrags. Die ökumenische Bewe-gung war und ist weiterhin eine der verheißungsvollsten und hoffnungs-vollsten Instrumente für die notwendigen Heilungs- und Versöhnung-sprozesse innerhalb der Christenheit. Was solche Prozesse bedeuten und beinhalten, ist in dem Dokument „Mission und der Dienst der Versöh-nung“ beschrieben worden, das im Jahr 2004 von der CWME-Kommis-sion empfohlen wurde.22

Die örtliche christliche Gemeinschaft als vorrangiger Ort für den heilenden DienstDie Tübinger Konsultationen von 1964 und 196723 bekräftigten, dass die örtliche Gemeinde oder christliche Gemeinschaft der Hauptakteur für Heilung ist. Es wurde hervorgehoben, dass bei aller Notwendigkeit und Legitimität spezialisierter christlicher Einrichtungen wie Krankenhäusern, Diensten für elementare Gesundheitsversorgung und besonderen Pflege-heimen jede christliche Gemeinschaft als solche – als der Leib Christi – eine heilende Bedeutung und Relevanz hat. Die Art und Weise, wie Menschen in einer örtlichen Gemeinschaft aufgenommen, begrüßt und behandelt werden, hat eine tief greifende Auswirkung auf deren heilende Funktion. Die Art und Weise, wie ein Netzwerk der gegenseitigen Unterstützung,

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des aufeinander Hörens und der wechselseitigen Sorge in einer Ortsge- meinde erhalten und gefördert wird, bringt die heilende Kraft der Kirche als ganzer zum Ausdruck. Alle Grundfunktionen der Ortsgemeinde haben auch für die breitere Gemeinschaft eine heilende Dimension: die Verkün-digung des Wortes Gottes als eine Botschaft der Hoffnung und des Trostes, die Feier der Eucharistie als ein Zeichen der Versöhnung und der Wieder-herstellung, der seelsorgerliche Dienst eines jeden Gläubigen, das persönli-che und gemeinschaftliche Fürbittgebet für alle Glieder und insbesondere für die Kranken.24 Jedes einzelne Glied einer Ortsgemeinde hat eine ein-zigartige Gabe, um zum gesamten heilenden Dienst der Kirche beizutra-gen.

Die charismatische Gabe des HeilensNach der biblischen Tradition sind der christlichen Gemeinschaft durch den Heiligen Geist vielfältige Gaben des Geistes anvertraut (1. Korinther 12), unter denen Charismen, die für den heilenden Dienst wesentlich sind, eine herausragende Rolle spielen. Alle Gaben des Heilens innerhalb einer gegebenen Gemeinschaft brauchen eine bewusste Ermutigung, geistliche Stärkung, Fortbildung und Bereicherung, aber auch einen eigenen Dienst der seelsorgerlichen Begleitung und der kirchlichen Aufsicht. Charismen sind nicht auf so genannte „übernatürliche“ Gaben beschränkt, die über das allgemeine Verständnis und/oder die persönliche Weltsicht hinausge-hen, sondern sind in einem weiteren Sinne zu verstehen, in dem sowohl Begabungen als auch Verfahrensweisen der modernen Medizin, alternative medizinische Ansätze wie auch Gaben der traditionellen Heilung und spi-rituelle Formen der Heilung zu ihrem eigenen Recht kommen. Von den wichtigsten Mitteln und Ansätzen des Heilens innerhalb der christlichen Tradition sollten folgende erwähnt werden: - die Gabe des Gebets für Kranke und Trauernde - die Gabe der Handauflegung - die Gabe der Segnung - die Gabe der Salbung mit Öl - die Gabe der Beichte und der Buße - die Gabe der Tröstung - die Gabe der Vergebung - die Gabe des Heilens von verwundeten Erinnerungen - die Gabe des Heilens zerbrochener Beziehungen und/oder des Familien-stammbaums - die Gabe des meditativen Gebets

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- die Gabe der schweigenden Präsenz - die Gabe des gegenseitigen Zuhörens - die Gabe der Abwendung und Austreibung böser Geister (Dienst der Befreiung) - die Gabe der Prophetie (in persönlichen und sozio-politischen Be-reichen)

Die Eucharistie als christliches Heilungsgeschehen par excellenceDie Feier der Eucharistie wird von der Mehrheit der Christen als die he-rausragendste Gabe der Heilung und als einzigartiger Heilungsakt in der Kirche in allen ihren Ausdrucksformen angesehen. Wenngleich der we-sentliche Beitrag der Eucharistie zur Heilung nicht von allen denomina-tionellen Traditionen in gleicher Weise verstanden wird, wird der sakra-mentale Aspekt des christlichen Heilens heute in vielen Kirchen in tiefer gehender Weise geschätzt und zum Ausdruck gebracht. In der Eucharistie erfahren Christen/-innen, was es bedeutet, zusammengebracht und ver-eint zu werden, wieder zum Leib Christi gemacht zu werden über alle so-zialen, sprachlichen und kulturellen Grenzen hinweg, jedoch noch nicht über konfessionelle Grenzen hinweg. Die verbleibende Trennung zwischen Kirchen, die eine gemeinsame Feier am Tisch des Herrn verhindert, ist der Grund, warum es vielen Christen/-innen schwer fällt, die Eucharis-tie als das Heilungsgeschehen par excellence zu verstehen und zu erleben. Die eucharistische Liturgie bietet jedoch den Rahmen und den sichtbaren Ausdruck für Gottes heilende Gegenwart inmitten der Kirche und durch sie in der Mission gegenüber dieser gebrochenen Welt. Der Heilungsas-pekt der Eucharistie wird unterstrichen durch die weit in die Alte Kirche zurückreichende Tradition, die verlangt, dass man sich vor der Teilhabe an der Eucharistie mit Bruder oder Schwester versöhnt. Er kommt außerdem durch den Austausch des Friedensgrußes und die Vergebung der Sünden zwischen Gott und den Gläubigen in der Beichtliturgie zum Ausdruck. Es gibt auch sehr frühe Belege für die christliche Praxis, die Eucharistie mit den Kranken zu teilen und sie in Wohnungen und Krankenhäuser zu bringen. Der für die leidende Welt gebrochene Leib Christi wird als die zentrale Gabe der heilenden Gnade Gottes empfangen. Jede eucharistische Feier stellt zugleich die Gemeinschaft der Kirche wieder her und erneuert die heilenden Gaben und Charismen. Nach alten Quellen ist die litur-gische Tradition der Salbung der Kranken mit Öl in der eucharistischen Feier verwurzelt. In der römisch-katholischen wie in der orthodoxen Tradi-

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tion wird das für die Krankensalbung verwendete Öl25 in der Liturgie der Segnung des Öls während der Karwoche durch den Ortsbischof geweiht (Chrismations-Messe), wodurch der heilende Dienst der Kirche sowohl in der Eucharistie als auch in Kreuz und Auferstehung Christi verankert wurde.

Die heilende Dimension des Gottesdienstes Es gilt für alle christlichen Denominationen und kirchlichen Traditionen, dass die gottesdienstliche Gemeinde und der Gottesdienst selbst eine tief greifend heilende Dimension haben können. Sich in Lobpreis und Klage Gott zu öffnen, sich den anderen als einer Gemeinschaft von Glaubenden anzuschließen, von der Schuld und den Lasten des Lebens befreit zu werden, selbst unglaubliche Gesundung zu erfahren, sich vom Erleben des Gesangs und des Lobpreises entflammen zu lassen, das sind ungeheuer heilende Erfahrungen. Es muss jedoch auch anerkannt werden, dass dies niemals selbstverständlich ist. Unangemessene Formen des christlichen Gottes- dienstes, wie triumphalistische „Heilungsgottesdienste“, in denen der Hei-ler auf Kosten Gottes verherrlicht wird und in denen falsche Hoffnungen geweckt werden, können Menschen zutiefst verletzen und schädigen. An vielen Orten werden jedoch noch besondere monatliche oder wöchentli-che Gottesdienste als authentisches Zeugnis von Gottes heilender Kraft und Fürsorge erlebt. In einem solchen Gottesdienst werden ausdrücklich die Nöte von Menschen angesprochen, die aus der Erfahrung von Verlust, innerer Zerrissenheit, Verzweiflung oder körperlicher Krankheit Heilung suchen. In vielen kirchlichen Traditionen wird im Gottesdienst die Eucha-ristie verbunden mit dem Ritual des persönlichen Gebets für die Kranken und der Handauflegung als einer angemessenen Antwort auf den Auftrag der Kirche wie auf die Sehnsucht nach Heilung im Volk. Der Beitrag des Pentekostalismus und der charismatischen Bewegung sowohl innerhalb als auch außerhalb der historischen Kirchen zur gegenwärtigen Erneue-rung des Verständnisses der heilenden Dimension des Gottesdienstes und der Mission im Allgemeinen muss in diesem Zusammenhang anerkannt werden. […]

Ordinierte und Laien im heilenden Dienst[…] Wie jede einzelne Kirche am besten den Auftrag der örtlichen Ge-meinschaft erkennen und die Verantwortung der Ordinierten und der Laien im Blick auf den Heilungsdienst zum Ausdruck bringen kann, hängt von ihrer eigenen Tradition und Struktur ab. Die Kirche von Eng-

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land hat zum Beispiel an vielen Orten auf Diözesanebene einen Berater/eine Beraterin für Heilungsdienste ernannt. Diese/-r Beauftragte ist dafür verantwortlich, in Zusammenarbeit mit dem Regionalbischof neu entste-hende Heilungsdienste durch Ermutigung, Unterweisung und auch geistli-che und seelsorgerliche Beratung zu fördern. Dadurch erhält der heilende Dienst der Kirche eine sichtbare Anerkennung und Unterstützung in der Kirche als ganzer, anstatt lediglich an spezialisierte Einrichtungen delegiert oder auf einen Ort begrenzt zu werden. […]

Offene Fragen und notwendige DebattenDieses Kapitel enthält Fragen, über die Christen aus verschiedenen deno-minationellen Traditionen und/oder unterschiedlicher kultureller Herkunft weiterhin diskutieren. Dies bedeutet nicht, dass alle unten aufgeführten Aussagen umstritten sind, doch über deren Reichweite und Folgen wird diskutiert.

Alle Heilung kommt von Gott. Christliche heilende Spiritualität und nicht-christliche HeilpraktikenDass alle Heilung von Gott kommt, ist eine Überzeugung, die von den meisten, wenn nicht von allen, christlichen Traditionen geteilt wird.28 Es wird jedoch darüber debattiert, welche Konsequenz sich aus einer solchen Aussage ergibt für das Verständnis von Menschen und Traditionen oder Heilpraktiken in anderen Religionen. […]

Keine Heilpraxis ist völlig neutral. Sie muss jeweils kritisch theologisch geprüft werden. Das heißt nicht, dass beispielsweise keinerlei Yoga- oder Reikipraktiken in christlichen Gemeindezentren angebracht wären. Sie können, wie viele Christen/-innen im Westen glauben, in einer Weise praktiziert werden, die nicht zu einer Aufweichung oder grundlegenden Verzerrung des christlichen Glaubens und der christlichen Gemeinschaft führt. Die Kirche ist sich stets dessen bewusst gewesen, dass Gott Einblicke darin geben kann, wie die Schöpfung wirkt, und durch Völker anderer Sprachen, Kulturen und sogar religiöser Traditionen zur Heilung beitragen kann, und dies gilt auch für den Bereich der medizinischen Behandlung, der alternativen Medizin und der alternativen Heilpraktiken.

Vorsicht oder sogar ausdrücklich Ablehnung werden indessen überall dort empfohlen, wo - religiöse Abhängigkeit von dem Heiler/der Heilerin oder Guru ge-

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schaffen wird;,- absoluter spiritueller, sozialer oder wirtschaftlicher Gehorsam verlangt wird,- Menschen durch Heilpraktiken in einem Geist der Bedrohung, der Angst oder der Knechtschaft gefangen gehalten werden, - der Erfolg einer Heilung von grundlegenden Veränderungen in der re-ligiösen Weltsicht der Christen/-innen abhängig gemacht wird. […]

Debatte über die Vorstellungen von Dämonologie und Machtbegegnung[…] Unter pfingstlerisch-charismatischen Christen/-innen – aber darüber hinaus auch unter denjenigen, die weiterhin der Tradition des klassisch-en Christentums folgen – bedeutet die Bezeichnung „Mächte/Kräfte“ gewöhnlich geistige Mächte/Kräfte, böse Geister, Dämonen. Folglich wird „Machtbegegnung“ verstanden als eine Begegnung zwischen der (geisti-gen) Kraft Gottes und anderen Göttern/Geistwirklichkeiten. Diese Chris-ten glauben, dass der wahre Gott seine Macht über andere beweisen wird. Es ist zwar wichtig, dass bei einem solchen Dialog die komplexen Ver-wicklungen der Geistwelten, die in dem und neben dem postmodernen Zeitalter gedeihen, nicht vereinfacht werden, doch gleichzeitig sollte ein solcher Dialog jedem Versuch widerstehen, den Heiligen Geist zu einem mächtigen Mittel zum Zweck zu machen, als ob die Kirche Gott rechtfer-tigen müsste.29 Die Kirche soll den lebendigen Gott bezeugen. Sie muss nicht beweisen, dass Gott im Recht ist. […]Das pfingstlerisch-charismatische Interesse an Machtbegegnung stellt uns vor ernste Herausforderungen und kann theologische und seelsorgerliche Probleme mit sich bringen. Der Gedanke der „Machtbegegnung“, wie er oben beschrieben wurde, kann zu einer triumphalistischen, aggressiven Darstellung des Evangeliums führen. In einigen Fällen werden „Geistern“ Einfluss und Macht zugeschrieben, die über das hinausgehen, was theolo-gisch angemessen erscheint, und wodurch die Bedeutung von persönlicher und kollektiver Verantwortung verwischt wird. […]

Teilen von Ressourcen und Erkenntnissen Viele kirchliche Traditionen haben ihre eigenen reichen Erkenntnisse und liturgischen wie theologischen Schätze und können heute zu einem ganzheitlichen Verständnis und einer neuen Wertschätzung des christli-chen Gesundheits- und Heilungsdienstes beitragen. Die anglikanische, die orthodoxe und die römisch-katholische Tradition bieten eigene und

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unterschiedliche Heilungsliturgien. Es wird dazu ermutigt, diese unter an-deren Denominationen und Traditionen bekannt zu machen und solche liturgischen Ordnungen, die innerhalb der ökumenischen Kirchengemein-schaft vorhanden sind, miteinander zu teilen. […]

Die Notwendigkeit Runder Tische über die Zukunft von Gesundheit, Spiritualität und HeilungIn vielen Ländern befinden sich etablierte Institutionen im Gesundheits-wesen in einem Prozess der Umgestaltung und der institutionellen Krise, teilweise aufgrund von wirtschaftlichen Faktoren und mangelnder finan-zieller Stabilität, Mängeln im Bereich von Management und Leitung, stei-genden Kosten in der technologisch hoch entwickelten Medizin, verän-derten Verhaltensformen der Patienten/-innen, mangelnder Einwilligung der Patienten/-innen und demographischer Unausgewogenheit in vielen westlichen Ländern. Historisch gesehen hat die christliche Mission bei der Schaffung und Gestaltung des Gesundheitswesens in vielen Ländern des Südens eine Pionierrolle gespielt. Sie trägt auch Verantwortung dafür, ihren Beitrag dazu zu leisten, dass die Krise der etablierten Institutionen der Ge-sundheitsfürsorge zu Beginn des 21. Jahrhunderts überwunden wird.

Entsprechend der Tradition der Christlichen Gesundheitskommission und neuerer Vorschläge30 wird angeregt, dass die in den verschiedenen Regionen der Welt bestehenden christlichen Gesundheitskommissionen und Gesundheitsvereinigungen sich zusammentun und interdisziplinäre Gesprächsforen über die Zukunft der Gesundheitsfürsorge und der Ge-sundheitssysteme im Westen wie im Süden bilden. Man sollte sich um Möglichkeiten des Austauschs und der Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen regionalen christlichen Gesundheitsvereini-gungen bemühen, um dem christlichen Dienst des Heilens neues Profil zu geben und ihn vor den Augen der Welt sichtbarer und effektiver zu machen.

Fußnoten:1 Die vollständige Fassung dieses Grundsatzdokuments kann – in der englischen und in der deutschen Version – eingesehen werden unter: http://www.oikoumene.org/en/resources/documents/other-meetings/mission-and-evangelism/athens-2005-documents/preparatory-paper-n-11-the-healing-mission-of-the-church.html.2 Beate Jakob und Dietrich Werner waren Mitglieder dieser Gruppe.3 CWME-Vorbereitungspapier Nr. 10, http://www.oikoumene.org/en/resources/documents/other-meetings/mission-and-evangelism/athens-2005-documents/preparatory-paper-n-10-mission-as-ministry-of-reconciliation.html.4 Vgl. Christina de Vries, The Global Health Situation: Priorities for the Churches’ Health Ministry

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beyond AD 2000, in: International Review of Missions (IRM), Bd. 90, Nr. 356f., 149ff.10 Die Frage nach der Beziehung zwischen Evangelium und Kulturen wurde 1996 von der Weltmissionskonferenz in Salvador eingehend behandelt, vgl. Christopher Duraisingh (Hg.), Called to One Hope. The gospel in diverse cultures, Genf 1998.11 Ein Begriff, der insbesondere von Paul Tillich entwickelt wurde. Vgl. Paul Tillich, The meaning of health (1961), in: Ders., Writings in the Philosophy of Culture/Kulturphilosophische Schriften (Main works/Hauptwerke 2) hg.v. Michael Palmer, Berlin/New York 1990, 342-352. Ders., The relation of religion and health. Historical considerations and theoretical questions (1946), in: aaO., 209-238. Ders., Systematic Theology, Bd. 3: Life and the Spirit. History and the Kingdom of God, Chicago 1963, 275-282.12 CMC/WCC (Hg.), Healing and Wholeness, Genf 1990, 6.13 Ein Beispiel sind die Diskussionen um den Begriff „Salutogenese“, der vom medizinischen Soziologen Aaron Antonowsky entwickelt wurde und sich auf diejenigen Faktoren konzentriert, die dazu beitragen, Gesundheit und Wohlbefinden an Leib und Seele zu erhalten, statt sich auf Faktoren zu fixieren, die Krankheiten verursachen.14 Church of England (Hg.), A Time to Heal. A Report for the House of Bishops of the General Synod of the Church of England on the Healing Ministry, London 2000.15 LWB (Hg.), Mission im Kontext. Verwandlung, Versöhnung und Befähigung. Ein Beitrag des LWB zu Verständnis und Praxis der Mission, Genf 2004.16 Vgl. Divine Healing, Pentecostalism and Mission, in: IRM 93 (2004).17 Z.B. CMC/WCC (Hg.), Healing and Wholeness, Genf 1990.18 Gruppenbericht aus einer 2002 in Ghana durchgeführten Konsultation mit Pfingstlern, in: IRM 93 (2004), 371.20 Dies bezieht sich auf Gemeinden wie auch auf kirchliche Institutionen der Gesundheitsfürsorge und spezialisierte diakonische Dienste.21 http://www.oikoumene.org/de/dokumentation/documents/oerk-kommissionen/weltmission-und-evangelisation/konferenz-fuer-weltmission-athen-2005/vorbereitungspapier-nr-1-mission-und-evangelisation-in-einheit-heute.html.22 http://www.oikoumene.org/de/dokumentation/documents/oerk-kommissionen/weltmission-und-evangelisation/konferenz-fuer-weltmission-athen-2005/vorbereitungspapier-nr-10-mission-als-dienst-der-versoehnung.html.23 Zwei Konsultationen, die im Deutschen Institut für Ärztliche Mission (Difäm) in Tübingen/Deutschland durchgeführt wurden und am Anfang der Gründung der Christlichen Gesundheitskommission und der ÖRK-Arbeit im Bereich der Gesundheit standen. Vgl. WCC (Hg.), The Healing Church. The Tübingen Consultation 1964, 2. Auflage Genf 1965; James C. McGilvray, The Quest for Health and Wholeness, Tübingen 1981, deutsch unter dem Titel „Die verlorene Gesundheit – Das verheißene Heil”, Stuttgart 1982.24 Vgl. das ausgezeichnete Kapitel über die heilende Gemeinschaft in: CMC/WCC (Hg.), Healing and Wholeness, Genf 1990, 31f.25 Erst im Mittelalter wurde diese Tradition beschränkt auf ein sakramentales Zeichen, das den Sterbenden als „letzte Ölung“ vorbehalten wurde.28 Vgl. Gruppenbericht aus einer 2002 in Ghana durchgeführten Konsultation mit Pfingstlern, in: IRM 93 (2004); vgl. auch LWB (Hg.), Missionserklärung, 39. Die Aussage, dass alle Heilung von Gott kommt, ist bereits in den Dokumenten zu finden, die sich aus der Tübinger Konsultation von 1964 ergeben haben, vgl. WCC (Hg.), The Healing Church. The Tübingen Consultation 1964, 2. Auflage Genf 1965, 36.29 Gott rechtfertigt vielmehr die Kirche (Matthäus 10,19-20; Lukas 21,15; Markus 13,11).30 Vgl. die Ergebnisse der im Jahr 2000 in Hamburg veranstalteten Konsultation zum Thema „Health, Faith and Healing“, in: IRM 90 (2001).

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Christliche Identität, alternative Heilungsansätze und moderne EsoterikGrundsätze zur Orientierung für Kirche und Gemeinde

Ulrich LaeppleHarald Lamprecht

Reinhard HempelmannDietrich Werner

Im Zusammenhang der Studientagung „Christliche Identität und alternative Heilungsansätze heute“, die im Christian Jensen Kolleg, Breklum, stattfand (31.10.06-2.11.06), haben Reinhard Hempelmann (Evangelische Zentral-stelle für Weltanschauungsfragen, EZW), Dietrich Werner (Nordelbisches Mis-sionszentrum, NMZ), Harald Lamprecht (Evangelisch-Lutherische Kirche Sachsen) und Ulrich Laepple (Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste, AMD) ein Grundsatzpapier vorgestellt, das wir im Folgenden gekürzt wie-dergeben.

Ausgangspunkte und ZieleWenn Menschen heute krank werden, suchen sie oft nicht nur Hilfe beim Arzt, sondern auch bei Heilpraktikern, Heilern, Therapeuten, Meditati-onslehrern und Energetikern. […] Für Mitglieder der christlichen Kirchen stellt sich dabei die Frage, welchen Behandlungsformen sie persönlich ihr Vertrauen schenken möchten. Zum anderen sind Gemeinden als ganze he-rausgefordert zu klären, wie sie sich zu Heilungsansätzen einer bestimmten Richtung verhalten, wenn z.B. in kirchlichen Räumen oder kirchlichen Bildungsstätten entsprechende Kurse angeboten werden. Dabei sind zwei idealtypische Reaktionen zu beobachten:

- Einerseits die pauschale Ablehnung, die getragen und motiviert ist von der Erfahrung, dass viele dieser Verfahren mit außerchristlichen religiösen Vorstellungen und Praktiken verknüpft sind. Die berechtigte Sorge vor einer Verfremdung des christlichen Glaubens führt dazu, vorschnell das zu verdammen, was der eigenen Kulturprägung nicht entspricht.

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- Auf der anderen Seite steht eine kritiklose Annahme. Sie ist bestimmt durch die zunächst berechtigte Einsicht, dass es zwischen Himmel und Erde mehr als das gibt, was wissenschaftlich beweisbar ist, dass auch an-dere Völker hilfreiche Erfahrungen und eigene Ansätze in der Behandlung von Krankheiten gewonnen haben. Die Offenheit für neue Techniken und Therapien geht mit einer weitgehenden Unfähigkeit einher, religiöse Ver-einnahmungen und psychosoziale Abhängigkeiten zu erkennen, die sich aus manchen dieser Verfahren ergeben können.

Der vorliegende Grundsatztext möchte aus der Mitte der christlichen Heilsbotschaft Orientierungsperspektiven und Kriterien für den Umgang mit alternativen Heilweisen aufzeigen und dafür plädieren, die berechti-gten Anliegen beider Reaktionsmuster aufzugreifen, ihre Übertreibungen und Irrtümer jedoch zu vermeiden. Dabei […] werden aus der Perspektive des evangelischen Verständnisses von Gott, Mensch und Welt Kriterien benannt, die zu einer differenzierten Beurteilung befähigen sollen. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass diese Einsichten für die kirchliche Praxis fruchtbar werden

- sowohl für anstehende Entscheidungen z.B. in einem Kirchenvorstand oder in einer Gemeinde im Blick auf alternative Heilungspraktiken (Bin-nenorientierung: Selbstverständigung) - wie auch für den immer wichtiger werdenden Dialog mit Menschen, die durch alternative Heilungspraktiken einen neuen Zugang zu spirituellen Vollzügen gefunden haben (Außenorientierung: Dialog).Der Orientierungstext möchte auch zu einem interdisziplinären Dialog über Gesundheit, Heilung und Spiritualität beitragen, der in anderen Re-gionen wie Südafrika, Norwegen und Amerika bereits seit längerem unter dem Motto „Religious Health Assets“ bekannt ist und auch in Deutsch-land eine wichtige Zukunftsaufgabe und Chance für kirchliches Handeln darstellt.

Eine neue religiöse SuchbewegungMitten in einer häufig kirchlich distanzierten und religiös-institutionell ungebundenen Gesellschaft macht sich eine Wiederkehr des Religiösen und eine Intensivierung religiöser Suchbewegungen bemerkbar. […] Diese Entwicklungen sollten in Kirche und Gemeinde sorgfältig wahrgenom-men werden, denn sie verlangen nach selbstkritischer Prüfung und theolo-gischer Orientierung. […]

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Die Sehnsucht nach HeilungDas verborgene Leitthema in vielen Ausprägungen religiöser Sinnsuche ist die Sehnsucht nach ganzheitlicher Heilung. Dabei geht es um die Ent-deckung der heilenden Bedeutung von Meditation, Körperübung, Berüh-rung, Gedanken und Trance. […] In der Suche nach Heilung, Balance und Stimmigkeit des Lebens als Leitmotiv der religiösen Suche spiegelt sich die zentrale Stellung des Bereichs der Gesundheit und die wiederentdeckte Be-deutung der Leib-Seele-Einheit in den westlichen Gesellschaften. Obwohl das moderne medizinische System in vielen Bereichen atemberaubende Möglichkeiten zur Wiederherstellung der körperlichen Funktionsfähigkeit offeriert, sind diese aber nicht gleichbedeutend mit „Heilung“ im umfas-senden Sinn. Z.B. kann der dauergestresste Manager, dem ein Herzinfarkt durch Katheterisierung und Dilatierung beseitigt wird, nach einer Woche an seinen Arbeitsplatz zurückkehren, „als wäre nichts geschehen“. Er selbst ist „kuriert“, seine Lebensweise ist jedoch nicht „geheilt“.

Der Protest gegen eine geheimnisleere Wirklichkeitsauf-fassungEsoterische Religiosität antwortet auf den Hunger der Menschen nach er-fahrbarer Spiritualität in westlichen Gesellschaften und auf Ermüdungser-scheinungen einer lediglich rationalen Weltbewältigung. Sie zeigt ebenso, dass für viele Christen/-innen die Erfahrung von Spiritualität, seelisch-kör-perlicher Einheit und innerer Heilung offensichtlich nicht deutlich genug vermittelt oder anschaulich und lebendig wird. […]

Differenzierte Wahrnehmung und LernbereitschaftFür den Dialog mit Heilungsansätzen, die sich nichtchristlicher Herkunft verdanken, ist ein genaues Wahrnehmen ihres jeweiligen Selbstver- ständnisses wesentliche Voraussetzung für eine verantwortliche Beurteilung aus christlicher Sicht. Im theologischen Gespräch mit alternativen Hei- lungsansätzen steht sowohl das Gottesverständnis als auch das Menschen-bild zur Diskussion. Dialog und Auseinandersetzung mit alternativen Ansätzen des Heilens helfen den christlichen Gemeinden, vernachlässigte Aspekte des eigenen christlichen Glaubens neu zu entdecken und zu ver-tiefen: die Erschließung der therapeutischen Dimension von Glaube und Liturgie, die Vertiefung eines Verständnisses des Heiligen Geistes als Kraft zu einem neuen Leben, die Wiederentdeckung der Leiblichkeit in der The-ologie und Frömmigkeitspraxis.

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Gott als geisthaftes Prinzip oder ansprechbares GegenüberZu den kontrovers diskutierten Themenbereichen gehört die Frage, wie sich das christliche Gottesbild zu einem energetisch-unpersönlichen Bild Gottes verhält, wie es in asiatisch und esoterisch orientierten Konzepten bestimmend ist, die etwa von der kosmischen Energie (Chi, Ki, Prana, Kundalini etc.) ausgehen. […] Jedenfalls gibt es fließende Übergänge zwischen bestimmten Ansätzen der Vorstellung einer kosmisch-univer-salen Lebensenergie zu einem problematischen, letztlich pantheistischen Denken, bei dem der in der jüdisch-christlichen Tradition verankerte Un-terschied zwischen Schöpfer und Geschöpf vernachlässigt und verwischt wird. Von Gott reden kann sich aus christlicher Perspektive eben nicht darin erschöpfen, von einer unpersönlichen Energie, einem geisthaften Prinzip oder einer Urenergie des Kosmos zu sprechen. Vielmehr setzen die Sprache der Bibel und der Vollzug des christlichen Gottesdienstes ein Got-tesverständnis voraus, nach dem Gott der von der Welt zu unterscheidende Schöpfer des Himmels und der Erde und ein ansprechbares personales Gegenüber für alle Menschen ist. […] Allerdings wird in der christlichen Tradition Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist auch als derjenige ver-standen, der als schöpferische, heilende und liebende Macht in allem ge-genwärtig ist und wirkt und sich allen Menschen heilvoll zuwendet. Insbe-sondere die in der Denktradition der hellenistischen Antike verwurzelten orthodoxen Kirchen kennen die Redeweise von den im ganzen Kosmos wirkenden Energien Gottes, die – rückgebunden an das Verständnis des dreieinigen Gottes – in den Dialog mit Vertretern esoterischer Anschau-ungen einzubringen ist.

Heilung für den ganzen MenschenZu den Schlüsselfragen gehört ebenso das Verständnis des Menschseins, das biblisch-alttestamentlich nur ganzheitlich als Einheit von Leiblichkeit und Sozialität, von Geist, Körper und Seele gedacht werden kann.Das hat Folgen für ein multidimensionales Verständnis von Gesundheit und Krankheit. In jedem Zustand von Gesundheit/Krankheit sind jeweils alle Dimensionen des Menschlichen gleichermaßen beteiligt, die physisch-somatische, die soziale, die geistig-mentale und die spirituell-religiöse Di-mension. Heilverfahren, die eine wesentliche Dimension des Menschen prinzipiell ausklammern, abwerten oder nivellieren, tragen nicht zu einem ganzheitlichen Verständnis menschlichen Heilwerdens bei. Das gilt für eine Ausklammerung der spirituell-religiösen Dimension des Heilwerdens

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in der modernen Medizin ebenso wie etwa für die Vernachlässigung der sozialen, familiären und gesellschaftlichen Dimension menschlichen Ge-sundwerdens in Bereichen der Esoterik. […]

Gegen Fitness- und Gesundheitskult – Annahme und Integration von Schwachheit und LeidenZu den Schlüsselfragen gehört auch der vor allem im populären psycho-somatischen Denken geläufige Kreislauf bzw. Wirkungszusammenhang von Krankheit, Sünde und Schuld. Die biblische Tradition, die diesen Zusammenhang durchaus kennt, wehrt zugleich kausales Schuldzurech-nungsdenken ab, das den Kranken und Leidenden dann auch noch als den religiös Gestraften sieht (vgl. Johannes 9,3). Andererseits wehrt die christliche Tradition die Selbstvergöttlichung des Menschen und damit die Überschätzung oder Übersteigerung seiner Möglichkeiten ab. Dass der Mensch nicht Schöpfer seiner Gesundheit ist, dass körperliche Gesundheit nicht ein religiöser Wert per se ist und dass im Verständnis von Gesundheit und Krankheit die Erfahrung von Schwachheit, Gebrechlichkeit und/oder bleibendem Leiden (d.h. die Erfahrung des Kreuzes) mit integriert werden muss, dies sind Elemente, die von der christlichen Tradition her in das Gespräch mit alternativen Ansätzen einzubringen sind. Dadurch kann die christliche Tradition kritisch bleiben, sowohl gegenüber einem Trend zur „Gesundheitsreligion“ in der Moderne (Gesundheit, Fitness und ewige Ju-gend und Leistungskraft als Ziel, das um jeden Preis erreicht werden muss) als auch gegenüber einer gesundheitsbezogenen Instrumentalisierung von Religion („Gesundheitsevangelium“ als Analogie zum „Wohlstandsevan-gelium“). […]

Grundsätze christlicher BeurteilungEine Beurteilung der verschiedenen alternativen Heilungsansätze aus christlicher Perspektive wird sich zunächst auf eine sorgfältige Wahrneh-mung ausrichten müssen, die durch ein paar kritische Schlüsselfragen er-leichtert werden kann:- Was ist der weltanschauliche und gegebenenfalls religiöse Hintergrund eines bestimmten Heilverfahrens?- Inwieweit ist dessen Übernahme Voraussetzung für die Annahme einer Heilwirkung?- Ist das behauptete Wirkprinzip auch im Rahmen eines anderen Weltbil-des plausibel?

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- Werden Klienten mit dem Anspruch des jeweiligen alternativen Heilver-fahrens von anderen Formen einer anerkannten medizinischen Behand-lung abgehalten?- Werden überzogene Honorare gefordert und übersteigerte Heilungs- oder Vollkommenheitserwartungen mit dem Heilungsansatz verbunden?- Wird eine psychische Abhängigkeit von dem begleitenden Therapeuten/Heiler aufgebaut?

Sodann wird sich eine christliche Beurteilung von einem dreifachen Grundsatz leiten lassen:- Es ist zum einen der Grundsatz der Freiheit der Nutzung von allen in der Schöpfungswirklichkeit mitgegebenen Wegen und Mitteln der Hei-lung zur Geltung zu bringen („Machet euch die Erde untertan“, 1. Mose 1,26ff.).- Es ist zum anderen dem Grundsatz der christusgemäßen Prüfung zu ent-sprechen („Prüfet alles und behaltet das Gute“, 1. Thessalonicher 5,21ff.). Christlich unbedenklich ist demzufolge ein Heilmittel oder Heilverfahren, das nicht im Widerspruch steht zur Wirklichkeit des Menschen im Macht-bereich Christi, wie er biblisch beschrieben wird. Christlich ist ein Han-deln, das gegenüber dem ersten Gebot respektvoll bleibt und die in Chris-tus gegebene Freiheit des Menschen achtet.- Es ist schließlich der Grundsatz der kritischen Abgrenzung von allem zu beachten, was Leben und Freiheit zerstört und Abhängigkeit erzeugt („Werdet nicht erneut zu Sklaven der Elementarmächte“, Galater 4,3-11).

Kritische Prüfung von Weltbild und Wirksamkeitsplau-sibilitätDas Wesen einer solchen „christusgemäßen Prüfung“ ist die Frage, welche Elemente der Esoterik in der Konfrontation mit dem christlichen Glauben nicht bestehen können, welche vom religiösen Standpunkt wertneutral sind und welche vielleicht auch als Bereicherung des eigenen Glaubensle-bens Aufnahme finden können. Dafür empfiehlt sich eine abgestufte Beur-teilung:Zunächst ist generell die Frage nach dem Zusammenhang von Weltbild und Wirksamkeitsplausibilität zu stellen:- Sind die angebotenen Wirkzusammenhänge im Rahmen des eigenen Welt- und Menschenbildes überhaupt nachvollziehbar? - Was ist der weltanschauliche und gegebenenfalls religiöse Hintergrund

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eines bestimmten Heilverfahrens?- Wie viel an impliziter Weltanschauung muss ich übernehmen, bevor ich bei nüchternem Nachdenken die behaupteten Zusammenhänge akzeptie-ren kann? […]

Stellung zum Zentrum christlichen GlaubensAls weiterer Schritt ist die Prüfung auf die Verträglichkeit mit den Grundüberzeugungen des Christentums notwendig: Welche Stellung hat die Methode zum Glauben an die Erlösung durch Kreuz und Auferstehung Jesu? […] Eine hilfreiche Leitfrage bei dieser Entscheidung lautet: „Wel-ches Heil wird von wem erwartet?“ Diese Leitfrage hilft bei der Klärung: Geht es um gesundheitliche Besserung, seelische Gesundung oder gar kos-mische Erlösung? Soll dies mit Mitteln der Schöpfung erfolgen oder wird die Hilfe von „der Natur“, „dem Kosmos“, einer unpersönlichen „Ener-gie“ oder von Gott erwartet? Solange lediglich gesundheitliche Besserung mit Mitteln der Schöpfung (z.B. Heilpflanzen) gesucht wird, sind kaum Probleme zu erwarten. Wenn der Anspruch aber beinhaltet, dass Körper und Seele in einem umfassenden Sinne heil werden sollen, indem sich die Erwartungshaltung auf allgemeine kosmische Energien gleichsam als Er-satz für Gott richtet, dann gerät dies in Spannung zur biblisch-christlichen Überlieferung. […]

Kommerzialisierung, Scharlatanerie und Allmacht des TherapeutenWie ist die Selbstkontrolle innerhalb der verschiedenen Ansätze und Schulen alternativer Heilverfahren gegen Scharlatanerie, unangemessene Kommerzialisierung und die Abwehr von Missbrauch oder der Überstei-gerung des jeweiligen Bildes des Therapeuten geregelt? Alternative Heil-verfahren sind ein Markt mit großer Reichweite und erheblichem Ge- winnpotential geworden. Nur in Teilbereichen gibt es gemeinsame Stan-dards, Qualitätskontrollen und gegenseitige Kontrolle. Mit dem Begriff der Scharlatanerie ist vorsichtig umzugehen, weil auch Menschen gebrand-markt werden können, die durchaus Gutes im Sinn haben. Hilfreich ist die folgende Definition: „Ein Scharlatan ist jemand, der wegen Geldes oder um ökonomischer Vorteile willen Substanzen verschreibt oder Behand- lungen vornimmt, unabhängig von den eigenen Qualifikationen oder Fähigkeiten, im Wissen, dass sie wirkungslos sind oder manchmal ge-fährlich sind“(Bernhard Wolf ). Um falsche Pauschalurteile zu vermei-

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den, ist stets zwischen der Sicherheit oder Fragwürdigkeit der Methode und dem Verantwortungsbewusstsein des konkreten Anbieters zu unter-scheiden. […]

Kriterien zur RaumvergabeMit der Raumvergabe ist im kirchlichen Kontext eine besondere Verant-wortung verbunden. Die Kirche wird mit den Veranstaltungen in ihren Räumen identifiziert. Es wird nie nur ein Raum, sondern immer auch ein Name vermietet. Die meisten Menschen gehen davon aus, dass Veranstal-tungen in einem kirchlichen Raum eine positive Wirkung haben und von den Verantwortlichen der Kirchengemeinde geprüft sind. Die folgenden Hinweise können diese Prüfung erleichtern. Vor einer Vermietung kirchli-cher Räume ist generell zu prüfen:- Wer ist der Veranstalter? Ist er Teil größerer Organisationen? Bestehen zu dem Veranstalter ökumenische Kontakte?- Worum handelt es sich bei der geplanten Veranstaltung? Ist es eine re-ligiöse Veranstaltung? Ist sie für eine geschlossene Gruppe oder wird offen dazu eingeladen?- Besteht für zufällig Hinzukommende Verwechslungsgefahr mit kirchli-chen Angeboten? […]

Die Sehnsucht nach Heilung und die missionarische Verantwortung der Kirche[…] In der Alltagspraxis von Gemeinde, im Gottesdienst und dem inter-disziplinären Gespräch mit Ärzten, Pflegenden, Heilpraktikern und Men-schen mit heilenden Gaben geht es heute darum,- dass Ärzte und Pflegende nicht alleine gelassen werden mit ihrer Not, auf die wachsende Suche nach spirituellen Antworten eine angemessene und im christlichen Glauben verwurzelte Antwort zu finden,- einen stärkeren Dialog mit denjenigen Menschen zu suchen, die ihre heilenden Gaben bewusst in den Dienst der christlichen Gemeinde stellen wollen. Sie sollten ermutigt und eingeladen werden, ihre den Menschen zugewandte Fähigkeiten in Segnungs- und Salbungsteams, in Gottes- diensten und Besuchsdienstkreisen einzubringen,- das gottesdienstliche Leben nach Formen zu gestalten, die in der Kirche bewährt sind im Blick auf den Umgang mit unserer Leiblichkeit, mit Krankheit und mit der Sehnsucht nach innerer Gelassenheit und Konzen-tration. Zu diesen Formen gehören Salbungsgottesdienste, körperlich

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spürbare Gesten des Segens, explizites Gebet für Kranke, Ausrüstung von Heilungshelfern,- einen Aufbau von regionalen Netzwerken des Dialogs zu fördern: zwi-schen verschiedenen Verfahren, die auf Heilung und Gesundheit ausge-richtet sind, und der diakonisch-seelsorgerlicher Kompetenz in der Kirche, so dass ein zunehmendes Auseinanderdriften verschiedener Milieus ver-hindert wird,- eine Platzierung von christlichen Bildungsangeboten im Bereich der neuen religiösen Suchbewegungen anzustreben, um im Dialog die jahrhundertealten spirituellen Schätze der Christenheit im Umgang mit Krankheit, Gesundheit und Sterben neu zur Entfaltung zu bringen,- die Verbindungen zwischen sozial-diakonischen und spirituell-geistlichen Arbeits- und Gestaltungsformen in Ortsgemeinden zu stärken, um auf die wachsende Sehnsucht nach religiöser Erfahrung und Heilung Antworten zu geben, die aus der Mitte des Evangeliums von Jesus Christus kommen und den Menschen dienen.

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Autoren:

Dr. Dietrich Werner, geb. 1956 in Oldenburg; Studium der Evangelischen Theologie in Göttingen, Tübingen, Edinburgh, Bethel, Genf; Gemeinde-pfarrer in Oldenburg, Assistent am Ökumenischen Institut der Ruhr-Uni-versität Bochum (1989-1993), Studienleiter der Missionsakademie an der Universität Hamburg (1993-2000), Grundsatzreferent im Nordelbischen Missionszentrum (Hamburg) und Studienleiter am Christian Jensen Kol-leg (Breklum/Nordfriesland). Veröffentlichungen z.B. Dietrich Werner u.a., Leitfaden ökumenische Missionstheologie, Gütersloh 2003; Ders., Wiederentdeckung einer missionarischen Kirche. Breklumer Beiträge zur ökumenischen Erneuerung, Schenefeld 2006. Dietrich Werner lebt zurzeit in Meldorf, ist verheiratet und hat fünf Kinder.

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Dr. Beate Jakob, geb. 1954; Studium der Humanmedizin und der Katholischen Theologie in Tübingen; Tätigkeit in der Inneren Abteilung der Universitätsklinik in Tübingen (1980-1983), Aufenthalt in Kenia (Missionskrankenhaus) (1990-1992), Mitarbeit im Difäm (Deutsches In-stitut für Ärztliche Mission) in Tübingen als Grundsatzreferentin, zunächst ehrenamtlich (1993-1999), dann in Teilzeitbeschäftigung. Beate Jakob ist verheiratet und hat sieben Kinder.

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Difäm - Deutsches Institut für Ärztliche Mission

Fachstelle für kirchliche Gesundheitsarbeit: Beratung bei der Umsetzung von Gesundheitsprojekten weltweit

Projekte: gezielte Unterstützung von Menschen mit Aids, Tuberkulose, Malaria, Lepra oder Behinderungen

Arzneimittelhilfe: Versorgung von Gesundheitseinrichtungen in über 90 Ländern mit Medikamenten und medizinischem Material sowie Förderung der lokalen Arzneimittelproduktion

Seminare: Tropenmedizin und Basisgesundheitsdienst

Fachbibliothek: Fachliteratur und Unterrichtsmaterial zur Gesundheitsarbeit in wirtschaftlich armen Ländern

Grundsatzarbeit: Reflexion über medizinische Arbeit und die Bedeutung von Gesundheit, Krankheit und Heilung

Tropenklinik Paul-Lechler-Krankenhaus in Tübingen: Schwerpunkte Tropen- und Reisemedizin, Innere Medizin und Geriatrie

Tübinger Projekt: Häusliche Betreuung Schwerkranker

Weitere Informationen im Internet unter: www.difaem.de