Die Kontroverse Zwischen Kant Und Garve

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Seminararbeit: Die Kontroverse zwischen Kant und Garve verfasst von: Markus Liebscher Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 2. Missverständnisse in Garves Darstellung der Moralphilosophie Kants 2.1. Erstes Missverständnis: Moralische Vervollkommnung als der einzige Endzweck des Menschen 2.2. Zweites Missverständnis: Die sittliche Selbstgesetzgebung des Menschen verlangt, von der eigenen Glückseligkeit abzusehen 3. Einwände Garves zur Moralphilosophie Kants 4. Diskussion 1

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Seminararbeit:

Die Kontroverse zwischen Kant und Garve

verfasst von: Markus Liebscher

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Missverständnisse in Garves Darstellung der Moralphilosophie Kants

2.1. Erstes Missverständnis: Moralische Vervollkommnung als der einzige Endzweck

des Menschen

2.2. Zweites Missverständnis: Die sittliche Selbstgesetzgebung des Menschen

verlangt, von der eigenen Glückseligkeit abzusehen

3. Einwände Garves zur Moralphilosophie Kants

4. Diskussion

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1. Einleitung

In der vorliegenden Arbeit möchte ich mich mit einem moralphilosophischen Problem

befassen, das Anlass zu einer Kontroverse zwischen Immanuel Kant und dem

Publizisten und Philosophen Christian Garve gegeben hat. Garve hatte im ersten Teil

seines 1782 in Breslau erschienenen Werkes „Versuche über verschiedene Gegenstände

aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben“ Einwände gegen ein

grundlegendes Theorem der Kantischen Moralphilosophie hervorgebracht: die

Unterscheidung eines Handelns „aus Pflicht“ von einem nur pflichtgemäßen, durch das

menschliche Streben nach Glückseligkeit motivierten Handeln. Garve versuchte zu

zeigen, dass solche theoretischen Unterscheidungen für die Praxis jegliche Bedeutung

verlieren. Kants erster Teil seines 1793 erschienenen Aufsatzes „Über den

Gemeinspruch“ ist eine Auseinandersetzung mit der Kritik Christian Garves.

Meine Arbeit rückt die Kantische Perspektive zu dieser Auseinandersetzung etwas

stärker in den Blick als diejenige Garves. Das hat mehrere Gründe. Zum einen äußert

sich Kant um einiges gründlicher als Garve, dessen Argumente nicht immer die

Ausführlichkeit besitzen, die eine kritische und angemessene Auseinandersetzung nötig

hätte. Zum Anderen waren die Einwände Garves in Kants Schrift „Über den

Gemeinspruch“ wohl eher Anlass für Kant, sich mit einem generellen Typ ethischer

Argumentation - dem Eudämonismus – auseinander zu setzen, als sich auf eine

gründliche Beschäftigung mit einem philosophischen System einzulassen.

Ich denke, dass es Kant selbst in seiner Auseinandersetzung mit Christian Garve nicht

nur darum ging, die Mängel und Widersprüche aufzudecken, die in den Äußerungen

seines Gegenübers zu finden sind. Vielmehr möchte er prüfen, in wie weit Garve die

Kant'sche Position richtig aufgefasst hat, um damit Missverständnisse aus dem Weg

räumen zu können. So schreibt Kant zu Beginn seines Aufsatzes, er wolle „sehen, ob

wir uns einander auch verstehen.“1 Bei einem Ausräumen von Missverständnissen bleibt

er jedoch nicht stehen. Wie zu zeigen sein wird, verteidigt er die zentralen Theoreme

seiner eigenen Moralphilosophie gegen Garve und zeigt damit grundlegende Mängel der

Garv'schen Position auf.

1 Kant: Über den Gemeinspruch, A 208

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Ich möchte also in der folgenden Arbeit die Kontroverse zwischen Kant und Garve

darstellen und kritisch beleuchten. Dabei lasse ich mich von folgenden Fragen leiten:

Hat Garve Kant tatsächlich missverstanden? Gibt Kant die Garv'sche Position adäquat

wieder? Auf welche der herausfordernden Argumente Garves findet Kant eine

überzeugende Antwort?

Im ersten Abschnitt meiner Arbeit soll es zunächst um grundlegende Missverständnisse

gehen, die in Garves Darstellung der Kantischen Moralphilosophie bestehen, um

schließlich, im zweiten Teil der Arbeit die tatsächlichen Einwände zur Sprache zu

untersuchen, die Garve zur Sprache bringt.

2. Missverständnisse in Garves Darstellung der Moralphilosophie Kants

Kant geht zu Beginn seiner Schrift „Über den Gemeinspruch“ auf zwei Aussagen

Christian Garves ein. Garve äußert die Ansicht, dass für Kant „die Beobachtung des

moralischen Gesetzes (…) der einzige Endzweck für den Menschen“ sei, dass sie „als

der einzige Zweck des Schöpfers angesehen werden müsse“2. Desweiteren interpretiert

er Kant dahingehend, dass eine konsequente Befolgung des moralischen Gesetzes

bedeutet, dass man gänzlich von der eignen Glückseligkeit absehen müsse.

Kant nutzt die Gelegenheit, um diese beiden in seinen Augen grundlegenden

Missverständnisse auszuräumen. Kants Einwand soll kurz vorweggenommen werden,

bevor ich ihn ausführlicher beleuchte. Zum ersten sei die Unterwerfung unter das

Sittengesetz, wodurch die moralische Vervollkommnung des Menschen bewirkt wird,

„für sich allein“3 nicht der höchste Zweck des Menschen. Zum anderen müsse der

Mensch, der nicht nur sittliches, sondern auch Naturwesen ist, Rücksicht auf seine

Glückseligkeit nehmen, denn letztere ist nicht zuletzt sein „natürlicher Zweck“.4

Ich möchte nacheinander auf beide Einwände Kants genauer eingehen.

2 Kant: Über den Gemeinspruch, A 2103 ebenda4 Ebenda, A 209

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2.1. Erstes Missverständnis: Moralische Vervollkommnung als der einzige Endzweck

des Menschen

Ich möchte zunächst die Frage stellen, warum Kant die These, dass Glückseligkeit der

„einzige Endzweck“ für das menschliche Leben ist, verworfen hat. Danach möchte ich

erwägen, warum auch die Moralität für Kant nicht Endzweck im alleinigen und

höchsten Sinne sein kann. Schließlich soll sein Lösungsansatz des Problems, der in

Lehre vom „höchsten Gut“ zu finden ist, vorgestellt werden.

Für die Vertreter der eudämonistischen Ethik, so unterschiedlich ihre Ansätze gewesen

sein mögen, war das höchste Telos menschlichen Lebens die Glückseligkeit

(εὐδαιμονία). Nie ging es den Philosophen jedoch um eine reine Glücksmaximierung,

ohne Rücksicht auf Moralität. Im Gegenteil: Glück und Moral wurden stets in einem

engen Verhältnis zueinander gedacht, ob man nun die Moral als notwendiges Mittel zum

Zweck der Glückseligkeit, als eine wesentliche, konstitutive Komponente derselben

oder sogar als mit der Glückseligkeit identisch betrachtete. All diese verschiedenen

Facetten des Eudämonismus teilten jedoch die „Auffassung, nach der es das Streben

des Menschen nach Glück ist, was es rechtfertigt, dass er das Gebot, moralisch gut zu

handeln, als ein für ihn verbindliches Gebot akzeptiert.“5

Dass der Eudämonismus der Ethik Verbindlichkeit zu geben in der Lage war, davon

konnte sich Kant nicht überzeugen lassen. Er betrachtet es zwar als eine unbestreitbare

Tatsache, dass alle Menschen nach Glück streben. In ihren Vorstellungen darüber, worin

dieses Glück „inhaltlich“ besteht, sind sich die Menschen aber auf Grund der

Unterschiedlichkeit ihrer Neigungen und Naturanlagen höchst uneinig. Man könnte es

anders formulieren: ein wichtiger Grund dafür, dass es keinen festen, inhaltlich

bestimmten Glücksbegriff geben kann, der für alle Verbindlichkeit hat, ist für Kant die

Tatsache, dass im menschlichen Glück unzählige empirische, d.h. zufällige und höchst

subjektive Momente zusammen kommen. Glückseligkeit wird von Kant als „die

Befriedigung aller unserer Neigungen sowohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben,

als intensive, dem Grade und auch protensive, der Dauer nach“6 und nicht als die

Konsequenz der Realisierung einer objektiven Vorstellung von einem umfassend „guten

5 Weidemann, Hermann Münster, S. 23/246 Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft, A 806/B 834

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Leben“ gedacht.

Ein weiterer Grund, warum Glückseligkeit nicht der höchste Zweck des Menschen sein

kann liegt in der Unzweckmäßigkeit der menschlichen Natur in Bezug auf dieses Ziel.

„Wäre (…), so schreibt Kant, an einem Wesen, das Vernunft und einen Willen hat, seine

Erhaltung, sein Wohlergehen, mit einem Worte seine Glückseligkeit, der eigentliche

Zweck der Natur, so hätte sie ihre Veranstaltung dazu sehr schlecht getroffen, sich die

Vernunft des Geschöpfs zur Ausrichterin dieser ihrer Absicht zu ersehen. Denn alle

Handlungen, die es in dieser Absicht auszuüben hat, und die ganze Regel seines

Verhaltens würden ihm weit genauer durch Instinkt vorgezeichnet, und jener Zweck weit

sicherer dadurch haben erhalten werden können, als es jemals durch Vernunft

geschehen“7

Wie steht es nun mit dem Verhältnis von Moral und Glückseligkeit? Für Kant der

Eudämonismus dadurch gekennzeichnet, dass er die Moral letztendlich nur in ein

instrumentelles, untergeordnetes Verhältnis zu Zwecken der Glückseligkeit stellte.

Fragen wir, so würde ein Eudämonist nach Kantischer Lesart argumentieren, nach den

letzten Gründen unserer Moralität, dann würde uns bewusst, dass wir nur um der

Glückseligkeit willen moralisch sind. Das folgende Zitat aus der Metaphysik der Sitten

soll als Beleg für die Position Kants dienen: „Nun sagt der Eudämonist: diese Wonne,

diese Glückseligkeit ist der eigentliche Bewegungsgrund, warum er tugendhaft handelt.

Nicht der Begriff der Pflicht bestimme unmittelbar seinen Willen, sondern nur

vermittelst der im Prospekt (d. h. im Vorblick) gesehenen Glückseligkeit werde er

bewogen, seine Pflicht zu tun“8. Eine so verortete Moral ist nach Kants Auffassung

keine Moral, denn tugendhaftes Handeln erscheint hier gleichbedeutend mit dem

Befolgen eines Ratschlages der Klugheit. Damit würden die moralischen Pflichten des

Menschen nur eine bedingte Gültigkeit besitzen (nämlich nur insofern sie der

Glückseligkeit zuträglich sind und das Streben nach Glückseligkeit der anderen nicht

behindern). Ihnen käme nur der Status von „hypothetischen Imperativen“ zu.9 In der 7 Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV 3958 Kant, I.: Metaphysik der Sitten, AA VI 377

9 In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten schreibt Kant: „ … ist der Imperativ, der sich auf die

Wahl der Mittel zur eigenen Glückseligkeit bezieht, d. i. die Vorschrift der Klugheit, noch immer

hypothetisch; die Handlung wird nicht schlechthin, sondern nur als Mittel zu einer andern Absicht

gebotenª , Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV 416

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Metaphysik der Sitten spricht Kant sogar davon, dass ein solcher Eudämonismus den

„sanften Tod aller Moral“ zur Folge hätte.10 Die moralische Pflicht, so Kant, muss aber

kategorisch, das heißt unbedingt, ohne Hinblick auf einen bestimmten Zweck, geboten

sein. Der Vernunft genügt die Vorstellung eines objektiv gültigen Gesetzes (welches das

Sittengesetz ist), um zu wissen, was moralisch geboten ist. Es ist der formale Gedanke

einer objektiven Verallgemeinerbarkeit, nicht eine subjektive Zwecksetzung, die den

Willen bestimmen soll. Kant schreibt, dass es dem Menschen im Angesicht eines

solchen objektiv gebietenden Gesetzes obliegt, von seinen subjektiven Neigungen zu

„abstrahieren“11.

Es wird deutlich, dass sich für Kant die Glückseligkeit aus drei Gründen als Kandidat

für das alleinige höchste Gut disqualifiziert:

1. Es kann keine allgemeingültige inhaltliche Bestimmung des Begriffes

„Glückseligkeit“ geben, weil er in höchstem Maße von unseren zufälligen

Neigungen abhängig ist;

2. Unsere menschliche Natur ist nicht zweckmäßig für das Erreichen von

Glückseligkeit ausgestattet, da ihr die starken Instinkte fehlen, die Tiere haben;

3. Glückseligkeit als höchstes Gut könnte keine verbindliche Moral hervorbringen

bzw. sicher stellen, weil moralische Pflichten nur hypothetisch, in Bezug auf das

Ziel der Glückseligkeit, nicht jedoch kategorisch geboten wären.

Wie bestimmt nun Kant das Verhältnis von Moral und Glückseligkeit? In der Theorie

und Praxis-Schrift schreibt er: „Nach meiner Theorie ist weder die Moralität des

Menschen für sich noch die Glückseligkeit für sich allein, sondern das höchste in der

Welt mögliche Gut, welches in der Vereinigung und Zusammenstimmung beider besteht,

der einzige Zweck des Schöpfers.“12

In seiner Lehre vom höchsten Gut macht er die moralische Vervollkommnung des

Menschen zu einer Bedingung bzw. Voraussetzung für die Erlangung von

Glückseligkeit. Dies kommt in seiner Rede von der Moral als „Wissenschaft, die (…)

lehrt, (…) wie wir (…) der Glückseligkeit würdig werden sollen“13 zum Ausdruck.

Glückswürdigkeit durch ein sittliches Leben zu erlangen, ist der Teil des höchsten

10 Kant, I.: Metaphysik der Sitten, AA VI 37811 Vgl.: Kant: Über den Gemeinspruch, A 21212 Kant: Über den Gemeinspruch, A 21013 ebenda, A 209

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Gutes, der allein durch das Zutun des Menschen erlangt werden kann. Die Erlangung

von Glückseligkeit aber liegt nach Kant nicht im Vermögen des Menschen und bedarf

Gottes Mitwirkung und den Glauben an Fortleben der menschlichen Seele nach dem

Tod.

Wieso konnte Garve Kant in dieser Sache falsch verstehen? Bernd Ludwig bemerkt in

seinem Artikel „Kant, Garve, and the Motives of Moral Action“, dass Garve nicht ohne

weiteres genaue Kenntnis des Kantischen Konzepts des höchsten Guts haben konnte.

„Surely, there is no place to be found where Kant spoke so clearly before 1792. The

only detailed passages where he writes about morality as dignity to be happy is in the

doctrine of Method of the Critique of Pure Reason (B 837) but there he does not at all

claim that one cannot renounce happiness as a natural end.“14

2.2. Zweites Missverständnis: Die sittliche Selbstgesetzgebung des Menschen

verlangt, von der eigenen Glückseligkeit abzusehen

Kant ist des Öfteren zur Zielscheibe unangemessener Auslegungen geworden.

Besonders hartnäckig hat sich in Bezug auf seine Moralphilosophie eine rigoristische

Deutung gehalten, nach welcher Kant die Unterdrückung und Verleugnung der

sinnlichen Natur des Menschen für eine Bedingung der Moralität hält. Garve lässt sich

auf Grund der oben zitierten Auffassung ebenfalls in diese Tradition der

Missverständnisse einordnen. Kant erwidert ihm, dass der Mensch nach seiner Ansicht

nicht auf Glückseligkeit, den Endzweck seiner sinnlichen Natur, verzichten solle,

geschweige denn es jemals könne. Da der Mensch in den Augen Kants sowohl ein

sinnliches Wesen als auch ein zur Sittlichkeit fähiges Vernunftwesen ist (und in diesem

Sinne eine untrennbare Einheit darstellt), stellt sich ihm die Aufgabe, Sinnlichkeit und

Vernunftnatur auf die beste Weise zu verbinden.

Was die Moral betrifft, so muss aber der Vernunft, die uns den Begriff der Pflicht

liefert, der Vorrang gegeben werden. Diesen Vorrang der Vernunft innerhalb der Sphäre

des Moralischen drückt Kant in seiner Schrift „Über den Gemeinspruch“ folgender

maßen aus: „Denn zuerst muß ich sicher sein, daß ich meiner Pflicht nicht zuwider

handle; nachher allererst ist es mir erlaubt, mich nach Glückseligkeit umzusehen, wie

14 Ludwig, Bernd: Kant, Garve, and the Motives of Moral Action, http://mpj.sagepub.com/cgi/content/abstract/4/2/183, S. 186

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viel ich deren mit jenem meinem moralisch- (nicht physisch-) guten Zustande vereinigen

kann“15

Man darf, so denke ich, Kant nicht falsch verstehen und annehmen, dass es in der

Mehrzahl unserer alltäglichen Entscheidungssituationen um eine strenge, moralische

Selbstprüfung geht, die zu Tage fördern soll, ob das eigene Tun für alle Menschen

gewollt werden kann. Es gibt zahlreiche Lebenssituationen, die außerhalb der Sphäre

moralischer Relevanz liegen. Etwas anderes anzunehmen wäre in meinen Augen wenig

sinnvoll und würde verschleiern, dass Kant für zahlreiche Lebensbereiche ein Streben

nach Glück für durchaus angebracht hält, solange es nicht mit moralischen Pflichten in

Konkurrenz tritt. Es geht Kant demnach vielmehr um eine Einschränkung der

Sinnlichkeit im Bereich der Sittlichkeit, nicht um eine Selbstverleumdung oder einen

Verzicht.

3. Einwände Garves zur Moralphilosophie Kants

3.1. Erster Einwand Garves

Der erste Einwand, den Garve formuliert, möchte ich zunächst in meinen eigenen

Worten paraphrasieren und ihn anschließend vollständig zitieren. Garve hält es für

unbegreiflich, dass der Mensch uneigennützig seine Pflicht tun kann, ohne dabei nach

Glückseligkeit zu streben. Im Text lautet der Garv'sche Einwand folgendermaßen: Die

Kantianer, so schreibt Garve, seien sich „einig, daß der Tugendhafte, bei seinem

uneigennützigen Gehorsam gegen das Sittengesetz, jenen Gesichtspunkt (gemeint ist der

Aspekt, dass die Tugend die Würdigkeit verleiht, glücklich zu sein) nie aus den Augen

verlieren könne noch dürfe. Nicht dürfe, sage ich, weil er sonst den Übergang in die

unsichtbare Welt, den zur Überzeugung vom Dasein Gottes und von der Unsterblichkeit,

gänzlich verlöre, die doch nach der Theorie dieser Philosophen selbst durchaus

notwendig ist, dem moralischen System Halt und Festigkeit zu geben. Der Tugendhafte

strebt also, diesen Prinzipien zufolge, unaufhörlich danach, der Glückseligkeit würdig,

aber – insofern er wahrhaft tugendhaft ist – nie danach, glücklich zu sein.“16

Aufgeschlüsselt in seine Einzelaussagen kann das Argument so dargestellt werden:

i) Das moralische System erhält seinen Halt und seine Festigkeit durch die

15 Kant: Über den Gemeinspruch, A 220/22116 ebenda, A 214

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Überzeugung vom Dasein Gottes sowie der Unsterblichkeit der Seele.

ii) Die Überzeugung vom Dasein Gottes sowie der Unsterblichkeit der Seele sind

nur möglich, wenn der Mensch die Moral unter dem Gesichtspunkt, dass sie zur

Glückseligkeit würdig macht, im Auge behält.

------------------------------------------------------------------------------------

Daraus folgt: Damit das moralische System Halt und Festigkeit erhalten kann, muss der

Mensch den Glückswürdigkeit verleihenden Aspekt der Moral im Auge behalten, das

heißt, er muss nach Glückswürdigkeit streben

Desweiteren schreibt Garve Kant folgende These zu:

iii) Des Menschen Streben, der Glückseligkeit würdig zu werden, kann, wenn es

auf die Moral ankommt, völlig unabhängig von seinem Streben nach Glückseligkeit

(von welchem er absehen muss) Bestand haben.

Kant zeigt in seiner Antwort auf Garves zweiten Einwand, dass die Stabilität des

Systems der Moral nicht, wie in Satz i) behauptet, von der Überzeugung von Gottes

Existenz und der Unsterblichkeit der Seele abhängt. Diese Ideen folgen nämlich nach

Kant aus dem Ideal eines höchsten Guts, welches ein notwendiger Gegenstand der

reinen praktischen Vernunft ist. Sie können also das moralische System nicht

stabilisieren, da sie selbst erst durch die reine praktische Vernunft begründet werden.

Doch was heißt eigentlich Stabilität und Halt in diesem Zusammenhang? Worauf es für

das moralische System ankommt, wenn es darum geht Stabilität (oder „Halt und

Festigkeit“, wie Garve es ausdrückt) zu haben, macht Kant in einem Nebensatz explizit:

auf einen „sicheren Grund und die erforderliche Stärke einer Triebfeder“17.

Unter einem sicheren Grund muss nach Kant ein Prinzip verstanden werden, dessen

Wirken das ganze moralische Leben der Menschen durchdringt und festigt. Für Kant ist

dies das Prinzip der Autonomie, der „Selbstgesetzgebung der Vernunft“.

Unausweichlich ist jeder Mensch mit dem Sittengesetz in sich konfrontiert. Jeder

Mensch, unabhängig von seinen Begabungen, weiß, wenn er seine Vernunft befragt,

was moralisch geboten ist. Die zuvor beschriebene Unsicherheit und Zufälligkeit, die

aus der sinnlichen Natur des Menschen folgt, hat hier keinen Einfluss, weil es sich um

17 Kant: Über den Gemeinspruch, A 211

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ein Prinzip der reinen praktischen Vernunft handelt.

Der zweite Aspekt, den Kant nennt, ist die „Stärke einer Triebfeder“. Diese Bemerkung

ist äußerst interessant und führt auf eine neue Fährte. Der Begriff der Triebfeder,

übersetzt man ihn in den modernen Sprachgebrauch, meint die zu einer Handlung

notwendige Motivation. Das Wort „Triebfeder“ ist der Mechanik entnommen und legt

nahe, dass der menschliche Willensakt durch eine Kausalität erklärt werden kann. So ist,

nach diesem Modell, die Ausführung einer gewählten Handlungsoption die Wirkung

einer bestimmten Triebfeder. Ist die Triebfeder zu schwach, bleibt das Handeln aus.

Zum Beispiel kann die Aussicht auf eine Belohnung oder auf Anerkennung eine starke

Triebfeder für den Menschen abgeben. Das folgende Zitat zeigt, dass die Idee der

Bewegung des Willens durch eine treibende Kraft, d.h. das Phänomen der Motivation

bei Kant mit dem Begriff der Triebfeder verbunden ist. „Urteilen kann der Verstand

freilich, aber diesem Verstandesurteil eine Kraft zu geben, und daß es eine Triebfeder

werde, den Willen zu bewegen, die Handlung auszuüben, das ist der Stein der Weisen.“18

Angemerkt sei, dass man in den Werken Kants oft neben dem Begriff der „Triebfeder“

die Rede von „Beweggründen“ findet. Der Unterschied zwischen beiden besteht darin,

dass sich Triebfedern auf subjektive Zwecksetzungen beziehen, Beweggründe dagegen

auf objektive, für alle vernünftigen Wesen gültige Zwecke.19

Es wurde deutlich, dass nach Kant zur Stabilisierung des moralischen Systems zwei

Dinge notwendig sind: ein Prinzip, das die Grundlage für moralische Überzeugungen

bilden kann und ein motivationaler Aspekt, der das Handeln entsprechend der

gewonnenen Überzeugungen ermöglicht. Gott, Unsterblichkeit oder ein höchstes Gut

liefern für Kant keine annehmbare Grundlage der Moral. Damit hätte sich auch hier der

oben aufgeführte Satz i) aus Garves Einwand als Missverständnis herausgestellt.

Das gesuchte Prinzip findet die Vernunft in sich selbst, ohne den Bezug auf einen

höchsten Zweck zu brauchen. Das höchste Gut, das könnte man Garve vielleicht

zugestehen, könnte man sich durchaus als eine Triebfeder denken, wenn es nur

schlechthin auf die Stärke eines Anreizes ankäme. Denn eine Motivation ist nötig, wie

oben gezeigt wurde, da eine bloße Verstandeserkenntnis den Willen nicht bewegen

kann. Die Glückseligkeit, als Teil des höchsten Guts, wird nach Kant als moralischer

18 Zitiert bei: Weiper, Susanne: Triebfeder und höchstes Gut: Untersuchungen zum Problem der sittlichen Motivation bei Kant, Schopenhauer und Scheler, S. 32

19 Vgl.: Eisler: Kant-Lexikon, Artikel „Motiv“, http://www.textlog.de/32526.html

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Antrieb disqualifiziert, da dies im Widerspruch zum Moralprinzip selbst stehen würde

und eine Heteronomie des Willens zur Folge hätte. Resümiert man bis hierhin, so stellt

man fest, dass Kant zwar ein Moralprinzip, jedoch noch keine Triebfeder gefunden hat.

Dieser Mangel wird durch das Gefühl der Achtung behoben, wie im folgenden Zitat aus

der Grundlegung zu erkennen ist: „Was ich unmittelbar als Gesetz für mich erkenne,

erkenne ich mit Achtung, welche bloß das Bewußtsein der Unterordnung meines Willens

unter einem Gesetze, ohne Vermittlung anderer Einflüsse auf meinen Sinn, bedeutet. Die

unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben

heißt Achtung, so daß diese als Wirkung des Gesetzes aufs Subjekt und nicht als

Ursache desselben angesehen wird.“20 Durch die Achtung, die kein in unserer

sinnlichen Natur verankertes Gefühl, sondern „vernunftgewirkt“ ist, erhält der Mensch

nach Kant die sittliche Motivation, entsprechend dem, was er durch seine Vernunft als

geboten erkennt, zu handeln. Eine bloße vernunftmäßige Vorstellung von der sittlichen

Pflicht vermag den Menschen nicht zu bewegen. „Das 'vernunftgewirkte' Gefühl der

Achtung“, so schreibt Susanne Weiper, „ist also jenes, welches den „Hiatus zwischen

der reinen Formalität des Gesetzes […] und der sinnlich-endlichen Vernunftnatur des

Menschen“ überbrückt und dadurch eine „unmittelbare Willensbestimmung“ möglich

macht, und zwar dadurch, dass sie „das den für den reinen Willen objektiv bestimmende

Gesetz für die Willkür [zu einem] subjektiven Bestimmungsgrund ihrer Maximenwahl

[macht].“21

Damit hat sich gezeigt, dass das moralische System seine Stärke und Festigkeit in den

Augen Kants nicht im höchsten Gut oder den Ideen von Gott und Unsterblichkeit hat,

sondern im Sittengesetz selbst, welches durch die nicht-sinnliche Triebfeder des

Gefühls der Achtung den Willen direkt bestimmt.

Es stellt sich im Hinblick auf die Garv'schen Einwände die Frage, welche Rolle das

höchste Gut spielt, wenn es als Moralität ermöglichendes Element nicht in Betracht

Die Unterscheidung zwischen dem Grund des allgemeinen Pflichtbegriffs und dem

Objekt, welches das höchste Gut ist, bildet das entscheidende Argument Kants. Es

bedarf jedoch der Auslegung. Kant schreibt, dass der Begriff der Pflicht „keinen

besonderen Zweck zum Grunde zu legen nötig habe“, sondern dass er „einen andern

20 Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV 39521 Weiper, Susanne: Triebfeder und höchstes Gut: Untersuchungen zum Problem der sittlichen

Motivation bei Kant, Schopenhauer und Scheler, S. 49/50

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Zweck für den Willen des Menschen herbeiführe“.22

Das höchste Gut als Bedürfnis

In einer Fußnote erklärt Kant, dass die Annahme eines höchsten Guts als Bedürfnis des

Menschen angesehen werden kann.23 Er nennt zwei Möglichkeiten, durch die sich ein

solches Bedürfnis speisen könnte. Zum einen kann es dem Menschen an Motivation

fehlen, moralisch zu handeln, so dass er der Aussicht auf ein höchstes Gut im Sinne

eines Antriebs bedarf. Garve ging von einer solchen Funktion des höchsten Gutes,

welches für ihn allerdings nur die Glückseligkeit allein darstellte, aus. Diese Option

lehnt Kant ab, da ein auf Glückseligkeit gerichtetes Handeln kein moralisches Handeln

sein kann (auch wenn sie in Proportion zur Glückswürdigkeit erstrebt würde). Zum

anderen könnte es sein, dass der gute Wille, der seinerseits bereits eine Triebfeder

besitzt, auf ein höchstes Gut hin gerichtet ist, weil es eben für ihn eine denknotwendige

Idee ist. Diese zweite Option ist Kant zuzuschreiben und deckt sich mit Aussagen wie

der folgenden: "Denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber

derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines

vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein

solches zum Versuche denken, gar nicht zusammenichbestehen."24

Garve scheint sich nicht vorstellen zu können, dass wir durch unsere Moralität eine

Glückswürdigkeit erlangen, die nicht als logische Konsequenz ein Glücksstreben nach

sich zieht. In Bezug auf die oben aufgeführte These iii), die Garve Kant zuschreibt,

äußert er: „Ich für meinen Teil gestehe, daß ich diese Teilung der Ideen mit meinem

Kopfe sehr wohl begreife, daß ich aber die Teilung der Wünsche und Bestrebungen in

meinem Herzen nicht finde – daß es mir sogar unbegreiflich ist, wie irgendein Mensch

sich bewußt werden kann, sein Verlangen der Glücksseligkeit würdig zu sein, von dem

Verlangen nach Glückseligkeit selbst rein abgesondert – und also die Pflicht ganz

uneigennützig ausgeübt zu haben.“25 Man kann vielleicht den Gedanken Garves durch

einen Vergleich nachvollziehen. Es wäre so ähnlich, als würden wir einen

Hochschulabschluss erlangen, ohne automatisch die positiven Konsequenzen des Berufs

22 Vgl.: Kant, I.: Über den Gemeinspruch, A 21123 ebenda24 Kant, I.: Kritik der praktischen Vernunft, AA V 11025 Kant, I.: Über den Gemeinspruch, A 221/222

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(Selbstverwirklichung, soziale und finanzielle Konsequenzen, etc.), den auszuüben er

uns legitimiert (und vielleicht auch „würdig“ macht), zu wollen. Die Würdigkeit wird

hier in einem hierarchischen Verhältnis zu dem gedacht, wozu sie würdig macht, wobei

Letzteres übergeordnet ist. Glückswürdigkeit, da sie als konstitutiver Bestandteil der

Glückseligkeit gedacht werden kann, erscheint für Garve als Mittel zum eigentlichen

Zweck. Nun denke ich, dass Garve übersehen hat, dass die Glückswürdigkeit auch als

„Zweck an sich“ verstanden werden kann. In diesem Sinne braucht ein Streben nach

Glückswürdigkeit keinen direkten Bezug zum Glücksstreben. Man könnte – an Kant

angelehnt - folgendermaßen argumentieren: Wenn Gott uns die Gabe der Vernunft

verliehen hat und das Sittengesetz in uns gelegt hat, dann braucht die Realisierung

dieser Vernunftbegabung in der Sittlichkeit keinen Bezug zur menschlichen

Glückseligkeit. So strebt der Mensch als Vernunftwesen nach Moralität, als

Sinneswesen nach Glück, während eine jede der beiden „Naturen“ des Menschen in

ihrer Zweckbestimmung unabhängig von der anderen gerechtfertigt werden kann. Nur

in der Realisierung ihrer Zwecke müssen beide Naturen des Menschen aufeinander

abgestimmt werden, wobei Kant der Vernunft den Vorrang gibt.

Glückseligkeit als Antrieb menschlichen Handelns

Christian Garve ist überzeugt davon, dass die Aussicht auf Glückseligkeit der einzig

wirksame Antrieb unseres menschlichen Handelns ist. Dabei scheint er in seinen

Überzeugungen sehr nah an David Humes empiristischer Position orientiert zu sein.

Garve versucht zu zeigen, dass wir keinen Begriff des Guten und Bösen haben können,

es sei denn, dass wir ihn aus der Wahrnehmung guter und weniger guter

Empfindungszustände ableiten. Ähnlich wie David Hume, der die Ansicht vertrat, dass

wir uns nichts denken oder vorstellen können, was uns nicht zuvor in der unmittelbaren

Wahrnehmung gegeben war, denkt Garve: „In der Ordnung der Begriffe muss das

Wahrnehmen und Unterscheiden der Zustände, wodurch einem vor dem andern der

Vorzug gegeben wird, vor der Wahl eines unter denselben und also vor der

Vorausbestimmung eines gewissen Zwecks vorhergehen.“26 Garve liefert uns eine Art

psychologisches Handlungsmodell, das seiner Ansicht nach all unser Verhalten erklären

26 Zitiert bei: Kant, I.: Über den Gemeinspruch, A 215

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soll. Im Einzelnen müssen folgende Prozesse ablaufen, damit wir uns für eine Handlung

entscheiden.

Empfindung eines gegenwärtigen Zustandes

Bewusste Wahrnehmung des Zustandes

Unterscheiden des gegenwärtig wahrgenommenen Zustandes von anderen, in der

Erinnerung gegebenen Zuständen

Vergleichen der Zustände im Hinblick darauf, wie angenehm sie jeweils erscheinen

Vorziehen des angenehmsten Zustandes

Streben nach Herstellung des angenehmsten Zustandes

Ich habe in diesem Schema bewusst den Begriff des „angenehmen Zustandes“ gewählt,

obgleich ihn Garve in seinem Text nicht verwendet. Zu Beginn seines Kommentares zur

Kantischen Moralphilosophie benutzt er zwei mal den Begriff des „Wohlseins“, im

weiteren Verlauf geht er jedoch dazu über, von guten und bösen Zuständen27 zu

sprechen. Dadurch, dass die Bewertung der Zustände als „gut“ und „böse“ bei Garve

allein von der Wahrnehmung der vorhandenen Empfindungen abhängig gemacht wird,

scheint mir die These, dass für ihn gut und angenehm sowie böse und unangenehm

27 „Ein Zustand aber, den ein mit dem Bewußtsein seiner selbst und seiner Zustände begabtes Wesen (…) andern Arten zu sein vorzieht, ist ein guter Zustand.“ (S. 136); „Wo ein Wesen ist, das den einen seiner Zustände mit Wohlgefallen, den andern mit Widerwillen ansieht: da sind auch andere vernünftige Wesen, welche dieses bemerken, berechtigt, jenen Zustand und seine Ursachen als gut zu betrachten, diesen nebst dem, was ihn hervorbringt, unter die Klasse des Bösen zu rechnen;...“ (S. 138)

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austauschbare Begriffspaare sind, naheliegend.

Nach einer solchen Theorie wären wir alle nur nach Lustgewinn strebende Egoisten und

Moral könnte es nicht geben. Damit Moral aber möglich wird, muss Garve noch ein

intersubjektives Element ergänzen. Am Ende des Aufsatzes „Über die Geduld“ findet

sich dieses Element, das sehr stark an Humes Konzept der „Sympathie“ angelehnt ist.

„... mit dieser Theorie,“, schreibt Garve, „die aus den ersten Urbegriffen des Guten und

des Zwecks hergeleitet ist, stimmen auch die gemeinen Begriffe und die natürlichen

Empfindungen guter Menschen zusammen, die, da sie sich gewisse Pflichten gegen die

Tiere auflegen, da sie an den Schicksalen derselben einen dem Mitleiden und der

geselligen Freude ähnlichen Anteil nehmen, bezeigen, daß sie dieselben und ihr Wohl

und Weh von ihren Endzwecken nicht ausschließen und daß sie das Dasein und das

Wohlsein der Tiere mit zu dem System von Glückseligkeit rechnen, nach welchem sie

auch über den Endzweck der Welt urteilen.“28 Eine Pflicht, die Glückseligkeit anderer

glückssuchender Wesen zu befördern leitet sich für Garve, wie das Zitat gezeigt hat, aus

dem Mitgefühl her.

Auf diese empiristische These reagiert Kant mit dem Einwand, dass der Begriff „gut“

eine Ambivalenz in sich trägt, die von Garve übersehen wurde. Er kann zum einen gut

im Sinne von „an sich und unbedingt gut“29 bedeuten. Andererseits kann gut die

Bedeutung von „immer nur bedingterweise gut“30 annehmen. Betrachtet man

Empfindungen, so können diese stets nur in Relation zu anderen Empfindungen als gut

angesehen werden. Ein „komparativ besserer Zustand“, so stellt Kant treffend fest, kann

„an sich selbst aber doch böse sein“. Denn man muss sich verschiedene Grade der Güte

als auf einem Kontinuum befindliche Qualitäten vorstellen. Gut im unbedingten Sinn

unterscheidet sich jedoch der Art, nicht nur dem Grad nach vom Bösen. Durch diese

Unterscheidung gelingt es Kant das Prinzip des guten Willens, der allein vom Begriff

der Pflicht bestimmt ist von einer Maxime der Glückseligkeit klar abzugrenzen. Es sei

angemerkt, dass Kant in der Kritik der praktischen Vernunft die gleiche Abgrenzung

vornimmt und zeigt, dass die deutsche Sprache für das lateinische „bonum“ und

„malum“ jeweils zwei Worte besitzt. Bonum in Bezug auf Handlungen, die einem durch

das Sittengesetz bestimmten Willen entspringen heißt „gut“ (entsprechend heißen jene

28 S. 13829 Kant, I.: Über den Gemeinspruch, A 21730 ebenda

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Page 16: Die Kontroverse Zwischen Kant Und Garve

Handlungen „böse“, die einem heteronomen Willen entspringen). Bonum in Bezug auf

angenehme Empfindungen heißt Wohl, malum, als Bezeichnung von Unlustgefühlen

wird als Übel übersetzt.31

Garves zweiter Einwand

Im letzten Abschnitt meiner Arbeit möchte ich mich Kants zentralsten Anliegen seiner

Schrift über den Gemeinspruch widmen, welches darin bestand, zu zeigen, dass das,

was in der Theorie gilt auch für die Praxis von Bedeutung ist. Christian Garve hatte

Kant vorgeworfen, dass er Unterscheidungen in der Theorie vornehme, die im

Nachdenken über konkrete Beispiele (particuläre Gegenstände) an Nachvollziehbarkeit

verlieren, im Bereich der Praxis jedoch völlig irrelevant werden. Welche

Unterscheidungen hatte Garve im Blick, als er diesen Einwand formulierte? Ein

Zurückverfolgen des Textes zeigt, dass es ihm hier um die vermeintliche These Kants

ging, dass der Tugendhafte unaufhörlich danach strebt, „der Glückseligkeit würdig, aber

(…) nie danach, glückselig zu sein.“32 Es geht Garve, zumindest hat Kant es so

aufgefasst, um den Unterschied, der zwischen dem Handeln aus reiner Pflicht und

einem Handeln aus empirischen Beweggründen besteht.

Kant antwortet Garve, wie könnte es anders sein, mit einem konkreten Beispiel. Zu

zeigen, dass seine theoretischen Unterscheidungen sich am konkreten Gegenstand nicht

„verdunkeln“, wie Garve behauptet, sondern in ihrer praktischen Relevanz gerade

besonders deutlich hervor treten, ist Ziel der Auseinandersetzung.

Kant wählt das Beispiel eines Depositums, das sich in den Händen eines gütigen und

wohltätigen Mannes befindet, dessen Familie jedoch in schlimme wirtschaftliche Not

geraten ist. Zum Zeitpunkt der nunmehr ausweglos erscheinenden Situation stirbt der

Besitzer des Depositums, dessen rechtmäßige Erben, die zudem reich, lieblos und

äußerst verschwenderisch sind, nichts vom Vorhandensein des anvertrauten Gutes

wissen. Würde der Mann das Depositum behalten, könnte er die Not seiner Familie

vollständig lindern. Wie soll er sich entscheiden?33 Das Depositum-Beispiel dient Kant

dazu, zwei wichtige Aspekte seiner Unterscheidung der Prinzipien der Pflicht und der

Glückseligkeit herauszustellen.

31 Kant, I.: Kritik der praktischen Vernunft, AA V 6032 Kant, I.: Über den Gemeinspruch, A 21433 Vgl.: ebenda: A 226/A227

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Page 17: Die Kontroverse Zwischen Kant Und Garve

Die moralische Beurteilung einer Situation

Der erste Aspekt ist die moralische Beurteilung in einer relevanten Situation. Nach dem

Prinzip der Pflicht fällt es leicht zu entscheiden, was in der Situation geboten ist zu tun.

Kant ist überzeugt, dass ein 8-9jähriges Kind, würde man ihm die Entscheidungsfrage

im Depositumbeispiel vorlegen, die gebotene Pflicht sofort erkennen würde. Die

Sicherheit, die wir Menschen darüber haben, was in einer Situation Pflicht ist, leitet sich

nach Kant vom rein formalen Charakter des Sittengesetzes ab.

Möchte man die Entscheidung im Hinblick darauf fällen, was die eigene Glückseligkeit

(und die Glückseligkeit der Nächsten) befördert, so sind dazu stets

Klugheitsüberlegungen, die ihrerseits eine beträchtliche Menge empirischer

Informationen erfordern, notwendig. Es geht nicht mehr um ein allgemeines, formales

Prinzip (Kann ich wollen, dass meine Handlungsmaxime allgemeines Gesetz wird?),

sondern um die Verwirklichung eines (der Glückseligkeit zuträglichen) „materialen“

Zieles. Da die Erreichung solcher Ziele von vielfältigen empirischen Bedingungen

abhängig ist, kann sie nie mit Sicherheit vorher gesagt werden. Kant zeigt am Beispiel

des Depositums, wie viel Verstand es erfordert, Für und Wider einer bestimmten

Handlungsoption abzuwägen. Die Zurückgabe des Depositums an die Erben könnte eine

Belohnung oder ein gutes Ansehen, das weitreichende positive Folgen hat, einbringen.

Das Behalten des Depositums könnte andererseits Misstrauen über den raschen Wandel

der wirtschaftlichen Lage der Familie wecken. Kant liegt in meinen Augen völlig

richtig, wenn er resümiert, dass die Wahrscheinlichkeiten des Eintretens solcher oder

ähnlicher Hoffnungen und Befürchtungen sehr schwer abzuschätzen sind.

Damit hätte Kant, in Bezugnahme auf allgemein-menschliche Erfahrungen, gezeigt,

dass der Unterschied zwischen einer Orientierung am moralischen Prinzip der Pflicht

einerseits und der Ausrichtung an einem eudämonistischen Klugheitsprinzip

andererseits für die Beurteilung moralisch relevanter Situationen in der Praxis sehr

große Auswirkungen hat.

Orientiere ich mich an der moralischen Pflicht, so habe ich einen Begriff, der nach Kant

„einfacher, klarer, für jedermann zum praktischen Gebrauch faßlicher und natürlicher“

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Page 18: Die Kontroverse Zwischen Kant Und Garve

ist.34

Die Triebfeder einer Handlung

Ein zweiter Aspekt, der im Abschnitt zum Depositum angedeutet ist, scheint mir noch

zu fehlen: der Aspekt der Ausführung einer Handlung, welcher eng mit der Idee der

Motivation („Triebfeder“) verbunden ist. Ich möchte hier die in Kapitel 3.1. begonnene

Diskussion zur Frage der Motivation fortführen und auf das Depositumbeispiel

beziehen. Es ist zu bemerken, dass bei Kant das moralische Urteil (Es ist meine Pflicht

x zu tun) und das Handeln entsprechend diesem Urteil zwei verschiedene Dinge sind. Es

ist möglich, dass ein Mensch erkennt, was moralisch geboten ist, jedoch

entgegengesetzt handelt.

In Platons Dialog „Menon“ vertritt der platonische Sokrates eine dem entgegen gesetzte

These, nämlich dass Tugend Wissen sei. Diese Position der Ethik, die oft als

„intellektualistisch“ bezeichnet wird, geht davon aus, dass das Tun des Bösen nur einer

Unkenntnis dessen entspringt, was „gut“ ist. Jemand, der das Gute kennt, könne nicht

anders, als es zu tun. Kant wiederspricht dieser Theorie vehement. „Es ist niemand,“ so

schreibt Kant in der Grundlegung, „selbst der ärgste Bösewicht, wenn er nur sonst

Vernunft zu gebrauchen gewohnt ist, der nicht, wenn man ihm Beispiele der Redlichkeit

in Absichten, der Standhaftigkeit in Befolgung guter Maximen, der Teilnehmung und des

allgemeinen Wohlwollens (und noch dazu mit großen Aufopferungen von Vorteilen und

Gemächlichkeit verbunden) vorlegt, nicht wünsche, dass er auch so gesinnt sein

möchte.“35 An anderer Stelle heißt es: „... es gibt keinen so verruchten Menschen, der

bei dieser Übertretung in sich nicht einen Widerstand fühlte und eine Verabscheuung

seiner selbst, bei der er sich selbst Zwang antun muß.36

Man kann sich also fragen, woher es kommt, dass jemand sich dem Prinzip der

Selbstliebe unterordnet, obwohl sein Verstand der Einsicht in der Prinzip der Sittlichkeit

fähig ist.

Eine mögliche Antwort könnte sein, dass der Mensch, als sinnliches Naturwesen, ein

sehr starkes und dauerhaftes Streben nach Glückseligkeit in sich findet, seine Antriebe

zur Sittlichkeit, die eine Fähigkeit seiner Vernunftnatur ist, jedoch ungleich schwächer

34 Kant, I.: Über den Gemeinspruch, A 22635 Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, IV 45436 Kant, I.: Metaphysik der Sitten, VI 379

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Page 19: Die Kontroverse Zwischen Kant Und Garve

sind. Für Kant kommt jedoch an diesem Punkt die Erziehung ins Spiel. Die Menschheit,

das ist Kants Überzeugung, wäre im Hinblick auf die Moral an einem anderen, weitaus

„glückwürdigeren“ Punkt angelangt, wenn die Tugend nicht in Verbindung mit den

positiven Konsequenzen, die aus ihrer Realisierung folgen, gelehrt, sondern vielmehr

die Pflicht, die für sich gut ist, ins Zentrum der Erziehung gerückt worden wäre. Die

Idee der Pflicht hat nach Kant eine viel größere Kraft, die Menschheit moralisch zu

beflügeln. Dass die Abhebung der Idee der Pflicht von einem nur pflichtgemäßen

Handeln für die Praxis die höchste Relevanz hat, sieht Kant nun als bewiesen an.

Anzunehmen, die Idee der Pflicht habe für die Praxis keine Bedeutung, „widerspricht …

der Erfahrung, die nur innerlich sein kann, daß keine Idee das menschliche Gemüth

mehr erhebt und bis zur Begeisterung belebt, als eben die von einer die Pflicht über

alles verehrenden, mit zahllosen Übeln des Lebens und selbst den verführerischsten

Anlockungen desselben ringenden und dennoch (wie man mit Recht annimmt, daß der

Mensch es vermöge) sie besiegenden reinen moralischen Gesinnung.37

Resümee

In der vorliegenden Arbeit habe ich versucht, die wichtigsten Konzepte zu beleuchten,

die in der Kontroverse zwischen Immanuel Kant und Christian Garve eine

entscheidende Rolle gespielt haben. In diesem Zusammenhang konnten einige

Missverständnisse näher untersucht werden, die in Garves Darstellung der

Moralphilosophie Kants enthalten waren. Es hat sich weiterhin gezeigt, dass Garves

moralphilosophisches Denken sehr eng an David Humes Empirismus angelehnt ist.

Schließlich hat sich die Vermutung ergeben, dass Garve von einigen wichtigen

Eckpunkten der Moralphilosophie Kants (der Idee des höchsten Guts als Verbindung

von moralischer Vervollkommnung und Glückseligkeit, dem Gefühl der Achtung als

Triebfeder sittlichen Handelns) keine genauere Kenntnis hatte, weshalb Kant die

Gelegenheit nutzt, einige seiner Grundbegriffe in aller Ausführlichkeit darzulegen. Eine

zentrale Idee, die in Kants Schrift „Über den Gemeinspruch“ entfaltet wurde, ist die

Klarheit und Stärke des Pflichtbegriffs, aus der sich seine Bedeutung für die Praxis

ergibt.

37 Kant, I.: Über den Gemeinspruch, A 229

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Page 20: Die Kontroverse Zwischen Kant Und Garve

Literaturliste

Eisler: Kant-Lexikon

Garve, Christian: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der

Literatur und dem gesellschaftlichen Leben. Hildesheim (u.a.): Olms, 1985

(Nachdruck der Ausgabe Breslau, 1792 und 1796)

Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Hamburg: Meiner, 1998

Ludwig, Bernd: Kant, Garve, and the Motives of Moral Action,

http://mpj.sagepub.com/cgi/content/abstract/4/2/183 , Zuletzt aufgerufen: 10.1.2009

Weidemann, Hermann: Kants Kritik am Eudämonismus und die Platonische

Ethik. In: Kant-Studien: philosophische Zeitschrift der Kant-Gesellschaft, Berlin:

de Gruyter, Band 92, 2001, S. 19–37.

Weiper, Susanne: Triebfeder und höchstes Gut: Untersuchungen zum Problem der

sittlichen Motivation bei Kant, Schopenhauer und Scheler. Königshausen u.

Neumann (2000)

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