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DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHERVon Johann Wolfgang Goethe

Einrichtung der Textfassung für das Theater der Künste von Petra Fischer, Judith Keller, DanielKuschewski, Nicholas Matus

Mit:Daniel Kuschewski – AlbertKathrin Veith – LotteLukas Waldvogel – Werther

Regie: Daniel KuschewskiBühne/Kostüm: Thomas UnthanLicht: Dieter FurrerDramaturgie/Theaterpädagogik: Petra Fischer

Die Inszenierung entstand am Theater der Künste 2008.Die Rolle des Albert wurde mit Stefan Graf erarbeitet. Seit der Wiederaufnahme im Januar 2009hat aus dispositionellen Gründen Daniel Kuschewski diese Rolle übernommen.

Nachfolgend stellen wir Material zur Verfügung, das die Entstehungsgeschichte sowieWirkungsweisen des Briefromans von Goethe in einem biographischen und historischen Kontexterinnern und einordnen lässt. Wir geben einen Einblick in den Entstehungsprozess derInszenierung und deren öffentliche Wahrnehmung. Für das Umfeld des Theaterbesuchsschlagen wir Beobachtungspunkte, diskussionsanregende Fragen, auf das Theater einstimmendeSpiele vor.Im Anhang sind für eine vergleichende Betrachtung Auszüge der Textfassung in chronologischerReihenfolge während des Probenprozesses zusammengestellt.

Wir wünschen ein anregendes Theatererlebnis und freuen uns über Rückmeldungen, die wirgern an die beteiligten KünstlerInnen weiterleiten.

Petra Fischer Schoschana BrautJunges Schauspielhaus Zürich Theater Tuchlaube AarauGiessereistr. 5 Metzgergasse 188005 Zürich 5000 [email protected] [email protected] www.tuchlaube.ch

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Inhalt

1. Die Leiden des jungen Werther –zwischen Dokumentarroman und künstlerischem Ereignis

a. Die Entstehung des Briefromans in zeitlicher Abfolge 4b. Die Figuren und ihre „Vorbilder“ 7c. Reaktionen und Wirkungen 10

2. Die Inszenierunga. Vor Probenbeginn

Arbeit an der Textfassung 11Raum – Kostüme – Requisiten 17Entwürfe des Werbeflyer 18

b. Probenfotos 20c. Im Spiegel der Presse 22

3. Spielerischer ZugangPraktische Theaterübungen zur Inszenierung 23Arbeit am Text 24

4. Goldene Theaterregeln 26

5. Quellennachweis 27

6. Anhang 28Die Entwicklung der Textfassung –von Probenbeginn bis zur Endfassung

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1. Die Leiden des jungen Werther –zwischen Dokumentarroman und künstlerischem Ereignis

a. Die Entstehung des Briefromans in zeitlicher Abfolge

1772Mitte Mai bis Anfang SeptemberGoethe ist als junger Jurist Praktikant am Reichskammergericht Wetzlar

9. JuniGoethe tanzt auf einem Ball mit Charlotte Sophie Henriette Buff

Juni bis SeptemberFreundschaft zwischen Goethe, Charlotte und ihrem Verlobten Johann GeorgChristian Kestner

„…verliebte sich ihr Bruder Hals über Kopf in die blonde und blauäugige Charlotte Buff.Auf einem Ball, zu dem ihn Hofrätin Lange… in ihrer Kutsche mitnahm, lernte er dieAchtzehnjährige kennen, und in erwachender Leidenschaft durchtanzte er die halbe Nachtmit ihr, nicht ahnend, dass sie seinem Freund Kestner seit langem ‚versprochen’ war. Erbesuchte Charlotte gleich am nächsten Tag in ihrem Haus, wo sie elf jüngerenGeschwistern die Mutter ersetzte. Von ihrer Liebenswürdigkeit hingerissen, gefiel ihmLotte um so mehr, je öfter er sie besuchte, und er besuchte sie an jedem freien Tag.“ (1)

Kestner, seit vier Jahren mit Lotte so gut wie verlobt, in seinem Tagebuch:„Er (Goethe) wusste nicht, dass sie nicht mehr frei war.“Und an einen Freund:„Er ist in seinen Affekten heftig. Er hat eine edle Denkungsart Er ist ein Mensch vonCharakter. Er liebt die Kinder und kann sich mit ihnen sehr beschäftigen… Er geht nichtin die Kirche, auch nicht zum Abendmahl, betet auch selten… Er tut, was ihm einfällt,ohne sich darum zu bekümmern, ob es anderen gefällt, ob es Mode ist, ob es die Lebensarterlaubt. Aller Zwang ist ihm verhasst…“ (2)

„Angesichts der bestechenden Vorzüge seines Konkurrenten war er (Kestner) fast zumVerzicht bereit. Allerdings reagierte er wütend auf einen Kuss, den Lotte ihrementhusiastischen Verehrer gab. Sie liess Wolfgang (Goethe) daraufhin wissen, das er vonihr nichts als Freundschaft zu erwarten habe, was er blass und niedergeschlagen zurKenntnis nahm…. Seinen 23. Geburtstag am 28. August 1772 feierte er noch mit Lottegemeinsam, dann fuhr er ohne Abschied davon….Vergiss nicht den, der – ach! Von ganzem HerzenDich, und mit Dir geliebt.“ (1)

11. SeptemberÜberraschende Abreise Goethes aus Wetzlar und brieflicher Abschied vonCharlotte und KestnerTrennung „von Charlotten zwar mit reinerem Gewissen als von Friederiken, aber dochnicht ohne Schmerz.“

11. bis 14. SeptemberGoethes Bekanntschaft mit Maximiliane La Roche

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„Zu Hause sprach der Sohn ohne Unterlass von Lotte, schrieb einen Brief nach demanderen und nagelte ihre Silhouette an die Wand seines Giebelzimmers, um wenigstensihr liebes Bild Tag und Nacht um sich zu haben…. Er machte aus der Leidenschaft fürLotte … kein Geheimnis. In schöner Aufrichtigkeit teilte er dem Bräutigam an einemSamstagnachmittag mit ‚Das war sonst die Zeit, dass ich zu ihr ging, war das Stündgen,wo ich sie antraf….Lotte hat nicht von mir geträumt. Das nehme ich sehr übel und will,dass sie diese Nacht von mir träumen soll…Sagen Sie ihr, ich sey noch hundertmal beyihr.’Als er einen Antwortbrief von ihr erhielt, las er ihn bei Tisch und liess ihn dann vor denmütterlichen Augen in der Rocktasche verschwinden. Sein Zustand war ein offenesGeheimnis, und als er von einem Besuch … zurückkam, hatte ihm die Mutter sein Bett soins Zimmer gestellt, dass Lottes Bild über dem Kopfende hing.“ (1)

30. OktoberSelbstmord Karl Wilhelm Jerusalems in Wetzlar

NovemberKestner schickt Goethe auf dessen Bitte einen ausführlichen Bericht über denSelbstmord K.W. Jerusalems

„Auf einmal erfahre ich die Nachricht von Jerusalems Tode, und, unmittelbar nach demallgemeinen Gerüchte, sogleich die genauste und umständlichste Beschreibung desVorgangs, und in diesem Augenblick war der Plan zu ‚Werthern’ gefunden, das Ganzeschoss von allen Seiten zusammen und ward eine solide Masse, wie das Wasser imGefäss, das eben auf dem Punkte des Gefrierens steht, durch die geringste Erschütterungsogleich in festes Eis verwandelt wird.“ (3)

1773Heirat von Charlotte und Kestner

„Gegen jeden Anstand beharrte er (Goethe) darauf, die Trauringe für das Brautpaarpersönlich auszusuchen und ihnen zu schenken. Man hätte meinen können, dass dieseZudringlichkeit zu weit ging, und folgerichtig verheimlichte das Paar ihm den wahrenVermählungstermin, um wenigstens ungestört getraut zu werden.“ (1)„Ohne ein Zeichen von Lottes Gunst verliess der Sohn nicht das Haus. Sie hatte ihm –nicht ohne Koketterie – die blassrote Schleife ihres Ballkleides geschickt, in welchem er siezum ersten Mal sah. Im Gegenzug zu dieser unerwarteten Freude schickte er ihr, nichtminder anzüglich, einen Fächer.“ (1)„Ich … habe auf meinem Hut die Reste ihres Brautstrausses.“ (Goethe 1773)

17741. FebruarBeginn der Arbeit am Werther, der im April fertig vorliegt

31. AugustGoethe an Lotte:„Ich schicke da meinen Schatten dir,Magst wohl die lange Nase sehn,Der Stirne Drang, der Lippe flehn,S’ist ohngefähr des garstge Gesicht –Aber meine Liebe siehst du nicht“

HerbstErstausgabe „Die Leiden des jungen Werthers“ an der Herbstmesse in Leipzig

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„Ein Lebensroman in Briefen wird zur Dokumentation dieses Sommers, und als sich derLiebende endlich lossreissen konnte, blieb ihm das Bild Lottens, die inmitten derzahlreichen jüngeren Geschwister – diesen die verstorbene Mutter ersetzend – das Brotschneidet, für immer vor Augen. … Natürlich ist das unmittelbar Erlebte nicht einfachschematisch nachgezeichnet worden, obschon der Verfasser Partien aus eigenen Briefen indas Manuskript einfliessen liess und obwohl manche Einzelheit mit der Biographie Lottensund Kesterns übereinstimmt. Aber der Dichter verfährt nicht naturalistisch – als er vomSelbstmord des Sekretärs Jerusalem hörte und die eigene Situation reflektiert, war es dieKomplexität des Erlebens, die ihn fesselt.“ (2)

1775Zu den Leiden des jungen Werthers

Jeder Jüngling sehnt sich, so zu lieben,Jedes Mädchen, so geliebt zu sein;Ach, der heiligste von unsern Treiben,Warum quillt aus ihm die grimme Pein?

Du beweinst, du liebst ihn, liebe Seele,Rettest sein Gedächtnis vor der Schmach;Sieh, dir winkt sein Geist aus seiner Höhle:Sei ein Mann, und folge mir nicht nach.

„’Lotte als junge Mutter passte allerdings nicht in das Bild, das er von ihr im Herzen undin der Feder trug. ‚…ich schwöre dir, Lotte, das ist für meinen sinnlichen Kopf eineMarter, dich als Mamachen zu dencken.’…Erst lange, nachdem sie Kestners Frau geworden war, kam Lotte zur Mutter des Dichters,dessen Roman ihren Namen weithin bekannt gemacht hatte. Elisabeth fand Lottchen fastnoch reizender, als der Sohn sie geschildert hatte, und war schliesslich selbst so eng mitihr befreundet, dass sie sich mit ihrem Nachwuchs befasste…Das Ehepaar Kestnerwählte Goethes Mutter zur Patin ihres Kindes, den ersten Sohn nannten sie GeorgWolfgang.“ (1)

Juni 1782 bis August 1786Umarbeitung des Romans„Ich habe in ruhigen Stunden meinen ‚Werther’ wieder vorgenommen und denke, ohnedie Hand an das zu legen, was so viel Sensation gemacht hat, ihn noch einige Stufenhöher zu schrauben.“

1787Erstveröffentlichung der überarbeiteten Fassung unter gleichem Titel

1812/13Rückblick auf die Entstehung des „Werther“ in „Dichtung und Wahrheit“

1816SeptemberBesuch der verwitweten Hofrätin Charlotte Kestner, geb. Buff„….Leider aber waren alle Gespräche, die er führte, so gewöhnlich, so oberflächlich, dasses eine Anmassung für mich sein würde, zu sagen, ich hörte ihn sprechen oder ich sprachihn, denn aus seinem Innern oder auch nur aus seinem Geiste kam nichts von dem, waser sagte. Beständig höflich war sein Betragen gegen Muter und gegen uns alle, wie daseines Kammerherrn…er wollte verbindlich sein, doch alles hatte … so gar nichtsHerzliches, dass es doch mein Innerstes oft beleidigte.“

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Brief von Klara, Charlottes Tochter, an ihren Bruder über ihren Besuch inWeimar 1816 (3)

„…ich habe eine neue Bekanntschaft von einem alten Manne gemacht, welcher, wenn ichnicht wüsste, dass es Goethe wäre, und auch dennoch, keinen angenehmen Eindruck aufmich gemacht hat.“Charlotte Kestner über ihren Besuch in Weimar 1816 (3)

1824Jubiläumsausgabe unter verändertem Titel „Die Leiden des jungen Werther“Gedicht „An Werther“

b. Die Figuren und ihre „Vorbilder“

Lotte

Charlotte Buff-KestnerGeb. 11. Januar 1753Gest. 16. Januar 1828

Heirat mit Johann KestnerGeburt von 8 Söhnen und 4 Töchtern in 27 Ehejahren

Lottehaus in WetzlarGeburtshaus von Charlotte Buff, wo sie mit ihren Geschwistern und ihrem Vaterlebte.Siehe auch: Ousch/Gretter: Berühmte Frauen: 300 Portraits, Band 3

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Maximiliane von La RocheGeb. 1756Gest. 1793

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WertherKarl Wilhelm JerusalemGeb. 1747Gest. 1772

Sekretär eines braunschweigischen Gesandten am Reichskammergericht

Selbstmord in der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 1772 als Anlass fürGoethes Briefroman

Jerusalemhaus in WetzlarK.W.J. bewohnte hier eine möblierte Zwei-Zimmer-Wohnung

Johann Wolfgang GoetheGeb. 1749Gest. 1832

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AlbertJohann Christian KestnerGeb. 1741Gest. 1800

Heirat mit Charlotte Buff 1773Vater von 12 KindernJurist und Archivar

c. Reaktionen und Wirkungen

„Es waren individuelle, nahe liegende Verhältnisse, die mir auf die Nägel brannten undmir zu schaffen machten und die mich in jenen Gemütszustand brachten, aus dem derWerther hervorging. Ich hatte gelebt, geliebt und sehr viel gelitten! Das war es.“ (…)„Essind lauter Brandraketen.“Goethe an Eckermann

„… von unbefriedigten Leidenschaften gepeinigt, von aussen zu bedeutenden Handlungenkeineswegs angeregt, in der einzigen Aussicht, uns in einem schleppenden, geistlosenbürgerlichen Leben hinhalten zu müssen, befreundete man sich in unmutigem Übermutmit dem Gedanken, das Leben, wenn es einem nicht mehr anstehe, nach eigenem Beliebenallenfalls verlassen zu können, und half sich damit über Unbilden und Langeweile derTage notdürftig genug hin. Diese Gesinnung war so allgemein, dass eben ‚Werther’deswegen die grosse Wirkung tat, weil er überall anschlug und das Innere eines krankenjugendlichen Wahns öffentlich und fasslich darstellte.“ (3)

„Wenn aber ein so warmes Produkt nicht mehr Unheil als Gutes stiften soll: meinen Sienicht, dass es noch eine kleine kalte Schlussrede haben müsste? Ein paar Winkehinterher…Also, lieber Goethe, noch ein Kapitelchen zum Schlusse, und je zynischer, jebesser!“G.E. Lessing, 1774

„Freuden des jungen Werthers – Leiden und Freuden Werthers des Mannes“Parodie von Friedrich Nicolai, 1775

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In verschiedenen deutschen Städten polizeiliches Verbot des Buches

„Goethe hat Grösseres, aber nie mehr etwas so vollkommnes Kleineres gemacht, nie mehrein Prosabuch aus einem einzihen heissen Atem geschaffen, nie mehr seine Sätze bis indie Fehler hinein so mit einer hinreissenden Flut einheitlich gespannter Stimmung gefüllt.“Hermann Hesse, 1915

2. Die Inszenierung

a. Vor Probenbeginn

Arbeit an der Textfassung

Als Interessenspunkt des Regisseurs, aber auch aufgrund pragmatischerRahmenbedingungen für die Produktion stand fest:Goethes Briefroman soll in einer Fassung für drei Personen auf die Bühnekommen:Lotte – Werther – Albert.

Regie und Dramaturgie beschäftigten sich mit diversen Theaterfassungenanderer Theater, die jeweils mit einer unterschiedlichen Personage umgegangensind:z.B.mehrere WertherWerther – Lotte – Albert5 Spielende in wechselnden Rollen.

Alle Beteiligten lasen getrennt voneinander mehrfach Goethes Briefroman unddurchforsteten ihn nach

- spielbaren Szenenz.B.erstes Zusammentreffen von Lotte und Wertherdas BrotschneidenGespräch in der KutscheTanz auf dem BallZählspiel auf dem BallApfel essen

- inhaltlichen Interessenpunkten

z.B.Wahnsinn WerthersWechsel zwischen Erinnerung Werthers, wenn er den Brief jeweilsschreibt und dem tatsächlichen Ereignis – Welche Differenzen lassensich ausmachen? – Welchen Stellenwert nimm WerthersWunschdenken ein?, d.h. Korrigieren des realen ErlebensWer ist der Adressat von Werthers Gedanken (im Roman ist es Wilhelmals Adressat der Briefe)?Aspekt des Schreibens als TätigkeitVerlust von ZeitgefühlWerther als ErlöserDas Besitzergreifende von Lotte für Werther

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Familienbegriffe für alle Figuren

- textlichen Passagen, die unbedingt auf der Bühne vorkommen sollen.

In mehreren Zusammenkünften las das Team Goethes Briefromangemeinsam abschnittsweise – gekoppelt mit Diskussionen über die o.g.Aspekte. Dabei entstanden verschiedene Grundannahmen, die es zudurchdenken galt:

- Texte aus dem Roman, die Teil des Abends werden sollen, werden neuaufgeteilt nach den drei Figuren, einschl. Wiederholungen. Dievorhandenen Texte werden aufgeteilt nach gesprochener undgeschriebener Sprache.

- Alle drei Figuren sind Teil der Werther-Geschichte und von Anfang anvorhanden.

- Nach dem Tod von Werther müssen Albert und Lotte ihr Leben neuordnen, einrichten. Darin existiert Werther weiter. In welcher Form?Unternehmen Lotte und Albert diese Neuordnung gemeinsam undfinden darüber eine neue Beziehung zueinander? Oder ist das eineinsamer Vorgang, der den einzelnen zwar stärkt, aber die Beziehungbelastet?

- Seit Werthers Ankunft müssen Lotte und Albert ihr Leben um Wertherherum aufbauen, d.h. nach aussen ist ein Arrangement zu sehen, dasnach innen aber einem Gefängnis ähnelt.

- Werther muss sich mit all seinem Druck entäussern und nutzt dafür dasPublikum als objektivierende Grösse im Kampf um seineEigenständigkeit.

- Lotte lebt nach Werthers Tod in einer Erinnerungswelt all der Erlebnissemit Werther (und Albert).

Figur der Lotte soll widersprüchlicher, mit mehr Eigenleben ausgestattetwerden.Hier entstand die Idee, über Goethes Textmaterial hinauszugehen. JudithKeller als heutige Autorin nahm die Einladung des Teams alsHerausforderung an, neue Texte im Goethischen „Stil“ zu schreiben undin die weiteren Diskussionen einfliessen zu lassen. Teilweise greift siedabei bei Goethe beschriebene Situationen auf und schildert sie ausLottes Perspektive. Teilweise erfindet sie Lottes Gedankenwelten, vondenen wir bei Goethe immer nur aus Werthers Perspektive erfahren.

Es entstehen z.B.

Ein Brief an Werther am Abend von Werthers Todestag1.Was ist der Mensch-Was ist der Mensch, dass er sterben kann.Was ist der Mensch, dass er sterben darf.Fast fällt mir die Feder aus der Hand-Werther?

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2.Man fürchtet um mein Leben. Da kam der Bote in das Zimmer und Albertsagte, gib ihm die Pistolen und, dass er ihm eine schöne Reise wünsche.Ihm, das waren Sie, Werther, das warst du, und die Reise, die Reise, woging sie hin-Werther, schreibe mir bald, ich darf nicht aus dem Bett.

Lieber WertherEben ist ihr Bote gekommen und verlangte nach den Pistolen…verzeihenSie, falls es unrecht ist, wenn ich mich fürchte und dunkle Ahnungen dasHerz mir verfinstern…Werther –Die letzte Sonne scheint auf den Schnee, hören Sie, alles iststill…Werther?Sie wissen, was Sie mir antun könnten…Kommen Sie bald vorbei. Ich will Ihnen ein neues Buch entdecken.Vergessen Sie meine Bitte, sie erst am Weihnachtsabend wieder zusehen…und, ich habe ihnen etwas Wichtiges zu sagen!Ihre Lotte

Werther?Man hat mich nicht zu Ihnen gelassen.Man hat mich eingeschlossen, hier, in dem Zimmer, in dem Glauben, essei besser für mich. Doch ich hörte von ihrem Stöhnen, ich hörte es bishierher und sah das Blut auf dem Boden, das warme Blut, sah ihreröchelnde Brust und legte meinen Kopf darauf, o Werther, oder wendeteich den Kopf und ekelte mich?Wo sind Sie?

Mutter, Mutter, Mutter! Wo bist du hin? Warum muss ich dich ersetzten.Warum darf ich nicht gehen. Warum muss ich das Brot schneiden.Warum hast du Werther nicht gekannt. Warum weißt du, dass Albertbesser ist als Werther. Wie kannst du mir Albert wünschen, wenn duWerther nicht kennst.Mutter, Mutter, Mutter

Brief an AlbertWerther hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, das er diese Welt zuverlassen sehnte. Du hast ihn oft bestritten, aber auch zwischen uns warmanchmal die Rede davon gewesen. Du Albert, wie du einenentschiedenen Widerwillen gegen die Tat empfandest, hattest auch garoft mit einer Art Empfindlichkeit, die sonst ganz ausser deinemCharakter liegt, zu erkennen gegeben, dass du an dem Ernst einessolchen Vorsatzes sehr zu zweifeln Ursache fändest, du hattest dir sogardarüber einigen Scherz erlaubt und mir mehrmals deinen Unglaubenmitgeteilt. Dies beruhigte mich zwar von einer Seite, wenn meineGedanken mir das traurige Bild vorführten, von der anderen aber fühlteich mich auch dadurch gehindert, dir die Besorgnisse mitzuteilen, diemich in dem Augenblick quälten. Du kamst von der Arbeit zurück, undich ging dir mit einer verlegenen Hastigkeit entgegen, du warst nichtheiter, dein Geschäft war nicht vollbracht, du musst an dem Amtmanneinen unbiegsamen, kleinsinnigen Menschen gefunden haben. Vielleichthatte dich auch der üble Weg verdriesslich gemacht. Du fragtest, ob

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nichts vorgefallen sei, und ich antwortete mit Übereilung: Werther istgestern abends da gewesen. Du fragtest, ob Briefe gekommen, und ichantwortete, dass ein Paket und Briefe auf deiner Stube lägen. Du gingsthinüber und ich blieb allein. Das Andenken an deinen Edelmut, deineLiebe und Güte hatte mir das Gemüt mehr beruhigt, ich fühlte einenheimlichen Zug, dir zu folgen, ich nahm meine Arbeit und ging auf deinZimmer. Ich fand dich beschäftigt, die Pakete zu erbrechen und zu lesen.Wir sprachen wenig und waren auf diese Weise eine Stundenebeneinander gewesen, Ich fühlte, wie schwer es mir würde, dir, auchwenn du bei bestem Humor wärest, das zu entdecken, was mir auf demHerzen lag. Ich verfiel in eine Wehmut, die mir umso ängstlicher wurde,als ich sie zu verbergen und meine Tränen zu verschlucken suchte. Dannkam der Bote-

Brief an Mutter (vor Werthers Tod) eine Art Tagebuch.

Mutter, ich bin in einen seltsamen Zustand geraten. Ich bin Alberten vonHerzen zugetan und sehe mich den Mann auf ewig verbunden, dessenRuhe, dessen Zuverlässigkeit dazu bestimmt zu sein scheinen, dass eineFrau das Glück ihres Lebens darauf gründen sollte.Auf der anderes Seite, kaum wage ich, es mir einzugestehen, ist mirWerther so teuer geworden, die Übereinstimmung unser Gemüter…Somanche durchlebte Situation hat einen unauslöschlichen Eindruck aufmein Herz gemacht. Alles, was ich interessantes fühle und denke, bin ichgewohnt mit ihm zu teilen, und seine Entfernung droht in mein ganzesWesen eine Lücke zu reissen, die nicht wieder ausgefüllt werden kann.Mutter, langsam fürchte ich, mein herzliches, heimliches Verlangen ist,ihn für mich zu behalten.Und dann aber, Werhter, Mutter, nur einen Augenblick ruhigen Sinn!Fühlt er denn nicht, dass er sich betrügt, sich mit Willen zugrunderichtet?Warum denn mich, Werther, Mutter! Warum denn mich!Wäre ich mit Werther glücklicher geworden als mit ihm? Ach Albert…Erist nicht dicht der Mensch, die Wünsche dieses Herzens alle zu füllen.Ein gewisser Mangel an Fühlbarkeit, ein Mangel- nimm es, wie du willst;dass sein Herz nicht sympathetisch schlägt bei – o! – bei der Stelle eineslieben Buches, wo mein Herz und Werthers in einem zusammentreffen.Aber...Ich fürchte, es ist nur die Unmöglichkeit mich zu besitzen, die ihmdiesen Wunsch so reizend macht.

Brief von Lotte nach Werthers Tod

Werther!Ich lege mich oft zu Bett mit dem Wunsche nicht wieder zu erwachen.Morgens schlage ich die Augen auf, sehe die Sonne wieder und bin elend.Die Kinder wollen ihr Brot, Albert geht wortlos aus dem Haus.Wehe mir! Ich fühle zu wahr, dass an mir allein alle Schuld liegt. Oderich fühle es nicht. Mein Herz ist tot. Meine Augen sind trocken. Ich habemich oft auf dem Boden geworfen und Gott um Tränen gebeten.

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Parallel zu den inhaltlich-konzeptionellen Gesprächen, die sich auf dieTextfassung beziehen, fanden Gespräche zwischen Regie, Bühnen- undKostümbild, Dramaturgie statt.Dabei wird eine Aussage richtungweisend.

Werthers Wahnsinn ist auch darin begründet, dass er keinen Abfluss,Aderlass für seine Gedanken und Gefühle hat. Sein Kopf explodiert.

Aus Gesprächsprotokollen des Regieteams:Wenn die Zuschauer den Raum betreten, brennen die Glühlampenschon, wenngleich auch auf einem sehr niedrigen Level, denn dieGeschichte beginnt ja nicht erst jetzt. Was mit Werther passiert, hatseinen Anfang schon früher.Die Lichter stehen für etwas Schönes, einen Sternenhimmel, Licht imDunkel etc., für eine unbestimmte Hoffnung.Während des Stückes werden die Lichter immer weiter hochgedimmt, espassiert etwas mit ihm, er lebt auf.Ab einem bestimmten Punkt wird sich das jedoch ändern. Das anfangsSchöne wird zur Bedrohung, die Lampen fangen an zu blenden, es wirdheiss, man kann ihnen kaum mehr nahe kommen.Irgendwann werden die Lampen zu hell – bis sie durchbrennen undschwarz werden, erlöschen. Erst einige, dann mehr und mehr. Der Raumscheint zu zerfallen, es bilden sich dunkle Löcher.Man sieht einem Menschen zu, wie er verglüht, sieht sein Leben inAusschnitten im Zeitraffer durchlaufen.Die Bühne steht für mich für Werthers Kopf, seine Ideen, Wünsche,Träume, die sich gegen ihn wenden.Meine Richtung zu denken war bisher eben, man sieht in Werthers„Kopf“ hört ihn seine Briefe/Tagebucheintragungen erstellen, ebensoAlbert und Lotte, die Teil seines Erlebens sind, Figuren, die sich ersteinmal seinem Blick auf die Dinge fügen und im Laufe des Stückes einEigenleben beginnen, eben mehr und mehr zu realen Figuren werdeninnerhalb seiner Gedankenwelt, sich aber auch einmal ins andere Extrementwickeln können, sprich, die hübsche keusche Lotte wirkt am Endevielleicht wie ein Männersaugender Vamp und er hat Angst vor ihr, z.B..Aber eben immer alle Werther, also eher ein Dialog mit sich selbst, inden reale Begebenheiten einfliessen, die Dialogpartner eine eigeneMeinung entwickeln und irgendwann Reales und Erfundenes nicht mehrunterscheidbar ist.

Die Requisitenschlacht entstand aus dem Gedanken heraus, dass dasGanze schon viele Male passiert ist und eventuell morgen wiederpassiert, eine Erinnerung ist, die man wieder und wieder durchspielt.Anfangs ging es um Tüten voller Zeug, dann kam die Idee mit denKartons, Kisten mit „Werther“ drauf. In denen können sich Dingebefinden, die im Lauf des Abends eingesetzt werden, von Masken für denBall, über Kleidung, Geschenke zum Geburtstag etc.Schön am Bild mit den vielen Requisiten finde ich, dass man am Endeeinen Blick auf Werthers Leben hat durch die Dinge, die von ihm übriggeblieben sind.Und diese werden dann von den Hinterbliebenen schön in Kisteneingepackt, beschriftet, verstaut, weggeschlossen… bis sie wiederhervorgeholt werden, heimlich oder offen, allein oder gemeinsam, umsich zu erinnern.

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Wie kann man verhindern, dass dabei dann aber nicht Werther alsNomade wird mit zig Umzugskisten. Er ist zwar ständig unterwegs, abernicht freiwillig, sondern immer fliehend – vor den Unzulänglichkeitenseines Lebens. Werther ist nicht rastlos und immer auf Neuanfangorientiert. Vielmehr sucht er das Beständige, ohne es zu finden bzw.ohne es halten zu können. Ihm wird, auch durch die eigeneMasslosigkeit, ein gefundener Ort zu eng, erdrückend, bedrohlich – under entzieht sich.

Über die Idee, mit einer Rückschau Lottes zu beginnen, war ich auf denGedanken gekommen, sie könnte wirklich ein historisches Kostümtragen, wie man es in der Zeit trug, allerdings nicht komplett, eher alsKostüm oder Verkleidung getragen, als würde sie abtauchen wollen ineiner zurückliegenden Zeit. Da steckt dann auch der heutige Blick aufdiese Kleidung mit drin, dem so eine merkwürdige Art Unschuldigkeitanhaftet, altbacken, aber dennoch schön. Lotte würde etwas verlorenund entrückt wirken.

Albert hatte ich schon recht bieder im Kopf – ein Bürohengst eben,Anzughose, Pullunder, Krawatte, alles eher in braunen und beigenTönen, das Hemd bis zum obersten Knopf zugeknöpft, die Haare mit vielHaarspray „befestigt“, dass sich auch ja kein einzelnes Haar bewegenkann.Wenn Werther wirklich versucht, sein Leben zu ändern, in geordneteBahnen zu kommen, krampfhaft versucht einen Job anzunehmen,ordentlich zu sein, verleugnet er sich im gleichen Moment ja auch selbst,nimmt eine andere Rolle an, die ihm gar nicht passt und in die er garnicht passt. Dann könnte er die gleichen Kostümteile anziehen wieAlbert, aber eben un-passend. Die Kleidungsstücke passen ihm nichtwirklich. Da das Hemd zu eng ist, muss er einen Knopf oben offen lassen,der Pullunder ist zwei Nummern zu gross und die Hose zu kurz oder zulang.

Für den Schluss, kurz bevor sich Werther tötet, dachte ich, ob er nichtdas Kleid Lottes vom Anfang anziehen könnte. Das ist das Bild, dassjemand ein Kleidungsstück von jemandem, der nicht mehr da ist, nimmt,um ihr ganz nahe sein zu wollen, mit ihr tanzen, sie spüren, sich selbstumarmen, sie erreichen wollen. Wir sehen als Zuschauer, dass er es nieschaffen wird, welcher Illusion er aufsitzt.

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Raum – Kostüme - Requisiten

Am 4. Mai 2008 beginnen auf der Bühne B des Theaters der Künste die Proben.

Regisseur, Ausstatter und Dramaturgin stellen Grundabsichten der geplantenInszenierung allen Beteiligten vor.Auf der Bühne ist das geplante Bühnenbild zu grossen Teilen bereits vorhanden,ebenso eine Auswahl an Probekostümen und Requisiten.

Die eine Schauspielerin und die beiden Schauspieler lesen die Textfassung, diein den zurückliegenden Monaten entstanden ist.Es entspinnt sich eine angeregte Diskussion über den Gesamteindruck, aberauch über fehlende Texte, Fragen an Textumstellungen sowie an neue Texte, diesich in der Spielfassung finden.

Während der nächsten Wochen verändert sich die Textfassung unterEinwirkung der zahlreichen Improvisationen, die die Schauspieler nachVorgaben von Rahmenbedingungen durch den Regisseur erspielen.

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Entwürfe des Werbeflyer

Parallel zu den Proben werden Überlegungen angestellt, mit welchem Motiv dasTheater für diese Produktion werben soll.

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b. Probenfotos

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c. Im Spiegel der Presse

ReduktionFür seine Diplominszenierung streicht Daniel Kuschewski alles, was ablenkt,weg und macht aus «Die Leiden des jungen Werther» einen kompaktverdichteten Abend. Höchste Konzentration aufs Schauspiel.In den gut neunzig Minuten Hochgenuss wird sich das Saallicht ganz langsamverabschieden und das inszenierte Licht, eine Glühbirnen-armada, die alleWände ziert, wird zum Schluss gleissend hell erleuchten (Licht: Dietrich Furrer).Genauso effektvoll, gerade weil so einfach, geht Daniel Kuschewski mit demStoff und den drei SchauspielerInnen um. Lange Zeit stehen Lotte (Kathrin Veit),Werther (Lukas Waldvogel) und Albert (Stefan Graf) auf ihren drei Fixpunktenauf der Bühne und lassen neben der inszenierten Geschichte immer wiederKunstpausen wirken. Kunstpausen, in denen die kleinen Gesten, reine Mimikund Körperhaltung genauso ‘sprechen’, wie wenn die DarstellerInnen den Mundöffneten. «Die Leiden des jungen Werther» ist als Kontrastpunkt gegen dieseReduktion aber auch Vollgas-Körperlichkeit, mit jeder einzelnen Faser auf dieBühne gebracht. Der Tanz der beiden Liebenden um die einzige Frau, derenendliche Rauferei, die überschwängliche Freude des jungen Werther und diemissgünstigen Blicke Alberts aus dem Hintergrund – alles in sich stimmig. Die

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exakt ausgeführten Stimmungswechsel von der ausufernden Begierde zur aufden Punkt gebrachten stoischen Ruhe mit wechselndem inhaltlichemHintergrund sind sagenhaft ausgeführt. Natürlich hat sich Kuschewski einDream-Team in Sachen Schauspiel ausgesucht, aber auch guteSchauspielerInnen erreichen ihre Höchstform in aller Regel erst durch eine klareRegie – und die liefert er unbestreitbar ab. Bravo!(Thierry Frochaux, P.S. Juli 2008)

Liebe ist doch das HöchsteDrei junge Leute in Jeans und T-Shirt sitzen in der ersten Reihe. Als das Lichtausgeht, stehen sie auf und gehen auf die Bühne. Am hinteren Rand liegen dreiKleiderhaufen, mit deren Hilfe sie sich verwandeln. Dann stehen sie da undstellen sich vor: "Lotte" sagt die junge Frau in rosa Kleidchen undSilbertanzschuhen, "Werther" der Mann mit legerem, offenem schwarzen Hemdund silbernen Halbschuhen, "Albert" der adrett gekleidete Mann in Anzug undKrawatte.Mai 1771 beginnt der erste Tagebucheintrag. Am 16. Junius dann ist er bereit füreine Begegnung, die sein Leben verändern soll: Er lernt Lotte kennen. Einen"Engel". Doch diese Lotte ist bereits vergeben: an Albert, den braven städtischenAngestellten. Dennoch können die Beiden es nicht verhindern, dem Zauber ihrerBegegnung zu erliegen. Werther ist bis über beide Ohren verliebt. Als Albertdavon erfährt, bleibt er gelassen. Denn Albert "ist der liebste Mensch unter derSonne".Und so entspannt sich ein höchst merkwürdiges Dreiecksverhältnis zwischenden Drei. Die Drei auf der Bühne machen dies in einer Szene ohne Wortedeutlich: Klopfen sich die Männer zunächst gewollt jovial auf den Rücken,versuchen sogar eine kumpelhafte Umarmung, zwängt sich Lotte danndazwischen. Mal hängt sie an des einen Schultern, mal lehnt sie an des anderenKopf. Doch eine bequeme und stabile Stellung will sich nicht einstellen. Immerwieder bricht einer der dreien aus und sie versuchen eine neue Position.Die Inszenierung des Goethe-Textes von Regisseur Daniel Kuschewski gab einbegeistert aufgenommenes Gastspiel im Haus 73. Die drei Schauspieler warensehr überzeugend. Eine gelungene Übertragung der "Leiden des jungen Werter"ins Heute.(Birgit Schmalmack vom 21.7.08 unter www.hamburgtheater.de )

3. Spielerischer Zugang –Praktische Theaterübungen zur Inszenierung

Schritt für SchrittDie Gruppe teilt sich in Zweiergruppen auf. Die Spielfläche wird an neunPunkten markiert (3 Reihen à 3 Punkten). Zwischen diesen Punkten können sichdie Spieler Zug um Zug bewegen.Dazu wählt jeder Spieler einen markierten Punkt als Ausgangspunkt. Entwedernach Absprache oder aus der Situation heraus beginnt einer mit dem ersten Zug,d.h. bewegt sich von seinem Punkt zu einem anderen markierten Punkt. Ist diesgeschehen, reagiert der andere Spieler mit seinem Zug, indem er sich auf einenanderen markierten Punkt bewegt. So geht es ‚Zug um Zug’.Die anderen beobachten die sich aus den Partnerbeziehungen entwickelndeSzene und beschreiben sie im Anschluss.

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Als Weiterentwicklung können im Vorfeld äussere Rahmenbedingungenkonkretisiert werden. Wo findet diese Begegnung statt? Wann? Welche Personentreffen aufeinander?

Willkommen und AbschiedÜber einen bestimmten Zeitraum sammeln alle Beteiligten verschiedene Formendes Begrüssens und/oder des Abschiednehmens bzw. des sich Verabschiedensdurch die Beobachtung an unterschiedlichen Orten.Diese Beobachtungen stellen sie den anderen der Gruppe im Spiel vor.Die Zuschauenden diskutieren im Anschluss über die Beziehung, die diebeteiligten Personen zueinander haben oder haben könnten.

Wo stecken die Gefühle?Tragt Redewendungen und Ausdrücke zusammen, in denen körperlichesVerhalten benannt oder zitiert wird, und sucht nach einer körperlichenUmsetzung davon.Welche Gefühle transportieren sich darüber?Erfindet Alltagssituationen unter dem Titel einer solchen Redewendung.Verändert während des Spiels die Körperhaltung, die Spannung im Körper.Welcher neue Gefühlsausdruck lässt sich beim Zuschauen beobachten?

Alle Beteiligten machen einzeln eine Aufstellung von 5 Daten, mit denen siebesondere emotionale Erlebnisse verbinden. Jeder probiert aus, wie er dieseemotionale Erinnerung in die Aussprache des Datums legen können und stellendas gegenseitig vor. Die Zuhörenden erraten, welches Ereignis mit demgenannten Datum verbunden ist.In einer nächsten Runde versuchen jeweils 2-3 Personen einen Dialog zu führen,allein über die Nennung der Daten.

Alle Spielvorschläge sind auch für eine Nachbereitung geeignet. Dafür könnenBeobachtungen spielerisch dargestellt werden, um anschliessend über darüberzu diskutieren.Beobachtungen können aber auch schreibend festgehalten werden im Sinne vonTheaterkritiken. Was habe ich gesehen? Was hat mir das Gesehene erzählt?Wozu wurde ich angeregt?

Welches Beziehungsgefüge existiert zwischen den 3 SpielerInnen und zwischenLotte, Albert und Werther? Welche Gemeinsamkeiten, welche Unterschiedezwischen diesen beiden Ebenen konnten festgestellt werden? An welchemkörperlichen Verhalten, welchen Arrangements, an welchen stimmlichenAusdrucksmitteln können die Schlussfolgerungen festgemacht werden?

Arbeit am TextDie Gruppe teilt sich in 3 Kleingruppen, jeweils für eine Figur: Lotte, Albert,Werther. Jede Gruppe liest den Text bzw. einen ausgesuchten Textabschnittdaraufhin, welche Texte zu ihrer Figur passen könnten.In der anschliessenden Präsentation liegt ein Schwerpunkt darauf, dieVorstellungen zur Figur den anderen darzulegen. Dazu werden die Texte in zweiGruppen unterteilt: spielbare Szenen und Situationen sowie Schilderungen vonerlebten Situationen. Besonderen Stellenwert nehmen die Texte ein, die inmehreren Gruppen ausgewählt wurden. Welche Schlussfolgerungen lassen sichdaraus ziehen?

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Mit Spannung und Neugier verfolgen die Zuschauer auf dieser Basis dieVorstellung, um Übereinstimmungen und Abweichungen von den eigenenEntdeckungen wahrzunehmen. Diese bieten genügend Material für sich an denTheaterbesuch anschliessende Diskussionen.

Goethe lässt seinen Titelhelden Briefe an einen imaginären Freund schreiben,wobei wir keinen Aufschluss darüber bekommen, wie real dieser tatsächlich ist.Schreibt in Kleingruppen Antwortbriefe an Werther – bezogen auf einzelneEpisoden, Abschnitte, Erlebnisse, Gedankengänge, von denen Werther schreibt.

Wie würde sich die Geschichte verändern, wenn Lotte und / oder Albert eineGeschichte „Die Leiden des jungen Werther“ schreiben?

Wie ging Lottes und Alberts Leben nach dem Tod von Werther weiter? Tragtzusammen, wie es 1, 5 und 10 Jahre später für beide Personen aussieht. Undentscheidet, in welcher Textform ihr davon berichten wollt.

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4. Goldene Theaterregeln

Liebe Lehrpersonen!

Bitte informieren Sie Ihre Schüler vor der Vorstellung über Verhaltensregeln im Theater und die Dauer des

Theaterstücks.

Liebe Schülerinnen und Schüler!

Ins Theater zu gehen ist ein besonderes Erlebnis. Damit der Theaterbesuch für Sie, für die

Schauspieler und alle anderen Zuschauer ein besonders schönes Ereignis wird, möchten wir

Ihnen einige Tipps mit auf den Weg geben:

Theater ist immer live, das heisst, keine Vorstellung ist wie die andere. Schauspieler und

Publikum reagieren aufeinander und das Zusammenspiel auf der Bühne entsteht immer von

neuem. Dafür verdienen die Schauspieler Ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie merken, wenn es im

Zuschauerraum unruhig wird. Deshalb stören während der Vorstellung schon Geflüster,

Papierknistern oder andere Geräusche. Aber es ist natürlich schön, wenn Sie sich vom Spiel

verführen lassen und mit den Figuren mitgehen, lachen, staunen oder leiden.

Es ist sehr willkommen, aufzustehen, wenn andere zu ihrem Platz möchten. Klettern Sie bitte

nicht über Sitze und legen Sie Ihre Füsse nicht auf die Lehne der Vorderreihe.

Bitte schalten Sie das Handy und den MP3-Player ganz aus. Das Handy beeinträchtigt auch im

Standby-Modus die Elektronik des Theaters.

Vor und nach der Vorstellung gibt es an der Bar die Möglichkeit, alkoholfreie Getränke und

Snacks zu kaufen und zu geniessen. Verzichten Sie bitte auf Essen und Trinken im

Zuschauerraum.

Im Theater gibt es keine Kleiderordnung. Es ist jeder willkommen, auch in Jeans. Jacken und

Mützen können Sie in der Garderobe im Foyer lassen.

Applaus ist die Belohnung für den Schauspieler. Wenn es Ihnen gefallen hat, halten Sie sich am

Schluss nicht zurück ...

Wir freuen uns auf Ihren Theaterbesuch und wünschen Ihnen viel Spass!

Theater Tuchlaube

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5. Quellennachweis

(1) Dagmar von Gersdorff: Goethes Mutter, Insel Verlag Frankfurt am Main, Leipzig2001

(2) Hans-Jürgen Geerdts: Johann Wolfgang Goethe, Verlag Philipp Reclam, Leipzig1985

(3) Edgar Hein: Die Leiden des jungen Werther, Oldenburger Interpretationen,Oldenburger Schulbuchverlag 1991

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6. AnhangDie Entwicklung der Textfassung von Probenbeginn bis zur Endfassung

DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHERvonJohann Wolfgang Goethe

Stand: 4. Mai 2008 (Probenbeginn)

grau - mit Fragezeichen / wird evtl noch gestrichen.grau - Spielvorlage (kommt nicht bzw. nur teilweise als gesprochener Text vor)

Was ich von der Geschichte des armen Werther nur habe auffinden können, habe ich mitFleiß gesammelt und lege es euch hier vor, und weiß, dass ihr mir's danken werdet. Ihrkönnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, seinemSchicksale eure Tränen nicht versagen.Und du gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden,und lass das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigener Schuldkeinen näheren finden kannst.

WERTHER

Am 4. Mai 1771

Wie froh bin ich, dass ich weg bin!

Was ist das Herz des Menschen!Was ist der Mensch, dass er über sich klagen darf!Ich will mich bessern, will nicht mehr ein bisschen Übel, das uns das Schicksalvorlegt, wiederkäuen, wie ich's immer getan habe; ich will das Gegenwärtigegenießen, und das Vergangene soll mir vergangen sein.

WERTHERAch, der Schmerzen wären minder unter den Menschen, wenn sie nicht – Gottweiß, warum sie so gemacht sind! – mit so viel Emsigkeit der Einbildungskraftsich beschäftigten, die Erinnerungen des vergangenen Übels zurückzurufen,eher als eine gleichgültige Gegenwart zu ertragen.Die Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischenGegend. Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauß von Blüten, und man möchtezum Maienkäfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen herumschwebenund alle seine Nahrung darin finden zu können.

Am 10. Mai

Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich densüßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin soglücklich, dass meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen,nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesenAugenblicken.

LOTTEWenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche derundurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlensich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallendenBache liege, und näher an der Erde tausend mannigfaltige Gräschen mirmerkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischenHalmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, derMückchen näher an meinem Herzen fühle…

WERTHERWenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche derundurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen

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sich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallendenBache liege, und näher an der Erde tausend mannigfaltige Gräschen mirmerkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischenHalmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, derMückchen näher an meinem Herzen fühle und die Welt um mich her und derHimmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten -aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeitdieser Erscheinungen.

WERTHER

Am 13. Mai

Ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuert sein, braust dieses Herz dochgenug aus sich selbst.Wie oft lull' ich mein empörtes Blut zur Ruhe - so ungleich, so unstet diesesHerz.Auch halte ich mein Herzchen wie ein krankes Kind; jeder Wille wird ihmgestattet. Es gibt Leute, die mir es verübeln würden.

Den 17. MaiWenn ich mich manchmal vergesse, manchmal die Freuden genieße, die denMenschen noch gewährt sind - eine Spazierfahrt, einen Tanz und dergleichen,das tut eine ganz gute Wirkung auf mich; nur muss mir nicht einfallen, dassnoch so viele andere Kräfte in mir ruhen, die alle ungenutzt vermodern und dieich sorgfältig verbergen muss. Ach das engt das ganze Herz so ein. – Und doch!Missverstanden zu werden, ist das Schicksal von unsereinem.

Ach, dass die Freundin meiner Jugend dahin ist. Aber ich habe sie gehabt, inderen Gegenwart ich mir schien mehr zu sein, als ich war, weil ich alles war,was ich sein konnte. War unser Umgang nicht ein ewiges Weben von derfeinsten Empfindung, dem schärfsten Witze.

Am 22. Mai

Ich habe allerlei Bekanntschaft gemacht, Gesellschaft habe ich noch keinegefunden. Ich weiß nicht, was ich Anzügliches für die Menschen haben muss; esmögen mich ihrer so viele und hängen sich an mich,

Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meistenverarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bisschen, das ihnenvon Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, dass sie alle Mittel aufsuchen, um es loszu werden.Wenn ich die Einschränkung ansehe, in welcher die Kräfte des Menscheneingesperrt sind; wenn ich sehe, wie alles dahinaus läuft, sich die Befriedigungvon Bedürfnissen zu verschaffen, die keinen Zweck haben, als unsere armeExistenz zu verlängern – das macht mich stumm.Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt!

Diejenigen sind die Glücklichsten, die gleich den Kindern in den Tag hineinleben, ihre Puppen herumschleppen, aus- und anziehen und mit großemRespekt um die Schublade umherschleichen, wo Mama das Zuckerbrot hineingeschlossen hat, und, wenn sie das gewünschte endlich erhaschen, es mit vollenBacken verzehren und rufen: »mehr!« – das sind glückliche Geschöpfe.

Wohl dem, der so sein kann! Wer aber in seiner Demut erkennt, wo das alleshinausläuft, wer da sieht, wie artig jeder Bürger, dem es wohl ist, sein Gärtchenzum Paradiese zuzustutzen weiß, und alle gleich interessiert sind, das Lichtdieser Sonne noch eine Minute länger zu sehn – ja, der ist still und bildet auchseine Welt aus sich selbst und ist auch glücklich, weil er ein Mensch ist. Unddann, so eingeschränkt er ist, hält er (der Mensch) doch immer im Herzen dassüße Gefühl der Freiheit, und dass er diesen Kerker verlassen kann, wann erwill.

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Am 26. Mai

Man kann zum Vorteile der Regeln viel sagen. Ein Mensch, der sich nach ihnenbildet, wird nie etwas Abgeschmacktes und Schlechtes hervorbringen, wie einer,der sich durch Gesetze und Wohlstand modeln lässt; dagegen wird aber auchalle Regel, man rede was man wolle, das wahre Gefühl von Natur zerstören!

Es ist damit wie mit der Liebe. Ein junges Herz hängt ganz an einem Mädchen,bringt alle Stunden seines Tages bei ihr zu, verschwendet alle seine Kräfte, allsein Vermögen, um ihr jeden Augenblick auszudrücken, dass er sich ganz ihrhingibt. Und da käme ein Mann und sagte zu ihm: ›feiner junger Herr! Lieben istmenschlich, nur müsst Ihr menschlich lieben! Teilet Eure Stunden ein, die einenzur Arbeit, und die Erholungsstunden widmet Eurem Mädchen. Berechnet EuerVermögen, und was Euch übrig bleibt, davon verwehr' ich Euch nicht, ihr einGeschenk, nur nicht zu oft, zu machen, etwa zu ihrem Geburts- undNamenstage – folgt der Mensch, so gibt's einen brauchbaren jungen Menschen;nur mit seiner Liebe ist's am Ende und, wenn er ein Künstler ist, mit seinerKunst.

LOTTEAm 16. JuniusSie werden ein schönes Frauenzimmer kennen lernen…

WERTHERAm 16. Junius?

Kurz und gut, ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näherangeht. Ich habe – ich weiß nicht.Einen Engel!

Stand: 26. Mai 2008

WERTHER

Am 4. Mai 1771

Wie froh bin ich, dass ich weg bin!

Was ist das Herz des Menschen!Was ist der Mensch, dass er über sich klagen darf!Ich will mich bessern, will nicht mehr ein bisschen Übel, das uns das Schicksalvorlegt, wiederkäuen, wie ich's immer getan habe; ich will das Gegenwärtigegenießen, und das Vergangene soll mir vergangen sein.

WERTHERAm 7. MaiAch, der Schmerzen wären minder unter den Menschen, wenn sie nicht – Gottweiß, warum sie so gemacht sind! – mit so viel Emsigkeit der Einbildungskraftsich beschäftigten, die Erinnerungen des vergangenen Übels zurückzurufen,eher als eine gleichgültige Gegenwart zu ertragen.

Am 9. MaiDie Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischenGegend. Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauß von Blüten, und man möchtezum Maienkäfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen herumschwebenund alle seine Nahrung darin finden zu können.

Am 10. Mai

Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich densüßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin soglücklich, dass meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen,nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesenAugenblicken.

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LOTTEWenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche derundurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlensich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallendenBache liege, und näher an der Erde tausend mannigfaltige Gräschen mirmerkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischenHalmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, derMückchen näher an meinem Herzen fühle…

WERTHERWenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche derundurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlensich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallendenBache liege, und näher an der Erde tausend mannigfaltige Gräschen mirmerkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischenHalmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, derMückchen näher an meinem Herzen fühle und die Welt um mich her und derHimmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten -aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeitdieser Erscheinungen.Am 11. MaiAm 12. MaiAm 13. MaiIch will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuert sein, braust dieses Herz dochgenug aus sich selbst.Wie oft lull' ich mein empörtes Blut zur Ruhe - so ungleich, so unstet diesesHerz.Auch halte ich mein Herzchen wie ein krankes Kind; jeder Wille wird ihmgestattet. Es gibt Leute, die mir es verübeln würden.

Am 17. MaiWenn ich mich manchmal vergesse, manchmal die Freuden genieße, die denMenschen noch gewährt sind - eine Spazierfahrt, einen Tanz und dergleichen,das tut eine ganz gute Wirkung auf mich; nur muss mir nicht einfallen, dassnoch so viele andere Kräfte in mir ruhen, die alle ungenutzt vermodern und dieich sorgfältig verbergen muss. Ach das engt das ganze Herz so ein. – Und doch!Missverstanden zu werden, ist das Schicksal von unsereinem.

Ach, dass die Freundin meiner Jugend dahin ist. Aber ich habe sie gehabt, inderen Gegenwart ich mir schien mehr zu sein, als ich war, weil ich alles war,was ich sein konnte. War unser Umgang nicht ein ewiges Weben von derfeinsten Empfindung, dem schärfsten Witze.

Am 22. Mai

Ich habe allerlei Bekanntschaft gemacht, Gesellschaft habe ich noch keinegefunden. Ich weiß nicht, was ich Anzügliches für die Menschen haben muss; esmögen mich ihrer so viele und hängen sich an mich,

Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meistenverarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bisschen, das ihnenvon Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, dass sie alle Mittel aufsuchen, um es loszu werden.Wenn ich die Einschränkung ansehe, in welcher die Kräfte des Menscheneingesperrt sind; wenn ich sehe, wie artig jeder Bürger, dem es wohl ist, seinGärtchen zum Paradiese zuzustutzen weiß, wie alles dahinaus läuft, sich dieBefriedigung von Bedürfnissen zu verschaffen, die keinen Zweck haben, alsunsere arme Existenz zu verlängern – das macht mich stumm.Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt!

Und dann, so eingeschränkt er ist, hält er (der Mensch) doch immer im Herzendas süße Gefühl der Freiheit, und dass er diesen Kerker verlassen kann, wann erwill.

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Am 24. MaiAm 25. MaiAm 26. MaiMan kann zum Vorteile der Regeln viel sagen. Ein Mensch, der sich nach ihnenbildet, wird nie etwas Abgeschmacktes und Schlechtes hervorbringen, wie einer,der sich durch Gesetze und Wohlstand modeln lässt; dagegen wird aber auchalle Regel, man rede was man wolle, das wahre Gefühl von Natur zerstören!

Es ist damit wie mit der Liebe. Ein junges Herz hängt ganz an einem Mädchen,bringt alle Stunden seines Tages bei ihr zu, verschwendet alle seine Kräfte, allsein Vermögen, um ihr jeden Augenblick auszudrücken, dass er sich ganz ihrhingibt. Und da käme ein Mann und sagte zu ihm:

ALBERT›feiner junger Herr! Lieben ist menschlich, nur müsst Ihr menschlich lieben!Teilet Eure Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungsstunden widmetEurem Mädchen. Berechnet Euer Vermögen, und was Euch übrig bleibt, davonverwehr' ich Euch nicht, ihr ein Geschenk, nur nicht zu oft, zu machen, etwa zuihrem Geburts- und Namenstage –

WERTHERfolgt der Mensch, so gibt's einen brauchbaren jungen Menschen; nur mit seinerLiebe ist's am Ende und, wenn er ein Künstler ist, mit seiner Kunst.Am 27. MaiAm 28. MaiAm 29. Mai…LOTTEAm 16. JuniusSie werden ein schönes Frauenzimmer kennen lernen…

WERTHERAm 16. Junius?

Kurz und gut, ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näherangeht. Ich habe – ich weiß nicht.Einen Engel!

Stand: 3. Juni 2008

WERTHER

Am 4. Mai 1771

Wie froh bin ich, dass ich weg bin!

Was ist das Herz des Menschen!Was ist der Mensch, dass er über sich klagen darf!Ich will mich bessern, will nicht mehr ein bisschen Übel, das uns das Schicksalvorlegt, wiederkäuen, wie ich's immer getan habe; ich will das Gegenwärtigegenießen, und das Vergangene soll mir vergangen sein.

Am 5. Maischön

Am 6. Maischön

WERTHERAm 7. MaiAch, der Schmerzen wären minder unter den Menschen, wenn sie nicht – Gottweiß, warum sie so gemacht sind! – mit so viel Emsigkeit der Einbildungskraft

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sich beschäftigten, die Erinnerungen des vergangenen Übels zurückzurufen,eher als eine gleichgültige Gegenwart zu ertragen.

Am 8.MaiAm 9. MaiDie Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischenGegend. Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauß von Blüten, und man möchtezum Maienkäfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen herumschwebenund alle seine Nahrung darin finden zu können.Ich halte mein Herzchen wie ein krankes Kind; jeder Wille wird ihm gestattet.

Am 10. Mai

Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich densüßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin soglücklich, dass meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen,nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesenAugenblicken.

Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche derundurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlensich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallendenBache liege, und näher an der Erde tausend mannigfaltige Gräschen mirmerkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischenHalmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, derMückchen näher an meinem Herzen fühle und die Welt um mich her und derHimmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten -aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeitdieser Erscheinungen.

Am 11. MaiAm 12. MaiAm 13. MaiAm 14. MaiAm 15. MaiAm 16. MaiAm 17. MaiAch, dass die Freundin meiner Jugend dahin ist. Aber ich habe sie gehabt, inderen Gegenwart ich mir schien mehr zu sein, als ich war, weil ich alles war,was ich sein konnte. War unser Umgang nicht ein ewiges Weben von derfeinsten Empfindung, dem schärfsten Witze.

Am 18., am 19., am 20., am 21., am 22. Mai

Ich habe allerlei Bekanntschaft gemacht, Gesellschaft habe ich noch keinegefunden. Ich weiß nicht, was ich Anzügliches für die Menschen haben muss; esmögen mich ihrer so viele und hängen sich an mich...

Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meistenverarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bisschen, das ihnenvon Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, dass sie alle Mittel aufsuchen, um es loszu werden.Wenn ich die Einschränkung ansehe, in welcher die Kräfte des Menscheneingesperrt sind; wenn ich sehe, wie artig jeder Bürger, dem es wohl ist, seinGärtchen zum Paradiese zuzustutzen weiß, wie alles dahinaus läuft, sich dieBefriedigung von Bedürfnissen zu verschaffen, die keinen Zweck haben, alsunsere arme Existenz zu verlängern – das macht mich stumm.Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt!

Und dann, so eingeschränkt der Mensch ist, hält er doch immer im Herzen dassüße Gefühl der Freiheit, und dass er diesen Kerker verlassen kann, wann erwill.

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Am 23. MaiAm 24. MaiAm 25. Mai

Am 26. MaiMan kann zum Vorteile der Regeln viel sagen. Ein Mensch, der sich nach ihnenbildet, wird nie etwas Abgeschmacktes und Schlechtes hervorbringen. Dagegenwird aber auch alle Regel, man rede was man wolle, das wahre Gefühl von Naturzerstören!

Es ist damit wie mit der Liebe. Ein junges Herz hängt ganz an einem Mädchen,bringt alle Stunden seines Tages bei ihr zu, verschwendet alle seine Kräfte, allsein Vermögen, um ihr jeden Augenblick auszudrücken, daß er sich ganz ihrhingibt. Und da käme ein Mann und sagte zu ihm:

WERTHER / ALBERT›feiner junger Herr! Lieben ist menschlich, nur müßt Ihr menschlich lieben!Teilet Eure Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungsstunden widmetEurem Mädchen. Berechnet Euer Vermögen, und was Euch übrig bleibt, davonverwehr' ich Euch nicht, ihr ein Geschenk, nur nicht zu oft, zu machen, etwa zuihrem Geburts- und Namenstage –

WERTHERfolgt der Mensch, so gibt's einen brauchbaren jungen Menschen; nur mit seinerLiebe ist's am Ende und, wenn er ein Künstler ist, mit seiner Kunst.

Am 27. MaiAm 28. MaiAm 29. Mai…Am 22. JuniusLOTTEAm 16. JuniusSie werden ein schönes Frauenzimmer kennen lernen…

WERTHERAm 5. Julius

LOTTEAm 16. JuniusSie werden ein schönes Frauenzimmer kennen lernen…

WERTHERAm 16. Junius?

LOTTEAm 16. Junius

WERTHERAm 16. JuniusKurz und gut, ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näherangeht. Ich habe – ich weiß nicht. Einen Engel!