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Die Mauer im Westjordanland Ein Crashtest für das Völkerrecht? E D I T O R I A L Beiträge zum demokratischen Frieden © 2004 Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung/Peace Research Institute Frankfurt Nr. 2/2004 Mic ic ic ic icha ha ha ha hael B l B l B l B l Bothe othe othe othe othe Vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag fand vom 23. bis 25. Februar die Anhörung zu einem Gutachten statt, das die Generalversammlung der Vereinten Natio- nen zu der Frage erbeten hat, welche recht- lichen Konsequenzen sich aus dem Bau der Mauer ergeben, die Israel im Westjordan- land zu errichten begonnen hat. In weni- gen Wochen wird die Entscheidung des Ge- richtshofs erwartet. In der Beurteilung, dass dieses Bauwerk völkerrechtswidrig ist, sind sich die Staaten der Welt – Ost und West, Nord und Süd – weitgehend einig. Als es aber darum ging, ob der Internationale Gerichtshof, das Rechtsprechungsorgan der Vereinten Natio- nen, dieses eindeutig klären sollte, ging plötzlich ein Riss durch die Staatengemein- schaft. Nicht wenige Staaten – die USA, Großbritannien, Russland, auch die Bun- desrepublik – sprachen sich dagegen aus, dass der Gerichtshof ein solches Gutachten erstatten sollte. Andere, nicht nur die ara- bischen Staaten, auch die Schweiz, Irland, Frankreich und Schweden, befürworten es. Was steckt hinter diesem Streit? Wie ist die Rolle zu beurteilen, die das Gericht mit sei- nem Gutachten zu der gestellten Frage auch im Hinblick auf das gesamte Problem Palä- stinas spielen soll und kann? Was steckt hin- ter der skeptischen Beurteilung der Rolle rechtlicher Klärung? Sowohl auf Seiten der Befürworter als auch auf Seiten der Gegner des Gutachtens finden sich demokratische Staaten. Haben Demokratien unterschied- liche Einstellungen zur Rolle des Rechts und der Gerichtsbarkeit in den internationalen Beziehungen? Dieses Bauwerk hat viele Namen: Israel nennt es „Sicherheitszaun“, heftige Geg- ner sprechen von der „Separation Wall“ oder „Apartheid Wall“. Institutionen, die sich um eine ausgewogene Haltung be- mühen, bezeichnen es schlicht als „the Barrier“. Die arabische Seite und inzwi- schen auch die Generalversammlung der Vereinten Nationen gebrauchen den Begriff „Mauer“. In der Tat ist es nicht nur die unterschiedliche Beschaffenheit dieser baulichen Begrenzung– einige Abschnitte sind aus meterhohem Sta- cheldraht, andere aus Beton –, vielmehr spiegeln sich in der Vielfalt der Bezeich- nungen auch die verschiedensten Hal- tungen wider. Michael Bothe hat sich für den Ausdruck „Mauer“ entschieden, nicht zuletzt wegen der Assoziationen, die dieser Begriff in Deutschland aus- löst, aber auch in Anlehnung an den Sprachgebrauch der Vereinten Nationen als Hüter und Verfechter des Völker- rechts. In der Beurteilung der Mauer, die Israel im Westjordanland zu errichten begonnen hat, herrscht unter den Staa- ten der Welt weitgehend Einigkeit: Sie ist völkerrechtswidrig und wieder ab- zubauen. Als der Internationale Ge- richtshof in Den Haag dies auch offi- ziell feststellen sollte, zeigten jedoch zahlreiche Staaten eine überraschende Zurückhaltung. Diese Entwicklung nimmt der Autor zum Anlass, um für eine konsequente Anwendung des Völ- kerrechts zu plädieren. Er legt dar, war- um es in jedem Fall anzuwenden ist, und welche Gefahren eine selektive Be- oder Missachtung des Völkerrechts in sich birgt. Marlar Kin Die Mauer im Westjordanland soll jüdischen Siedlungen Schutz vor palästinensicher Gewalt bieten – so die Erklärung Israels. Allerdings verläuft sie nicht entlang der sog. „Green Line“, den Waffenstillstandslinien von 1949, sondern oftmals weit im palästi- nensischen Gebiet, das durch sie förmlich „zerschnitten“ wird. Bild: picture alliance/dpa brought to you by CORE View metadata, citation and similar papers at core.ac.uk provided by eDoc.VifaPol

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Die Mauer im WestjordanlandEin Crashtest für das Völkerrecht?

E D I T O R I A L

Beiträge zum demokratischen Frieden

© 2004 Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung/Peace Research Institute Frankfurt Nr. 2/2004

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Vor dem Internationalen Gerichtshof inDen Haag fand vom 23. bis 25. Februar dieAnhörung zu einem Gutachten statt, das dieGeneralversammlung der Vereinten Natio-nen zu der Frage erbeten hat, welche recht-lichen Konsequenzen sich aus dem Bau derMauer ergeben, die Israel im Westjordan-land zu errichten begonnen hat. In weni-gen Wochen wird die Entscheidung des Ge-richtshofs erwartet.

In der Beurteilung, dass dieses Bauwerkvölkerrechtswidrig ist, sind sich die Staatender Welt – Ost und West, Nord und Süd –weitgehend einig. Als es aber darum ging,ob der Internationale Gerichtshof, dasRechtsprechungsorgan der Vereinten Natio-nen, dieses eindeutig klären sollte, ging

plötzlich ein Riss durch die Staatengemein-schaft. Nicht wenige Staaten – die USA,Großbritannien, Russland, auch die Bun-desrepublik – sprachen sich dagegen aus,dass der Gerichtshof ein solches Gutachtenerstatten sollte. Andere, nicht nur die ara-bischen Staaten, auch die Schweiz, Irland,Frankreich und Schweden, befürworten es.Was steckt hinter diesem Streit? Wie ist dieRolle zu beurteilen, die das Gericht mit sei-nem Gutachten zu der gestellten Frage auchim Hinblick auf das gesamte Problem Palä-stinas spielen soll und kann? Was steckt hin-ter der skeptischen Beurteilung der Rollerechtlicher Klärung? Sowohl auf Seiten derBefürworter als auch auf Seiten der Gegnerdes Gutachtens finden sich demokratischeStaaten. Haben Demokratien unterschied-liche Einstellungen zur Rolle des Rechts undder Gerichtsbarkeit in den internationalenBeziehungen?

Dieses Bauwerk hat viele Namen: Israelnennt es „Sicherheitszaun“, heftige Geg-ner sprechen von der „Separation Wall“oder „Apartheid Wall“. Institutionen, diesich um eine ausgewogene Haltung be-mühen, bezeichnen es schlicht als „theBarrier“. Die arabische Seite und inzwi-schen auch die Generalversammlung derVereinten Nationen gebrauchen denBegriff „Mauer“. In der Tat ist es nichtnur die unterschiedliche Beschaffenheitdieser baulichen Begrenzung– einigeAbschnitte sind aus meterhohem Sta-cheldraht, andere aus Beton –, vielmehrspiegeln sich in der Vielfalt der Bezeich-nungen auch die verschiedensten Hal-tungen wider. Michael Bothe hat sichfür den Ausdruck „Mauer“ entschieden,nicht zuletzt wegen der Assoziationen,die dieser Begriff in Deutschland aus-löst, aber auch in Anlehnung an denSprachgebrauch der Vereinten Nationenals Hüter und Verfechter des Völker-rechts.

In der Beurteilung der Mauer, dieIsrael im Westjordanland zu errichtenbegonnen hat, herrscht unter den Staa-ten der Welt weitgehend Einigkeit: Sieist völkerrechtswidrig und wieder ab-zubauen. Als der Internationale Ge-richtshof in Den Haag dies auch offi-ziell feststellen sollte, zeigten jedochzahlreiche Staaten eine überraschendeZurückhaltung. Diese Entwicklungnimmt der Autor zum Anlass, um füreine konsequente Anwendung des Völ-kerrechts zu plädieren. Er legt dar, war-um es in jedem Fall anzuwenden ist,und welche Gefahren eine selektive Be-oder Missachtung des Völkerrechts insich birgt. Marlar Kin

Die Mauer im Westjordanland soll jüdischen Siedlungen Schutz vor palästinensicher Gewalt bieten – so die Erklärung Israels.Allerdings verläuft sie nicht entlang der sog. „Green Line“, den Waffenstillstandslinien von 1949, sondern oftmals weit im palästi-nensischen Gebiet, das durch sie förmlich „zerschnitten“ wird. Bild: picture alliance/dpa

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Die Mauer im Westjordanland

Zum Autor

Geb. 1938, Studium der Rechtswissenschaftund der internationalen Beziehungen an denUniversitäten Heidelberg, Hamburg undGenf, Dr. jur. 1967, Habilitation an der Uni-versität Heidelberg 1974.

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am MaxPlanck-Institut für ausländisches öffentli-ches Recht und Völkerrecht, Heidelberg1964-79; Professuren in Heidelberg (1977-79), Hannover (1979-83) und Frankfurt (seit1983). Verschiedene Gastprofessuren in Ka-nada, USA, Frankreich und den Niederlan-den. Seit 2002 Leiter der ForschungsgruppeInternationale Organisation, Demokrati-scher Friede und die Herrschaft des Rechtsan der HSFK.

Der Verfasser war Vertreter der ArabischenLiga in dem Verfahren vor dem Internatio-nalen Gerichtshof.

Um diese Fragen zu beantworten, sei zu-nächst dargestellt, um welche Rechtsfragenes in dem Verfahren geht. Dann ist der Streitüber die Verfahrensfrage zu erläutern, obder Gerichtshof das Gutachten erstattendarf oder sollte.

Die Mauer

Worum geht es in dem Verfahren? Schondas Wort „Mauer“ ist umstritten. Israel be-zeichnet das Bauwerk als „Sicherheitszaun“.Institutionen, die eine ausgewogene Hal-tung gegenüber Israel und den Palästinen-sern einnehmen wollen, sprechen von „theBarrier“, so etwa das Internationale Komi-tee vom Roten Kreuz und der Berichterstat-ter der Menschenrechtskommission derVereinten Nationen. Die arabische Seitespricht von der „Mauer“, und die General-versammlung der Vereinten Nationen hatsich diesen Ausdruck zu eigen gemacht. DasBauwerk sieht in unterschiedlichen Ab-schnitten in der Tat unterschiedlich aus.Zum Teil handelt es sich um eine Beton-konstruktion, für die es keinen anderenAusdruck als Mauer gibt. In anderen Berei-chen handelt es sich um einen hohen Sta-cheldrahtzaun. In jedem Fall trägt das Bau-werk den Charakter einer kontrolliertenGrenzbefestigung, mit freien Streifen zubeiden Seiten zum Zwecke der besseren Ein-sicht für Wachpersonal und die Durchfüh-rung von Patrouillen. Die Assoziationen, diegerade in Deutschland mit dem Begriff„Mauer“ verbunden sind, treffen also dieSache durchaus.

Auf israelischer Seite wird die Mauer mitdem Sicherheitsbedürfnis begründet. Dazuein kurzer Blick zurück. Der Friedenspro-zess, der mit der Konferenz in Madrid 1991hoffnungsvoll begonnen hatte, kam mitdem Scheitern der Verhandlungen vonCamp David im Juli 2000 zu einem Still-stand. In der so entstandenen gespanntenAtmosphäre löste der Besuch Ariel Sharonsauf dem Tempelberg am 28.9.2000 heftigepalästinensische Demonstrationen aus, mitdenen die zweite Intifada begann. Die is-raelische Besatzungsmacht reagierte daraufmit großer Härte, was wiederum gewaltsa-me palästinensische Reaktionen hervorrief.Nach einer Autobombe am 2. November2000 kam es verstärkt zu Selbstmordatten-taten, einer Serie, die bis heute anhält. Seit-dem haben sie zahlreiche Opfer in Israel ge-

fordert, nach israelischen, in der Größen-ordnung unbestrittenen Angaben, bis Janu-ar 2004 921 Tote und über 5000 Verletzte.Das Bild wäre jedoch unvollständig, wollteman vergessen zu erwähnen, dass bis zumBeginn der Selbstmordattentate im Laufeder zweiten Intifada bereits 148 Palästinen-ser von den israelischen Besatzungstruppengetötet worden waren, darunter Zivilistenund Kinder. Die Gesamtzahl der Opfer un-ter der palästinensischen Zivilbevölkerungbeträgt nach palästinensischen Angaben fürdie Zeit zwischen September 2000 und Ja-nuar 2004 2.708 Tote und über 40.000 Ver-letzte.

Am 14. April 2002 beschloss das israeli-sche Kabinett, eine dauerhafte Grenzsiche-rung (permanent barrier) in dem Saum-gebiet (seam area) zu errichten, das imWestjordanland an Israel angrenzt. Der er-ste Bauabschnitt wurde Ende Juli 2003 voll-endet. Zwei weitere Bauabschnitte wurdenbegonnen bzw. sind in Planung. Gegenwär-tig sind knapp 200 km gebaut. Weitere 25km befinden sich im Bau, knapp 400 kmsind beschlossen und knapp 200 km befin-den sich in der Planungsphase.

Der wesentliche Anlass des rechtlichenStreits ist der Verlauf der Mauer. Bundes-außenminister Fischer betonte, dass es Is-rael frei stehe, eine Mauer zu seinem Schutzzu bauen, aber nicht dort, wo sie wirklichverläuft. Sie verläuft nämlich nicht etwaentlang der Waffenstillstandslinie von 1949,der sog. Grünen Linie, die heute die allge-mein (d.h. von den Vereinten Nationen unddritten Staaten) anerkannte Grenze zwi-schen Israel und den besetzten palästinen-sischen Gebieten darstellt.

Kaum irgendwo berührt die Mauer dieseGrenzlinie überhaupt, vielmehr befindet siesich mehr oder weniger weit im besetztenGebiet. Damit trennt sie zunächst einmaldas sog. Saumgebiet zwischen der Mauerund der grünen Linie vom Rest des West-jordanlandes. Die palästinensischen Bewoh-ner dieser Zone unterliegen einem striktenKontrollregime, das ihre Bewegungsfreiheitsowohl nach Westen, d.h. nach Israel, alsauch nach Osten, d.h. in den Rest des West-jordanlandes weitgehend ausschließt. ZumTeil werden palästinensische Ansiedlungenvon einer zweiten Mauer regelrecht einge-schlossen. Die Mauer verläuft weit östlich,nördlich und südlich des von Israel annek-tierten Ost-Jerusalem. An manchen Stellen

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reicht sie besonders weit in das Westjordan-land hinein, um israelische Siedlungen ge-gen von Palästinensern bewohnte Gebieteabzugrenzen. Der Verlauf der Mauer ist da-mit ganz eindeutig auf den Schutz israeli-scher Siedlungen im Westjordanland aus-gelegt. Zusammen mit den ohnehin schonvorhandenen Schutzanlagen und Kontroll-einrichtungen trennt sie die Siedlungenvom Rest des Westjordanlandes. Das führtdazu, dass an vielen Stellen palästinensischeDörfer und Städte schlicht und einfach ein-gemauert werden. Qalqiliya zum Beispiel,eine Stadt von 41.000 Einwohnern, ist rund-um von der Mauer umgeben. Der Zugangist nur durch ein einziges Tor möglich. ImEndausbau soll noch eine Mauer entlangdes Jordan-Tals hinzukommen. Wird diesso verwirklicht, dann sind 43,5% des West-jordanlands außerhalb der Mauer, währenddie verbleibenden 56,5% eingemauertespalästinensisches Siedlungsgebiet sind.

Die Folgen für das Lebender Palästinenser

Die Mauer hat verheerende Folgen für dasLeben der Palästinenser im besetzten palä-stinensischen Gebiet. Diese Folgen werdenvon israelischen und internationalen Nicht-regierungsorganisationen, etwa von Amne-sty International, dokumentiert und auchdurch Berichte der Organe der VereintenNationen belegt, insbesondere durch die desSonderberichterstatters der Menschenrechts-kommission John Dugard und des Bericht-erstatters der Weltbank Jean Ziegler. DieseFolgen sind es, die zu dem einhelligen Ur-teil zahlreicher Fachleute vieler Regierun-gen und zuständiger Organe der VereintenNationen geführt haben, die die Mauer zueiner Verletzung des Völkerrechts machen.Was genau sind diese Folgen?

Da ist zunächst der Landverbrauch durchdas Bauwerk selbst. Um den Bau der Mau-er zu ermöglichen, wurden und werden pa-lästinensische Häuser zerstört, wertvollesAckerland vernichtet. Die Beschlagnahmedes Landes erfolgt in einem Verfahren, des-sen praktische Ausgestaltung rechtsstaatli-chen Anforderungen vielfach widerspricht.Allerdings gibt es schließlich die Möglich-keit eines gerichtlichen Rechtsschutzes.

Die wirtschaftlichen und sozialen Kon-sequenzen der Mauer beruhen im wesent-lichen darauf, dass der Verkehr zwischen

palästinensischen Ansiedlungen im West-jordanland unterbunden wird. Sie machtdie Lebensbedingungen der palästinensi-schen Bevölkerung schwer, ja unerträglich,indem sie lebenswichtige Kommunika-tionsmöglichkeiten zerschneidet. Der Bau-er kann nicht zu seinem Land, das Kindnicht in seine Schule, der Angestellte undArbeiter nicht zu seiner Arbeit, der Arztnicht zu seinem Patienten und der Patientnicht zu seinem Arzt. Hinzu kommt, dassdie Mauer auch den Zugang zu den heili-gen Stätten des Islam und des Christentumsabschneidet. Diese Wirkungen werden vonIsrael nicht wirklich bestritten, sie werdenheruntergespielt. Israel verweist insbeson-dere auf das Vorhandensein von gewissenMilderungen, etwa durch zeitweise Öffnungder Mauer an bestimmten Stellen für be-rechtigte Personen. Darüber, ob und inwie-weit diese Maßnahmen wirklich existieren,herrscht allerdings erheblicher Streit.

Das Zerschneiden lebenswichtiger Ver-bindungen führt zu einer Zersplitterung derpalästinensischen Siedlungsstruktur imWestjordanland, die auch als Bantustani-sierung bezeichnet worden ist.

Die Mauer erstickt weitgehend das Wirt-schaftsleben in den besetzten Gebieten. Indieser Beurteilung sind sich die Berichtevon UN-Organen und Nicht-Regierungs-organisationen weitgehend einig. Sie stelltdie Lebensfähigkeit eines zukünftigen pa-lästinensischen Staates weitgehend in Fra-ge. Sie veranlasst eine Migration der betrof-fenen Bevölkerung. Der Migrationsdruck istin den von der Mauer unmittelbar betrof-fenen Gemeinden bereits jetzt spürbar.

Damit und mit der Bantustanisierung istdie Mauer nichts anderes als ein zusätzlichesElement der Sicherung und Konsolidierungder israelischen Siedlungen im Westjordan-land, die, wie die Vereinten Nationen im-mer wieder festgestellt haben, rechtswidrigsind, und der gleichfalls von den VereintenNationen als rechtswidrig gebrandmarktenAnnexion Ost-Jerusalems.

Israel rechtfertigt diese Anlage mit seinenSicherheitsbedürfnissen. Dass Israel das Rechthat, sich gegen die Selbstmordattentate undähnliche Akte zu schützen, ist unbestreit-bar und unbestritten. Unbestreitbar ist frei-lich auch, dass solche Sicherheitsbedürfnis-se in bezug auf das israelische Staatsgebietmindestens genauso gut durch eine Grenz-anlage befriedigt werden könnten, die auf

der grünen Linie stünde und die beschriebe-nen verheerenden Auswirkungen auf dasLeben der palästinensischen Bevölkerungim besetzten Gebiet nicht hätte. Darüberhinaus wird freilich die Eignung der Mauerzur Befriedigung des Sicherheitsbedürfnis-ses in Israel selbst bezweifelt. Ein Bericht desisraelischen Rechnungshofes weist daraufhin, dass die meisten der Selbstmordattentäternicht etwa über ungeschütztes freies Gelän-de, sondern durch israelische Kontrollpo-sten nach Israel gelangt seien. Ein Rech-nungshof muss daran die Frage anschließen,und der israelische Rechnungshof tut diesauch, ob hier öffentliche Mittel sinnvoll aus-gegeben worden sind.

Bei der rechtlichen Bewertung dieses Bau-werks geht es um zwei ganz unterschiedli-che Problemkomplexe, nämlich einmal umdie Auswirkungen des Mauerbaus auf denStatus Palästinas, zum anderen um den völ-kerrechtlichen Schutz der Bevölkerung desbesetzten Gebiets.

Das Selbstbestimmungsrechtdes palästinensischen Volkes

Zunächst zum ersten Fragenkreis. Durch dieZersplitterung des palästinensischen Le-bensraums, durch das Ersticken wirtschaft-licher Tätigkeit, durch den von ihr ausge-lösten Migrationsdruck macht die Mauerdie Lebensfähigkeit des palästinensischenGebiets zunichte. Damit macht sie eben dasunmöglich, was vom Sicherheitsrat der Ver-einten Nationen und von den wesentlichenAkteuren des Friedensprozesses im NahenOsten als das Ziel anerkannt und festgelegtist: Ein friedliches Nebeneinander zweierStaaten auf dem Gebiet des ehemaligenMandatsgebietes Palästina. Weil die Mauerdie palästinensishe Bevölkerung von denTeilen der besetzten Gebiete ausschließt, indenen sich die israelischen Siedlungen be-finden, läuft sie auf eine Aneignung weiterTeile des Westjordanlands durch Israel hin-aus, auf eine de facto Annexion. Die Sied-lungen auf Dauer zum eigenen Staatsgebietzu machen, ist ja erklärtes Ziel der gegen-wärtigen israelischen Regierung. Die Aneig-nung geschieht unter Einsatz militärischerGewalt. Rechtlich gesehen stellt sich dieMauer darum als eine verbotene gewaltsa-me Annexion dar. Eine solche Annexionkann auch nicht durch Selbstverteidigung,wie das von Israel geltend gemacht wird,

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Die Mauer im Westjordanland

gerechtfertigt werden. Selbstverteidigungbedeutet Schutz vor einem bewaffnetenAngriff. Annexion ist etwas anderes als einsolcher Schutz. Sie bedeutet eine Änderungdes Status des betreffenden Gebiets. DieseÄnderung des Status ist zur Abwehr einesAngriffs nicht erforderlich. Darum stehtauch keine der Formulierungen des Verbotsgewaltsamer Annexion, wie wir sie in Er-klärungen der Vereinten Nationen finden,unter dem Vorbehalt oder der Einschrän-kung einer Rechtfertigung aus Selbstvertei-digung. Selbstverteidigung kann keine An-nexion rechtfertigen.

Mit der Erschwerung der Lebensfähigkeiteines zukünftigen palästinensischen Staatesverletzt die Mauer aber auch das Recht despalästinensischen Volkes, eben diesen Staatzu errichten, sein Recht auf Selbstbestim-mung. Dass das palästinensische Volk die-ses Recht besitzt und dass das geographi-sche Substrat dieses Rechts heute jedenfallsdas besetzte palästinensische Gebiet in denGrenzen der Waffenstillstandslinien von1949 ist, wird ernsthaft nicht mehr bestrit-ten. Auch Israel hat das in den Dokumen-ten des Friedensprozesses anerkannt, wobeies lediglich den Anspruch aufrecht erhält,in einer zukünftigen Friedensregelung ge-wisse Grenzveränderungen zu erreichen.

Hinsichtlich der Rechte der Bevölkerungdes besetzten Gebiets sind zwei unterschied-liche, doch miteinander verwobene Rechts-komplexe in den Blick zu nehmen, nämlicheinmal das sog. humanitäre Völkerrecht, dasRecht bewaffneter Konflikte, und hier ins-besondere die für die kriegerische Beset-zung geltenden Regeln, zum anderen völ-kerrechtliche Normen des Menschenrechts-schutzes.

Die Pflichten Israels alsBesatzungsmacht

Unstreitig ist, dass das völkergewohnheits-rechtliche Rechtsregime der kriegerischenBesetzung auf die israelische Besetzung desWestjordanlands und des Gazastreifens An-wendung findet. Eine Formulierung dieserRegeln findet sich insbesondere in der sog.Haager Landkriegsordnung von 1899/1907.Dies entspricht auch der Rechtsprechungdes Obersten Gerichtshofs Israels. Israel be-streitet dagegen, dass ein wesentlicher Be-standteil des völkerrechtlichen Vertrags-rechts, nämlich die IV. Genfer Konvention

von 1949 über den Schutz von Zivilperso-nen in bewaffneten Konflikten, Anwendungfindet. Mit dieser rechtlichen These ist Is-rael allerdings völlig isoliert.

Hintergrund dieses Streits ist vor allemdie Tatsache, dass eben diese IV. Konventionausdrücklich den Transfer der eigenen Zi-vilbevölkerung einer Besatzungsmacht indas besetzte Gebiet verbietet, was ein klaresRechtswidrigkeitsurteil über die israelischeSiedlungspolitik zur Folge hat. Das israeli-sche Argument, dass das Westjordanlandund der Gazastreifen 1967, d.h. zum Zeit-punkt der Besetzung, nicht zum Gebiet ei-ner anderen Vertragspartei im Sinne des Art.1Abs. 2 der Genfer Konventionen gehört hät-ten und dass diese Konventionen deswegennicht anwendbar seien, geht am Regelungs-gehalt der Bestimmungen über den Anwen-dungsbereich der IV. Konvention vorbei.Auf den Konflikt, der 1967 zwischen Israelund seinen arabischen Nachbarn erneutausbrach, waren die Genfer Konventionennach Art. 1 Abs. 1 vollinhaltlich anwendbar,denn alle Konfliktparteien waren Vertrags-parteien eben dieser Konventionen. Das giltselbstverständlich auch für die Bestimmun-gen der IV. Konvention über den Schutz derBevölkerung besetzter Gebiete. Zudemmuss man heute sagen, dass auch die Be-stimmungen der IV. Konvention, die denTransfer der eigenen Zivilbevölkerung derBesatzungsmacht in das besetzte Gebietverbieten, Bestandteil des völkerrechtlichenGewohnheitsrechts sind.

Geht man nun, wie es in der Tat gebotenist, von der Anwendbarkeit der IV. GenferKonvention für die Maßnahmen Israels imbesetzten Gebiet aus, so ergibt sich zunächstdie Rechtswidrigkeit der israelischen Sied-lungen. Das Argument, die Siedlungen be-deuteten keinen „Transfer“ im Sinne desArt. 49 der IV. Konvention, da die Siedler jafreiwillig in das besetzte Gebiet zögen, istabwegig. Die Siedlungspolitik ist eine plan-mäßige Regierungspolitik, die letztlich auchder wahre Grund des Mauerbaus ist. DieRechtwidrigkeit dieser Politik des Transfersder eigenen Bevölkerung zur Verdrängungder palästinensischen Bevölkerung des be-setzten Gebiets hat auch die Rechtswidrig-keit des Mauerbaus zur Folge.

Verletzt sind des weiteren diejenigen Be-stimmungen der IV. Konvention und derHaager Landkriegsordnung, die der Besat-zungsmacht die Pflicht auferlegen, für die

IV. Genfer Konventionvom 12. August 1949zum Schutz von Zivilpersonenin Kriegszeiten

Artikel 1

Außer den Bestimmungen, die bereits inFriedenszeiten durchzuführen sind, findetdas vorliegende Abkommen Anwendungin allen Fällen eines erklärten Kriegesoder eines anderen bewaffneten Konflikts,der zwischen zwei oder mehreren derHohen Vertragsparteien entsteht, auchwenn der Kriegszustand von einer dieserParteien nicht anerkannt wird.

Das Abkommen findet auch in allen Fäl-len vollständiger oder teilweiser Beset-zung des Gebietes einer hohen Vertrags-partei Anwendung, selbst wenn dieseBesetzung auf keinen bewaffneten Wider-

stand stößt. [...]

Artikel 49

[...] Die Besatzungsmacht darf nicht Teileihrer eigenen Zivilbevölkerung in das vonihr besetzte Gebiet verschleppen oderverschicken.

Artikel 53

Es ist der Besatzungsmacht untersagt,bewegliches oder unbewegliches Vermö-gen zu zerstören, das individuell oderkollektiv Privatpersonen oder dem Staatoder öffentlichen Körperschaften, sozia-len oder genossenschaftlichen Organisa-tionen gehört, außer in den Fällen, indenen die Kampfhandlungen solcheZerstörungen unbedingt erforderlichmachen.

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Versorgung der Bevölkerung des besetztenGebiets zu sorgen. Mit diesen Verpflichtun-gen verträgt es sich nicht, wenn die Lebens-bedingungen im besetzten Gebiet so verän-dert werden, dass es der Bevölkerungunmöglich gemacht wird, durch eine Er-werbstätigkeit für die Grundbedürfnisse desLebens zu sorgen. Eben dies ist die Wirkungder Mauer. Diese Bestimmungen stehennicht unter irgendeinem Vorbehalt militäri-scher Notwendigkeit. Die Grenze der Ver-pflichtung der Besatzungsmacht ist ihreMöglichkeit, entsprechende Maßnahmen zutreffen. Dass Israel nicht in der Lage wäre,die verbotenen Beschränkungen zu unterlas-sen, ist ernsthaft nicht zu behaupten.

Ein weiterer Gesichtspunkt, unter dem dieIV. Genfer Konvention und die Haager Land-kriegsordnung verletzt sind, ist die Zerstö-rung von Privateigentum zum Zwecke desMauerbaus. Wenn man die einschlägige Be-stimmung der IV. Konvention über die zu-lässige Zerstörung von Privateigentum ge-nau liest, wird deutlich, dass der Mauerbaudurch diese Ausnahmevorschrift nicht ge-deckt ist. Die Zerstörung von Eigentum istnämlich nur durch militärische Notwendig-keit gerechtfertigt, soweit die „militärischenOperationen“ sie erforderlich machen. Wennes mit anderen Worten in besetzten Gebietenzu Kampfhandlungen kommt, ist insoweitdie Zerstörung von Privateigentum zuläs-sig. Bei der Zerstörung von Eigentum zumZwecke des Mauerbaus handelt es sich je-doch nicht um militärische Operationen, diesolche Zerstörung rechtfertigen können.

Jedoch kann eine Besatzungsmacht gemäßArt. 52 der Haager Landkriegsordnung Landgegen angemessene Entschädigung enteignen(„requirieren“), und solche Enteignungensind auch durchgeführt worden. Auch diesesind jedoch rechtlich problematisch, da sienur „für die Bedürfnisse des Besetzungs-heers“ zulässig sind, worunter der Mauer-bau nicht ohne weiteres fällt.

Aus diesen Gründen sind die Maßnahmendes Mauerbaus eine Verletzung des IV. Gen-fer Abkommens und auch der Haager Land-kriegsordnung. Diese Verträge tragen demSicherheitsbedürfnis der Besatzungsmachtdurchaus Rechnung, aber eben nur insofern,als die spezifischen Regeln das vorsehen. Die-se Vorschriften stellen bereits einen Kom-promiss zwischen den Bedürfnissen der Be-satzungsmacht und dem Schutz der Bevöl-kerung des besetzten Gebiets dar. Dieser

Kompromiss kann nicht dadurch einfachzunichte gemacht werden, dass Sicherheits-bedürfnisse pauschal als Ausstieg aus denBindungen des Abkommens gebraucht, jamissbraucht werden. In diesem Sinne hatauch der Sicherheitsrat in einer neuen Reso-lution vom 19. Mai 2004 Israel aufgefordert,seine Sicherheitsbelange „innerhalb der vomVölkerrecht gezogenen Grenzen“ zu befrie-digen.

Die Pflicht Israels zur Achtungder Menschenrechte

Die Anwendbarkeit der Regeln des völker-rechtlichen Menschenrechtsschutzes wirdvon Israel mit dem Argument bestritten,

diese Regeln fänden nur in Friedenszeitenund auf das Verhältnis zwischen einemStaat und seiner eigenen, oder genauer derBevölkerung des eigenen Gebiets Anwen-dung. Dem steht jedoch die einhellige Praxisder Organe der Vereinten Nationen entge-gen. Für die entsprechenden Bestimmungender Europäischen Menschenrechtskonven-tion hat der Europäischen Gerichtshof fürMenschenrechte die Geltung menschen-rechtlicher Standards im besetzten Gebietfür den Fall der türkischen Besetzung Nord-Zyperns eingehend begründet. Der völker-rechtliche Schutz der Menschenrechtebegrenzt die Ausübung staatlicher Hoheits-gewalt gegenüber den Menschen, die dieserHoheitsgewalt unterworfen sind. Die so be-

Israel in den Grenzen der Waffenstillstandslinie von 1967. Seitdem sind umfangreiche Gebiete durch neuere Siedlungenhinzugekommen.

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Die Mauer im Westjordanland

grenzte Hoheitsgewalt ist nicht nur dieHerrschaft über das eigene Staatsgebiet.Auch die Hoheitsgewalt, die von einer Be-satzungsmacht im besetzten Gebiet ausge-übt wird, übrigens genauso wie die Ho-heitsgewalt, die von einer Gewahrsams-macht gegenüber Gefangenen währendeines bewaffneten Konflikts ausgeübt wird,sind durch die Normen des völkerrechtli-chen Menschenrechtsschutzes begrenzt. Dasbedeutet, dass der Schutz der Opfer be-waffneter Konflikte insofern parallel durchdas humanitäre Völkerrecht und durch dieRegeln zum Schutz der Menschenrechte ge-währleistet ist.

Einschränkungen des menschenrecht-lichen Schutzes sind nur insoweit gerecht-

fertigt, als dies in den entsprechendenmenschenrechtlichen Vorschriften vorgese-hen ist. Solche Einschränkungen gibt es inder Tat. Es ist keineswegs so, dass mit denNormen des völkerrechtlichen Menschen-rechtsschutzes legitime staatliche Sicher-heitsinteressen ungebührend vernachlässigtwürden. Solche Interessen kommen jedochnur insoweit zum Tragen, als es nach denspezifischen Vorschriften des Menschen-rechtsschutzes möglich ist.

Durch den Mauerbau offensichtlich ver-letzt werden Vorschriften des Paktes überbürgerliche und politische Rechte, die dieBewegungsfreiheit des Individuums sichern(insbesondere das Recht auf Freizügigkeit,Art. 12 des Paktes). Zum anderen werden

GeGnfer Ab-kommen

Haager Landkriegsordnung

Artikel 52

Naturalleistungen und Dienstleistungenkönnen von Gemeinden und Einwohnernnur für die Bedürfnisse des Besetzungsheersgefordert werden. Sie müssen im Verhältniszu den Hilfsquellen des Landes stehen.[...] Die Naturalleistungen sind soviel wiemöglich bar zu bezahlen [...].

Der Verlauf der Mauer im Westjordanland im Mai 2004. Die farbigen Original-Abbildungen dieser Doppelseite stammen von derWebseite des PLO Negotiation Affairs Department unter www.nad-plo.org/maps.php

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Bestimmungen des Paktes über wirtschaft-liche, soziale und kulturelle Rechte verletzt,wie z.B. das Recht auf Arbeit, das Recht aufGesundheit. Was auch immer diese Bestim-mungen an staatlicher Förderung der Ar-beit, der Gesundheit usw. verlangen: Ver-letzt sind diese Garantien jedenfalls dann,wenn ein Staat es den seiner Hoheitsgewaltunterworfenen Personen unmöglich macht,die geschützten Bedürfnisse durch eigeneTätigkeit zu befriedigen. Das Recht auf Ar-beit ist jedenfalls dann verletzt, wenn derStaat dem einzelnen gezielt das Arbeitenunmöglich macht. Das Recht auf Bildungist verletzt, wenn der Staat den Besuch vonSchulen unmöglich macht. Eben das ist, wiebereits gezeigt, durch die Mauer geschehen.Der Bauer, der Angestellte, können ihrer Er-werbstätigkeit wegen des Mauerbaus nichtmehr nachgehen. Entsprechend ist dieSchutzrichtung einiger Vorschriften derKonvention über die Rechte des Kindes.

Aus verschiedenen Vorschriften der Pak-te lässt sich ein Standard zulässiger Be-schränkungen der gewährten Rechte ablesen,der auch als Verhältnismäßigkeitsprinzip be-zeichnet wird. Einschränkungen der Grund-rechte müssen einem legitimen Ziel dienen,sie müssen zur Erreichung eines solchenZiels notwendig sein und sie müssen „ver-hältnismäßig“ sein, d.h. die Einschränkun-gen, die dem Menschenrechtsschutz zuge-mutet werden, darf nicht außer Verhältniszu dem Nutzen stehen, der durch eben die-se einschränkende Maßnahme für ein kon-kurrierendes Rechtsgut, hier also für dieSicherheit erreicht wird.

Nach dem Gesagten scheidet die Sicherungder israelischen Siedlungen im Westjordan-land als legitimes Sicherheitsziel aus. Dadiese Regelungen ihrerseits rechtswidrigsind, können sie nicht ein legitimes Ziel sein,dessen Verfolgung eine Einschränkung vonMenschenrechten rechtfertigen würde. Zu-dem sind Zweifel daran geäußert worden,dass die Mauer zur Befriedigung legitimerSicherheitsinteressen überhaupt geeignetist. Ist sie es nicht, so ist sie nicht notwendigin dem obigen Sinne und eben darum auchrechtswidrig. Ungeeignete und damit unnö-tige Einschränkungen des Menschenrechts-schutzes sind unzulässig, ja willkürlich.Schließlich sind unter dem Gesichtspunktder Verhältnismäßigkeit im engeren SinneBedenken anzumelden. Wie dargelegt machtdie Mauer die Lebensbedingungen von vie-

len Tausenden von Palästinensern unerträg-lich. Dieser Schaden für den Schutz der Men-schenrechte steht außer Verhältnis zu demerreichten Sicherheitsgewinn. Eine genauereAnwendung der Regeln über die zulässigenEinschränkungen der Menschenrechte führtalso zu dem Ergebnis, dass der Bau derMauer eben diesen Anforderungen nicht ge-nügt.

Konsequenzen derRechtswidrigkeit

Die Tatsache, dass die Mauer völker-rechtswidrig ist, hat eine ganze Reihe völ-kerrechtlicher Konsequenzen. Die bereitsgebaute Mauer ist abzubauen, enteignetesLand ist den Eigentümern zurückzugeben.Soweit den Eigentümern darüber hinaus einSchaden entstanden ist, ist dieser durchGeldleistungen zu ersetzen. Alle Maßnah-men, die Israel im Zusammenhang mit demMauerbau getroffen hat, sind aufzuheben.Dritte Staaten haben das Recht, ja sogar diePflicht, auf Israel einzuwirken, diese Art vonWiedergutmachung wirklich zu leisten.Auch die Vereinten Nationen sind berech-tigt und verpflichtet, auf die Beseitigung desrechtswidrigen Zustands hinzuwirken.

Soweit die Rechtsfragen, um die es inhalt-lich in dem Verfahren vor dem Internatio-nalen Gerichtshof geht. In der Beurteilungdieser Rechtsfragen ist Israel mit seiner Po-sition in der Welt weitgehend isoliert. An-ders ist dies mit der nunmehr zu behandeln-den Verfahrensfrage, ob der Gerichtshof dasvon ihm erbetenen Gutachtens erstattendarf oder, wenn ja, ob er es doch ablehnensollte. In dieser Frage geht ein ganz merk-würdiger Riss durch die Staatenwelt.

Nach Art. 96 der Satzung der VereintenNationen können Generalversammlung undSicherheitsrat „über jede Rechtsfrage einGutachten des Internationalen Gerichtshofsanfordern“. Für die Rolle des Rechts unddamit auch die Rolle des InternationalenGerichtshofs in der internationalen Ordnungist es aufschlussreich, dieses Gutachtenver-fahren in seiner Entstehungsgeschichte undseinem Verlauf genauer zu analysieren.

Die Mauer vor Sicherheitsratund Generalversammlung

Der Bau der Mauer ist in den VereintenNationen alsbald auf Kritik gestoßen. Am

15. Oktober 2003 hatte der Sicherheitsratüber einen Resolutionsantrag von Guinea,Malaysia, Pakistan und Syrien zu entschei-den, dessen zentraler Bestandteil die Fest-stellung war, dass die Mauer rechtswidrigist: „The Security Council [...] decides thatthe construction by Israel, the occupyingpower, of a wall in the occupied territoriesdeparting from the armistice line of 1949 isillegal under relevant provisions of interna-tional law and must be ceased and reversed.“

Für diesen Antrag stimmten zehn Staa-ten, vier enthielten sich – die VereinigtenStaaten stimmten dagegen. Wegen des Ve-tos der Vereinigten Staaten kam die Reso-lution nicht zustande. Daraufhin befasstesich die Generalversammlung in ihrer (seit1997 laufenden und formell nicht abge-schlossenen) Dringlichen Sondersitzungzur Palästinafrage mit dem Problem. DieResolution vom 27. Oktober (ES-10/13),angenommen mit 144 gegen 8 (u.a. Verei-nigte Staaten, Israel, Australien) Stimmenbei 12 Enthaltungen – also mit einer über-wältigenden Mehrheit – enthält die gleicheKernaussage wie der im Sicherheitsrat ab-gelehnte Resolutionsantrag. Der Generalse-kretär wird gebeten, über die Einhaltung derResolution durch Israel Bericht zu erstat-ten. Er tat dies und stellte fest, dass Israeldie Resolution missachtet hatte. Daraufhinbefasste sich die Generalversammlung er-neut mit dem Problem und beschloss inihrer Resolution ES-10/14 vom 8. Dezem-ber, den IGH dringlich um ein Gutachtenzu bitten. Das politische Problem wird ander gegenüber der vorigen Resolution ver-schiedenen Mehrheit deutlich: 90 gegen 8Stimmen, bei 94 Enthaltungen. Ein großerTeil der Befürworter der ersten Resolutionwaren zu den Enthaltungen übergeschwenkt.Zu diesen gehörte die Gesamtheit der eu-ropäischen Staaten einschließlich Russ-lands. Als einziger NATO-Staat stimmte dieTürkei für die Resolution. Die öffentlichenpolitischen Erklärungen, die zur Erklärungder Enthaltungen abgegeben wurden, sindallerdings eher dürftig. Sie laufen daraufhinaus, dass die Lösung des Konflikts, derden Hintergrund des Mauerbaus bildet,besser durch Verhandlungen, nicht durcheine richterliche Feststellung der Rechtsla-ge erfolgen sollte. Das Fehlen einer wirk-lich glaubhaften Begründung für die Posi-tion der sich enthaltenden Staaten wird sehrdeutlich in der Erklärung, die der italieni-

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Die Mauer im Westjordanland

sche Vertreter für den EU-Vorsitz in der Ge-neral-Versammlung abgab. In einem Textvon zweieinhalb Seiten wird die Rechtswid-rigkeit des Mauerbaus verurteilt, die Not-wendigkeit einer Verhandlungslösungbetont und die Beendigung der Selbst-mordattentate gefordert. Zu dem Themader Gutachtenanfrage finden sich ganzezwei Sätze: „The EU believes that the pro-posed request for an Advisory Opinion fromthe International Court of Justice will nothelp the efforts of the two parties to re-launch a political dialogue and is thereforeinappropriate. It is for this reason that theEuropean Union will abstain on the rele-vant draft resolution submitted to the consi-deration of this Emergency Special Sessi-on“.

Das Verfahren vor demInternationalen Gerichtshof

Der IGH setzte eine sehr kurze Frist fürschriftliche Stellungnahmen auf den 30. Ja-nuar 2004 fest. 40 Staaten und zwei Orga-nisationen, nämlich die Liga der ArabischenStaaten und die Organisation der Islami-schen Konferenz, gaben solche Stellungnah-men ab. Irland lieferte auch eine Stellung-nahme als Vorsitz der Europäischen Unionin dieser Eigenschaft ab, die sich allerdingsim wesentlichen darauf beschränkte, die so-eben zitierte Erklärung des Vorsitzes aus derGeneralversammlung dem Gericht zu über-mitteln. In den schriftlichen Erklärungenzeigte sich deutlich die unterschiedliche po-litische Bewertung des Verfahrens, die dannihre juristische Ausdrucksform in Einwän-den gegen das Verfahren vor dem Gerichts-hof fand.

Die Einwände

Anders als in der materiell rechtlichen Be-urteilung zog sich hier ein tiefer Riss durchdie Staatenwelt. Die Staaten der Dritten Welt,die die Resolution der Generalversammlunggetragen hatten, argumentierten selbstver-ständlich für die Erstattung des Gutachtens.Israel argumentierte rechtlich dagegen, eben-so sehr dezidiert Australien. Die VereinigtenStaaten, die das Verfahren gleichfalls ableh-nen, argumentierten eher politisch. Der is-raelisch-palästinensische Verhandlungs-prozess solle keinen Schaden nehmen. DieStaaten, die sich bei der Abstimmung ent-

halten hatten, boten in ihren Stellungnah-men ein differenziertes Bild. Die Schweizsprach sich entschieden für das Gutachtenaus. Auch Schweden stellte ganz knapp fest,es habe keine Einwände. Einige Staaten äu-ßerten sich nicht mehr zur Verfahrensfrage,aber ausführlich (Frankreich, Irland) oderauch nur knapp (Malta, Zypern) zur Sache.Unklar in dieser Frage äußerte sich Japan.Negativ, aber mit einer etwas ergebnis-offenen und wenig präzisen ArgumentationRussland. Eine Reihe europäischer Staatenverwiesen einfach auf die Stellungnahme derEU (Niederlande, Griechenland), der sichauch Norwegen angeschlossen hatte. Dezi-diert negativ und mit einer ausführlichenrechtlichen Argumentation nahmen Italien,Großbritannien und die BundesrepublikStellung.

Das entscheidende politische Argumentwar, dass die Erteilung des Gutachtens fürden Fortgang des Friedensprozesses nichthilfreich, ja schädlich sei. So führte die Bun-desrepublik in ihrer schriftlichen Stellung-nahme aus:

„Germany believes that the Court, in exer-cising its discretion under Art. 65 (1) of itsStatute, and in accordance with the well-established principle of judicial proprietyshould decline to answer the questionssubmitted to it by the General Assembly:- An opinion by the Court on the questionlaid before it would provide no guidancewith the General Assembly, as that body hasalready pronounced itself on this very issue.- Such an opinion would be likely to hinder,rather than assist the implementation of theRoadmap.“

Der letzte Einwand berührt in ganz grund-sätzlicher Weise das Selbstverständnis desVölkerrechts. Kann es denn sein, dass recht-liche Klarheit friedensschädigend ist? Machtrechtliche Gewissheit Verhandlungen un-möglich? Der Punkt, auf den die Vertreterdieser Auffassung großen Wert legten, gingdarauf, dass die „Roadmap“ eine Verhand-lungslösung für die ausstehenden Fragenzwischen Israel und Palästina vorsieht.

Die Verfahrenseinwände, die im einzelnenauf der rechtstechnischen Ebene erhobenwurden, boten nichts Neues. Sie sind inGutachtenverfahren der vergangenen Jahr-zehnte allesamt in der einen oder anderenForm schon einmal vorgebracht und jeweilsvom Gerichtshof zurückgewiesen worden.Deshalb war es auf dieser, der rechtstech-

Aus dem Internationalen Paktüber bürgerliche und politischeRechte vom 16. Dezember 1966

Artikel 2

(1) Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, diein diesem Pakt anerkannten Rechte zuachten und sie allen in seinem Gebietbefindlichen und seiner Herrschaftsgewaltunterstehenden Personen ohne Unter-schied wie insbesondere der Rasse, derHautfarbe, des Geschlechts, der Sprache,der Religion, der politischen oder sonsti-gen Anschauung, der nationalen odersozialen Herkunft, der Geburt oder dessonstigen Status zu gewährleisten.

Artikel 12

(1) Jedermann, der sich rechtmäßig imHoheitsgebiet eines Staates aufhält, hat dasRecht, sich dort frei zu bewegen und seinenWohnsitz frei zu wählen.

(3) Die oben erwähnten Rechte dürfen nureingeschränkt werden, wenn dies gesetzlichvorgesehen und zum Schutz der nationalenSicherheit, der öffentlichen Ordnung(ordre public), der Volksgesundheit, deröffentlichen Sittlichkeit oder der Rechteund Freiheiten anderer notwendig ist unddie Einschränkungen mit den übrigen indiesem Pakt anerkannten Rechten verein-bar sind.

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nischen Ebene einfach, unter Hinweis aufdie ständige Rechtsprechung des Gerichts-hofs die Einwände zu entkräften. Bei allendiesen Einwänden zeigt sich freilich ein deut-licher Bezug zu den politischen Aspekten desFalles.

Vielleicht leuchtet dem Laien, jedenfallsauf den ersten Blick, am ehesten das Argu-ment ein, es handele sich um eine politischeFrage, während doch die Zuständigkeit desGerichts nur auf die Erteilung von Gutach-ten über „Rechtsfragen“ bezieht. Aber diepolitische Bedeutung einer Frage ändertnichts daran, dass es sich eben um eineRechtsfrage handelt. Rechtsfragen sind nichtnur solche untergeordneter Bedeutung aufeiner eher technischen Ebene. Auch politischBrisantes ist rechtlich geregelt, und deshalbkönnen auch politisch brisante FragenRechtsfragen sein. Daran hat der Gerichts-hof nie Zweifel gelassen.

Wenn die Generalversammlung oder derSicherheitsrat den Gerichtshof um Erstat-tung eines Rechtsgutachtens bittet, hat derGerichtshof immer noch ein Ermessen, ober ein solches Gutachten erteilen will. DerGerichtshof „kann“ ein Gutachten abgeben,so heißt es in Art. 65 seines Statuts, mit an-deren Worten: er muss es nicht. Allerdingsist es ständige Rechtsprechung, dass nurzwingende Gründe den Gerichtshof von derErstattung eines solchen Gutachtens abhal-ten können. In der Praxis des Gerichtshofsseit 1949 sind solche zwingenden Gründeimmer wieder geltend gemacht worden, derGerichtshof hat sie stets abgelehnt. Dennochhaben sich die Staaten, die aus politischenGründen dieses Verfahren nicht wollten, aufsolche angeblich zwingenden Gründe be-rufen.

Eine erste Gruppe von Einwänden betrifftdie Fairness des Verfahrens. Das Verfahrensei nicht ausgewogen, da es nur einen Teil-komplex des Problems behandele und an-dere wesentliche Gesichtspunkte, insbeson-dere die terroristische Bedrohung gegenIsrael ausklammere. Darauf kann man zu-nächst einmal ganz formal antworten, dasses eine Entscheidung der Generalversamm-lung ist, über welche Fragen sie den Rechts-rat des Gerichtshofs in Anspruch nehmenwill. Diese Entscheidung ist vom Gerichts-hof nicht zu hinterfragen. Jenseits diesesformalen Arguments trifft der Einwand je-doch in der Sache gar nicht zu. Die Frageder Selbstmordattentate war und ist Be-

standteil des Gesamtproblems, das dem Ge-richtshof vorliegt. Das Argument, die ter-roristische Bedrohung könnte den Bau derMauer rechtfertigen, ist in den schriftlichenStellungnahmen und dann auch in dermündlichen Verhandlung umfassend ange-sprochen und rechtlich gewürdigt worden,und zwar auch von der arabischen Seite. Is-rael hat im schriftlichen Verfahren ausgie-big von der Möglichkeit Gebrauch gemacht,auf dieses Problem hinzuweisen. Dazu hät-te auch in der mündlichen Anhörung reich-lich Gelegenheit bestanden. Der Einwand,das Verfahren sei einseitig und unausgewo-gen, trifft nicht zu.

Ein anderer Einwand, der an gewisse For-mulierungen in der bisherigen Rechtspre-chung des Gerichts anknüpft, geht dahin,dass mit dem Verfahren kein vernünftigerZweck verfolgt würde, da die Generalver-sammlung letztlich zu dem Thema schonalles gesagt habe, was zu sagen ist. In derTat hat die Generalversammlung die Rechts-widrigkeit der Mauer festgestellt, ohne frei-lich noch einmal auf die einzelnen Gründedieser Rechtswidrigkeit ausführlich einzu-gehen, und hat hinsichtlich zweier Konse-quenzen dieser Rechtswidrigkeit auch eineAussage getroffen, nämlich dass der Mau-erbau eingestellt und die schon gebauteMauer entfernt werden müsse. Dies ist aberbeileibe nicht alles, was unter rechtlichen Ge-sichtspunkten zu dem Mauerbau zu sagenist und was der Gerichtshof feststellen soll-

te. Die Klärung der einzelnen Gründe derRechtwidrigkeit besitzt einen eigenen Stel-lenwert, nicht zuletzt deswegen, weil dieRechtswidrigkeit vom hauptsächlich be-troffenen Staat bestritten wird. Das weitereVerfahren der Generalversammlung, die jamit dem Problem befasst bleiben wird, ver-mag sich durchaus an Feststellungen desGerichtshofs hinsichtlich der einzelnen Fol-gen der Rechtswidrigkeit zu orientieren. Ge-nannt seien in diesem Zusammenhang diestrafrechtlichen Konsequenzen des Mau-erbaus, zu denen sich die Generalversamm-lung bislang in keiner Weise geäußert hat.Denkbar ist auch, dass die Generalver-sammlung sich mit einer Empfehlung anden Sicherheitsrat wendet, in der Erwar-tung, dass dann ein amerikanisches Vetopolitisch schwieriger würde. Das wäre umso bedeutsamer, als der Sicherheitsrat ge-rade in seiner Resolution vom 19. Mai 2004hinsichtlich der Tötung palästinensischerZivilisten und der Zerstörung von Häu-sern die Rechtslage, d.h. die Pflicht Israelszur Beachtung der IV. Genfer Konventionhervorgehoben hat.

Auch der General-Sekretär hat betont,dass für seine Aktivitäten das Gutachtendes Gerichtshofes bedeutsam sei. Mit an-deren Worten, die Behauptung, ein Gut-achten des Gerichts könne keinen vernünf-tigen Zweck haben, geht an der Bedeutungder Klarstellungsfunktion, die ein solchesGutachten hat, völlig vorbei.

Vom 23. bis zum 25. Februar 2004 fand die Anhörung über die israelische Sperranlage vor dem Internationalen Gerichtshof in DenHaag statt. Die UNO-Vollversammlung hatte um ein Gutachten gebeten, aber nur wenige Länder trugen hier vor. Die EU-Länder,die USA und selbst Israel begnügten sich mit schriftlichen Stellungnahmen. Eine Entscheidung wird Mitte Juli 2004 erwartet.

Bild: picture alliance/dpa

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Die Mauer im Westjordanland

Quellen undweiterführende Lektüre

United Nations, Economic and SocialCouncil: Report of the Special Rapporteurof the Commission on Human Rights,John Dugard, on the situation of humanrights in the Palestinian territoriesoccupied by Israel since 1967, submitted inaccordance with Commission resolution1993/2 A, VN-Dokument E/CN.4/2004/6,8. September 2003

United Nations, Economic and SocialCouncil: Economic, Social and CulturalRights. The right to food. Report by theSpecial Rapporteur, Jean Ziegler. Adden-dum: Mission to the Occupied PalestinianTerritories, VN-Dokument E/CN.4/2004/10/Add.2, 31. Oktober 2003

Report of the Secretary-General preparedpursuant to General Assembly resolutionES-10/13, VN-Dokument A/ES-10/248.24. November 2003

Amnesty International, Israel and theOccupied Territories. Surviving undersiege: The impact of movementrestrictions on the right to work, Septem-ber 2003

Daniel Thürer, Mauer vor Gericht, Tages-Anzeiger (Zürich), 28.2.2004, S. 2

Berthold Meyer, Aus der Traum? DasScheitern des Nahost-Friedensprozessesund seine innenpolitischen Hintergründe,HSFK-Report 2/2001

Sämtliche Dokumente und die Wort-protokolle der mündlichen Verhandlungvor dem Internationalen Gerichtshof sindauf dessen Webseite verfügbar:http://www.icj-cij.org

Auf die möglichen vernünftigen Zwecke,oder das Fehlen derselben zielt auch deroben schon genannte Einwand, das Verfah-ren sei für den Friedensprozess schädlich.Dahinter mag die – in dieser Form freilichvon niemandem offen ausgesprochene –Befürchtung stehen, eine weitere, mit ho-her Autorität ausgestattete Klärung derRechtslage würde es der politischen Klassein Israel psychologisch noch schwerer ma-chen, in den harten Fragen des Friedens-prozesses (israelische Siedlungen, Ost-Jeru-salem) zu einem Kompromiss mit denPalästinensern zu finden. Hier liegt eine ge-fährliche Verkennung der Funktion einerrechtlichen Klarstellung und darüber hin-aus eine Verkennung der Situation, so wiesie sich darstellt. Zum ersten: RechtlicheKlärung bedeutet doch nicht, dass dieVerhandlungsmasse für so etwas wie einenFriedensvertrag irgendwie eingeschränktwäre. Im Gegenteil: Durch den Mauerbauist eine faktische Situation geschaffen, diejedenfalls die Verhandlungsposition der Pa-lästinenser drastisch verschlechtert. Durchdie Mauer nimmt sich Israel Teile desWestjordanlandes, die es sich sonst erstdurch Verhandlungen erwerben müsste.Ein Gutachten kann helfen, dieser Beein-trächtigung einer freien Verhandlungs-lösung entgegenzuwirken. Darum gilt: DasGutachten kann nicht schädlich für denFriedensprozess sein, sondern nur nützlich.Zum zweiten, und grundsätzlicher: Selbstwenn es keine Illusion wäre, dass der Ver-zicht auf Klarstellung der Rechtslage eineeinvernehmliche Lösung förderte, bestehtdie Gefahr, dass durch diesen Verzicht einschädlicher Präzedenzfall gesetzt wird. Esgeht ja nicht darum, ob vielleicht ein einzel-ner Staat auf gewisse ihm günstige Rechts-positionen verzichtet. Es geht vor dem Ge-richt gerade darum, ob die internationaleGemeinschaft vom Rechtsstandpunkt in ei-ner fundamentalen Frage der internationa-len Ordnung abrückt. Das wäre nichts alsein weiterer Anreiz zu der ohnehin verbreite-ten Praxis, ohne Rücksicht auf die Rechts-lage vollendete Tatsachen zu schaffen, diedann vom friedlicheren Teil der Gemein-schaft „um des lieben Friedens willen“ hin-genommen werden. Eine solche Haltung stelltschließlich die Geltung des Rechts in Frage.Darum ist das Argument, der Gerichtshofkönnte durch sein Gutachten den Friedens-prozess gefährden, nicht nur falsch, son-

dern für die internationale Ordnung alsRechtsordnung höchst gefährlich.

Der Sinn des Verfahrens

Was soll und kann das Verfahren bewirken?Das Gutachten des Gerichts ist zwar formalnicht verbindlich. Es ist aber eine Klarstel-lung des geltenden Rechts, die hohe prak-tisch-politische Autorität besitzt. Deswegenist das Gutachten nicht unwirksam. Darumhat eine Mehrheit der Generalversammlungdieses Gutachten gewollt. Das Gutachten istBestandteil eines politischen Prozesses, derdarauf angelegt ist, eine Lösung des Palä-stina-Problems, das die Vereinten Nationennun mehr als 50 Jahre beschäftigt, auf derGrundlage von Recht und Gerechtigkeit zuerreichen, so wie die überwältigende Mehr-heit der Vereinten Nationen das versteht.Ein Gutachten, das die Resolutionen derVereinten Nationen, der Generalversamm-lung wie des Sicherheitsrates, rechtlich be-stätigte und in ihren rechtlichen Folgen ver-deutlichte, würde die Bemühungen derVereinten Nationen um eine Problemlösungauf der Basis des Rechts entscheidend stär-ken. Eben dies wäre der Gewinn für diefriedensstiftende Funktion des Rechts, de-ren die internationale Ordnung bedarf.

Dass ein großer Teil der westlichen Staa-ten und Russland dies anders sehen, ist einehöchst bedauerliche Schädigung der recht-lichen Ordnung der internationalen Bezie-hungen. Im Grunde ist das Argument der„judicial propriety“ umzudrehen: Unange-messen ist nicht die Erteilung eines Gutach-tens, sondern der Versuch, dieses Gutach-ten zu hintertreiben. Dass dieser Versuchsystematisch unternommen wurde, wirddurch den Ablauf der mündlichen Anhö-rung deutlich. Von den westlichen und mitden Vereinigten Staaten verbündeten Staa-ten hatte sich nur noch die Türkei für ei-nen Redebeitrag angemeldet. Diese Anmel-dung wurde jedoch drei Tage vor Beginn derAnhörung wieder zurückgezogen.

Hinter all den technischen Einwänden ge-gen ein Gutachten des Gerichts wird einemisstrauische Haltung gegenüber rechtli-cher Klärung und damit gegenüber demVölkerrecht selbst deutlich. Dies ist geradevor dem Hintergrund der gegenwärtigenDebatten um die rechtlichen Grenzen vonGewaltanwendung in den internationalenBeziehungen von ausschlaggebender, man

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Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung

Leimenrode 29, 60322 Frankfurt am Main

Postvertriebsstück D 43853, Entgelt bezahlt, ISSN-0945-9332

Prof. Dr. MichaelBothe (Jahrgang1938) ist Leiter derForschungsgruppe„InternationaleOrganisation, demo-kratischer Friede unddie Herrschaft desRechts“ an der HSFKund lehrt an derUniversität Frankfurt .

Er war Vertreter der Arabischen Liga in demVerfahren vor dem Internationalen Gerichts-hof.

möchte sagen fataler Bedeutung. Bestrebun-gen, die insbesondere von der gegenwärti-gen amerikanischen Administration verfolgtwerden, die Zulässigkeit militärischer Gewalt-maßnahmen „großzügig“ zu behandeln, sindvom Gerichtshof in einer ständigen Recht-sprechung immer wieder abgelehnt worden.Es gibt eine klare Linie der Rechtsprechung:1986 erklärte das Gericht die militärischenMaßnahmen der Vereinigten Staaten gegenNicaragua für unzulässig; in einem Gutach-ten 1996 sah es in einem Gutachten den Ein-satz von Atomwaffen als praktisch vollkom-men unzulässig an; 2003 erachtete dasGericht in dem Verfahren Iran gegen die Ver-einigten Staaten die Zerstörung iranischerÖlproduktionsanlagen durch die Vereinig-ten Staaten, die sich auf ein Selbstverteidi-gungsrecht berufen hatten, für rechtwidrig.Es mag schon sein, dass deswegen die Verei-nigten Staaten dem Gericht misstrauen, unddas würde ihre Haltung erklären. Aber war-um sollte sich Europa einer solchen Haltunganschließen?

Einmal mehr ist die europäische Haltunggespalten. Ein gemeinsamer wirklich kon-zeptioneller Ansatz zu Grundfragen derRolle des Rechts in den internationalen Be-ziehungen ist nicht erkennbar.

Ein Crashtest für dasVölkerrecht?

Das Verfahren vor dem IGH ist in doppelterHinsicht eine Bewährungsprobe für dasVölkerrecht als einem realen Ordnungs-faktor in den internationalen Beziehungen.

Zum einen geht es darum, ob es überhauptgelingt, ein politisches Problem, das vollerTragik ist, auf der Grundlage des Rechts zulösen. Zum zweiten steht zur Debatte, obrechtsförmige, auf Klarstellung des Rechtsangelegte Verfahren zu einer solchen Lösungeinen nützlichen Beitrag leisten können. Ge-rade in demokratischen Staaten sind dieStimmen derer sehr laut geworden, ja viel-leicht sogar in der Überzahl, die der Lei-stungsfähigkeit des Rechts und rechts-förmiger Verfahren skeptisch gegenüberstehen. Nun ist erst einmal das Gericht amZug. In der einen oder anderen Form wirddas Gericht das Problem an die Politik zu-rückgeben. Dann wird sich zeigen, wie De-mokratien, die sich zu rechtsstaatlichenPrinzipien bekennen, mit den völkerrechtli-chen Anforderungen umzugehen bereit sind.Sie stellten die eigenen Prinzipien in Frage,wollten sie die Bedeutung des Rechts und

HSFK-Standpunkte

erscheinen mindestens sechsmal im Jahr mit aktuellen Thesen zur Friedens- und

Sicherheitspolitik. Sie setzen den Informationsdienst der Hessischen Stiftung Friedens-

und Konfliktforschung fort, der früher unter dem Titel „Friedensforschung aktuell“

herausgegeben wurde.

Die HSFK, 1970 vom Land Hessen gegründet, arbeitet mit rund 40 wissenschaftlichen

Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in drei Forschungsgruppen zu den Themen: „Rüstungs-

kontrolle und Abrüstung“, „Internationale Organisation, demokratischer Frieden und Herr-

schaft des Rechts“ sowie „Demokratisierung und der innergesellschaftliche Frieden“.

Zudem gibt es die forschungsgruppenübergreifende Arbeitsgruppe „Kriege demo-

kratischer Staaten seit 1990“ und den Arbeitsbereich „Friedenspädagogik/Konflikt-

psychologie“. Die Arbeit der HSFK ist darauf gerichtet, die Ursachen gewaltsamer inter-

nationaler und innerer Konflikte zu erkennen, die Bedingungen des Friedens als Prozess

abnehmender Gewalt und zunehmender Gerechtigkeit zu erforschen sowie den Friedens-

gedanken zu verbreiten. In ihren Publikationen werden Forschungsergebnisse praxis-

orientiert in Handlungsoptionen umgesetzt, die Eingang in die öffentliche Debatte finden.

Neben den HSFK-Standpunkten gibt das Institut mit den „HSFK-Reports“ und „PRIF Re-

ports“ wissenschaftliche Analysen aktueller Probleme und politische Empfehlungen in

Deutsch und Englisch heraus. Die „Studien der Hessischen Stiftung Friedens- und Kon-

fliktforschung“ stellen darüber hinaus grundlegende Forschungsergebnisse des Instituts

dar. Mit dem „Friedensgutachten“ legen die HSFK und vier weitere Friedens-

forschungsinstitute (IFSH, FEST, INEF und BICC) ein gemeinsames Jahrbuch vor, das die

laufenden Entwicklungen in Sicherheitspolitik und internationalen Beziehungen ana-

lysiert, kritisch kommentiert und Empfehlungen für Politik und Öffentlichkeit abgibt.

V.i.S.d.P.: Marlar Kin, Publikationen und Vorstandsangelegenheiten der HSFK,

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Für den Inhalt der Beiträge sind die Autorinnen und Autoren verantwortlich. Ein Nach-

druck ist bei Angabe der Quelle und Zusendung von Belegexemplaren gestattet. Der

Bezug der HSFK-Standpunkte ist kostenlos, Unkostenbeiträge und Spenden sind jedoch

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seiner Feststellung durch den Internationa-len Gerichtshof beiseite schieben. Europa je-denfalls wäre schlecht beraten, wenn es sicheiner Haltung anschlösse, die die Rolle desRechts missachtet.