Die Natur ist ebenso intelligent wie der Mensch. Was für die … · 2015. 9. 1. · Jeremy Narby...

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6 Natürlich | 3-2007 Intelligente Umwelt NATUR Die Natur ist ebenso intelligent wie der Mensch. Was für die Indianer im Regenwald selbstverständlich ist, findet aber erst langsam Eingang in das Denken westlicher Forscher. Jeremy Narby, Anthropologe mit Schweizer Wurzeln, setzt sich für diesen Bewusst- seinswandel ein. Text: Jeremy Narby Fotos: Bildagentur Waldhäusl

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    Intelligente UmweltNATUR

    Die Natur ist ebenso intelligent wie der Mensch.

    Was für die Indianer im Regenwald selbstverständlich

    ist, findet aber erst langsam Eingang in das Denken

    westlicher Forscher. Jeremy Narby, Anthropologe mit

    Schweizer Wurzeln, setzt sich für diesen Bewusst-

    seinswandel ein.

    Text: Jeremy Narby

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    Mehr als zwei Jahre langlebte der AnthropologeJeremy Narby im perua-nischen Amazonasgebiet

    bei verschiedenen Indianerstämmen.Ursprünglich ging es ihm in seinerArbeit darum zu zeigen, dass dieIndianer ihre Umwelt «rational», dasheisst, nach westlichen Gesichts-punkten «sinnvoll» nutzen.

    Schon bald wuchs in Narby aberder Verdacht, dass hier die falschen

    Massstäbe angelegt werden. Grund:Für Menschen aus den industriali-sierten Ländern ist die Natur in er-ster Linie eine Nutzfläche – für dieIndianer des Regenwaldes aber einegleichberechtigte und vor allem intel-ligent handelnde Mitwelt.

    Konfrontiert mit dieser Erkennt-nis begab sich Jeremy Narby aufSpurensuche. Dabei entdeckte er:Nicht nur der Mensch, auch die Na-tur verfügt über eine unabhängige

    Intelligenz. Tiere, Pflanzen, Pilze, jaselbst Bakterien zeigen eine deutli-che Neigung, selbstständig Entschei-dungen zu treffen und neue Hand-lungsmuster zu entwickeln.

    Exklusiv für «Natürlich» fasst derForscher seine Erkenntnisse zusam-men und plädiert für eine neue undganzheitliche Sicht der Dinge, die dieVorstellungswelt der Indianer mitden Resultaten der fortschrittlichenNaturwissenschaft vereint.

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    «Die Ashaninca zeigten mir alles, was sievom Wald wussten. Der peruanischeAmazonas ist das Gebiet mit der reichstenBiodiversität der Erde. Es verfügt übermehr Arten von Blumen, Reptilien, Am-phibien, Vögeln, Insekten und Säugetierenals jede andere Region der Erde von glei-cher Grösse. Wer durch diesen Wald geht,sieht auf den ersten Blick nur ein grossesGemisch unzähliger Arten.

    Bei genauem Hinsehen aber offenbartsich sein ganzer Reichtum. Wissenschaft-ler haben dort mehr Ameisenarten aufeinem einzigen Baum gefunden als inganz Grossbritannien, mehr Baumartenauf einer einzigen Hektare als in ganzEuropa, mehr Vogelarten in einem einzi-gen Tal als in ganz Nordamerika. Es istein Gebiet, wo sich das Leben von seineraktivsten Seite zeigt. Es riecht dort wie ineinem Gewächshaus.

    «Die Natur spricht in den Träumen»Zu meinem Erstaunen hatten meine As-haninca-Freunde Namen für fast jedePflanze – und sie nutzten nahezu dieHälfte der bei ihnen vorkommendenArten. Sie verwendeten sie zu Nahrungs-zwecken, als Baumaterial, als Medika-mente und Kosmetika. Sie kannten Pflan-zen, welche bewirken, dass Wundenschneller heilen oder chronische Rücken-schmerzen verschwinden.

    Immer, wenn ich die Möglichkeithatte, diese Heilpflanzen selbst zu testen,tat ich es und konnte bestätigen, dass dieIndianer Recht hatten. Deshalb fragte ichsie eines Tages, woher sie ihr Wissen überdie Pflanzen hätten. Ihre Antwort warmysteriös.

    Sie sagten: «Unser Wissen über diePflanzen stammt von den Pflanzen selbst.Unsere Schamanen, die Ayahuasquerosoder Tabaqueros, nehmen Ayahuasca,eine halluzinogene Mischung, oder essenTabakkonzentrat und kommunizieren inden dadurch hervorgerufenen Visionenmit der Wesensessenz der jeweiligenLebensform. Das ist ihre Informations-quelle. Die Natur ist intelligent undspricht in Träumen und Visionen zu denMenschen. Ein Schamane kann sich zumBeispiel in seinen Visionen in einen Ja-guar verwandeln.»

    Wenn Welten aufeinanderprallenIch konnte nicht ernst nehmen, was dieseIndianer sagten. Nach wissenschaftlichenKriterien durfte es einfach nicht wahrsein. Die Wissenschaft bezeichnet einenMenschen als Psychotiker, der glaubt,seine «Halluzinationen» vermitteltenihm echte Informationen. So etwas warnach allen wissenschaftlichen Theorieneine Unmöglichkeit. Ausserdem wider-sprach es dem Hauptziel meiner Recher-

    chen: zu zeigen, dass diese Indianer denWald «rational» nutzen. Aber eines Tagesbegleitete ich, nachdem ich mehrere Mo-nate in einem Dorf geforscht hatte, mei-nen Ashaninca-Guide zu seinem altenSchamanenlehrer. Dieser Alte musste,nach seiner faltigen Haut zu schliessen,mindestens 80 Jahre alt sein. Sein ge-naues Alter liess sich nicht feststellen, daer geboren war, als die Ashaninca nochnicht zählen gelernt hatten. Er sass aufeiner Matte, trug ein traditionelles Ge-wand aus Baumwolle und leckte Tabak-paste von einem kleinen, in eine Kürbis-flasche getauchten Stöckchen.

    Humor auf Kosten des ForschersMein Führer stellte mich vor, und derAlte blickte mich mit funkelnden Augenan. Er fragte mich, ob ich sein Schwieger-vater sei – oft setzen die Ashaninca ein-fach bestimmte Verwandtschaftsverhält-nisse voraus, aber hier handelte es sichganz klar um einen Scherz. Ich war ja nurungefähr ein Drittel so alt wie er. Ichspielte mit und sagte: «Ja.» Da lachte erlaut auf und fragte noch einmal: «Konki?Schwiegervater?» «Ja», erwiderte ich er-neut, und er hörte nicht auf zu lachen.Das machten wir, hin und zurück, andie 20 Mal. Ich wollte doch wissen, wieweit es der alte Schamane mit diesersurrealen Übung treiben würde. Offenbarfand er das Ganze im Gegensatz zu mirüberaus komisch.

    Später am Abend erfuhr ich jedochvon meinem Guide, dass die Frage, objemand der Schwiegervater von jeman-dem sei, auch bedeute: «Darf ich michdeiner Tochter sexuell nähern?» DerScherz ging also auf meine Kosten – auchwenn ich keine Tochter habe!

    Das Raubtier im Menschen erwacht Schliesslich gab mir der Schamane dieKürbisflasche, ich nahm ein wenig Pastezwischen die Lippen und setzte mich ne-ben ihn. Ungefähr zehn Minuten später –ich dachte an nichts Bestimmtes –, be-fühlte ich meine Zähne mit der Zungeund hatte den Eindruck, sie seien unge-wöhnlich lang und scharf. Ich berührtemein Gesicht mit der Hand und spürteso etwas wie Schnurrhaare. Im MundFo

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    Jeremy Narby, geboren 1959, wuchs in Kanada und in der Schweiz auf. Erstudierte Geschichte an der Universitätvon Canterbury, England, und promo-vierte in Anthropologie an der Stan-ford University in den USA. Er ver-brachte zwei Jahre bei verschiedenenIndianerstämmen im peruanischenAmazonasgebiet und setzt sich nochheute für deren Rechte ein. Narby lebt heute in der Schweiz, inKanada und den USA. Neben «Intelli-genz in der Natur» schrieb er auch dasBuch «Die kosmische Schlange» undist Mitherausgeber von «Schamaneneinst und jetzt».

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    schmeckte es nach Blut, und es schmecktegut, obwohl ich Vegetarier bin. Langsamwurde mir klar, dass ich mich in eineRaubkatze verwandelte. Es war das ersteMal in meinem Leben, dass mir so etwaspassierte. Nie hätte ich geglaubt, dass der-gleichen möglich wäre. Aber der Ein-druck war ungemein stark, und dasGanze fühlte sich vollkommen wirklichan. Als frisch verwandelter Jaguar be-trachtete ich einige Hühner vor mir, be-schloss aber, Milde walten zu lassen undsie diesmal nicht zu fressen.

    Der Eindruck, eine Raubkatze zu sein,war so stark, dass er bis heute nachwirkt.Doch in meiner Doktorarbeit habe ichnichts darüber geschrieben. Ich wusstejahrelang nicht, was ich damit anfangensollte – es kann nämlich sehr lange dau-ern, bis man das Wesen des indigenenWissens versteht.

    Sicht der Wissenschaft – und der IndianerIm Amazonasbecken glauben die Men-schen, auch Pflanzen und Tiere handeltenvorsätzlich und planvoll, und Schamanenkommunizieren in Träumen und Visionenmit Pflanzen und Tieren. Die westlicheWissenschaft hingegen hat die Tendenz,der Natur planvolles und vorsätzlichesHandeln abzusprechen und Lebewesen als«Automaten» zu betrachten.

    Seit zwei Jahrzehnten suchte ich einegemeinsame Grundlage für Wissenschaftund indigenes Wissen. In den letztenJahren fand ich mehr und mehr wissen-schaftliche Beweise dafür, dass die ganzeNatur voller Intelligenz ist. Heute zeigenBiologen, dass einzelliger Schleim sichin Labyrinthen zurechtfindet, gehirnlose

    Pflanzen richtige Entscheidungen treffenund Bienen, die stecknadelkopfgrosseGehirne besitzen, mit abstrakten Begrif-fen umgehen können.

    Der Mensch wird vom Sockel gestossenDer Philosoph John Locke erklärte zwarim 17.Jahrhundert: «Tiere abstrahierennicht.» Doch in Wirklichkeit abstrahie-ren Tiere. Die reduktionistische Wissen-schaft hat das in jüngster Zeit nachge-wiesen. Und Wissenschaftler haben ent-deckt, dass Ameisen mit Hilfe vonAntibiotika Pilze züchten, Delfine sich imSpiegel erkennen und Papageien sagenkönnen, was sie denken. Das alte wissen-schaftliche Dogma, wonach Tiere undPflanzen blosse Objekte ohne Absichtenund Ziele seien, entspricht neuen Er-kenntnissen nicht mehr. Heute gibt esklare Indizien für Intelligenz auf allenEbenen der Natur – was die schamani-sche Auffassung bestätigt.

    Auch westliche Beobachter sehenjetzt, dass der Mensch in mancher Hin-sicht fast identisch mit vielen Tieren ist,zum Beispiel in Bezug auf Augen, Gehirnund Gene. Es stellt sich heraus, dass vieleVerhaltensweisen, die früher allein demMenschen zugeschrieben wurden, auchbei bestimmten Tierarten vorkommen.Der Bereich, den wir als spezifischmenschlich ansehen können, schrumpftimmer mehr. Es gibt einen «unheimli-chen Wissenszuwachs» in dieser Hin-sicht, wie der Chefredaktor der Zeit-schrift «Science» im Jahr 2002 formu-lierte. «Unheimlich» deshalb, weil derWissenszuwachs uns Menschen von un-serem angemassten Sockel herunterholt.

    Auf SpurensucheVor sechs Jahren begann ich, «Intelligenzin der Natur» konkret zu untersuchen.Ich reiste erneut zum Amazonas undsprach mit Schamanen der Ashaninca,Shipibo, Shawi, Kichwa, Kandoshi undAwajun. Sie glauben, dass alle LebewesenSeelen besitzen, dass Pflanzen und Tieredenken, planen und wissen.

    In den Kosmologien des Amazonas-gebiets sind Pflanzen und Tiere mit demMenschen verwandt. Die Ureinwohnerdort ziehen keine klaren Grenzen zwi-schen Natur und menschlicher Gesell-schaft, sondern schreiben die Haupt-eigenschaften des Menschen auch zahl-reichen Pflanzen und Tieren zu. Sie sehenFische und Vögel im Wald. Aber wenndiese Lebewesen nach Hause zurück-kehren, werfen sie ihre Tierkleider ab,und Menschen kommen darunter hervor.Die den Anthropologen so lieb gewor-dene Trennung zwischen Natur undKultur ist für Indianer völlig absurd.

    Vermittler zwischen den KulturenIch hatte die Absicht, durch meine Recher-chen über die Intelligenz in der Natur alsDiplomat zwischen zwei verschiedenenWissenssystemen zu agieren. Ich wolltedoch sehen, ob beide Seiten zusammen-arbeiten könnten. Als Anthropologe, derbereits Feldforschung im Amazonas-gebiet betrieben hatte, musste ich nurnoch die andere Seite kennen lernen undstudieren. Ich musste mich bei Wissen-schaftlern und in Laboratorien in ver-schiedenen Ländern umsehen. Ich be-schloss, bei beiden Richtungen vomselben ontologischen (Ontologie, Lehrevom Sein) Fundament auszugehen undWissenschaftler mit dem gleichen Res-pekt wie indigene Schamanen zu behan-deln.

    Bienen denken mitIch begann in Toulouse, im Laboratoriumzur Erforschung tierischer Kognition(Wahrnehmung) beim FranzösischenStaatszentrum für naturwissenschaftlicheForschung (CNRS), wo ein Wissenschaft-ler namens Martin Giurfa kürzlich bewie-sen hatte, dass Bienen mit abstraktenBegriffen umgehen können. Giurfa undseine Kollegen hatten ein Experiment

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    durchgeführt, bei dem sie Honigbienendurch ein einfaches, Y-förmiges Labyrinthschickten. Der Eingang zum Labyrinthwar durch ein besonderes Symbol, etwadie Farbe Blau, gekennzeichnet.

    Eine durch den Eingang fliegendeBiene erreichte also eine Weggabelung,einen «Ort der Entscheidung», wo siezwischen zwei Wegen wählen konnte.Einer davon war durch die Farbe Blau,der andere durch die Farbe Gelb gekenn-zeichnet. Bienen, die den blau markiertenWeg einschlugen, stiessen am Ende aufein Gefäss mit Zuckerlösung. Bienen, dieden gelben Weg wählten, erhielten keinesüsse Belohnung.

    Die Bienen lernten schnell, dass amEnde der Route, die mit derselben Farbewie der Eingang markiert war, Zucker aufsie wartete. Mit anderen Worten: «Das-selbe» ist gleichbedeutend mit «Zucker».

    Insekten wenden Wissen anIm nächsten Experiment wurde der Ein-gang zum Labyrinth mit einem anderenSymbol, zum Beispiel mit horizontalendunklen Linien, markiert. Auch in die-sem Fall stiessen die Bienen am «Ort derEntscheidung» auf die beiden Wege.

    Diesmal waren aber die Routen nicht mitFarben, sondern mit Linien markiert –senkrechten am einen, waagrechten amanderen Weg. Die Bienen flogen ohne zuzögern gerade auf dasjenige Muster zu,das dem Eingang entsprach.

    Andere Versuche zeigten, dass die Bie-nen ihr erlerntes Wissen sogar von einemSinnesorgan auf das andere übertragenkonnten. Bienen, die mittels übereinstim-mender Gerüche den Begriff «Dasselbe»erlernt hatten, vermochten ihn auch aufoptische Zeichen anzuwenden. Obwohlalso Bienen 100000-mal weniger Neu-ronen als wir Menschen haben, sind siezur Anwendung abstrakter Regeln fähig.

    Martin Giurfa sagte, je besser er be-greife, wie Tiere Entscheidungen treffenund Dinge erlernen, desto mehr sehe ersich zu dem Zugeständnis gezwungen,dass sie eben nicht mechanisch agieren.Bienen hätten ihren eigenen Verstand,sagte er. Sie können die «logische Struk-tur» der Umwelt aus dieser ableiten.

    IQ-Test für PflanzenBienen sind demnach empfindende,kluge Lebewesen, keine fliegenden Appa-rate wie etwa Toaster. Aber Pflanzen?

    Pflanzen haben kein Gehirn. Was alsosagt die Wissenschaft über Pflanzenintel-ligenz? Im Jahr 2002 fand ich einen Ar-tikel in der Zeitschrift «Nature» vonAnthony Trewavas, Professor für Biologiean der Universität Edinburgh. Er behaup-tete, Pflanzen hätten Absichten, träfenEntscheidungen und berechneten kom-plexe Aspekte ihrer Umwelt. Trewavas istMitglied der Royal Society, der ältestenwissenschaftlichen Gesellschaft Grossbri-tanniens. Er erklärte, die Untersuchungder Pflanzenintelligenz sei «im Begriff, zueinem akzeptierten Forschungsbereichzu avancieren».

    Ich reiste also nach Edinburgh, umTrewavas zu interviewen. Er erklärte mir,die Entwicklung der Molekulargenetik inden 90er-Jahren habe es ermöglicht, dieSignale und Rezeptoren zu identifizieren,die von Pflanzenzellen bei Kommuni-kations- und Lernvorgängen benutztwerden. Pflanzen nehmen Informationenauf und beantworten sie dadurch, dass sieals Gesamtorganismus aktiv werden. Undsie kommunizieren mittels molekularerund elektrischer Signale von Zelle zuZelle, ganz ähnlich, wie es unsere eigenenNervenzellen tun. Pflanzen haben alsokein Gehirn, verhalten sich aber wie eines.

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    Eine Palme auf Wanderschaft Eine Pflanze muss Wurzeln in den Bodenhinuntertreiben und ihre Blätter entfal-ten, um möglichst viel Sonnenlicht ein-zufangen. Also muss sie viele Variableerkennen und richtige Entscheidungenerrechnen, um sie dann auch umzuset-zen. Zum Beispiel hat die Fächerpalmeeinen auf Stützwurzeln aufruhendenStamm und bewegt sich in RichtungSonnenlicht, indem sie neue Stützwur-zeln auf der Sonnenseite ausbildet unddie im Schatten liegenden absterben lässt.So verändert die Fächerpalme im Verlaufmehrerer Monate tatsächlich ihren Stand-ort.

    Sie wandert auf diese Weise umher,schützt sich gegen konkurrierende Nach-barn und sucht möglichst viel Licht abzu-bekommen – nur dass sie all dies mitvom Menschen nicht wahrnehmbarerGeschwindigkeit tut. Trewavas sagte, dassei ein klares Beispiel für «zielstrebigesVerhalten von Pflanzen und Pflanzen-intelligenz».

    Wunderschleim aus JapanAber was ist Pflanzenintelligenz genau?In der ursprünglichen Bedeutung desWortes bezieht sich «Intelligenz» auf ei-nen Vorgang des Auswählens (lateinisch:inter-legere) und meint die Fähigkeit,Entscheidungen unter Alternativen zutreffen. Doch häufig hat man «Intelli-genz» mittels menschlicher Fähigkeitendefiniert, was darauf hinausläuft, dass derBegriff auf Arten mit anderen Fähigkeitennicht anwendbar ist. Man hat überdies soausgiebig über die Definition von «Intel-ligenz» diskutiert, dass es wahrscheinlich

    nicht besonders klug wäre, noch einmaleine neue Definition zu versuchen. Dasist mir in Japan ganz klar geworden.

    Ich war dorthin gereist, um ToshiyukiNakagaki zu interviewen. Dieser Wissen-schaftler hatte demonstriert, dass der ein-zellige Schleimpilz Physarum polycepha-lum sich in einem Labyrinth zurechtfin-det. Dieser formlose, gehirnlose Einzellerist aus menschlicher Sicht schlicht eineSchleimmasse. Offensichtlich also keinIntellektueller. Aber der Schleim findetseinen Weg in einem Labyrinth, unfehl-bar. Wenn Nahrung an den Eingang unddas Ende des Labyrinths gelegt wird,dehnt und streckt sich der Schleim, bis erauf kürzestem Weg zwischen den beidenNahrungsquellen eine dünne Röhre bil-det – und das jedes Mal, wenn er getestetwird!

    Verschiedene Kulturen –verschiedene IntelligenzNakagaki publizierte seine Arbeit in derZeitschrift «Nature» und verwendetedabei den Begriff «Intelligenz». Wie ermir erzählte, erregte er damit grosseAufmerksamkeit bei den Medien. Dochmusste er mit ausländischen Reporternunweigerlich immer über die Definitionvon «Intelligenz» diskutieren. Währendsich die japanischen Reporter vor allemfür die Einzelheiten interessierten, wieein solcher Organismus im Labyrinthzurechtkam, konzentrierten sich dieLeute von Übersee regelmässig auf dieFrage, ob hier von Intelligenz gesprochenwerden könne oder nicht.

    Nakagaki schrieb diese Einstellungder Japaner dem animistischen Hinter-

    grund ihrer Kultur und dem japanischenWort für Intelligenz, «chi-sei», zu. Dabeibedeutet «chi» wissen, erkennen und«sei» Eigentümlichkeit, Charakter oderCharakterzug. Für viele Japaner ist esdeshalb kein Problem, den Begriff «chi-sei», also Wissensfähigkeit, Erkenntnis-fähigkeit, auch auf andere Spezies anzu-wenden, selbst auf einzelligen Schleim.

    Alles eine Frage der DefinitionSogar «Natur» selbst ist ein heikler Be-griff. Wörterbücher pflegen «Natur» etwawie folgt zu definieren: «Natur ist einGesamtphänomen der physischen Welt,einschliesslich Pflanzen, Tieren undLandschaft, im Gegensatz zum Menschenund zu menschlichen Schöpfungen. SeineDistanz zur Natur ermöglicht es demMenschen, sich einen Begriff von ihr zumachen.»

    Nimmt man eine solche Definitionwörtlich und denkt sie konsequent weiter,so wäre «Intelligenz in der Natur» einWiderspruch in sich. Denn diese «Intel-ligenz» schliesst von vornherein allesNicht-Menschliche aus, während «Natur»die Menschen ausschliesst.

    Das beweist doch, dass unsere Be-griffe, sofern sie uns von vornherein vonanderen Organismen trennen, unserfreies Denken behindern. Wir schlagenuns mit Begriffen und Worten herum,wenn sich ein Schleim im Labyrinth zu-rechtfindet, weil unsere Begriffe ebenden Forschungsresultaten nicht entspre-chen. Nicht in der Natur ist ein Mangelan Intelligenz festzustellen, sondern inunseren Begriffen.

  • «Ich bin ein Tier»Objektives Wissen hat im Reich der Bio-logie seine Grenzen. Denn jeder Beobach-ter ist selbst ein subjektives Lebewesen.Ich wünsche mir eine Biologie, in der sichdie Beobachter als Studienobjekte miteinschliessen und von vornherein ihrenStandpunkt angeben. Der meinige ist: Ichbin ein Tier. Ich bin gezwungen, mich aufder Suche nach Nahrung fortzubewegen.Per definitionem sind Organismen, diesich zum Zweck der Nahrungsaufnahmefortbewegen, Tiere. Und obwohl ich andereSpezies fresse, erkenne ich, dass ich mitihnen verwandtschaftlich verbunden bin.

    Ich sehe mich selbst in anderen Lebe-wesen, zum Beispiel in der Hydra, einemauch als Süsswasserpolyp bekannten viel-zelligen Hohltierchen. Dieses kleine Tierlebt im Wasser und hat die Form einerdünnen, durchsichtigen Röhre. Die Hy-dra hat keinen Kopf, keinen Rücken,keine Vorderseite, keine Beine, keineKeilflossen, kein Herz, kein Gehirn, abersie besitzt ein Nervensystem, das besserals «Nervennetz» bezeichnet würde. Esist um den Mund herum konzentriert.

    Wir Tiere pflegen alle eine Neuronen-konzentration in der Nähe des Mundeszu haben, weil die aktive Nahrungsauf-nahme für uns so wichtig ist. Also liegtmein Gehirn in der Nähe meines Mun-des. Ich weiss, dass ich ein Raubtier bin.

    An der Spitze der NahrungsketteAls Mensch der Gegenwart stehe ich ander Spitze der Nahrungskette. Im Amazo-nasgebiet befinden sich Jaguare an derSpitze der Nahrungskette, leben aberganz anders als unsereiner. Als die gros-sen Räuber des Regenwalds können sieebenso gut schwimmen wie auf Bäumeklettern. Sie fangen Fische, Schildkrötenund Kaimane, aber auch Nagetiere, Rot-wild und Affen. Diese überaus vielseiti-gen Raubkatzen töten ihre Beute häufigdadurch, dass sie ihr den Schädel miteinem schnellen Biss zerspalten.

    Jaguare haben ausser dem Menschenkeinen Konkurrenten. Doch halten siesich gern im Verborgenen auf. Sie bewe-gen sich mit solcher Heimlichkeit, dassBiologen Mühe haben, ihr Verhalten zuerforschen. Diese edlen Räuber «beherr-schen» jedoch ihre Kräfte. Es wäre gut,wenn wir das auch täten und uns mehrwie Jaguare verhielten.

    Der Mensch steht erst am AnfangWir sind eine junge Art. Uns, den Homosapiens sapiens mit hoher Stirn und spit-zem Kinn, gibt es auf dieser Erde erst seitrund 200 000 Jahren. Das sind ungefähr10 000 biologische Generationen – fastnichts für eine Spezies. Jaguare und an-dere effiziente Raubtiere wie Tintenfischearbeiten schon viel länger als wir an ihrerVervollkommnung.

    Tintenfische existieren bereits meh-rere hundert Millionen Jahre. Sie hattenZeit genug, ihre Fähigkeiten zu pflegenund zu entwickeln. Im Vergleich dazustehen wir erst am Anfang. Wir habennoch viel zu lernen, um unsere Raubtier-natur zu beherrschen.

    Schamanen glauben, Raub bedürfeder Mediation. Sie versuchen, Raub alsTausch aufzufassen, der neues Leben er-möglicht. Nach ihrem Verständnis habenwir Menschen als Raubtiere eine Verant-wortung gegenüber den anderen Arten,weil wir verwandt mit ihnen sind und siefressen, um zu leben.

    Die Intelligenz der EvolutionSeit langem weisen Schamanen darauf hin,dass sich die Natur unaufhörlich verwan-delt. Damit sind auch die Wissenschaftler

    des Westens einverstanden. Sie zeigen, dasswir alle Misch-Lebewesen sind, erzeugtvon der laufenden Evolution. Die Wissen-schaft selbst erlebt eine Evolution. Sierückt langsam von einem nur mechani-schen Verständnis der Natur ab. Die Ideevon einer Art aktiver Intelligenz in derganzen Natur gewinnt in der wissenschaft-lichen Welt immer mehr an Boden. Das be-stätigt die traditionelle Auffassung derSchamanen und indigenen Völker.

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    INFOBOX

    Literatur• Narby: «Intelligenz in der

    Natur», AT Verlag, 2006, ISBN 3-03800-257-4, Fr. 34.–

    • Efthyvoulos: «Geister des Regenwalds»AT Verlag, 2004, ISBN: 3-85502-819-1, Fr. 34.–

    • Storl: «Pflanzendevas», AT Verlag 2004ISBN 3-85502-763-7, Fr. 38.–

    • Narby: «Die kosmische Schlange», KlettCotta, 2001, ISBN: 3-608-93518-9, Fr. 35.70

    • Hauser: «Wilde Intelligenz», Verlag DTV, 2003, ISBN 3-423-34046-5, Fr. 21.10

    Internet• de.wikipedia.org/wiki/Intelligenz

    • www.quarks.de/intelligenz/index.htm

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  • Das ganze Gebäude des Lebens ist vonoben bis unten mit Intelligenz durchsetzt.Das legt den Schluss nahe, dass der Evo-lutionsprozess selbst intelligent ist, dassdie Evolution von einer inneren Intelli-genz geleitet wird, eher als vom blindenZufall oder einer Intelligenz, die von aus-sen oder oben auf die Wesen einwirkt.Die Debatte bezieht sich auf endgültigeUrsachen, aber keine Meinung darüberlässt sich hieb- und stichfest beweisen.Manche Fragen lassen den Menschennicht los, weil sie ihn existenziell betref-fen. Das bedeutet jedoch nicht, dass siesich auch abschliessend beantwortenlassen.

    Theologie links liegen lassenUm offen zu sein: Ich bin Agnostiker. Dasheisst, ich weiss, dass ich nichts weiss –vor allem in Bezug auf die Ursachen. Ichglaube, dass mein Kopf zu klein ist, umden Begriff «Gott des Weltalls» zu fassen.Ich will mich also keineswegs mit derfundamental-christlichen Bewegung des«Intelligenten Designs» einlassen.

    Beim Nachdenken über Intelligenz inder Natur beschäftige ich mich nicht mitunüberprüfbaren theologischen Fragenzur Entstehung der Zellkomplexität. Ichwill nur verstehen, wie Entscheidungs-findung in der Natur vor sich geht undwie die Intelligenz aussieht, die offenbarin den Tätigkeiten aller Lebewesen, ein-schliesslich meiner selbst, wirksam ist.

    Mich interessiert die Intelligenz inZellen und Organismen, nicht in Ereig-nissen, die vor Milliarden von Jahrenstattgefunden haben, vielleicht unter Mit-wirkung eines «Gottes im Weltall».

    Gott durch den «blinden Zufall» zu er-setzen, löst das Problem auch nicht. Athe-ismus ist nur ein geleugneter Theismus,also einfach die andere Seite der Medaille.Das Wort kommt vom griechischen atheos,ohne Gott. Die Überzeugung, Zufall und

    Notwendigkeit reichten zur Erklärung allerNaturvorgänge aus, ist ebenfalls eine Formdes Glaubens und ebenso wenig schlüssigzu beweisen wie der Gottesglaube. Evolu-tion findet statt, aber die Überzeugung, nurder Zufall sei ihr Motor, ist ebenfalls einAkt des Glaubens.

    Von den Schamanen lernenAber es gibt eine dringende Frage, anderen Lösung wir arbeiten können: Wiekönnen wir Menschen als Raubtiere ler-nen, den ständigen Niedergang unsererWelt aufzuhalten? Unsere Raubtieraktio-nen werden von Wissen, Ideen und Tech-nologien dauernd beschleunigt. Alsomüssen wir unsere Wissenschaft undIndustrie kontrollieren.

    Das wäre intelligente Evolution: Wirmüssten uns als Tiere verstehen, andereArten als intelligent verstehen, und ins-besondere die Intelligenz der Raubtiereverstehen. Dann könnten wir lernen, unsin intelligente Raubtiere zu verwandeln.

    Und um das zu erreichen, könnten sichdie Bewohner der industriellen Welt vonden Schamanen inspirieren lassen unddie Natur als Lehrerin sehen. Nach mei-ner Meinung könnten wir Rationalismusund Schamanismus kombinieren. Daswäre eine Form des Bikognitivismus. Eswäre so, als nähmen wir einen Gesichts-winkel ein und zugleich den gegenteiligenGesichtswinkel. Rationalismus kommtvom lateinischen ratio, Berechnung. DieNatur nur mit Rationalismus verstehenzu wollen, hat seine Grenzen. Und dieNatur nur mit Schamanismus zu verste-hen, hat auch seine Grenzen. Aber diebeiden Extreme, technisches und tradi-tionelles Wissen, Wissenschaft und Scha-manismus zu kombinieren – das böteeine neue Synthese des menschlichenWissens. Lernen, mit indigenem Wissenzu arbeiten, das ist wie eine zweiteSprache zu lernen. Bikognitivismus istwie Zweisprachigkeit, schwierig, aberwertvoll. Denn er bietet einen anderenBlick auf die Welt.» ■

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