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1 DIE NEUE ORDNUNG begründet von Laurentius Siemer OP und Eberhard Welty OP Nr. 1/2007 Februar 61. Jahrgang Editorial Wolfgang Ockenfels, Der „streitbare“ Dominikaner Paul-Josef Cordes, Paradigmenwechsel für die Agenturen der Nächstenliebe Hans Braun, Darf man noch vom Sozialstaat reden? Hans-Peter Raddatz, Allah und die Juden. Stationen des islamischen Antisemitismus Bericht und Gespräch Stephan Georg Schmidt, „Ich selbst und mein Schöpfer“. Zur Newman-Forschung Harald Bergsdorf , Rechtsextreme Populisten im Fernsehen Ansgar Lange, Demokratie lädt zur Wahlenthaltung ein Andreas M. Rauch, Rudolf Freiherr von Breidbach-Bürresheim (1912-1945) Wolfgang Spindler, Kontinuitäten und Widersprüche im Denken Hans Barions Besprechungen Herausgeber: Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg e.V. Redaktion: Wolfgang Ockenfels OP (verantw.) Heinrich Basilius Streithofen OP † Bernd Kettern Redaktionsbeirat: Stefan Heid Martin Lohmann Edgar Nawroth OP Herbert B. Schmidt Manfred Spieker Rüdiger von Voss Redaktionsassistenz: Andrea und Hildegard Schramm Druck und Vertrieb: Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831 53708 Siegburg Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891 Die Neue Ordnung erscheint alle 2 Monate Bezug direkt vom Institut oder durch alle Buchhandlungen Jahresabonnement: 25,- € Einzelheft 5,- € zzgl. Versandkosten ISSN 09 32 – 76 65 Bankverbindungen: Sparkasse Bonn Konto-Nr.: 11704533 (BLZ 380 500 00) Postbank Köln Konto -Nr.: 13104 505 (BLZ 370 100 50) Anschrift der Redaktion und des Instituts: Simrockstr. 19 D-53113 Bonn Tel.: 0228/21 68 52 Fax: 0228/22 02 44 Unverlangt eingesandte Manuskripte und Bücher werden nicht zurückgesandt. Verlag und Redaktion übernehmen keine Haftung Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Nachdruck, elektronische oder photome- chanische Vervielfältigung nur mit Genehmigung der Redaktion http://www.die-neue-ordnung.de 2 4 15 23 45 52 57 63 71 76

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DIE NEUE ORDNUNG

begründet von Laurentius Siemer OP und Eberhard Welty OP

Nr. 1/2007 Februar 61. Jahrgang

Editorial Wolfgang Ockenfels, Der „streitbare“ Dominikaner

Paul-Josef Cordes, Paradigmenwechsel für die Agenturen der Nächstenliebe Hans Braun, Darf man noch vom Sozialstaat reden? Hans-Peter Raddatz, Allah und die Juden. Stationen des islamischen Antisemitismus

Bericht und Gespräch

Stephan Georg Schmidt, „Ich selbst und mein Schöpfer“. Zur Newman-Forschung Harald Bergsdorf, Rechtsextreme Populisten im Fernsehen Ansgar Lange, Demokratie lädt zur Wahlenthaltung ein Andreas M. Rauch, Rudolf Freiherr von Breidbach-Bürresheim (1912-1945) Wolfgang Spindler, Kontinuitäten und Widersprüche im Denken Hans Barions Besprechungen

Herausgeber: Institut für

Gesellschaftswissenschaften Walberberg e.V.

Redaktion:

Wolfgang Ockenfels OP (verantw.) Heinrich Basilius Streithofen OP †

Bernd Kettern

Redaktionsbeirat: Stefan Heid

Martin Lohmann Edgar Nawroth OP Herbert B. Schmidt

Manfred Spieker Rüdiger von Voss

Redaktionsassistenz:

Andrea und Hildegard Schramm

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Editorial

Der „streitbare“ Dominikaner Pater Basilius fehlt einem sehr. Vor allem als anregend provozierenden Streit-partner vermissen wir ihn. Er starb am 5. Dezember 2006 in „seinem“ Bonner Institut, plötzlich und unerwartet, wie es seine Art war. Einige pikierte Zeitge-nossen hielten ihn für einen bloßen Polemiker – und verkannten dabei die er-kenntnisfördernde Wirkung der Polemik, des fröhlichen Kampfes, des spieleri-schen Streits. Jedenfalls hat er mit seiner Kunst der Vereinfachung und Zuspit-zung keinen gleichgültig gelassen oder gar gelangweilt. Überdies kam er bereits mit dem Namen Streithofen zur Welt, und er legte großen Wert darauf, nicht Friedhofen zu heißen. Nun liegen seine sterblichen Überreste auf dem Mela-tenfriedhof zu Köln.

Der Tod war ihm vertraut von Kindesbeinen an. Am 20. Dezember 1925 in Hüls (bei Krefeld am Niederrhein) in einer mittelständischen Familie geboren, verlor er früh seinen Vater. Zu seiner Verwandtschaft gehörten Zeitungsverleger und Politiker, die sein starkes politisches Interesse geweckt haben mögen. Nach einer Lehre als Textilkaufmann diente er im Zweiten Weltkrieg als Fallschirmjäger, nicht bei der SS, wovor ihn seine katholische Mutter bewahrte. Nach Kriegsende besuchte er das Gymnasium und trat nach dem Abitur 1950 in den Dominikaner-orden ein. Er studierte an der Theologisch-Philosophischen Hochschule der Do-minikaner in Walberberg (bei Bonn) und wurde schon früh Mitarbeiter von Pater Eberhard Welty OP. Von 1958 bis 1962 wirkte er als Beichtvater und Prediger im Düsseldorfer Dominikanerkonvent. Von dort aus engagierte er sich bereits seelsorglich-politisch in der rheinischen CDU, journalistisch (er war Mitbegrün-der der rheinischen Gruppe katholischer Publizisten) und gewerkschaftlich. Sein Engagement für die „Chris tlichen Gewerkschaften“ brachte ihn jedoch in einen Konflikt mit Welty, der Befürworter der Einheitsgewerkschaften (DGB) war.

1962 wurde Pater Basilius zwangsweise nach Fribourg/Schweiz versetzt und begann unter der Betreuung von Arthur F. Utz OP mit einem Promotionsstudi-um, das neben der Sozialethik auch Volkswirtschaft umfaßte. Das Thema seiner Dissertation lautet: „Wertmaßstäbe der Gewerkschaftspolitik“ (1967). Auch während seines Fribourger Studienaufenthaltes wirkte Streithofen politisch und journalistisch. Wie alle Utz-Schüler wurde er vom großen Meister zum Skifahren angeleitet; Pater Basilius hat es aber nie richtig gelernt. Dennoch setzte Utz sei-nen Mitarbeiter - ein tüchtiger Organisator mit einflußreichen Verbindungen zu politischen, journalistischen und unternehmerischen Kreisen - 1967 als Ge-schäftsführer des „Instituts für Gesellschaftswissenschaften Walberberg“ ein. Pater Basilius setzte die Arbeit von Utz in einem eher praxisbezogenen Sinne fort. Vor allem wirkte er als Publizist, Organisator von Symposien und als politi-scher Berater der CDU. Durch seine Freundschaft mit Bruno Heck , dem Bun-desminister und Generalsekretär der CDU, gewann er in den siebziger Jahren

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auch Einfluß auf die CDU-Programmatik, besonders auf die Personalpolitik dieser Partei. Namentlich setzte er sich für Helmut Kohl ein und förderte dessen Karriere zum Bundeskanzler. Durch seine Medienpräsenz und –wirksamkeit gewann Pater Basilius, der kirchlich wie politisch als „konservativ“ galt, das Ansehen eines „streitbaren Paters“. 1983 übernahm Streithofen in neuer Trägerschaft des „Instituts für Gesell-schaftswissenschaften Walberberg“ die Redaktionsleitung der von den Domini-kanern Laurentius Siemer und Eberhard Welty gegründeten Zeitschrift „Die Neue Ordnung“. Er rettete sie damit vor dem Untergang. Im Orwell-Jahr 1984 mußte das Institut von Walberberg nach Bonn verlagert werden, und auch Pater Streithofen wohnte und wirkte seitdem in der damaligen Bundeshauptstadt, mit-ten im Regierungsviertel. Zum zweiten Mal war er „versetzt“ worden und wan-delte die Niederlage in einen Sieg. 1994 bekam er von Arthur F. Utz - nicht ohne Streit - den Vorsitz des „Instituts für Gesellschaftswissenschaften Walberberg“. Zahlreiche Vorträge, Publikationen und sonstige weitgespannte Aktivitäten zeichneten den unermüdlich aktiven Lebensstil von Pater Basilius aus. Vor eini-gen Jahren überstand er tapfer eine schwere Krankheit, aber sie hatte ihn stark gezeichnet. Zuvor schon, mit dem Regierungs- und Hauptstadtwechsel, waren seine Wirkmöglichkeiten erheblich eingeschränkt. Pater Basilius verstand sich als ein praktischer Interpret und Vermittler der Ka-tholischen Soziallehre - in der Tradition des Thomas von Aquin . Vielfach ge-schätzt wurde er als vertrauter Ratgeber und, meist unbemerkt, auch als Seelsor-ger und verläßlicher Freund, der vielen notleidenden Menschen - über Konfessi-ons- und Parteigrenzen hinweg - geholfen hat. Über vieles Bedrückende und Bedrohliche konnte er sich hinwegsetzen, und sein Humor hat viele Mutlose aufgerichtet und Verzweifelte getröstet. Bei allem gesellschaftlichen Engage-ment blieb er immer der väterliche Seelsorger, der um das Heil und Wohl der ihm Anvertrauten besorgt war. Seit fast vierzig Jahren leitete er die Geschicke des Instituts und prägte es auf seine kraftvoll überzeugende Weise nachdrück-lich. Zu seinem eigenwilligen Lebens- und Arbeitsstil paßt gut das Lied von Frank Sinatra : „I did it my way“. In Kirche und Politik gehörte er zu jener, in-zwischen fast ausgestorbenen Gattung der „starken Persönlichkeiten“. Er hatte noch viele Pläne - und manche Überraschungen parat. Hätte er eine ebenso schonungs- wie schamlose Autobiographie hinterlassen, die über das harmlos Anekdotische hinaus auch das vertraulich-politische Nähkästchen ge-öffnet hätte, wären ihm einige posthume Schlagzeilen sicher gewesen. Aber darauf hat er, der einfach zuviel wußte, bewußt verzichtet. Dafür schulden ihm Dank gerade jene, die sich von ihm distanzierten. Vielleicht war er einer der letzten profilierten Vertreter eines „politischen Katholizismus“ in Deutschland. So „streitbar“ und kämpferisch sich Pater Basilius gelegentlich in den Medien gab, so ging es ihm schließlich um das Gemeinwohl von Kirche, Staat und Ge-sellschaft. Deshalb gebührt ihm der Dank des Ordens, dem er in Treue angehör-te, und die Anerkennung einer Öffentlichkeit, die ihn vermissen wird.

Wolfgang Ockenfels

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Paul-Josef Cordes

Paradigmenwechsel für die Agenturen der Nächstenliebe?

Neue Akzente der Enzyklika „Deus caritas est“

Der eben beendete Besuch der Deutschen Bischöfe in Rom galt den Gräbern der ersten Apostel Petrus und Paulus sowie den verschiedenen vatikanischen Di-kasterien. Er betraf jedoch nicht weniger persönliche Gespräche mit Papst Bene-dikt XVI. Bei seiner Schlußansprache am 18.11.2006 faßte dieser seinerseits seine Beobachtungen und Impulse zusammen. Er unterstrich u. a. lobend die Großherzigkeit der Kirchen und ihrer Glieder seines Heimatlandes. Die deut-schen Katholiken haben ja einmal dank ihrer renommierten Hilfswerke überall in der Welt einen guten Ruf; sie können ferner nicht ohne Stolz darauf blicken, daß sie mit der Stiftung der CARITAS vor mehr als hundert Jahren für viele Ländern zum Schrittmacher wurden und in MISEREOR ein effizientes Modell des Kamp-fes gegen das Elend in der Welt entwickelten. Dieses Modell regte in Deutsch-land noch zu andern ähnlichen Initiativen an und wurde weltweit in manchen Regionalkirchen nachgeahmt.

Das Lob des Papstes darf nicht als wohlfeile captatio benevolentiae abgewertet werden. Kardinal Ratzinger stand als Präfekt der Glaubenskongregation in dem Ruf, in der Kirche vor allem auf die Orthodoxie zu achten, in seinen Weisungen und Publikationen das kirchliche Engagement für Armut und Gerechtigkeit aber wenig zu fördern. So erwartete man denn auch in reservierten Kreisen, daß sich seine erste große Glaubensunterweisung eher einer dogmatischen Streitfrage gewidmet hätte – eventuell der Verurteilung von Irrigem. Doch eine solche Ein-schätzung des neuen Papstes verkennt seinen pastoralen Realismus für die Füh-rung der Kirche und seine mitmenschliche Sensibilität.

„Deus caritas est – Gott ist die Liebe“ (DCE) überraschte darum manchen und belehrte ihn eines Besseren – vor allem wenn der generell programmatische Charakter der ersten päpstlichen Lehrschreiben bedacht wird: Der Papst zielt vor allem auf die Verkündigung Gottes, der das Beste des Menschen will. Mit sei-nem Pontifikat tritt er bewußt auf die Seite derer, die das Leben aller zu Frieden, Gerechtigkeit und Würde führen wollen.

Diese seine Absicht wurde auch bei andern Gelegenheiten wieder und wieder erkennbar. So beklagte er etwa gegenüber den Teilnehmern der 33. Konferenz der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisationen der Vereinten Nationen (FAO) am 24.11.2005 die Paradoxie, daß trotz der neuen und positiven Fort-schritte im Bereich der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Technologie eine ständig zunehmende Armut zu beobachten wäre. Gemeinschaften einheimischer Bevölkerung wären häufig profitbezogenen widerrechtlichen Aneignungen aus-

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gesetzt; sie zu beschützen, sei eine dringliche Aufgabe. Schauplätze gewaltsamer Konflikte, die von internationalen Organis ationen als „interne, ethnische oder stammesbedingte Auseinadersetzungen“ deklariert würden, und durch die Milli-onen von Menschen zu Hunger, ja zum Hungertod verurteilt würden, seien öf-fentlich anzuprangern. Ähnlich kritisierte er am Erntedankfest des letzten Jahres die „strukturellen, mit dem Steuerungssystem der Weltwirtschaft verbundenen Ursachen“ des Elends; sie seien zu beseitigen, „denn durch dieses System fällt die Mehrheit der Ressourcen des Planeten einem kleinen Teil der Bevölkerung zu“. Es sei nötig, „im Modell der globalen Entwicklung eine ‚Umkehr’ zu be-wirken“; das fordere „nicht nur der Skandal des Hungers, sondern auch die Not-stände der Umwelt und der Energieversorgung“ (12.11.2006).

Kultur des Helfens in der Ersten Welt

Offensichtlich haben bei Papst Benedikt Verkündigung und Tat der Liebe Rang. Die Kirche kann auf ihre Proklamation nicht verzichten, auch wenn ein engagier-ter Humanismus in unseren Tagen mindestens in der westlichen Welt fester Be-standteil unserer Kultur geworden zu sein scheint. Eine nicht neue Sensibilität hat offenbar an Verbreitung und Dichte zugenommen; denn immer schon wurde ja der Mensch durch die Bedrängnisse der Mitmenschen bewegt. Sie reagierte auf mannigfache Weise – entsprechend der Art des Mangels, dem abzuhelfen war: Hier setzte sich der Einzelne gegen Hunger und Ungerechtigkeit zu Wehr, dort sammelte man sich im Kampf gegen Naturgewalten und Seuchen. In den vergangenen Jahrhunderten vollzog sich menschlicher Beistand oft in der diskreten Betreuung von Kranken und Mittellosen. Später wurde die so prakti-zierte Nächstenliebe häufig zur gemeinschaftlichen Verpflichtung: Ihre materiel-len Aspekte übernahm die Gesellschaft, und für eine Zeit träumte die Allge-meinheit vom „Vorsehungsstaat“, in dem die Bevölkerung eines Landes sich solidarisch der irdischen Bedürfnisse aller annähme; totalitäre Regierungssyste-me hängen noch immer dieser Auffassung nach. Gewiß ist dem Staat letztlich das Wohl und Wehe seiner Bürger anvertraut; doch der „Vorsehungsstaat“ ist weder mit dem fundamentalen Hilfswillen von Einzel-nen und Gruppen noch mit einem heute allgemein akzeptierten Staatsverständnis in Einklang zu bringen. Auch widerspricht es einer gesunden Bestimmung von Beistand oder – besser – von menschlicher Würde, den oder die Mittellosen an fortwährende Versorgung zu gewöhnen und sie auf diese Weise zur Passivität zu verurteilen. Hilfe muß immer „Hilfe zur Selbsthilfe“ sein. Und inzwischen er-wuchs ein eindrucksvoller Kosmos unterschiedlichster Initiativen der Nächsten-liebe. Über die Volksgemeinschaft hinaus erreicht die Sorge um den Nächsten die Weltebene. Menschen schließen sich auf individuelle oder gemeinschaftliche Initiative hin zu Verbänden mit humanitären Zielen zusammen. Staatliche In-stanzen sekundieren beachtlich durch Subventionen und Steuervergünstigungen. Sie leisten maßgebliche Beiträge. Auch Wirtschaftskonzerne treten mit Wohltä-

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tigkeit und Spenden hervor. So übersteigt die Solidarität der Zivilgesellschaft die von Privatpersonen ansehnlich. Dabei wird auch das Mäzenatentum großer Unternehmen erkennbar, durch das diese humanitäre Aktionen betreiben und dabei u. U. in der Nebenabsicht auf die Werbung für ihren eigenen Namen zielen. Ferner formen sich Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO), die bei den verschiedenen Sekretariaten der Vereinten Nationen und anderen globalen Institutionen ihre sozial-politischen Interessen einbringen (lobbying) und sich gewöhnlich auch philanthropischen Aufgaben widmen.

Gemeinsames Ringen von Kirche, Staat und Gesellschaft

Nur mit Freude kann der Christ all diese Formen humanitären Beistands zur Kenntnis nehmen. Er vermutet, daß das Gebot der Nächstenliebe eine umfassen-dere Resonanz in den Herzen der Zeitgenossen gefunden hat als jede andere biblische Weisung. Freilich sind die Wurzeln philanthropischer Kultur oft ver-schattet und vergessen. Und vielleicht mag sogar der Glaubende selbst das Erbe aus dem Auge verloren haben, das ihn zur Anteilnahme am Schicksal des Näch-sten drängt. Die Pflicht zur guten Tat brauchte ja in der Vergangenheit für ihn kaum eine Begründung. In der kirchlichen Unterweisung galt der Imperativ der Liebe immer als mit dem Indikativ des Glaubens unmittelbar mitgemeint – als Kehrseite der Medaille. Lehramt und Theologie sahen sich nicht veranlaßt zu einer systematischen Darstellung der Caritas. Im Gegensatz zu dieser Gewohnheit hat das Vaticanum II erstmals in der Ge-schichte der konziliaren Erklärungen die Nächstenliebe thematisiert, indem es solche Aufgaben benannte, die ihr zuzuordnen sind (vgl. etwa LG 12, 46; GS 42, 69; AA 8, 31); es richtete also sein Augenmerk auf diese Seite der kirchlichen Sendung. Ferner scheint die Kirche dem erwähnten Zeitgefühl so vieler, die von der Not anderer betroffen sind, Rechnung tragen zu müssen – nicht zuletzt weil die Vielstimmigkeit des Chores der Gutwilligen sie drängt, sich ihres eigenen Parts zu versichern; sie möchte sich schließlich treu bleiben und nicht einfach ihre spezifische, ihr vorgegebene Melodie den energischeren Stimmen opfern. Solche Selbstbesinnung wird sie freilich nicht zur Abkapselung von anderen Institutionen verleiten. Sie ist gar nicht fähig, ohne Bundesgenossen aus anderen Lagern ihrem Auftrag zu genügen. Ihr Selbstverständnis nötigt sie, sich auf viel-fache Weise unterstützen zu lassen. Sie tut ihren Dienst am Menschen „mitten in der Welt“ (vgl. Jo 17,11).

Gesellschaft und öffentliche Strömungen beeinflussen die Kirche. Ihr Verhältnis zum Staat ist geprägt von Nähe und Abstand in einem „Ineinander von irdischem und himmlischem Gemeinwesen“ (GS 40). Dabei gilt in diesem Fall noch stärker als sonst, daß „Kirche“ für viele heute fast ausschließlich „kirchliche Organisati-on“, und „Staat“ einen Ausschnitt von Welt meint. Beide sind aufeinander ver-wiesen, und ihr Verhältnis ist nicht das einer schlichten Koexis tenz. Das gemein-same Ringen der beiden Instanzen zum Besten des Menschen gelingt im dialogi-schen Austausch der jeweils spezifischen Beiträge von Kirche und Staat – weder

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unter Vermischung der Kompetenzen noch in einfacher Trennung der Vollzüge. Die Forderung nach Zusammenwirken ist somit unausweichlich. Welt und Heilsgeschichte durchdringen sich fortwährend. Die Kirche wirkt mit dieser Welt. Sie kann sich nicht manichäisch ins „Jenseits“ verflüchtigen. Das legitimiert und nötigt sie, im öffentlichen Raum zu intervenieren. Darum nimmt sie auch hochbekümmert die „Strukturen der Sünde“, die „soziale Sünde“ und die „Situationen der Sünden“ wahr, wie sie Papst Johannes Paul II. in seinen verschiedenen Sozialenzykliken beklagt hat. Seine Redeweise war neu und über-raschte vielleicht, weil die Kirche sie aus der Welt übernommen hat. Doch die Wendungen des verstorbenen Papstes werden auch von der Heiligen Schrift bestätigt. Schon der Apostel Paulus lehrt uns, daß die Sünde wie eine umfassen-de Macht die Menschen in den Griff genommen hat (hamartia): Sie umgarnt das Herz aller Lebenden, und sie nutzt ihren bösen Einfluß auf dieses Herz, um sich unheilvoll auf die Dinge des täglichen Lebens, auf die Geschichte und sogar auf Natur und Schöpfung auszuwirken (vgl. Röm 5,12 ff.; 8,18ff).

Die Kirche beachtet demnach zu Recht bei ihrem Einsatz für den Menschen und seine Würde die Strukturen, in denen der Mensch lebt. Wie diese ihm zum Un-heil sein können, so mögen sie anderseits auch sein Heil beflügeln. Christen sollen folglich Initiativen setzen, die der Heillosigkeit entgegentreten und neue Ordnungen schaffen, die auch das Umfeld des Alltags bessern. So suchen wir die Nähe des Staates und gesellschaftlicher Kräften, gerade wenn Elend und auch Unrecht zu bewältigen sind. Personen und Agenturen tun sich zusammen, um in gemeinsamer Anstrengung der solidarischen Aufgabe nachzugehen. Oft sind eben Projekte eines einschneidenden Neuanfangs allein durch nicht-kirchliche Finanzierungen – diese allein bringen die Höhe des geforderten Betrags auf – zu erreichen. Im Miteinander von Kirche und Staat haben sich seit einigen Jahrzehnten neue Strukturen gebildet, in denen sich auch Katholiken zu sozialen Zwecken zusam-menschließen. Sie sind unter den Bezeichnungen „Nicht-Regierungs-Organi-sation“ oder „Internationale katholische Organisation“ ein fester Bestandteil des kirchlichen Kampfes für die Würde des Menschen und für soziale Gerechtigkeit. Ihre Träger übernehmen es – oft unter hohem persönlichen Einsatz – den Armen beizustehen und versuchen, aktuelle Notsituationen zu wenden. Sie weisen auf schreiendes Elend hin und mobilisieren private wie öffentliche Mittel.

Den Sinn christlichen Engagements kann unter Gutwilligen gleichfalls die Fru-stration verdunkeln. Es gibt außerhalb und innerhalb der Kirche wahrhaft groß-mütige Helfer, die unter dem Eindruck leiden, ihre Mühe habe denselben Effekt wie die des Sisyphos der griechischen Sage: Wie dieser immer neu einen Fels-block den Berg erfolglos hinaufwälzte, weil der Stein von diesem Gipfel wieder herunterrollte, so erscheint auch ihnen ihre Last des Beistands unnütz und aus-sichtslos. Statt von langsamem und ermüdendem Einsatz versprechen sie sich die Bewältigung der Misere ausschließlich vom gesellschaftlichen Umsturz; diesem gilt darum ihre Anstrengung. Andere zielen darüber hinaus auf lediglich mate-rielle Bedürfnisse. Oder sie lehnen die Kirche als ihren Partner „vor Ort“ ab, arbeiten vielmehr allein mit politischen Instanzen.

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Das christliche Spezifikum

Es verwundert nicht, daß die mindestens in der sogenannten Ersten Welt verbrei-tete Kultur des Helfens und die vielen Formen der Kooperation sich auf das kirchliche Engagement auswirkten. Die moderne Sicht des Menschen und die Art seiner Nöte, die Zielrichtung der Programme und die Methoden der Arbeit beeinflußten kirchliches Tun – oft keineswegs zu dessen Schaden. Dennoch sind bei aller Gemeinsamkeit auch die Kategorien festzuhalten, die die biblischen Wurzeln der Nächstenliebe unter Christen sichern. Weder ist das reiche Erbe eines Martin von Tours oder einer Elisabeth von Thüringen zu verschleudern, noch darf vergessen werden, daß der Glaube nicht nur für dieses, sondern auch für das künftige Leben Hoffnung bereithält. Bei der vielfältigen Kooperation mit andern gesellschaftlichen Kräften werden darum christliche Körperschaften und gläubige Einzelne naheliegende Allianzen nicht in unerleuchteter Einfalt suchen. Klugheit und Treue zu den eigenen Wur-zeln wird sie davor schützen, ihre Identität aufzugeben. Erst recht ist für jede Solidarisierung mit politischen Bewegungen und Parteien Vorsicht geboten. Auch wenn sich die Politik Sicherheit und Wohlfahrt der Bürger eines Staates zur Aufgabe macht, so mag doch ihre Beschreibung, „Streben nach Machtanteil oder Beeinflussung der Machtverteilung“ (Max Weber) zu sein, hellhörig ma-chen; in politischen Koalitionen sind darum kirchliche Gruppen besonders wach-sam, ihre eigenen Wurzeln und Ziele zu erhalten; andernfalls büßen sie ihre Kirchlichkeit ein.

Hier setzte nun der Papst bei seiner Schlußadresse an die deutschen Bischöfe seinen zweiten Schwerpunkt. Er beschränkte sich nämlich keineswegs auf die Bestätigung der großen kirchlichen Hilfswerke. Er insistierte auf deren Veranke-rung in der Heilsbotschaft. Einstieg ist ihm das bekannte Bekenntnis des Apo-stels Paulus: „Die Liebe Christi drängt uns“ (2 Kor 5,14). In ihm sieht Benedikt das „innere Prinzip der Hilfswerke berührt“; denn wenn die Gläubigen in Deutschland darangehen, den in Armut lebenden Menschen zu ihrem Recht auf die Güter der Welt zu verhelfen, sehen sie sich ja von der genannten selben Lie-be Christi bewegt und befähigt. Darum fordert Papst Benedikt dazu auf, „daß die Hilfswerke in ihren Programmen und Aktionen wirklich diesem inneren Impuls der vom Glauben gedrängten Liebe entsprechen“. Nicht zum ersten Mal hob Benedikt den genannten Aspekt für die kirchliche Hilfstätigkeit hervor. Schon während seiner jüngsten Reise nach Bayern versuch-te er, Kenntnisse des Fortschritts, Fertigkeiten, technisches Können und Lebens-qualität mit der Botschaft in Einklang zu bringen, die verkündet, daß letztlich erst Gott das Heil des Menschen ist. Darum solle kein Verantwortlicher der ka-tholischen Hilfsagenturen den Standpunkt vertreten, „die sozialen Projekte mü s-se man mit höchster Dringlichkeit voranbringen; die Dinge mit Gott oder gar mit dem katholischen Glauben seien doch eher partikulär und nicht so vordringlich“. Statt dessen müsse „die Evangelisierung vorangehen“ in der Überzeugung, „daß der Gott Jesu Christi bekannt, geglaubt, geliebt werden, die Herzen bekehren muß, damit auch die sozialen Dinge vorangehen“ (10.9.2006). Die Aktualität der

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päpstlichen Anweisungen ergibt sich zwingend aus dem beschriebenen philan-thropischen „Klima“, aus der unausweichlichen Bürokratisierung und dem um sich greifenden Säkularismus. Auch wenn sich die einzelnen Werke verschiede-nen Aufgaben – Hygiene, Nahrung, Wohnen, Bildung, Pastoral – widmen und nicht unterschiedslos allen alles aufgetragen ist, verdienen sie aufmerksames Bedenken.

Da ist einmal die Vielzahl der Hauptamtlichen, die diese Dimension kirchlicher Sendung realisieren: Gegen 500.000 Mitarbeiter sind allein der deutschen CA-RITAS zuzuzählen – ohne die Full-time-Angestellten der anderen genannten Werke zu erwähnen. Zum anderen spielt die hohe finanzielle Potenz der deut-schen katholischen Agenturen eine Rolle: Im Jahr 2005 standen ihnen nach dem Rechenschaftsbericht der Deutschen Bischofskonferenz für die Hilfe in aller Welt rund eine halbe Milliarde Euro zur Verfügung – ein stolzer Betrag, der anderseits für Geber und Empfänger eine Perspektive technisch-funktionaler Effizienz nahelegt.

Die Weisungen des Papstes dürften nicht nur innerhalb der katholischen Kirche Gehör finden. Sie werden auch andere christliche Hilfswerke stimulieren. Denn auch diese lassen sinnvoller Weise die Glaubenswurzeln nicht aus dem Blick. Dazu raten schon – warum sie unterschlagen? – die Werbungsspezialisten. Nach ihnen kann sich unter Marketing-Gesichtspunkten die Verbreitung eines „Pro-duktes“ nur verbessern, wenn mögliche Käufer die „Produzenten“ und ihre Un-ternehmensphilosophie wahrnehmen und von anderen Unternehmen unterschei-den können (Gesellschaft für strategisches Informations- und Kommunikations-management Abels und Grey, Düsseldorf). Demnach hätten die christlichen Agenturen innerhalb der Vielzahl der philanthropischen Initiativen, die sich glücklicherweise gegenwärtig der Not in der Welt annehmen, sogar ihrer gesell-schaftlichen Resonanz wegen ihrer Eigentümlichkeit inne zu werden und sie herauszustellen: ihre Verankerung in Gottes Menschenfreundlichkeit.

„Deus caritas est – Gott ist die Liebe“

Den definitiven Schlüssel gibt wohl erst die genannte Enzyklika dem, der ermes-sen möchte, warum der Papst die Hilfswerke so ostentativ an ihren Glaubens-grund bindet. In ihr wird der Kirche erstmals ein offizielles Lehrschreiben zur Nächstenliebe vorgelegt. Der heutige Papst fand noch aus der Zeit Johannes Pauls II. Entwürfe zu einer diesbezüglichen Verlautbarung vor, die dem einzel-nen Christen, den kirchlichen Gruppen und deren Organisationen die Sorge um den bedürftigen Nächsten nahelegte. Die Redaktionsgeschichte des Textes zeigt, daß sich Papst Benedikt nicht mit einer Ermunterung zur guten Praxis begnügen will. Er zielt, wie es ihm als Theologen entspricht, auf eine tiefere Durchdrin-gung dieser seit dem Urchristentum geübten Diakonie. Er knüpft an bei der gött-lichen Offenbarung, beginnt wie mit einem Paukenschlag und hebt zunächst die Wahrheit heraus, die selbstlose Anteilnahme am menschlichen Elend erst ermö g-licht: Definitives Heil kommt dem Menschen allein aus Gott durch dessen Sohn Jesus Christus. Seine Verkündigung ist, ohne den Menschen zu vergessen, ein-

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dringlich theozentrisch; besser: Er hält fest, daß für den Glaubenden erst das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe integrales Heil ermöglicht – ein Heil, das gegebenenfalls auch über den Tod hinaus dauert. Und das weltweite Echo auf seinen Text sowie die große Zustimmung – bis hin zur frontpage der „New-York-Times“ – belegen, daß der Ruf des römischen Bischofs die Herzen der Zeitgenossen erreichte.

Wer im Licht der Enzyklika Benedikts darüber nachdenkt, warum der Papst gegenüber seinen deutschen Landsleuten die Glaubenswurzeln für alle Nächsten-liebe betont hat, der entdeckt mehr als eine pastorale Direktive. Papst Benedikt nähert sich im Feld des Helfens einer Problematik, die bislang fast unartikuliert blieb: Er überschreitet Initiativen und Programme, um sich neben dem Helfen mit den Helfern zu befassen. Hier liegt eine Anregung, die nicht unterschlagen werden darf. Sie eröffnet eine neue Sicht auf den Kampf gegen die Not. Denn während die katholische Soziallehre, die bislang generell die Zielvorstellungen für die kirchliche Diakonie umriß, objektive Normen und damit sachliche Sol-lens-Vorstellungen formulierte, wendet sich Benedikt, planvoller und detaillierter als es bisher üblich war, nun auch noch den Handlungsträgern zu.

Grenzen rechtlicher Verpflichtung

Kirchliche Soziallehre möchte bekanntermaßen solche Strukturen und Akteure für das menschliche Zusammenleben heraufführen, die sittliches Ve rhalten er-möglichen und fördern. Dazu erfaßt sie gesellschaftliche Problemstellungen und stößt mit Hilfe von Maximen Lösungsversuche an. Sie tut das auf der Basis re-flektierter Prinzipien durch das Befragen der Vernunft und der christlichen An-thropologie. Als Frucht ihrer Verbreitung erwartet sie sich eine gerechtere ge-sellschaftliche Ordnung. Ihr Weisungssystem und die Promulgation auch von staatlichen Gesetzen sollen zu ihr beitragen; alles Recht zielt ja die Effizienz des formulierten Wollens und dessen Auswirkung auf die Realität an. Nicht in einem einzigen Kraftakt, sondern als „grundlegende Aufgabe jeder Generation“ (DCE 28). Denn ein ständig neues Aggiornamento muß sich der jeweiligen Gegenwart stellen. Recht ist erfahrungsgemäß ein sozialer Faktor erster Ordnung, der dem Indivi-duum und der Gesamtheit der Menschen auch erlaubt, vertrauensvoll die eigene Zukunft zu planen. Freilich bleiben Gesetz und Recht dem Ich äußerlich, und sie können außerdem die Freiheit und Autonomie der Person nur im empirischen Raum festlegen. Weil aber die kirchliche Soziallehre als normative Disziplin auf gesetzliche Regeln verwiesen bleibt, krankt sie unausweichlich an der Ein-schränkung und Relativierung, an der alle durch Gesetze angezielten Ordnungen leiden.

Drei Gründe sollen kurz genannt werden als Antwort auf die Frage, warum die Auswirkung von Gesetzen unvollkommen bleiben muß. Der erste – Soziologen bezeichnen ihn als „technischen“ Grund (Werner Stark) – besagt, daß die Ahn-dung des Fehlverhaltens ggf. auch unterbleiben kann: Nur die grobe und öffent-liche Mißachtung des Gesetzes wird von der Rechtsordnung aufgedeckt und

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durch Bestrafung zur Rechenschaft gezogen. – Der zweite besteht darin, daß allein äußerlich prüfbare Taten geboten werden können; auch wenn Denken und Fühlen durch das Gesetz tangiert sind, so bleibt doch ein inneres Anstreben des Gebotenen im Dunkeln und steht allein in der verborgenen, privaten Verantwor-tung des Herzens. – Schließlich hat die soziale Kontrolle meistens negativen Charakter: Verhalten aus Liebe ist definitionsgemäß kein Tun nach der Norm; was soziale Kodizes der Liebe nahelegen, läßt sich nicht einklagen. In ihrem Rechtscharakter und mit ihrer strukturellen Zielsetzung erfaßt die kirch-liche Soziallehre – so vollkommen sie sein mag – nicht primär den inneren Men-schen; sie greift zu kurz und ist unausweichlich unvollständig. Solche Ergän-zungsbedürftigkeit muß schon für die abstrakte Ebene der Wissenschaftstheorie festgehalten werden. Man kann sie noch weniger – und das ist bedeutsamer für das diakonische Engagement der Kirche – in Abrede stellen für all die, die sich in der organisierten Nächstenliebe engagieren und sich folglich selbst durch Arbeitsverträge u. ä. in das Feld kirchlicher Soziallehre berufsmäßig einordnen. Der angesprochene Mangel einer Orientierung am Recht allein affiziert demnach nicht nur die Umsetzung des Anspruchs von Christlichkeit im Helfen; auch wer sich professionell an ein Hilfswerk bindet, sieht sich für sein eigenes Engage-ment dieser Gefährdung ausgesetzt. Bei der Hinführung zum sittlichen Tun hat die Rechtsordnung – so läßt sich zusammenfassen – darum lediglich fragmentarische Effizienz. Gottes Offenba-rung ist hingegen in der Lage, uns zu einem tieferen Verständnis der Problematik zu führen. Sie spart für alle Gläubigen ja nicht mit Hinweisen darauf, daß die Paränese über das Pochen auf Gesetz und Recht hinauszuzielen hat und legalisti-sche religiöse Praxis nicht hinreicht. Klassisch drängen schon die alttestamentli-chen Propheten auf die sittlich-personale Entscheidung der Glieder Israels für Jahwe; der Gott Israels fordert mehr als eine äußerliche Befolgung der Kult-Gesetze.

Jesus Christus selbst verstand sich niemals als rabbinischen Gesetzeslehrer. Er wandte sich wieder und wieder gegen eine buchstabengerechte Observanz der religiösen Vorschriften. Beispielhaft sind die Antithesen der „Bergpredigt“ (vgl. Mt 5,1ff. parr.). Barmherzigkeit etwa oder Feindesliebe lassen sich eben nicht durch Gesetze verordnen. Auch wenn sie dringende Pflicht sind, lassen sie sich nicht kodifizieren. Letztlich muß das Herz eingeben, daß und wie sie zu üben sind. In diesem Sinne ist Jesus ein „Sittenlehrer“; er weist den Weg zur Verin-nerlichung des Gebotenen. Die Unvollständigkeit des Gesetzes mit dem Anspruch des Evangeliums zu ver-gleichen, verweist wohl auf einen „springenden Punkt“ für alles gläubige Enga-gement gegen die menschliche Not. Ihn zu erkennen setzt voraus, daß die An-weisung zur Nächstenliebe unter dem Gebot ständiger Interiorisierung steht: Die diakonische Sendung der Kirche kann sich nicht auf eine objektiv-sachhafte Präsentation ihres Gegenstandes beschränken; nur wenn sie beim Engagierten den inneren Menschen erreicht, wird sie ihrem Sinn gerecht. Die Schule der Nächstenliebe steht und fällt folglich mit ihrer spirituellen Dimension; d. h. ihre Leitlinien und deren Vermittlung sind noch unvollständig, wenn der spirituelle

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Impuls karitativer Lehre nicht aufscheint. Kirchliche diakonia ruft nach Kateche-se; letztere muß auch die gebotene Haltung in das Leben der Helfer umsetzen.

Für eine diakonale Spiritualität

Im zweiten Teil der Enzyklika finden sich manche Fingerzeige, die für die Vor- und Fortbildung der haupt- und nebenamtlichen Mitarbeiter des kirchlichen Dienstes am Notleidenden Beachtung verdienen; sie bringen die vom Thema „Liebe“ inspirierten Richtpunkte ein. Kennzeichnend ist für diese Aussagen des Papstes, daß die Sorge um den Mitmenschen „nicht mehr ein sozusagen von außen auferlegtes Gebot ist“ (31a); er will also einem legalistischen Miß-verständnis wehren. Auch läßt Papst Benedikt immer neu die praktisch-empi-rische Perspektive hinter sich und befaßt sich kaum mit einschlägigen soziologi-schen und psychologischen Ratschlägen; diese sind ja ohnehin generell akzep-tiert. Die zentralen Aussagen des Lehrschreibens entstammen nicht dem wissen-schaftlichen Diskurs, sondern der unmittelbar eingängigen pastoralen Alltags-sprache. Dennoch sind sie mehr als eine „Façon de parler“. Sie gelten einmal der Person des Nächsten, der Mangel leidet. Dieser brauche, wie es heißt, „mehr als eine bloß technisch richtige Behandlung“. Über sie hin-aus bedürfe er der „Menschlichkeit“, der „Zuwendung des Herzens“ (31a). Auch Glaubensverwurzelung und Gottverbundenheit sind für die Begegnung mit ihm gefragt. Oft fehle es nämlich an mehr als an Essen und Trinken, an Wohnung und Gesundheit, weil beim Notleidenden „gerade die Abwesenheit Gottes der tiefste Grund des Leidens“ sei (31c). Der Einsatz der Kirche gegen die Not in der Welt führt diese letztlich noch hin-aus über die Absicht, irdischem Elend zu wehren. Die Enzyklika gewinnt an einer Stelle apostolisch-missionarischen Elan. Beim Hinweis auf die „Volontäre“ beachtet sie die Chance, die karitativer Einsatz den Mitarbeitern für menschliche Reifung und für die Erziehung zur Selbstlosigkeit bietet. „Der Anti-Kultur des Todes … tritt damit die Liebe entgegen, die nicht sich selbst sucht, sondern ge-rade in der Bereitschaft des Sich-Verlierens für den andern (vgl. Lk 17,33 par.) sich als eine Kultur des Lebens erweist“(30b). Ein andermal ist von der „Vertei-digung Gottes“ gegen alle Versuche, „ohne Gott auszukommen“(31c), die Rede. Demzufolge hat der „Mitarbeiter jeder katholischen Organisation“ wohl Elend zu lindern, aber letztlich steht er unter dem Auftrag, „dafür zu arbeiten, daß sich die Liebe Gottes in der Welt ausbreitet“ (33). Aus diesen Vorgaben folgen nach dem Text des Papstes die Anforderungen an die Mitarbeiter der Diakonia – seien sie nun als Professionelle oder freiwillig angetreten; auch die angewachsene Administration hat je auf ihre Weise in den beschriebenen Horizont einzutreten. Auf die fachliche Qualität eines jeden Ein-satzes wird ohne Abstriche bestanden: Der Papst wünscht sich „zunächst berufli-che Kompetenz“. Doch es heißt auch, daß „sie nicht genügt“ (31a). Helfer brau-chen „neben der beruflichen Bildung vor allem Herzensbildung“. Die Enzyklika nennt die Frucht solcher Schulung in der unnachahmlichen Sprache des Papstes „ein ‚sehendes Herz’“ (31 a und b). Der Text scheut sich nicht, im Anspruch an

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den Helfer sehr weit zu gehen. Er fordert von ihm „Demut“ (35), damit die Gabe den Empfänger nicht erniedrigt; mehr noch: Das Wort des Papstes erwartet vom Helfer, dem Bedürftigen „nicht etwas von mir, sondern mich selbst zu geben“ (30b). Die relativ kurze Enzyklika enthält gleich zwei Nummern (36 und 37) zum Thema „Gebet“; sie können hier nicht referiert werden. Sie belegen aber einmal mehr das Gewicht, das Papst Benedikt der spirituellen Dimension der diakonalen Sendung der Kirche geben möchte. Mit den genannten theologischen Daten eröffnet die Enzyklika dem kirchlichen Helfer – ob inner- oder außerhalb der Agenturen – einen neuen Horizont des Selbstverständnisses. Sie lassen erkennen, daß nicht lediglich professionelle Effizienz zählt, wenn der Kampf gegen das Elend aufzunehmen ist. Mitarbeiter der kirchlichen Werke und freiwillige Helfer sind einer spezifischen „Philoso-phie“ eingeordnet, die im Sinne erfolgreichen Marketings die ganze Institution zu kennzeichnen hat. Mehr noch nötigt alle die Botschaft Jesu Christi, den Imp e-rativ des Einsatzes immer am Indikativ des Glaubens festzumachen. Die Liebe ist uns im Doppelgebot aufgetragen. Wir stehen unter dem ständigen Appell, uns selbst der Botschaft von Gottes Liebe zu öffnen; wir können uns nicht auf sach-haft-unpersönliches Anstreben der Ziele beschränken. Nur wenn unsere Absicht die Glaubensbelange einbezieht, wird sie uns als Helfern gerecht. Die selige Mutter Teresa von Kalkutta ist ein untrügliches Beispiel, daß solche Sensibilität nicht zu Lasten der Durchschlagskraft geht.

Paradigmenwechsel

Durch die Jahrhunderte hin fühlten sich in Deutschland eine Vielzahl von Or-densgemeinschaften dem Kampf gegen Armut und Elend verpflichtet. Annä-hernd 700.000 Männer und Frauen standen etwa im Jahr 1910 in diesem Dienst Christi. Sie hatten in ihrer Vorbereitung auf den Ordenseintritt und als Ordens-christen in der ständigen Begleitung eine verläßliche theologisch-spirituelle Be-gleitung. So waren sie gegen alle Versuchung gewappnet, ihre Arbeit allein pragmatisch-empirisch anzugehen. Die Nicht-Ordenschristen, die sich als Frei-willige ihnen oftmals anschlossen, erhielten Inspiration durch kraftvolle Glau-bensgestalten, ein prägendes Gemeinschaftsleben und entsprechende Zusammen-schlüsse. Heute stellt sich die Bewältigung menschlicher Not wesentlich komplizierter dar als in früheren Zeiten. Sie in Angriff zu nehmen, meint sich differenzierten Auf-gaben politischer, ökologischer, sanitärer, anthropologischer und administrativer Art zuwenden zu müssen. All das verlangt eine technisch korrekte Durchführung mit gediegener Vorbildung, der auch Kurse und Examen entsprechen.

Nichts desto weniger kann jedoch in unseren Tagen auf das Glaubensfundament und das christliche Zeugnis der Träger kirchlicher Liebestätigkeit verzichtet werden; es ist in der „Postmoderne“ keineswegs schlicht vorauszusetzen oder gar verzichtbar. Weil die diakonia zu den drei Grundsendungen der Kirche gehört, und wir – wie beschrieben – in die Kultur einer generellen Philanthropie einge-

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treten sind, nötigt sie zu einem neuen Aufbruch. Die Voraussetzungen für die Glaubensweitergabe und für die Verantwortung beim Gottesdienst – die anderen beiden kirchlichen Hauptaufgaben – wurden immer schon reflektiert und einge-fordert; zahlreich sind Überlegungen und Verlautbarungen etwa für die Weiter-gabe des Evangeliums in der Katechese; das Kirchenrecht formuliert klar die Bedingungen, unter denen Männer und Frauen mit liturgischen Funktionen be-auftragt werden können. Die neue Enzyklika lehrt, daß für den dritten Grund-dienst der Kirche, die Diakonia etwas Ähnliches ansteht. Papst Benedikt XVI. drängt die Glieder der Kirche selbstredend, sich wie bisher für den Kampf gegen die Not in der Welt einzusetzen, wirksame Ziele zu formu-lieren und deren Realisierung anzustreben. Gleichzeitig nimmt er beim Blick auf das Helfen einen Paradigmenwechsel vor: Angesichts einer gewandelten Welt muß zu Programmen und Projekten ein Zweites kommen: Die Personen, die im Namen der Kirche Zeugnis geben von der Liebe Gottes, sind vom Glauben her zu formen und zu prägen. Mit der Glaubensorientierung christlicher Helfer steht und fällt das Spezifikum im Kampf gegen die Not, das nur die Kirche der Menschheit anbieten kann. Den Hirten der Kirche kommt damit die Verantwor-tung zu, das fällige Curriculum zu erstellen. Die geschichtliche Vorreiterrolle genau wie die große Zahl der Engagierten legt gerade den deutschen Diözesen eine sensible Rezeption dieses päpstlichen Impulses nahe. In der deutschen Welt kirchlichen Sozialengagements ist Handlungsbedarf angesagt.

Erzbischof Dr. Paul-Josef Cordes ist Präsident des Päpstlichen Rates Cor unum in Rom.

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Hans Braun

Darf man noch vom Sozialstaat reden?

I. Der Sozialstaat als „kulturelle Leistung“

Bei der Verleihung des Oswald von Nell-Breuning-Preises der Stadt Trier an den früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt sagte dieser am 18. Oktober 2005: „Das 20. Jahrhundert hat zwei Weltkriege erlebt. Es hat Hitler und Stalin und Mao Zedong erlebt. Aber es hat auch den europäischen Wohlfahrtsstaat hervorge-bracht. Er ist in meinen Augen die bedeutendste kulturelle Leistung, welche die europäischen Nationen im Laufe des schrecklichen zwanzigsten Jahrhunderts zustande gebracht haben.“1 Nun ist der Terminus „Wohlfahrtsstaat“ in Deutsch-land häufig negativ besetzt, nämlich als ein Gebilde, das seine Bürger „von der Wiege bis zur Bahre“ betreut, damit aber auch bevormundet und in ihrer Freiheit beschränkt. So findet sich, Norbert Hinske zufolge, schon bei Kant eine War-nung vor dem Wohlfahrtsstaat mit seinem Paternalismus und ein Plädoyer für den Sozials taat.2 Nun sprach Helmut Schmidt in dem zitierten Passus zwar von Wohlfahrtsstaat, im weiteren Verlauf seiner Ausführungen war aber von Sozial-staat die Rede. Vor allem meinte er in der Sache das, was wir in Deutschland gewöhnlich unter Sozialstaat verstehen. Im internationalen Kontext ist die Unter-scheidung zwischen Wohlfahrtsstaat und Sozialstaat im übrigen weitgehend unbekannt.

II. Die Idee des Sozialstaats

Worin besteht nun aber die kulturelle Leistung des Sozialstaats? Sie besteht darin, daß einem ele mentaren Strukturprinzip menschlichen Zusammenlebens, nämlich der Solidarität, ein organisatorischer Rahmen gegeben wird, der den Lebensbedingungen in der modernen Gesellschaft entspricht.3 Gewiß ist auch für die Menschen in der modernen Gesellschaft die Solidarität, die sie in der Fami-lie, im Freundeskreis oder bei ehrenamtlichem Engagement erfahren, nach wie vor von existenzieller Bedeutung. Und diese Form der Solidarität wird auch nicht durch die organisierte Solidarität des Sozialstaats ersetzt werden können. In diese Richtung nur zu denken, wäre schon im Ansatz verfehlt. Wohl aber kann sozialstaatlich organisierte Solidarität dazu beitragen, daß vorgelagerte Formen der Solidarität auf für die Beteiligten verläßliche Weise praktiziert werden kön-nen. Wenn die alten Eltern nicht mehr in dem Maße, wie es in vergangenen Jahr-hunderten der Fall war, wirtschaftlich von ihren erwachsenen Kindern abhängig sind, und wenn diese erwachsenen Kinder wiederum nicht bei allem, was sie tun, überlegen müssen, wie sich dies auf die Versorgung ihrer alten Eltern auswirkt, dann trägt dies sicherlich auch zur Entspannung der Beziehungen zwischen den Generationen bei.

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Die sozialstaatlich organisierte Solidarität manifestiert sich vor allem in den Bereichen Einkommenssicherung und Gesundheit. Dazu kommen die Bereiche Wohnen und Bildung. Durch ein staatliches Engagement in diesen Bereichen wird gewiß nicht die conditio humana verändert – ein Anspruch, den manche Kritiker den Befürwortern des Sozialstaats unterstellen. Wohl aber trägt der Sozialstaat mit seinen Institutionen und Programmen dazu bei, daß eine Diagno-se wie die von Thomas Hobbes, das Leben sei „nasty, brutish, and short“ in ihrer Geltung abgeschwächt wird.4 Der Sozialstaat kann kein Wohlbefinden garantie-ren. Wohl aber eröffnet er dadurch, daß er ein gewisses Maß an sozialer Siche-rung bietet, breiten Bevölkerungskreisen die Chance größerer Selbstbestimmung bei der Gestaltung des eigenen Lebens. Eine andere Funktion des Sozialstaats besteht darin, den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft zu sichern. Diether Döring sieht hierin geradezu die „Kernauf-gabe jeder Sozialstaatspolitik“.5 In Deutschland wird diese Aufgabe traditionell unter Beteiligung der freien Wohlfahrtspflege erfüllt – ein alles in allem bewähr-tes Modell.6 In der Vergangenheit stärkte der Sozialstaat den inneren Zusam-menhang der Gesellschaft vor allem dadurch, daß er massenhafte soziale Exklu-sion, nämlich die Exklusion der Arbeiterschaft, verringerte durch die Inklusion dieser Bevölkerungsgruppe in Systeme der sozialen Sicherung. Dies gilt im übri-gen nicht nur für das 19. Jahrhundert und den Umgang mit der drängenden Ar-beiterfrage. Die Exklusion verringernde Wirkung des Sozialstaats läßt sich auch in der Geschichte der Bundesrepublik feststellen. Angesichts der gewaltigen gesellschaftlichen Probleme, die auf der 1949 gegründeten Bundesrepublik laste-ten7, ist aus heutiger Sicht festzustellen: Das mit der sozialen Marktwirtschaft verbundene System der sozialen Sicherung trug entscheidend zur Akzeptanz des neuen Staatswesens und letztlich zum sozialen Frieden bei. Und dieser soziale Friede war wiederum ein nicht zu unterschätzender Standortvorteil der Bundes-republik im internationalen Wettbewerb. Der Historiker Josef Mooser stellte dazu schon vor Jahren fest, der in den 50er Jahren einsetzende Ausbau des Sozi-alstaats sei der „am eindeutigsten politisch zurechenbare Faktor in der Lage der Arbeiter in den vergangenen 100 Jahren und wohl die hauptsächlichste Quelle ihrer Loyalität zum politischen System der Bundesrepublik“.8

III. Unbefriedigende Antworten auf zentrale Herausforderungen

Wenn seine Wirkungen alles in allem positiv waren, wie konnte es dann aber dazu kommen, daß der Sozialstaat so in Verruf geraten ist? In gewissen Kreisen gehört es ja geradezu zum guten Ton, über die negativen Seiten des Sozialstaats zu diskutieren oder ihn gar als den Ausdruck einer gesellschaftlichen und polit i-schen Fehlentwicklung schlechthin zu betrachten. Eine eigene Spezies sind dabei die gut besoldeten Sozialstaatskritiker im Beamtenverhältnis auf Lebenszeit. Sie beklagen gerne ein überzogenes Sicherheitsdenken und eine unersättliche Be-gehrlichkeit der Bürger, erheben aber gegen jeden Beihilfebescheid Einspruch, weil sie der Auffassung sind, ihnen stünden ein paar Cent mehr zu.

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Nun gibt es natürlich genug Gründe, Kritik am Sozialstaat zu üben – wie an jedem anderen Staatstyp auch. Und solche Kritik liegt insbesondere in einer Situation nahe, in der eine gewisse Hilflosigkeit der Politik unübersehbar ist, mit Konzepten, die über den Tag hinaus Bestand haben, auf die heutigen Herausfor-derungen zu reagieren. Dabei geht es insbesondere um vier Herausforderungen. 1. Eine erste Herausforderung stellt die demographische Entwicklung dar. Nahe-zu alle entwickelten Länder sind, natürlich in unterschiedlichem Maße, mit der Tatsache konfrontiert, daß im Zusammenspiel von sinkenden Geburtenraten und steigender Lebenserwartung der Anteil der alten Menschen – die political cor-rectness würde eigentlich verlangen, von Senioren zu sprechen – an der Gesamt-bevölkerung wächst. Setzt man Alter mit der Nichtbeteiligung am Erwerbsleben und damit dem Fehlen von Erwerbseinkommen gleich, dann bedeutet dies, daß die Aufwendungen für die wirtschaftliche Sicherung dieser in ihrem Umfang zunehmenden Bevölkerungsgruppe wachsen müssen. Dies wirkt sich bei umla-genfinanzierten Systemen unmittelbar als steigende Belastung derjenigen aus, die im Erwerbsleben stehen – es sei denn, man kürzt die Renten. Bei kapitalge-deckten Systemen ist dieser Zusammenhang abgeschwächt, längerfristig bleiben aber auch diese Systeme vom demographischen Wandel nicht unberührt.

Neben dem System der Alterssicherung ist auch das System der Gesundheitsver-sorgung von der demographischen Entwicklung betroffen. Es ist nun einmal eine nicht zu leugnende Tatsache, daß Menschen mit steigendem Alter vermehrt me-dizinische Leistungen in Anspruch nehmen. Mit der Zunahme der Zahl der Hochbetagten wächst zudem auch der Bedarf an ambulanten Betreuungs- und Pflegediensten sowie an entsprechenden teilstationären und stationären Einrich-tungen. Zwar ist Alter nicht von vornherein gleichbedeutend mit Hilfe- oder Pflegebedürftigkeit, doch wächst mit steigendem Alter die Wahrscheinlichkeit, auf die Hilfe und Pflege durch andere angewiesen zu sein.9

2. Unter Druck gerät der Sozialstaat auch aufgrund der Entwicklung am Ar-beitsmarkt. In den hohen Arbeitslosenzahlen spiegeln sich noch immer die Fol-gen des Zusammenbruchs der Wirtschaft in der ehemaligen DDR und die da-durch notwendig gewordene Anpassung von Unternehmen und Arbeitskräften an neue Gegebenheiten wider. In den Zahlen kommen aber auch die Folgen eines seit mehr als zwei Jahrzehnten zu beobachtenden Prozesses zum Ausdruck, bei dem sich der Sockel an Arbeitslosen von einer wirtschaftlichen Krise zur näch-sten erhöhte. Die Langzeitarbeitslosigkeit nimmt in Deutschland wie auch in unseren Nachbarländern zu. Der Gefahr, arbeitslos zu werden oder arbeitslos zu bleiben, sind besonders Menschen ohne Berufsausbildung, solche im fortge-schrittenen Lebensalter und solche mit gesundheitlichen Einschränkungen ausge-setzt. 3. Belastungen erwachsen dem Sozialstaat weiterhin aus der zunehmenden Indi-vidualisierung der Lebensgestaltung bei gleichzeitiger Prekarisierung der Le-bensverhältnisse. Die Individualisierung der Lebensgestaltung führt unter ge-samtgesellschaftlicher Betrachtung zu einer Vielzahl von gleichzeitig nebenein-ander bestehenden Lebensformen, eben zu der in den Sozialwissenschaften hin-länglich betrachteten Pluralisierung der Lebensstile. In diesem Prozeß der Plura-

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lisierung geht der Anteil der „Normalfamilien“ zurück, die Zahl der Alleinerzie-henden steigt, nichteheliche Lebensgemeinschaften gewinnen an Akzeptanz, die Zahl der Alleinlebenden wächst. Dies muß nicht notwendigerweise zu einer Isolierung des einzelnen und zum Rückgang wechselseitiger Unterstützung füh-ren. Wohl aber kann die Erfüllung von Aufgaben, die traditionell mit der Le-bensform „Familie“ verbunden war, nicht mehr mit der gleichen Selbstverständ-lichkeit erwa rtet werden, wie noch vor 40 oder 50 Jahren. Zusammen mit der Zunahme von befristeten Arbeitsverhältnissen, von Zeitarbeit und von Schein-selbständigkeit führt die Individualisierung der Lebensgestaltung dazu, daß bei immer weniger Menschen von einer „Normalerwerbsbiographie“ gesprochen werden kann. Unter diesen Umständen kann ein System der Alterssicherung, das an die kontinuierliche Erwerbsbeteiligung gebunden ist, seine Sicherungsfunkti-on nicht mehr erfüllen. 4. Schließlich ist als vierter Faktor in diesem Zusammenhang die Globalisierung zu nennen. Aufgrund einer dramatischen Verringerung von Transaktionskosten, insbesondere von Transportkosten und Kommunikationskosten, kommt es zu einem verstärkten internationalen Wettbewerb. Es ist dies ein Wettbewerb um die Attraktivität von Standorten. Dabei spielen neben Faktoren wie natürliche Ressourcen und Verkehrsanbindung auch die staatliche Regulierungsdichte und die Lohnkosten eine Rolle. Und hier scheinen entwickelte Sozialstaaten zunächst einmal im Nachteil zu sein. Allerdings ist bei der Standortdiskussion zu beden-ken, daß es neben Faktoren wie Verkehrsinfrastruktur und Lohnkosten auch „weiche“ Standortfaktoren gibt. In diesem Sinne sprach der amerikanische Öko-nom Dani Rodnik schon vor zehn Jahren davon, daß es eher die institutionelle Ausstattung einer Gesellschaft (domestic institutions) sei, die Einfluß auf Inve-stitionsentscheidungen habe, als Arbeitskosten oder Steuern. Zu der Qualität der Institutionen zählte er Rechtsstaatlichkeit, „good governance“, soziale und politi-sche Stabilität, eine angemessene Infrastruktur und eine ausgebildete Arbeitneh-merschaft.10 Dennoch, und dies ist nicht zu bezweifeln, setzt natürlich die Globa-lisierung den Sozialstaat unter Druck – und sei es auch nur in der Form, daß „Globalisierung“ als Waffe im öffentlichen Diskurs benutzt wird. Ohne Zweifel hat diese Waffe zu einem Meinungsklima beigetragen, das Michael Stolleis so charakterisiert: „Plötzlich erscheint vielen das ‚Soziale’ als parasitäre Schling-pflanze am Baum des Bruttosozialprodukts, die man herunterreißen oder doch wenigstens beschneiden muß.“11

IV. Strukturprobleme

Zu den exogenen Herauforderungen, welche Zweifel an der Problemlösungsfä-higkeit des bisherigen Sozialstaatsmodells nähren, kommen nun noch endogene Probleme. 1. Da ist zunächst einmal die Tatsache, daß Sozialpolitik Teil des gesamten poli-tischen Prozesses ist. Über die Gewährung von sozialen Leistungen kann man Wählerstimmen gewinnen. Umgekehrt riskieren Parteien den Verlust von Wäh-lerstimmen, wenn sie sich dafür einsetzen, daß Sozialleistungen zurückgeschnit-

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ten werden. Dies führt dazu, daß die großen Parteien oftmals vor grundlegenden Reformen zurückschrecken. 2. Ein zweites strukturelles Problem resultiert aus den – gut gemeinten – Bestre-bungen, Leistungen möglichst zielgenau und auf die Lebensbedingungen der Menschen abgestimmt zu erbringen. Gerade wenn die Leistungen aber immer spezifischer werden, wird es als besonders problematisch empfunden, wenn sie aus der Sicht der Adressaten letztlich doch nicht auf ihre besondere Situation passen. Die Differenzie rung von Leistungen führt weiterhin dazu, daß das Sozi-alleistungssystem immer weniger durchschaubar wird. Die Intransparenz eines für die Menschen so wichtigen Systems wie des Sozialleistungssystems hat aber Gefühle der Unsicherheit bei den Bürgern zur Folge. Das heißt in letzter Konse-quenz, daß ein von seiner Zielsetzung her auf die Herstellung von Sicherheit, nämlich von sozialer Sicherheit, angelegtes System wiederum Unsicherheit er-zeugt. Man könnte hier von Unsicherheit zweiter Ordnung sprechen. Gleichzeitig verstehen es „Forderungsexperten“, für sich Vorteile aus dem System herauszu-holen, die der Mehrzahl der Bürger angesichts der Komplexität der Systeme nicht zugänglich sind. Auch dies wird von den Menschen als fehlende soziale Gerechtigkeit angesehen.

V. Wandel zur Erhaltung der Substanz

Ist der Sozialstaat also doch am Ende? Sollten wir vom Sozialstaat am besten nicht mehr reden, oder allenfalls in dem Sinne, daß es sich um ein historisches Phänomen handelt? Die Antwort: Wir sollten auch weiterhin vom Sozialstaat reden, nämlich als Träger organisierter Solidarität, worin ja letztlich seine „kultu-relle Leistung“ besteht. Mit seinen Institutionen und Programmen gibt der Sozi-alstaat für die Menschen in den meisten entwickelten Ländern einen Rahmen ab, in dem sich individuelle Lebensentwürfe entfalten und persönliche Beziehungen losgelöst von direkten ökonomischen Abhängigkeiten entwickeln können. Inso-fern kann dem Sozialstaat eine freiheitsfördernde Funktion zugeschrieben wer-den. Der Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio formulierte dies so: „Soziale Sicherheit ist ein gutes Stück weit eine Voraussetzung, um als Person nicht nur im formellen Sinn ‚frei’ genannt zu werden, sondern sich in seiner Freiheit auch bewähren zu können.“12

Allerdings kann durch sozialstaatliche Entwicklungen Freiheit auch beschnitten werden. Etwa wenn der Sozialstaat, weil seine Repräsentanten zu wissen glau-ben, was für die Bürger gut ist, unmittelbar in deren Lebensalltag eingreift. Dies verbinden wir Deutschen im übrigen gewöhnlich mit der Vorstellung vom Wohl-fahrtsstaat. Verlust von Freiheit kann auch dadurch entstehen, daß Menschen Freiheit selbst aufgeben, indem sie sich gleichsam in sozialstaatlichen Systemen einnisten und sich auf den Konsum sozialstaatlicher Leistungen spezialisieren. Wird dies zu einer massenhaften Erscheinung, dann wird der Sozialstaat unwei-gerlich überstrapaziert. Und er wird es dann umso mehr, wenn politische Partei-en versuchen, mit Sozialleistungen ihre Klientel zu bedienen, um sich deren Wählerstimmen zu sichern.

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Indessen ist das Einwerben von Wählerstimmen durch die Expansion von Sozial-leistungen schon seit längerem vorbei. Heute geht es darum, sich politische Un-terstützung dadurch zu verschaffen, daß man notwenige Umstrukturierungen von bestimmten Gruppen möglichst lange abwendet. Dies ist freilich kein spezifi-sches Problem des Sozialstaats, sondern erfährt in diesem lediglich eine eigene Ausprägung. Mitunter hat es zudem den Anschein, daß Politiker die Einsicht der Bürger in die Notwendigkeit von Umstrukturierungen unterschätzen. Nicht sel-ten geht der Unmut der Bürger darauf zurück, daß Umstrukturierungen nicht angemessen kommuniziert wurden. Was die Bürger nämlich sehen wollen, ist, welcher Logik die Einschnitte folgen, die sie treffen. Und sie wollen sehen, in welchem Verhältnis diese Einschnitte zu den Einschnitten bei anderen Gruppen stehen. Was aber sind die Strukturentscheidungen, die getroffen werden müssen, um den Sozialstaat als Rahmen organisierter Solidarität zu erhalten? Es geht vor allem um fünf Strukturentscheidungen. 1. Zunächst einmal geht um die stärkere Abkoppelung der Mittelaufbringung vom Arbeitsverhältnis, um die Arbeitskosten nicht weiter ansteigen zu lassen. Das heißt, daß soziale Sicherung zukünftig stärker als heute finanziert wird durch die Einbeziehung verschiedener Einkommensarten und in manchen Berei-chen auch über das Steuersystem. In diesem Zusammenhang, darin sind sich die meisten Ökonomen einig, wird es auch darum gehen, das dominierende Umlage-verfahren durch kapitalgedeckte Systeme sowie durch individuelle Vorsorge zu ergänzen. Letzteres ist natürlich nur dann möglich, wenn die Menschen die ent-sprechenden Mittel dazu haben, was im konkreten Fall eben auch heißen kann, daß individuelle Vorsorge bis zu einem gewissen Grad subventioniert wird.

2. Zweitens ist sicherzustellen, daß bei der Gewährung von Leistungen an heuti-ge Generationen berücksichtigt wird, welche Lasten dadurch zukünftigen Gene-rationen aufgebürdet werden. Wolfgang Prisching zufolge lebt die heutige Ge-sellschaft nämlich „in mancher Hinsicht von einer unverschämten Ausbeutung der Kinder- und Enkelgeneration“.13 Was die Verteilung der Lasten auf die Ge-nerationen anbelangt, so stehen heute etwa in Gestalt der „Generationenbilanzie-rung“ durchaus Instrumente zur Verfügung, welche die Belastung zukünftiger Generationen sichtbar machen. Erforderlich ist der politische Wille, diese In-strumente bei der Entscheidung über die Neujustierung bestehender und die Einführung neuer Sozialleistungen auch tatsächlich einzusetzen.

3. Drittens sind sowohl die Mittelaufbringung als auch die Leistungsprogramme einfacher und damit transparenter zu gestalten. Sicherlich wird man auf diese Weise dem Einzelfall weniger gerecht als mit differenzierteren Programmen. Doch auch differenzierte Programme werden immer hinter der noch differenzier-teren Wirklichkeit zurückbleiben und vor allem denen zugute kommen, welche etwa als Angehörige höherer Statusgruppen über ein besseres Wissen verfügen. Alles in allem dürfte die „Ungerechtigkeit“, die durch einfache Lösungen ent-steht, geringer sein als die „Ungerechtigkeit“, die aus differenzierten Lösungen dadurch erwächst, daß vor allem „Forderungsexperten“ davon profitieren. Dies gilt im übrigen auch für das Steuersystem.

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4. Viertens geht es darum, die Bereitschaft der Bürger zu erhalten, solidarisch zur Aufbringung der Mittel für sozialstaatliche Leistungen beizutragen. Das bedeutet, und dies ist in manchen Kreisen ein sehr unpopulärer Gedanke, daß diejenigen, welche durch ihre Beiträge und Steuern Sozialleistungen finanzieren, sehen, daß auch die Empfänger solcher Leistungen bereit sind, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten an der Sicherung ihres Lebensunterhalts zu beteiligen. Hier liegt auch das eigentliche Problem dessen, was in den letzten Jahren als Sozial-hilfemißbrauch diskutiert wird. Es ist, bislang zumindest, nicht die Höhe, in der Sozialleistungen unberechtigterweise in Anspruch genommen werden. Es ist die Tatsache an sich. Denn jeder bekannt gewordene Fall von Mißbrauch trägt dazu bei, daß die Be reitschaft von Beitrags- und Steuerzahlern schwindet, sich mit den Benachteiligten der Gesellschaft solidarisch zu zeigen.14 Diese Gefahr wird der-zeit in unverantwortlicher Weise unterschätzt. 5. Schließlich geht es um die Anerkennung der Tatsache, daß zu einer über den Tag hinausreichenden Sozialstaatspolitik Investitionen in Bildung gehören. Da-mit sind nicht nur Exzellenzinitiativen im Hochschulbereich gemeint. Es geht auch und vor allem um Bildungsmaßnahmen im schulischen und beruflichen Bereich. Wenn die Diskussion um eine neue Unterschicht eines gezeigt hat, dann das, daß unzureichende schulische Bildung und fehlende Berufausbildung ent-scheidend zur Verfestigung von prekären Lebenslagen beitragen. Mit Modellen zur gezielten schulischen und beruflichen Förderung von jungen Menschen aus sozial schwachen Milieus werden wir nicht das Problem aus der Welt schaffen, daß nicht alle den Anforderungen unserer modernen Gesellschaft gerecht wer-den. Wohl aber läßt sich dieses Problem reduzieren.

Die zu lösenden Aufgaben sind gewiß nicht einfach – als einzelne nicht und in ihrer Gesamtheit schon gar nicht. Und die Widerstände sind unübersehbar. Wie Umfragen zeigen, ist die Akzeptanz des Sozialstaats in der Bevölkerung aller-dings immer noch hoch. Dies mag zum Teil in nach wie vor bestehenden unrea-listischen Vorstellungen von dessen Leistungsfähigkeit begründet sein. Wichti-ger dürfte aber ein Zusammenhang sein, auf den Wolfgang Zapf schon vor zwei Jahrzehnten verwies, daß nämlich Menschen dann eher Risikobereitschaft zeigen und zu der heute unverzichtbaren Flexibilität bereit sind, wenn sie auf ein gewis-ses Maß an Daseinssicherheit zählen können.15 Und solche Daseinssicherheit erwartet man eben vom Sozialstaat. Wer aber will, daß dieser Sozialstaat in sei-ner Substanz erhalten bleibt, der muß zu weitreichenden Änderungen an seinen Formen bereit sein. Solche Änderungen in praktikable Konzeptionen zu gießen und diese verständlich zu kommunizieren, ist gewiß mühsam. Es ist aber, und dies könnte man auch als gute Nachricht für Politiker und Wissenschaftler anse-hen, auch nicht langweilig!

Anmerkungen 1) Helmut Schmidt: Dankrede anläßlich der Verleihung des Oswald-von-Nell-Breuning-Preises am 18. Oktober 2005. In: Neues Trierisches Jahrbuch. 46. Band. Trier 2006, S. 243.

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2) Norbert Hinske: Kants Warnung vor dem Wohlfahrtsstaat und sein Plädoyer für den Sozialstaat. In: Maximilian Wallerath (Hrsg.): Fiat iustitia. Recht als Aufgabe der Ver-nunft. Festschrift für Peter Krause zum 70. Geburtstag. Berlin 2006, S. 627-637. 3) Siehe hierzu Hans Braun: „Und wer ist mein Nächster?“ Solidarität als Praxis und als Programm. Tübingen 2003, S. 15-19. 4) Thomas Hobbes: Leviathan or the Matter, Forme & Power of Commonwealth, Ecclesi-astical and Civill. Herausgegeben von A. R. Waller. London 1904, S. 84. 5) Diether Döring: Der verlorene Charme des Sozialstaats. Ein Vergleich der verschiede-nen europäischen Strategien und ihrer Auswirkungen auf die Beschäftigung. In: Frankfur-ter Allgemeine Zeitung, 5. August 2006, Nr. 180, S. 13. 6) Siehe Hans Braun: Die Wohlfahrtsverbände im Markt sozialer Dienstleistungen. In: Die Neue Ordnung, 4/1997, S. 259-268. 7) Siehe hierzu Hans Braun: Das Streben nach „Sicherheit“ in den 50er Jahren. Soziale und politische Ursachen und Erscheinungsweisen. In: Archiv für Sozialgeschichte. XVIII. Band, Bonn 1978. S. 283-288. 8) Josef Mooser: Abschied von der „Proletarität“. Sozialstruktur und Lage der Arbeiter-schaft in der Bundesrepublik in historischer Perspektive. In: Werner Conze, M. Rainer Lepsius (Hrsg.): Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Konti-nuitätsproblem. Stuttgart 1983, S. 163. 9) Siehe hierzu Hans Braun: „Lebensqualität“ im Alter. Gesellschaftliche Vorgaben und individuelle Aufgaben. In: Die Neue Ordnung, 4/2003, S. 251 f. 10) Dani Rodrik: Upside. Downside. The benefits of globalization could be jeopardized if governments fail to address the problems it engenders. In: Time, 7. Juli 1997, S. 41. 11) Michael Stolleis: Armut und Reichtum in der Industriegesellschaft. In: Nachrichten-dienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 2/2006, S. 74. 12) Udo di Fabio: Das bedrängte Drittel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Oktober 2006, Nr., 251, S. 8. 13) Manfred Prisching: Der Sozialstaat in Turbo-Zeiten. In: Alexandra Caster, Elke Groß (Hrsg.): Sozialpolitik im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft. Festschrift für Hans Braun. Frankfurt 2001, S. 31. 14) Siehe Hans Braun: Zwischen Spontaneität und Organisation: Probleme der Solidarität in der modernen Gesellschaft. Reden an der Universität Trier. Trier 2004, S. 19. 15) Siehe Wolfgang Zapf u.a.: Individualisierung und Sicherheit. Untersuchungen zur Lebensqualität in der Bundesrepublik Deutschland. München 1987.

Prof. Dr. Hans Braun lehrt Soziologie an der Universität Trier.

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Hans-Peter Raddatz

Allah und die Juden

Historische Stationen des islamischen Antisemitismus

I. Judentum und Zeitenwende

Seit es das Volk Israel gibt, verknüpfte sich seine Existenz so grundlegend mit Jahwes geschichtlichem Wirken und seinen prophetischen Kräften, daß es auch den Eliten unmöglich wurde, sich vom Interesse des Volkes zu distanzieren. Immer dann, wenn sie es dennoch taten, wenn sie die Glaubenspraxis veränder-ten oder in den Lauf der Geschichte eingriffen, nahmen sie negative Folgen in Kauf, die – je nach Tragweite – bis an die Existenz selbst gingen. Mit anderen Worten: Jüdisches Denken und Handeln sind im Interesse des eigenen Könnens und Vorteils frei, bedürfen aber im Interesse der Gemeinschaft und ihres prak-tisch gelebten Glaubens der ständigen Selbstbesinnung und Selbstbefragung – also des Gewissens. Das babylonische Exil hatte diesen Kontext eindrucksvoll bestätigt. Unter denk-bar größtem Druck, sublimiert durch die Propheten, erreichten das Gottesbild und der Glaube daran neue Stufen der Abstraktion. Das Heilige und die Gegen-wart Gottes weiteten sich in eine grenzenlose Qualität aus, die die Bindung des Volks an das Land aufhob und dem geschichtlichen Judentum eine universale, aber weiter an das Volk gebundene Dimension gab. Die Symbiose zwischen gedachtem Heiligtum Jerusalem und gedachter Gegen-wart Gottes hob Volk und Glaube in eine geschichtliche Transzendenz, die sie sozusagen „diasporafähig“ machte. Seither pflegten die Anhänger dieser Religi-on ein historisches Gottesbewußtsein auf komplexerer Ebene und suchten danach auch ihr ethisches Netzwerk der Selbsttreue weiter zu entwickeln: Förderung der Fähigkeiten, Achtung vor dem Leben, Stärkung der Gemeinschaft und Ehrfurcht vor den Geboten. Die Jahwe-Verheißung, aus dem Niedergang der Fremdherrschaft einen neuen Aufstieg zu beziehen, hatte sich für die Juden in der Tat schon mehrfach erfüllt. Daß sie immer wieder auch selbst von solcher Dekadenz erfaßt werden konnten, bestätigte sich einmal mehr in der wirren Abfolge israelitischer Despoten, deren Treiben schließlich die neue Weltmacht der Römer ein Ende setzte. Wie so oft in der Geschichte, hatte auch in Israel der doppelte Druck aus innerem Zerfall und äußerer Herrschaft die Neigung zu apokalyptischem Denken geför-dert, das den Boden für die jüdisch-christliche Zeitenwende vorbereitete. Neben den gesetzestreuen Pharisäern gab es aktive Kräfte wie die Zeloten, die die „Heerscharen des Gottesreiches“ unterstützen wollten, um die Freiheit Israels wieder herzustellen. Nicht zuletzt formierten sich allerlei Sekten wie die Essener,

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die den Glauben ethisch lebten und sich spirituell auf ein neues, nicht näher bestimmbares Zeitalter fixierten. Die in solchen Situationen – und besonders auch in dieser Zeit – wirkende Furcht ließ allen Parteien die diffuse Zukunft als „Finsternis“ erscheinen, der man selbst als Vertreter des „Lichts“, des „Friedens“, des „Guten“ überhaupt gegenübertrat. Diese Sicht schloß auch die Eliten – die eigenen und die fremden – als das „Bö-se“ ein, weil sie die Herrschaft und Zukunft besetzten und damit Teil des Prob-lems waren. In dieser Lage begann nun der Wander- und Wunderprediger Jesus von Nazareth von sich reden zu machen.

Indem er eine Lehre gegen geistige und physische Gewalt verkündete, die den einzelnen Menschen ansprach – „ich aber sage euch“ – wurde er zum Exponen-ten des Widerstands gegen Glaubens- und Machtmißbrauch. Da in apokalypti-schen Zeiten Gottes- und Weltreichideen verschwimmen, machten sich nicht nur die Friedenssekten, sondern auch die Kreise, die von einer profanen Befreiung Israels träumten, verstärkte Hoffnungen. Sowohl die Kämpfer – „macht euch die Welt untertan“ – als auch die Dulder – „mein Reich ist nicht von dieser Welt“ – konnten sich an den Leitsätzen dieses eigentümlichen Aufrührers bedienen. Da sich seine Lehre eindeutig gegen die Eliten richtete, bewirkte sie eine Allianz der römischen Macht mit den führenden Juden. So wie Statthalter Pontius Pila-tus, so wuschen auch die Pharisäer bei der Verdammung Jesu „ihre Hände in Unschuld“, weil er ihre Gesetze, ihre Amtshoheit und ihre Schuldlosigkeit in Frage stellte: „... der werfe den ersten Stein!“ Der Tod Jesu überstieg alles bis dahin Gekannte. Indem ihn die „schuldlosen Hände“ ans Kreuz nagelten, meinten die Eliten, ihre lädierte Unantastbarkeit zu heilen, stellten statt dessen jedoch die Machtfrage für alle Zeit zur Disposition. Es erscheint als göttliche Ironie, daß sie entgegen ihrer Intention ein überge-schichtliches Gewissen freisetzten, das sich der untrennbaren Bindung zwischen Gott, Macht und Mensch bewußt geworden war. Indem der Verzicht auf Macht den Anspruch auf Macht überwindet, der Geist den Buchstaben überschreitet – wie Jesus sagt, „das Gesetz erfüllt“ – stellt sein Tod um so schonungsloser die Banalität der Gewalt bloß, die sich aus der simplen Usurpation des Buchstabens ergibt. Einmal in die Welt getreten, war dieses neue Bewußtsein – wie die Auferstehung symbolisiert – unzerstörbar geworden und hatte die Wende der Zeiten eingelei-tet. Wer nach diesem singulären Ereignis fortfuhr, machtbildende Maßnahmen mit dem „unerforschlichen Ratschluß Gottes“ zu begründen, brachte den Geist Jesu sozusagen nicht mehr in die Flasche zurück. Ob er wollte oder nicht – er mußte Rechenschaft ablegen, welche Rollen das Volk und die Eliten in diesem „Ratschluß“ spielen sollten. Nachdem die Römer den jüdischen Staat in den Jahren 70 vorläufig und 135 n. Chr. endgültig zerschlagen und das Volk Israel in alle Winde vertrieben hatten, spielte dessen kollektives Ethiknetz eine um so größere Rolle und wurde zu den unaufgebbaren Grundlagen jüdischer Existenz. Im Sinne des individuellen Wis-sens, Könnens und Vorteils sind die Juden frei; als Teil des kollektiven Gewis-

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sens in der Diaspora sind sie jedoch an die Pflicht gebunden, ihre geistigen Fä-higkeiten und finanziellen Möglichkeiten (Ps. 10,15;112,1-3) in den Dienst des Gemeinschaftsinteresses zu stellen.

II. Das Siegel von Medina

1. Definition der Gegenreligion In diesem Geist lebten auch die Juden, die es auf einer der großen Fluchtlinien aus dem Gelobten Land nach Arabien verschlagen hatte. Während die Christen ein Zentrum in Nadjran (Nordjemen) bildeten, hatten sich die vertriebenen Juden vornehmlich im Südjemen und im westarabischen „Medina“ niedergelassen. Nicht nur diesen aramäisch-arabis chen Namen (Stadt, Gerichtsbezirk) erbten die Muslime von den Juden,1 sondern die Stadt selbst, in der sie immerhin die Hälfte der Bevölkerung stellten. Um Verwechslungen zu vermeiden, ergänzten sie den Namen später zur „Stadt des Propheten“. Nicht ganz unberechtigt läßt sich also von Medina als einer „jüdischen Gründung“ sprechen.

Als der Islamverkünder um 610 in die Geschichte trat, stieß er also mit dem Juden- und Christentum in Arabien auf Religionen, die der Verantwortung des Menschen vor Gott einen hohen Stellenwert einräumten. Da es ihn zur Schaffung einer alternativen Religion nebst dazu passender Schrift drängte und dieses Zent-rum des Glaubensgeistes weitgehend gefüllt war, wich er auf die noch freien, von Juden und Christen gemiedenen Denkräume aus. Damit diese Gegenwelt wiederum „glaubwürdig“ werden konnte, waren die etablierten Religionen aller-dings zu „Verfälschungen“ und die vorislamische Zeit zu „Unwissenheit“ zu erklären.

Um sich gegen das Gewissen – Selbstwahrnehmung des Menschen in Gott bzw. Gegenwart Gottes im Menschen – definieren zu können, mußte sich Muhammad somit der jüdisch-christlichen Dimension „negativ unterwerfen“. Das heißt, daß nur dann eine neue Religion und/oder Ideologie entstehen konnte, wenn er sie unter dem Zwang der Exis tenz dieser Religionen und aus dem Gegensatz zu ihnen, aus der Ablehnung des Nichtislam insgesamt, definierte.

So wie dieser Zwang den Islam erzeugte, so zwingt er allerdings auch seine Anhänger, sich von diesem Zwang zu befreien, d.h. Juden- und Christentum existentiell zu bekämpfen, zu vertreiben, im Zweifel auch zu vernichten. Wie noch zu zeigen ist, sind Djihad – Kampf gegen den Nichtislam – und Dhimma – die Unterdrückung des Juden- und Christentums – die unverzichtbaren Lebens-bedingungen ihres Glaubens.

Um seine kontroverse Schöpfung in der Praxis zustande zu bringen, mußte Mu-hammad die Störenfriede nicht nur zu besagten „Verfälschern“ erklären, sondern auch bei der Entstehung des Koran Selektionen und Korrekturen vornehmen, die die noch freien Denkräume an die laufende Realität seiner Zeit anpaßten. Der französische Geschichtsphilosoph Ernest Renan (gest. 1892) sah es ganz ähnlich: „Wenn Mohammed Judentum und Christentum genau studiert hätte, dann hätte er keine neue Religion daraus gezogen.“2

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Muhammad auf diese Weise in einen distanzierten Blick zu nehmen, war keine Selbstverständlichkeit. Nicht nur den christlichen Eiferern, sondern auch vielen Aufklärern erschien er als Hochstapler, Betrüger und „blutdürstiger Schurke“ (Voltaire). Sogar Lessing, Pionier religiöser Toleranz, warf ihm vor, den Arabern nur „Betrug, Gewalt, Unsinn und Irrtum“ gebracht zu haben.3

Der Durchbruch zu einer kühleren, wissenschaftlichen Sicht kam nicht aus dem christlich-westlichen, sondern aus dem jüdischen Denken. In seiner vielbeachte-ten Dissertation („Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen?“) schrieb ihm der Rabbiner und Reformjude Abraham Geiger (gest. 1874) durch-aus die Vision einer neuen Religion zu. Zu sehr dem arabischen Erbe verhaftet, habe er dabei jedoch nicht über eine defekte Sicht des Judentums hinausgelangen können:

„So war doch theils die Macht, die die Juden in Arabien erlangt hatten, bedeu-tend genug, daß er sie als Anhänger zu haben wünschen mußte, obgleich er selbst unwissend, den anderen Glaubensgemeinden überlegen, die auch durch göttliche Eingebung verliehen worden zu sein er vorgeben mußte, sowie er dies überhaupt gerne von allem seinem Wissen angab.“4

Muhammad habe sich bemüht, sofern er „damit gegen keine seiner anderen Ab-sichten verstieß, ... recht Vieles dem Judenthume zu entlehnen und seinem Kora-ne einzuverleiben.“5 Allerdings habe er nicht nur durch Fehler bei der mündli-chen Übernahme, sondern auch durch willkürliche Anpassung jüdischer Traditi-onen an seine persönlichen Zwecke das Ziel einer neuen Religion verfehlt, viel-leicht aber auch gar nicht angestrebt. Sowohl mit der moralischen Abwertung der Juden als auch mit der Übernahme heidnischer Traditionen (Anbetung Adams – Koran 38/73-77) habe Muhammad sich christlichen Praktiken genähert, aber auch an lokale Bräuche gehalten.6 Indem Geiger diese und andere kritische Aussagen aus Vergleichen mit Talmud und Midrasch (Bibelauslegung) herleitete, zwang er die westliche Wissenschaft und christliche Theologie, nicht nur Muhammad, sondern auch die von ihnen abgelehnten jüdischen Grundlagen in objektiverem Licht zu sehen. Unter diesen Bedingungen konnten auch andere, bislang kaum beachtete Ge-sichtspunkte ins Blickfeld rücken, wie die Tatsache, daß Juden- und Christentum in der arabischen Diaspora selbst unter dem Einfluß der Lokalkultur gestanden hatten. Im weiteren Verlauf entspannte sich die westliche Einschätzung des Is-lam als eine Lehre, die in sehr kurzer Zeit in einem historischen Kontext entstan-den war und sich den eher fabrizierten Charakter einer „säkularen Religion“ zugezogen hatte.

In der Tat beruht sie – nach einer formativen Phase von etwa 200 Jahren – auf dem politischen Gesetz Allahs, das autoritäre Herrschafts- und Gesellschafts-strukturen nach innen bindet und aggressiv nach außen ausrichtet. Im Gegen-wartsgerede vom „einen Gott mit den Muslimen“ erscheint es nicht unangemes-sen, den Ursachen dieses Zwangsverhaltens nachzugehen. Immerhin wird der islamische Gegensatz gegenüber anderen Religionen und Weltbildern von mehr als einer Milliarde Anhängern Allahs als einzig mögliche Wahrheit empfunden,

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die in unserer Zeit offenbar nicht ohne Konflikte auskommt. Für die große Mehrheit von ihnen ist das „Modell von Medina“, Muhammads Urgemeinde, auch nach 1.400 Jahren der unverändert zentrale Bezug.

Um ihn zu begründen, mußte der Verkünder eben jenen Gottesraum abstecken, den Juden- und Christentum freigelassen hatten. Während er in die religiös-soziale Materie seiner Zeit eindrang, erfaßte ihn eine innere Überzeugung, zur Verkündung einer alternativen Eingott-Religion und eines Buches für die Araber berufen zu sein. Er gehörte zur Sippe der Hashim, einer Seitenlinie der mekkani-schen Quraysh, die den Handel in der Region und das Kultzentrum der Ka'ba beherrschten. Im Rahmen des Klanrechts stand er nicht nur unter ihrem erweiter-ten Schutz, sondern hatte sich auch durch Heirat der wohlhabenden, 15 Jahre älteren Kauffrau Khadidja wirtschaftlich abgesichert.

2. Bruder Muhammad Den Quraysh war klar, daß die Juden in Medina eine ernst zu nehmende Kraft darstellten. Mit ihrem überlegenen Wissen in Landwirtschaft und Bewässerung bildeten sie ein prosperierendes Wirtschaftspotential, das erhebliche Vermögen angehäuft hatte und entsprechende Begehrlichkeiten weckte. Eine gewisse Ag-gression war schon in vorislamischer Zeit aufgekommen, indem man den Juden vorwarf, den „Schacher und Wucher im Blute“ zu haben.7 Hinzu kam ihr exklu-siver Glaube, der sich jedem Einfluß entzog, insbesondere dem heidnischen Kultbetrieb, in dem die Quraysh den Hauptgott „Allah“, den „Gott des Sirius“ anrufen ließen.8

Treibende Kraft der Kultverwaltung war die Hums -Bruderschaft (arab.: hums = (religiös) stark, rigoros, ausdauernd). Der Einfluß der Brüder, auch „Hirmi“ (arab.: Verborgener, Pilgermantel) genannt, reichte weit über den Hidjaz hinaus und umfaßte Herrscherfamilien in Syrien, Irak und Jemen. Ebenso kontrollierten sie die Heiligtümer der Umgebung, zu denen auch die führenden Medina-Stämme der Aus und Khazradj pilgerten. Ihr hervorstechendes Merkmal waren exklusive Kultprivilegien, die sie kastenartig über die gewöhnlichen Menschen hinaushoben.9

Wenn wir die Information zur Kenntnis nehmen, daß Muhammad selbst ein „Hirmi“, ein Angehöriger der Bruderschaft war,10 kann seine Hidjra, die „Aus-wanderung“ von Mekka im Jahre 622, in verändertem Licht erscheinen. So wie er sich über den altarabischen Ehrbegriff hinwegsetzte und den Auftragsmord zur islamischen Ehrenpflicht machte, so setzte er auch die von ihm selbst verordnete, vorislamische „Unwissenheit“ außer Kraft. Denn wenn es um Bruderschaften ging, sollte man an den „Bündnissen der Djahiliya“ festhalten.11

Nachdem im Vorjahr Verhandlungen mit äthiopischen Christen ergebnislos ver-laufen waren, kam 621 mit den Medina-Stämmen der Aus und Khazradj eine Vereinbarung zustande. Danach würde Muhammad im Folgejahr mit seinen Anhängern in ihre Stadt übersiedeln, um dort eine von ihm als „Prophet“ geführ-te Allianz zu bilden. Ein wichtiges Motiv waren dabei aussichtsreiche Verbin-dungen zu den Medinenser Judenstämmen, die der Aus zu den Nadir und Quray-

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za, die der Khazradj zu den Qaynuqa. Berichte, nach denen Muhammads Schar in Mekka der Verfolgung ausgesetzt gewesen sein soll, gehören eher in den Be-reich der Legende. Die überwiegend junge Mehrheit der Anhänger gehörte den oberen Schichten an und hatte von der Obrigkeit nichts zu befürchten.12

Seine Umsiedlungs-Verhandlungen mit den beiden Medina-Stämmen bekommen ein anderes Gewicht, wenn Muhammad sie nicht als angeblich bedrängter Aus-senseiter, sondern als Hirmi-Bruder geführt hat, der über bestimmte Verbindun-gen verfügte. Unter dem weiteren Aspekt der Klan-Loyalität zu den Quraysh und deren Interesse am jüdischen Vermögen ließen sich theologische Differenzen ohnehin relativieren. Jedenfalls schienen die Mekkaführer bereit, sich mit ihrem exalt ierten Bruder zu arrangieren. Der Ältestenrat machte einen Vorschlag, der an Pragmatismus kaum zu übertreffen ist:

„Neffe! Du gehörst zu uns, das weißt du genau, du bist einer der Wohlgeborenen des Stammes, und deine Vorfahren sind Vornehme. Du hast deinen Stamm vor ein schwieriges Problem gestellt, du hast die Gemeinschaft entzweit und ihre Träume lächerlich gemacht, du hast ihre Götter verleumdet und ihren Gottes-dienst. Du hast ihre verstorbenen Vorfahren zu Ungläubigen erklärt. Höre, ich werde Vorschläge machen, die du dir überlegen kannst ... Wenn du mit dieser Geschichte, die du bei uns angezettelt hast, nur Geld machen willst, wollen wir alle unseren Beitrag zahlen, um dir so viel zu geben, daß du der Reichste unter uns bist. Wenn du nach dem Prestige verlangst, wollen wir dich zu unserem Häuptling machen, so daß wir nichts beschließen, ohne mit dir darüber zu spre-chen. Wenn du die Herrschaft begehrst, erheben wir dich zu unserem König. Wenn du von einem bösen Geist besessen bist, wollen wir dir einen Arzt suchen ...“13

Hauptmotiv dieses Vorschlags war die nicht unberechtigte Sorge, die Kontrolle über die lukrativen Heiligtümer zu verlieren. Muhammad hatte immerhin die Mekkamacht als „Königtum“ und den Handels - und Wallfahrtsbetrieb als „Göt-zendienst“ angeprangert. Solche Unbotmäßigkeit brachte zwar Popularität beim Volk, konnte aber auch das Prestige und die Profite der Herrschenden beschädi-gen. Eine tiefer gehende Furcht leitete sich ohnehin aus der neuen Lehre selbst ab: Wenn der neue Eingott zu abstrakt würde, könnte überhaupt jedes Heiligtum entfallen! Die Judenstämme der Qurayza und Nadir betrieben Oasenwirtschaft und hatten in innerarabischen Streitereien die Aus gegen die Khazradj unterstützt, wobei häufig ihre üppige Bewaffnung erwähnt wird. Der dritte Stamm der Qaynuqa betrieb die Goldschmiedekunst und unterhielt durch Handelsaktivitäten aller Art lebhaften Kontakt zur arabischen Bevölkerung. Nachdem Muhammad sich in Medina etabliert hatte, nahm er Kontakte zu ihnen auf, die offenbar von fest umrissenen Vorstellungen ausgingen.

Danach sah er zunächst keinen gravierenden Unterschied zu seiner koranischen Botschaft: „Zu dir wird nichts anderes gesagt, als was zu den Gesandten vor dir gesagt worden ist“ (41/43). Sie wird lediglich auf arabische Erfordernisse zuge-schnitten: „... eine Schrift, deren Verse auseinander gesetzt sind als ein arabi-

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scher Koran, für Leute, die Bescheid wissen“ (41/3). Aber es ist eben dieser Aspekt der arabischen Sendung, der den Graben auf beiden Seiten aufreißen wird. Weder können die Juden jemals etwas über ihr Ethiknetz der Selbsttreue stellen, noch konnte Muhammad sich dauerhaft von jüdischer Hilfe abhängig machen, so stark auch die gemeinsame Abneigung gegen den Götzendienst sein mochte.

Auf die gleichen Probleme stießen konkrete Bestandteile des Ritus, die der Ve r-künder des Islam in seine neue Religion einbauen wollte. Das Gebet kommt sowohl mit der Einleitung – „steht demütig ergeben vor Gott“ – als auch mit den Gebetszeiten aus dem Judentum: „wenn die Sonne sich neigt, bis die Nacht dun-kelt und die Rezitation am frühen Morgen“ (17/78) bzw. „haltet die Gebete ein, auch das mittlere“ (2/238). Dabei wies die Richtung nach Jerusalem, genauer nach Syrien. Ebenso wurde der Sabbat übernommen, allerdings auf den Freitag verlegt und arabischen Verhältnissen angepaßt. Auch am Beispiel des Fastens mußte Muhammad zur Kenntnis nehmen, daß die von ihm geplante Übernahme unmöglich war, weil Buße und Sühne besonders exklusiv für das Volk Israel reserviert sind. Schon an diesem so einfachen wie wichtigen Einzelpunkt wurde – repräsentativ für viele andere Aspekte – deutlich, daß der Jahwe der Juden und der Allah des kommenden Islam nicht vereinbar sein würden.

3. Stufen zur Vernichtung Der Verkünder schien zunächst noch keine Konsequenzen ziehen zu wollen. Zumindest nahm er die Juden in seine Gemeindeordnung für Medina auf, ob-wohl ihm bereits hätte klar sein müssen, daß die Maßnahme sinnlos war: „Wenn einer unter den Juden uns folgt, hat er Recht auf dieselbe Hilfe und Unterstüt-zung (Art. 16) ... Wenn über eine Angelegenheit unter euch Uneinigkeit entsteht, dann soll sie vor Gott und Muhammad gebracht werden“ (Art. 23) ... Die Juden teilen die Kosten des Krieges in demselben Maße wie die Gläubigen, solange sie im Kriege sind“(Art. 24). Abgesehen davon, daß die Juden an einem „Dialog“ ohnehin nicht interessiert waren, sah sie Muhammad offenbar selbst nur als sekundären Teil seiner Ord-nung. Das Judentum sollte Dienstfunktionen in einem primär dominanten Islam versehen; die Ordnung war ke in Vertrag, sondern ein Erlaß. Es ging nicht um eine Regelung zwischen Gleichberechtigten, sondern zwischen einem Herrn und seinem Knecht. Wie J. Bouman zutreffend formuliert, „konnten die Juden die islamische Antwort, die Muhammad brauchte und von ihnen verlangte, nicht geben“.14

Neben der grundsätzlichen Verpflichtung auf Jahwe erkannten die Juden Mu-hammad nicht als Propheten an, weil er den Standards ihrer Tradition nicht ent-sprach. Aus ihrer Sicht strebte der Verkünder zum einen nach weltlicher Herr-schaft, zum anderen folgte er seinen „sexuellen Begierden“ – beides Eigenschaf-ten, die ihn zu Änderungen seiner angeblich heiligen Texte zwangen und – nicht nur aus jüdischer Sicht – als ernsthaften Propheten disqualifizierten.

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Während das Trauma der Vernichtung des Staates und Volkes Israel sich tief eingegraben hatte, fehlten auch die Zeichen Jahwes, die die Annahme eines Pro-pheten hätten rechtfertigen können, ohne schon wieder neue Katastrophen in Kauf zu nehmen. Außerdem war es generell angebracht, den Arabern als Ab-kömmlingen der Hagar (Nebenfrau Abrahams),15 welche die Bibel „Hagariten“ und Feinde Israels nennt (Psalm 83), mit Vorsicht zu begegnen. Ohnehin hatte sich das theologische Denken von der Prophetie auf das Studium von Thora und Talmud verlagert, das hohe Ansprüche an das Religionswissen stellte. Aus all dem folgten große Bedenken der Theologen, sich mit Muhammads Vor-stellungen überhaupt zu befassen. Sie standen einem intelligenten, nicht minder ehrgeizigen und rigorosen Autodidakten gegenüber, der eine Fülle von Fehlern und Widersprüchen als Offenbarungen ausgab und zur Basis eines so religiösen wie politischen Anspruchs machte. Wenn sie etwas anerkannten, „was ihnen wie die Hirngespinste eines Ignoranten vorkam“,16 stellten sie nicht nur ihr theologi-sches Renommee in Frage, sondern stärkten diesen Emporkömmling auch als Konkurrenten in Medina. Zuallerletzt konnte jemand den Anspruch des Prophe-ten erheben, der offensichtlich Interessen verfolgte, die nicht die jüdischen wa-ren.

Es kam, was kommen mußte. Wer wie Muhammad seine Lehren aus dem Ge-gensatz speiste, formte auch seine Weltsicht aus dem Verhalten seines Gegen-übers, das entweder für oder gegen ihn war. Wenn die Theologen ihn nicht ak-zeptierten, konnten ihre Lehren nicht zutreffen, mußten also Fälschungen sein, die die Ausbreitung seiner Lehre gefährdeten. Damit wurden sie und ihre Ge-meinschaft zu einem Gefahrenherd und Feind, dessen Einfluß in der Region der eigenen Wahrheit im Wege stand. Aus der psychologischen Logik ergibt sich die muslimische. Den Gläubigen erscheint dieser Ablauf plausibel, weil schon dem Knaben Muhammad rückwir-kend geweissagt wurde, daß ihm dereinst Gefahr von den Juden drohen würde.17 Wie immer auch die Juden sich verhalten mochten – sie erfüllten die Weissa-gung der Legende und die Forderung des Feindbilds. Dabei ging Muhammads Schwarz-Weiß-Sicht über die einfache Paranoia hinaus. Ihm zufolge hatten die Juden nicht nur die Schrift verfälscht, sondern auch die Passagen gelöscht, die seine Legitimation als Gesandter Gottes bewiesen. Auch sonstige Teile seien unterschlagen oder aus anderen Gründen – z.B. Habgier – mißbraucht worden.18 Hier nimmt Muhammads Gegenlogik die Form des univer-salen Passepartouts an, mit dem er und die nachfolgenden Generationen jeden Inhalt beliebig begründen und widerlegen können. Vor allem wird der Koran fortan in den Bereich des Unerschaffenen, Unantastbaren und Unanalysierbaren entrückt. Mühelos lassen sich die ethischen Leerstellen der bekämpften Religio-nen besetzen, nicht zuletzt auch der metaphysische Bund der Juden:

„Diejenigen, die verheimlichen, was wir an klaren Beweisen und Rechtleitung hinabgesandt haben, werden von Gott verflucht und von denen die verfluchen (2/159). – Und weil sie den Bund brachen, haben wir sie verflucht. Und wir machten ihre Herzen verhärtet, so daß sie die Worte (der Schrift) entstellten und

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sie von der Stelle, an die sie gehören, wegnahmen. Und sie vergaßen einen Teil von dem, wozu sie gemahnt worden waren. Und du bekommst von ihnen immer wieder Falschheit zu sehen“ (5/13).

Diese Gegenlogik wird sich später mit Verschwörungsdenken allgemein und mit dem modernen Manifest der Weltverschwörung, den „Protokollen der Weisen von Zion“ speziell harmonisch verbinden. Wie es scheint, bestand auch schon in früher Zeit Kenntnis von der Judenfeindschaft der Christen. Muhammad konnte Kontakt mit Christen gehabt haben, die ihm von den Streitreden Jesu gegen die Juden bzw. den patristischen Klischees vom „verfluchten Volk“ berichteten.

Danach hatten sie Unheil gestiftet, weil sie ihren eigenen Propheten nicht glaub-ten.19 Wer konnte denn wirklich wissen, ob sich ihr Schicksal nicht an ihm, Mu-hammad, erneut erfüllen würde? – „Diejenigen von den Kindern Israels, die ungläubig waren, wurden durch die Zunge Davids und Jesu, des Sohnes der Maria, verflucht. Dies dafür, daß sie widerspenstig waren und übertraten“ (5/78). Da die Juden zu Ungläubigen erklärt waren, konnten nicht nur, sondern mußten die Muslime künftig auch das vom Judentum übernommene Tötungsverbot unter den Tisch fallen lassen: „Wenn einer jemanden tötet, ... soll es so sein, als ob er die Menschen alle getötet hätte“ (5/32).20 Dieses Einzelverbot wurde dann folge-richtig durch zahlreiche Tötungsgebote des Koran verdrängt. Den harten Konsequenzen dieser umfassenden Fabrikation würden die Medinen-ser Juden auf Dauer nicht entgehen können. Überdies trugen sie eine Haltung aus Reserve, Exklusivität und Wohlstand zur Schau, die Muhammads Ego zusätzlich herausforderte. Seine Einstellung nahm rasch an Schärfe zu und wurde in eine weitere „Offenbarung“ gekleidet, die mit offenen Drohungen nun auch den herri-schen Tenor der Gemeindeordnung hinter sich ließ: „Und entscheide zwischen ihnen nach dem, was Gott herabgesandt hat, und folge nicht ihrer Neigung! Und hüte dich vor ihnen, daß sie dich (nicht) in Versuchung bringen von einem Teil dessen, was Gott dir herabgesandt hat. Und wenn sie sich abwenden, dann mußt du wissen, daß Gott sie wegen eines Teils ihrer Schuld treffen will. Viele von den Menschen sind Frevler. Wünschen sie sich die Ent-scheidungsweise des Heidentums? Wer könnte für Leute, die überzeugt sind, besser entscheiden als Gott?“ (5/49f) Mit der „Entscheidungsweise des Heidentums“ zog er das von ihm selbst erstell-te Orakel Allahs in den Bereich des Unangreifbaren. Die „Entscheidung“ konnte nur zugunsten der Muslime ausfallen, zumal ihnen auch Lüge und Täuschung erlaubt wurden. Die Weichen dafür waren schon in mekkanischer Zeit gestellt worden: „Die Ungläubigen schmieden Ränke und auch ich (Allah) schmiede Ränke. Gewähre du den Ungläubigen eine Frist, gib ihnen ruhig noch ein wenig Zeit (86/16f.) – Habt ihr, denen das alles zu Bewußtsein gebracht wird, noch die Stirn, mich überlisten zu wollen? Ich vermag viel bessere Ränke zu schmieden“ (77/39). Drohung und Täuschung bereiteten nun die Legitimation von Gewalt vor. Der Stifter höchstselbst schaltete den Islam auf die künftige Funktion als geschichtli-cher Prüfstand der jüdischen Diaspora. Im Jahre 624 stellte Muhammad die Qay-

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nuqa und Nadir unter diversen Vorwänden vor die Alternative, zum Islam über-zutreten oder bei Mitnahme einer begrenzten Habe Medina zu verlassen. Da die Konversion nicht in Frage kam, wanderten die Juden nach Syrien bzw. in die Oase Khaybar aus – die Wohn- und Finanzprobleme der jungen Islamgemein-schaft waren gelöst. Allmählich kam die Profanität ihrer Religion zum Vorschein, deren „Offenba-rungen“ eine mit ihrem Nützlichkeitsgrad variierende Gewalt freisetzten: „Gott gibt seinem Gesandten Gewalt über was er will (59/6) ... Er ist es, der diejenigen von den Leuten der Schrift, die ungläubig sind, aus ihren Wohnungen vertrieben hat ... Wenn Gott nicht die Verbannung für sie bestimmt hätte, hätte er sie im Diesseits bestraft . Im Jenseits haben sie die Strafe des Höllenfeuers zu erwarten. Dies dafür, daß sie gegen Gott und seinen Gesandten Opposition getrieben ha-ben“ (59/2,4; Betonung v. Verf.). Der verwickelte Ausdruck kann nicht den Nachdruck verhüllen, mit dem sich Muhammad und damit die führenden Muslime der islamischen Zukunft an die Stelle Allahs und dessen Machtfülle setzen. Kein Wunder, daß die Quraysh die Aktivitäten ihres „Bruders“ mit großem Mißtrauen verfolgten. Im Jahre 625 zwangen sie ihn am Berge Uhud zum Kampf, der für ihn verlustreich ausging und seinen Siegernimbus zunächst schwächte. Der noch verbliebene Judenstamm der Qurayza stand Muhammads Machtamb i-tionen nun besonders störend im Wege. Da er überdies im Verdacht stand, mit den Mekkaführern zu paktieren, bot sich der Anlaß, ein Exempel religionspoliti-scher Gewalt zu statuieren. Dabei vermieden es die Aus, sich mit dem Führer Medinas anzulegen, und lieferten die früheren Verbündeten „Allahs Ratschluß“ aus, den Muhammad selbst vorbereitet hatte. Im Jahre 627 ließ der Verkünder des Islam eine nicht näher bekannte Zahl männ-licher Personen (600 bis 800) in ein eigens ausgehobenes Massengrab steigen und in seiner Gegenwart hinrichten.21 Während dieses Vorgehen – auch den an Gewalt gewöhnten Zeitgenossen – nicht als Norm gelten konnte, so doch die Konsequenzen: Konfiskation des Vermögens sowie Versklavung und Verkauf der Frauen und Kinder. Die Juden von Medina waren der erste Ausdruck des islamischen Daueropfers, des übergeschichtlichen Zwangs, die Welt von nichtis-lamischen Elementen zu befreien (s.u.S.). Das Massaker von Medina wurde zum historischen Trauma für die Juden und zum Vorbild für die Muslime. Ihm ging eine Intrige von hohen Graden voraus, die sich aus dem „Grabenkrieg“, einem weiteren Waffengang mit den Mekka-nern ergab. Muhammad hatte einen Keil zwischen die Aus und Qurayza getrie-ben und den Führer der Aus zum Schiedsrichter, zum Sprachrohr eines mit ihm abgesprochenen „Gottesurteils“ gemacht.22 Wenngleich Allahs Entscheidung feststand und die Weichenstellung ganz „legitim“ in den Tod führte, schien es dennoch notwendig, im kommenden Koran die „göttliche“ Begründung nachzu-schieben: „Und Gott schickte die Ungläubigen mit ihrem Groll zurück, ohne daß sie einen Vorteil gehabt hätten. Und er verschonte die Gläubigen damit zu kämpfen. Gott

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ist stark und mächtig. Und er ließ diejenigen von den Leuten der Schrift (Quray-za), die sie (Mekkaner) unterstützt hatten, aus ihren Burgen herunter kommen und jagte ihnen Schrecken ein, so daß ihr sie zum Teil töten, zum Teil gefangen nehmen konntet. Und wir gaben euch ihr Land, ihre Wohnungen und ihr Vermö-gen zum Erbe und Land, das ihr nicht betreten hattet. Gott hat zu allem die Macht“ (33/25ff.; Zusätze v. Verf.).

4. Beginn der Djihad-Ideologie Erneut bestätigte sich die frühislamische Doktrin, der zufolge der Muslim sich in Allahs Recht weiß, wenn er Andersgläubige tötet und vertreibt. Um so mehr hatte sich die jüdische Selbsttreue erfüllt, wobei der frühe Tod oder Selbsttod der Rayhana bint Zayd, einer schönen Opferwitwe, die sich in Muhammads Harem wiederfand, als Beispiel individueller Tragik gelten kann. Von eher übergeordne-ter Bedeutung ist das gewaltsame Ende des Ka'b Ibn Ashraf, eines halbjüdischen Satirikers, der die Mekkaner in ironischen Gedichten zu Maßnahmen gegen den Emporkömmling in Medina ermuntert hatte. Wie sich im modernen Karikaturenstreit zeigte, war Humor um die Jahreswende 2005/06 ebenso Gift für den Islam, wie er es 627 war. Keiner wußte das besser als der Verkünder selbst. Er mußte Gottesbild und System der neuen „Religion“ vor nichtislamischen Elementen – Heuchlern, Spöttern, Verleumdern, Abweich-lern, Ungläubigen und nicht zuletzt ungehorsamen Frauen schützen, wenn es sich gegen die – jüdisch-christlich besetzte – Selbständigkeit des menschlichen Bewußtseins behaupten wollte. Die Gemeinschaft dieses neuen Eingottes und sein „Prophet“ hatten keinerlei Sinn für alternative Weltbilder, geschweige denn Ironie und brachten die Schöp-fer unangenehmer Wahrheiten ebenso um wie jene, die sich politisch, religiös oder sogar wirtschaftlich in den „Weg Allahs“ stellten, indem sie ihm den Tribut verweigerten. „Wer bewahrt mich vor meinen Feinden?“ lautete die historische Frage Muhammads, welche die islamische Institution des Auftrags- und „Eh-ren“-Mords begründete. Allerdings handelte es sich hier um eine Ehre neuen Typs, die bei den stolzen Arabern als niedrig und perfide galt.23

Ka'b Ibn Ashraf war nicht das erste, aber ein bekannteres Opfer des mörderi-schen Charismas, dessen Ruhmesliste für den frühen Islam im Katechismus des spanischen Qadi Al-Yahsubi (gest. 1148) nachzulesen ist.24 Seither ist es schwie-rig, wenn nicht unmöglich, Mörder zu bestrafen, die „auf dem Weg Allahs“ getötet haben, weil sie sich auf unzählige Legitimationen in Koran und „Prophe-ten“-Tradition berufen können.

Zu diesem Instrumentarium gehört die Täuschung, die Allah, der „beste Ränke-schmied“, seinen Anhängern auf den nämlichen Weg gibt. Wiederum fungiert Muhammad als Vorbild, dem die nach Khaybar geflohenen Juden keine Ruhe ließen. Er lud eine Delegation zu Verhandlungen ein, angeblich um über Verbes-serungen der Beziehungen zu sprechen. Stattdessen ließ er ihnen auf dem Weg nach Medina auflauern und sie bis auf einen Mann niedermachen, der nur durch

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großes Glück entkam. „Krieg ist Täuschung“ ist ein oft zitiertes Wort des Ve r-künders.25

Unschwer erkennbar, können die „Gläubigen“, hinreichend indoktriniert, in einen dynamischen Wettbewerb treten, in dem sie, sich ständig überbietend, um den verdienstvollsten Glaubensbeweis konkurrieren. Die Morddiener Muham-mads, die Assassinen des Mittelalters und die modernen Selbstmordattentäter verdanken sich dieser Logik. Sie alle folgen dem Motto des Verkünders: „Mir ist geboten, die Menschen zu bekämpfen, bis sie sagen: ‚Es gibt keinen Gott außer Allah!’“ Zwar ging damals wie heute die Masse der Muslime harmlosen Tätig-keiten nach, doch ändert dies nichts daran, daß in den Grundlagen ihres „Glau-bens“ beunruhigend oft vom Töten die Rede ist, allein im Koran 187mal, ganz zu schweigen von der Sunna, der Tradition des Verkünders.

Muhammad sorgte dafür, daß sich mit der Ausweitung der Loyalität vom Stamm auf den Islam auch das Feindbilddenken vom Gegnerstamm auf den Nichtislam ausdehnte. Die Gemeinschaft und die Welt spalteten sich in jeweils zwei Lager: der Islam in rechtlose Abweichler und Rechtgläubige, die berechtigt waren und sind, sie zu beseitigen: „Wer vom Glauben abfällt, den tötet“ (4/89).26 In der diesseitigen Welt spaltet sich vom Islam der Nichtislam, dessen Menschen alles Schlechte und Abzulehnende hervorbringen: „Bekämpft sie, bis alle Versuchung aufhört und die Religion Allahs allgemein verbreitet ist“ (8/40). Es ging damals nicht, und es geht auch heute im Islam nicht um eine Religion im Sinne einer von mehreren geistigen Lebensformen. Es geht um die ultimative Lebensform an sich, die alles Denken und Verhalten einschließt. In den Suren 33 und 66 heißt es ausdrücklich: „Es ziemt den gläubigen Männern und Frauen nicht, wenn Allah und sein Gesandter irgendeine Sache beschlossen haben, sich die Freiheit herauszunehmen, anders zu wählen.“ Daß fortan das Leben über-haupt nur noch nach den Vo rschriften des Islam denkbar ist, führt der Koran auf einen existentiell unausweichlichen Punkt: „Unglaube und Versuchung sind schlimmer als Töten“ (2/191-8/40). Mit der Annahme des Islam erlangen die „Gläubigen“ zwei Vollmachten: Die eine läßt sie entscheiden, wann, wo und wie Unglaube und Versuchung sowie die „Verfolgung“ durch sie vorliegen, und die andere ermächtigt sie, sich zu Richtern und Henkern derer zu machen, die Allah im Wege stehen, ihnen auf sonstige Weise nichtislamisch erscheinen oder wie es heute heißt, das „Feindbild Islam“ verbreiten. In vielen Varianten der Tradition verweist der Verkünder Muhammad auf die Pflicht der Gläubigen, das Recht in die eigenen Hände zu nehmen, wenn es um islamische Interessen geht. In Verbindung mit den Anweis ungen des Koran ent-steht ein unendlicher Regreß zwischen individueller und kollektiver Gewalt: „Derjenige der in einer Weise kämpft, daß Allahs Wort siegt, befindet sich auf dem Wege Allahs.“27 Und weniger verblümt heißt es: „Meine Gemeinschaft wird in zwei Parteien zerfallen. Aus der einen entstehen die Ketzer, und die andere ist berechtigt, sie zu töten.“28

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Dementsprechend gestaltet sich der „Djihad“ (arab.: Anstrengung, Kampf), der von der individuellen Seelenreinigung bis zur kollektiven Reinigung des Islam vom Schmutz des Unglaubens, dem Massaker reicht. Dabei scheint im Begriff der „Verfolgung“ die paranoide Komponente auf, die seit Muhammad das ortho-doxe Muslimdenken umtreibt. Die Existenz nichtislamischer Elemente bzw. allein die Vermutung, daß es solche geben könnte, erzeugt eine Aura der latenten Bedrohung und Verfolgung, die nach klassischer Freud-Manier zurückprojiziert wird und in Bedrohung und Verfolgung des Nichtislam umschlägt. So dienten alle Kriege des Islam bis in unsere Zeit der „Verteidigung“, wie auch die Spitzen der gegenwärtigen Imamschaft zu bestätigen nicht müde werden.29

Das massenpsychologische Motiv wird durch den wirtschaftlichen Anreiz der Beute entscheidend verstärkt: „Wer für die Religion Allahs kämpft, mag er um-kommen oder siegen – wir geben ihm großen Lohn (4/75) – Und wer ist wohl in seinen Verheißungen gewissenhafter als Allah? Freut euch daher eures Handels, den ihr gemacht habt, denn er bringt große Glückseligkeit“ (9/111). Ob mit ma-teriellem oder ideellem Glück – die Aneignung fremden Vermögens im Diesseits und der Ruhm des Glaubenskampfes liegen demnach „auf dem Weg Allahs“. Für dessen „Märtyrer“, die Bomber der Moderne, wird er zu einer überirdischen Allee, die mit den Palmen des Paradieses gesäumt ist. Damit ging ein weiterer Kernsatz Muhammads einher: „Auf der arabischen Halb-insel kann es keine anderen Religionen geben.“ Er verwirklichte ihn zunächst in der islamischen Umwidmung jüdischer Fundamente. Danach hatte Abraham, der „weder Jude noch Christ“, sondern Muslim war, mit Sohn Ismael die Ka'ba er-baut. Hier war der jüdische Gründungsmythos als „Djahiliya“ – Unwissenheit – gelöscht. Denn als der Erzvater sich einst aufmachte – „ich will (jetzt) zu mei-nem Herrn gehen, er wird mich rechtleiten“ (37/99) – hatte er alles andere als Arabien vor Augen. Er ging in das ihm verheißene Land Kanaan und legte nicht den Grundstein für die Ka'ba, sondern für das Gesetz der Juden und die friedli-che Seßhaftigkeit im Gelobten Land, vor der Muhammad eindringlich warnte.30

Wer dem Gesandten Allahs folgte, wählte dagegen das kriegerische, nichtabra-hamitische Nomadentum, das in der Anthropologie des islamischen Herrschafts-prinzips fortlebte. Nach dem Massenmord von Medina war dessen oberstes Feindbild, das Heidentum, um die Juden erweitert : „Sicherlich findest du, daß unter allen Menschen die Juden und die Götzendiener die erbittertsten Gegner der Gläubigen sind“ (5/82). Seither richtet sich dieses Prinzip auf das Macht- und Finanzpotential des Nichtislam und läßt sich von einer Gottheit führen, die unter dem Anspruch des „Glaubens“ die Ausbeutung und Überwindung der Anderen fordert. Wer dem nicht folgte, war damals genau so Feind Muhammads, wie er nach heutiger „Dialog“-Propaganda ein Opfer der „Islamophobie“ wird. Die Gebetsrichtung wechselte von Jerusalem nach Mekka (2/145), die gesamte Prophetie verschmolz im „Siegel“ Muhammad (33/40) und damit im Gesetz Allahs insgesamt. Nicht weniger als den Ursprung der gesamten Geschichte übernahm Arabien nun von Israel, dessen Wurzeln daher ausgerottet werden mußten. In diesem spezifisch judenfeindlichen Sinne wurde das Massaker von Medina zum Siegel des Islam, das die gesamte anschließende Verfolgung bis in

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unsere Zeit bestimmte. Insofern gehört der Antisemitismus – entgegen der Wahrnehmung des Historikers Bernard Lewis’ – zu den „Geburtswehen“, unter denen Allah zustande kam.31

Wer heute von den „abrahamitischen Religionen“ spricht, dehnt das Siegel Mu-hammad auch auf das Christentum aus. Über den islamisch geprägten Abraham wird das Gesetz Allahs zum Siegel des Gesetzes überhaupt, das den islamischen Antisemitismus einschließt. Wenn die Protagonisten des heutigen „Dialogs“ die „Kulturfacetten“ des Islam preisen, drücken sie dem „modernen“ Rechtsstaat das Siegel der Scharia auf und fusionieren durch die Hintertür der „Toleranz“ den Antisemitismus Europas mit den Judenhaß des Islam. In der Folgezeit füllte Muhammad seine Truppen auf, ließ sie im Jahre 628 dro-hend vor die Tore von Mekka ziehen und die Kämpfer einen Treueschwur auf sich ablegen. Zu deren großer Enttäuschung griff er die Stadt jedoch nicht an, sondern führte die Einigung von Hudaybiya herbei, einen zehnjährigen Nichtan-griffspakt gegen die wichtige Zusage, im Folgejahr seine neuartigen Riten an der Ka'ba vollziehen zu können. Den Ärger seiner Getreuen lenkte er geschickt auf die Juden in Khaybar. Ihren harten Widerstand brach das Modell von Medina im Jahre 629 und leitete das Ende der Juden in Mittelarabien ein. Den Schlußpunkt setzte wenig später der zweite Kalif Umar I. (gest. 644): „Im Grunde wurden (jetzt) alle Juden, die in Medina und Khaybar überlebten, zusammen mit den Juden und Christen auf der Halbinsel, gemäß dem Edikt Muhammads, enteignet und vertrieben.“32 Das beträchtliche Vermögen und die Frauen teilte der Führer unter den Siegern auf und besänftigte vorläufig die frustrierten Gemüter.

Auf einen Freiraum übergeordneter Art deutet die wechselseitige Zurückhaltung in der mekkanischen Problemfolge Uhud – Grabenkrieg – Hudaybiya hin. Vor allem aus der Sicht Muhammads als Mitglied der Hums -Bruderschaft läßt sich die Lesart vertreten, daß elitäre Überlegungen es ratsam erscheinen ließen – wie auch der Ältestenrat bewies – sich das Leben gegenseitig nicht allzu schwer zu machen. Wenn sich der neue Machtfaktor in Arabien und die Quraysh mit ihren etablierten Kontakten verbanden, statt sich ruinös zu bekämpfen, war den Inte-ressen der Beteiligten eher gedient.

III. Das Modell von Cordoba

1. Dhimma – „Schutz des Islam“ Aus ihnen gingen die Umayyaden als erste Dynastie des Islam hervor, die natür-lich noch kein theologisches System hatten, sondern sich zunächst auf die syro-christliche Basis stützte. Sie stimmte nicht nur in der Ablehnung der Trinität mit den eindringenden Muslimen überein, sondern hatte Muhammads Entwicklung selbst darin beeinflußt. Vor diesem Hintergrund bildeten Persien und Spanien Sonderfälle. In Persien faßte die Islamvariante der Schia Fuß, in deren Vorstellungen vom Mahdi, dem „Verborgenen Imam“, auch jüdisch-christliche Messiasgedanken einflossen. Im frühen Schia-Zentrum Kufa stellte man dem Mahdi einen Thron

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auf, der die Bundeslade ersetzen sollte, wobei wiederum Anhänger des „Juden“ Ibn Saba eine Rolle spielten, der die Märtyrerrolle des Schia-Gründers Ali vo-rangebracht hatte.33

Die Pestwellen der 680er Jahre trugen zu apokalyptischen Strömungen bei, die auch die Juden erfaßten. Sie erhofften nun die Rettung durch Ismael, den Erzva-ter der Araber, nachdem die Weissagung vom „Zeichen des Messias“, nämlich der Zug in den Jemen, teilweise eingetroffen war. Der Kern blieb unerfüllt, weil er die Endzeit selbst ist (Jesaja 59, 20). Danach soll der letzte Kaiser Roms, der „König von Edom“, auf den Berg Zion geführt und vom Messias getötet wer-den.34

Zunächst richteten die Umayyaden im spanischen Diesseits um die Mitte des 8. Jahrhunderts ein neues Reich auf, in dem Raum für die jüdisch-christliche Ratio-nalität entstand. Über Umwege war Abd ar-Rahman, der letzte syrische Umayy-ade, nach Cordoba gelangt, nachdem er dem blutigen Machtkampf mit den Ab-basiden entkommen war, die ihrerseits die Nachfolge im Kernland antraten.

Den Umayyaden kam der spanische Arianismus entgegen, eine christliche Vari-ante, die ähnlich der syro-arabischen Basis – mit anderer Begründung – die Drei-einigkeit Gottes verneinte.35 Nach ihrer Überwindung durch die Orthodoxie im 4. Jahrhundert konnte diese Richtung bei einigen germanischen Völkern überleben. Zu ihnen gehörten die spanischen Westgoten, die den ab 711 eindringenden Islamkämpfern nicht viel entgegen zu setzen hatten.

Juden sollen ihnen die Tore von Toledo und anderen Städten geöffnet haben, eine nicht gesicherte, aber wahrscheinlich zutreffende Nachricht. Denn sie hatten seit 693 unter extremem Druck der Machthaber gestanden. Ihnen wurde nachge-sagt, mit Glaubensbrüdern auf der afrikanischen Seite der Gibraltarstraße eine Erhebung geplant zu haben, die den Süden Spaniens unter ihre Kontrolle bringen sollte. Aber auch ohne jüdische Kollaboration konnte das Reich vom begabten Militärtalent Tariq leicht übernommen werden. Wegen Finanzmangel bestand die Armee zu über der Hälfte aus Leibeigenen, die eher gemeinsame Sache mit den Muslimen machten, als ihre Haut für die Unterdrücker zu Markte zu tra-gen.36

Sie und ein großer Teil der übrigen Bevölkerung entwickelten sich zur Spezies der „Mozaraber“ – christlichen Mutanten, die die muslimische Lebensform ko-pierten. Man konnte sie als beschleunigte Variante des gleitenden, syro-arabischen Strukturwandels auffassen, der allmählich das Christentum der Mehr-heitsbevölkerung überwand und um 750 durch das Bagdader Imamat des abbas i-dischen Islam-Imperiums ersetzt wurde.

Allerdings gab es – wie im Kernland und in Nordafrika – so auch in Spanien keine Veranlassung zur Hoffnung, die Muslime hätten die Korantheorie umset-zen und den jüdisch-christlichen Dhimmi-Bevölkerungen den koranisch zuge-sagten „Schutz“ (arab.: dhimma) tatsächlich geben können. Die Steuereintreiber von Cordoba schwankten wie alle ihre Kollegen zwischen dem Versuch, die Vorschriften zu beachten, und der Versuchung, sich durch Prügelung, Vergewal-tigung und Tötung ihrer „Schützlinge“ persönliche Vorteile zu verschaffen.

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Die niedrigen Ethikhürden der religiösen Theorie luden hier ebenso oft zum Überspringen ein wie im übrigen Islamland. Dabei sorgte die Beuteverteilung für eine mafiose Auspressungspraxis, die sich auch über koranische Vorschriften hinwegsetzte, um die Einkünfte zu maximieren. Die Folge war, daß Dhimmis, die sich gegen den muslimischen Mißbrauch des „Schutzvertrags“ wehrten, die Sippenhaft riskierten. Nicht nur ihre Gemeinschaft, sondern auch Nachbardörfer hatten dann die Plünderung und Schlimmeres zu gewärtigen.37

Im Rahmen des islamischen „Friedens“ als neuer Leitkultur hebt der „Dialog“ in Europa als leuchtendes Vorbild aller Kultur das „Modell von Cordoba“ hervor und empfiehlt es seinen Gesells chaften zur Einübung und Verinnerlichung. Hier geht es um die Blütezeit der spanischen Umayyaden, die nach dem Emirat ab 756 im Jahre 929 das Kalifat ausriefen und sich endgültig von Bagdad abkoppel-ten. Wenn überhaupt von einer Phase der Toleranz die Rede sein soll, dann wäre sie allenfalls in die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts zu plazieren, als eine Reihe günstiger Umstände zusammentraf.38 Auch die Cordobesen waren an die Dhim-mi-Regeln gebunden, ansonsten sie kaum ihren so bewunderten, höfischen Glanz hätten entfalten können.

Allerdings leistete die Kollaboration des „christlichen“ Klerus ebenso regelhafte Beiträge. Wie viele „Dialog“-Geistliche und „Islamreferenten“ unserer Tage, so agierten auch Bischöfe und Prälaten jener Zeit oft als vorauseilende Helfer der islamischen Macht, die gegen muslimische Milde und/oder Entlohnung das Wohlverhalten ihrer „Glaubensschafe“ sicherstellten. Rabi', Kopf der christlichen Gemeinde Cordobas, führte die christliche Sklaven-miliz Al-Hakams I. (gest. 822), um die Steuern der Glaubensbrüder beizutreiben. Gegen hohe Bezahlung durch Abd ar-Rahman II. (gest. 852) sorgten der Metro-polit von Sevilla und die andalusischen Bischöfe für die gänzliche Anpassung ihrer Gemeinschaft an die Belange der Obrigkeit.39 Sowohl in Spanien als auch später im Osmanenreich agitierten die Religionsführer gegen ihre Klientel und unterliefen die Interessenwahrung der Gemeinde als „Kampf gegen Gott.“40 Unter dem Druck der islamischen Macht praktizierten die Dhimmi-Eliten eine islamorientierte, nach koranischer Forderung „demütige“ Loyalität, ohne die weder das Kalifat von Cordoba noch irgendeine andere islamische Obrigkeit hätte bestehen können.41

2. Juden definieren Allah Aufgrund ihrer weitaus geringeren Zahl und zugleich exklusiveren Verbindun-gen konnte die jüdische Elite ihren Geschäften in der Regel ungestörter nachge-hen. Einer ihrer Größten, Samuel ben Nagrela (gest. 1055), stand mit den Wei-sen von Babylon in regem Briefwechsel und galt als eine der fähigsten Autoritä-ten für den babylonischen Talmud. Sein Einfluß war so groß, daß er den berühm-testen Philosophen seiner Zeit, Salomo ben Gabirol (gest. 1070), unter den Schutz des Hofes stellte und seinen Sohn als Nachfolger im Amt des Wesirs einsetzte. Solches mußte Mißgunst erzeugen, die sich denn auch in den intrigan-

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ten Worten des Abu Ishaq, Konkurrent des großen spanischen Theologen und Literaten Ibn Hazm (gest. 1064), Luft machte: „Der Herr dieser Affen hat seinen Palast mit Marmor-Inkrustationen ausgestattet; er ließ Fontänen einbauen, denen das allerreinste Wasser entspringt, und wäh-rend er uns an seiner Pforte warten läßt, spottet er über uns und unsere Religion. Mein König, wenn ich sagen würde, er sei ebenso reich wie Sie, dann würde ich die Wahrheit sagen. Auf! Beeilen Sie sich, ihn zu erwürgen und ihn als Ganzop-fer zu schlachten; opfern Sie ihn – er ist ein fetter Widder! Schonen Sie aber auch nicht seine Verwandten und seine Verbündeten; auch sie haben unermeßli-che Schätze angehäuft.“42

Beide, Ibn Hazm und Abu Ishaq, befehdeten sich im intellektuellen Betrieb von Granada, waren sich aber in der Judenfrage einig. Mit aggressiven Tiraden machten beide deutlich, wie dünn der Firnis der Kultiviertheit war und wie schnell der atavistische Haß auf diese offenbar tierhafte und dennoch höchst gebildete und wohlhabende Spezies durchbrach. Sie trugen nicht unwesentlich zur Radikalisierung jener Zeit bei, die schließlich in das historische Pogrom von 1066 mündete.43

Der jüdische Wesir, der zu mächtig geworden war, mußte auf Dhimmi-Maß gestutzt werden. Berberische Agenten streuten Gerüchte, er habe den Koran geschmäht und sich am Vermögen der Gläubigen bereichert. Wenig später raste eine entfesselte Masse durch die Straßen Granadas, die etwa viertausend Juden tötete und den Größten von ihnen, Samuel ben Nagrela , kreuzigte.44 Sie bestätig-te auf ihre Weise, warum der König den gebildeten Juden an den Hof geholt hatte: „Seine Berber verstanden sehr gut, sich zu schlagen, Städte einzunehmen, zu plündern und niederzubrennen, aber sie waren nicht im Stande, auch nur eine Zeile richtig in der Sprache des Korans zu schreiben.“45

In der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift haben wir auf die wichtige Rolle des Gersonides (gest. 1344) hingewiesen, der zwar in Südfrankreich lebte, aber im weiteren Sinne zum Kreis der jüdischen Philosophie Spaniens gehört. Als Ne-benprodukt seines Gedankengebäudes, das ein technisches Gesellschaftsmodell begründete, entstand die wichtige philosophische Struktur, die Allah seinerseits als technisches Konstrukt „offenbarte“. Es basiert auf der logischen Unmöglichkeit, daß die Dinge ewig sind und zu-gleich von Gott bewirkt werden. Um das Unmögliche zu ermöglichen, muß die-ser Gott die Dinge ständig neu schaffen, die im Wechsel von Werden und Ve r-gehen ihren substantiellen Bestand verlieren.46 Der Allah des Islam ist ein sol-cher Gott. Er schöpft nicht nur permanent, sondern identifiziert sich auch mit der Zeit,47 – einer der Gründe für die Vernunftbewegung der mu’tazila (arab.: Isolie-rung), die den Koran als erschaffen ansah. Ein zeitlicher Allah bestätigt selbst, nicht ewig zu sein, denn die Zeit gibt es nur in der Welt, im menschlichen Be-wußtsein und im geschichtlichen Geschehen. Von Maimonides (gest. 1204), dem größten jüdischen Philosophen überhaupt, wissen wir, daß die Einsheit Gottes den Ausschluß des Gegensatzes bedingt. Gott ist existent, weil er nicht nichtexistent ist, d.h. er ist mit seinen Eigenschaf-

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ten identisch und kann – zwar allmächtig, aber der eigenen Schöpfung vorgege-ben – nicht deren Gegensatz sein. Ein Gott, der den Gegensatz ausdrücklich einschließt, muß die Welt ständig neu schöpfen und kann dann auch ewig und nicht ewig, wahr und nicht wahr, eins und nicht eins sein. Dieser Gott ist ledig-lich kontingent – eine Möglichkeit. Sie stimmt wiederum zwingend mit dem Umkehrschluß aus dem Gottesbeweis überein, der auf dem bloß möglichen Sein der Dinge beruht.48 Der logische Kreis schließt sich über die Zeit: Ein Gott, der wie Allah mit der Zeit identisch ist, nimmt die Subjektivität des menschlichen Bewußtseins an und wandelt die göttliche Macht in die Legitimation weltlicher Gewalt um. So können uns der Jude Gersonides und sein geniales Technik-Modell in beson-derer Klarheit vor Augen führen, daß Allah eine Konstruktion, eine metaphysi-sche Spekulation ist, deren technischer Charakter von Anbeginn unvermeidbar schien. Wie erläutert, war die geistige Grundmasse, aus der Glaubensschmied Muhammad die neue Religion modellieren konnte, durch Juden- und Christen-tum begrenzt. Um so verständlicher wird es, daß Papst Benedikt XVI. die Juden „Brüder“ und die Muslime „Freunde“ nennt. Das wußten allerdings auch schon die Juden in vorkoranischer Zeit. Muhammad zitiert sie selbst (5/65): „Die Juden sagen: Allahs Hand ist gebunden“, (d.h. er kann nicht gütig sein).49 Die Gebundenheit erstreckt sich für diesen Gott auf zwei fundamentale Bereiche: Zum einen kann er keine Wissenschaften zulassen, die das Glaubenswissen in Frage stellen. Zum anderen sind er und seine Lehren durch die Existenz des Judentums (und Christentums) eingeschränkt. Und nicht nur das: Weil er die Welt ständig neu schöpft und dabei unbeschränkte Gewalt entfaltet, muß er, um die Welt immer islamischer zu gestalten, die jüdisch-christlichen Fesseln sprengen und die Träger dieser Lehren beseitigen. Aus der Besetzung der jüdisch-christlichen Leerstellen – für Jahwe und Gott das Nichts – ergab sich, daß Muhammads Kreation zum Herrschaftsanspruch an sich wurde, der universale, damit auch nihilistische Dominanz verlangt. Deren histo-rische Konsequenz drückt sich im wahrhaft „gewaltigen“ Erfolg seiner Anhänger aus. Ausmaß und Geschwindigkeit ihrer Eroberungen stehen in der Weltge-schichte ohne Beispiel. Vor allem bestätigte auch das Verhalten des „christlichen“ Klerus die Attraktivi-tät des Muhammad-Konzepts. Als er sich über die Regeln ihres Stifters hinweg-setzte und in der Inquisition zu Herrschern göttlicher Macht aufschwang, hatte er nichts anderes getan, als den Christengott in Allah zu verwandeln. Und als sie in der Moderne anfingen, „mit den Muslimen den einen Gott anzubeten“, setzten die Kirchenfürsten die lange Kette der Versuche fort, der Masse Demut zu predi-gen, aber auf Elitenebene am Privileg muslimischer Machtausübung teilzuhaben. Denn Allahs Quintessenz ist: „Mein Reich ist von dieser Welt“. Den Juden ist diese Option verschlossen, weil sie – und dies ist eine tiefe Erkenntnis des deut-schen Philosophen Schelling – nicht staatlich handeln können.50

Wie das Gersonides-Modell zeigt und die politische „Dialog“-Praxis bestätigt, sind solche Vorgänge mit einer binären Zwangsblockade des Bewußtseins ver-

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bunden. Denn nun verschließt sich ihnen die Freiheitsdimension des trinitari-schen Gottes, der nicht in das speziell Weltliche eingreift. Die Macht von Allahs Gnaden läßt keinen freien Willen und keine Entwicklung zu, weil er ewig, wahr und eins, aber zugleich auch das Gegenteil ist. Da zudem das „Siegel“ Muham-mad jede individuelle Wissensautonomie und Prophetie verhindert, wird die Verbindung zwischen allgemeinem und speziellem Wissen, zwischen Gott und Welt, mithin die Gewissensentscheidung über Drohung und Gewalt abgeschnit-ten. Der Geist, der individuelles Wissen und die Verantwortung vor Gott ermö g-licht, zieht sich zurück. Mit ihm verschwindet nicht zuletzt auch der Humor.

So wird verständlich, warum viele „christliche“ Kleriker auch heute wieder Al-lahs treueste Sympathisanten sind, die sich im „Dialog“ mit besonderer Disziplin unterwerfen und den Skeptikern völlig humorlos entgegen treten. Die moderne „Toleranz“ schuf eine Art Herdeninquisition, in der die Hirten die islamophile Herde umkreisen und die „unkorrekten“ Abweichler wegbeißen, die dem „Frie-den des Islam“ nicht trauen wollen. Daß sich zugleich auch eine Wiedervereini-gung von Staat und Kirche (und/oder Moschee) anbahnt, können die neuen Die-ner Allahs an der säkularen Vielfalt von Politik, Justiz, Universität, Medien er-kennen, die sich mit ihnen in „Respekt“ vor dem Islam versammeln.51

Indem sie Macht vermittelt und ethische Behinderungen umgeht, übte Allahs Gewaltlizenz also nicht ohne Grund seit jeher große Anziehung aus. Da er das Gegenteil von sich selbst sein kann und dabei zwischen der Ferne unnahbarer Bewegungslosigkeit und der nächsten Nähe der „Halsschlagader“ (50/16) schil-lert, vereint er die Aspekte einer kosmisch-gnostischen und irdisch-offenbarten Gottheit, die klare Forderungen stellt.

Der Zwittergott zwischen Kosmos und Mensch verlangt ein Reinigungsopfer, das die Welt aus ihrem provokant unreinen Zustand befreit und in die eigentliche Welt, so wie sie sein soll, also in die reine Gemeinschaft Allahs, umwandelt. Diese übergeschichtliche Forderung verwirklicht sich in den geschichtlichen Einrichtungen des Djihad und der Dhimma, die latent bestehen und immer dann akut werden, wenn es die aktuellen Umstände erforderlich machen und/oder begünstigen.

Die gewaltbesetzte Gleichförmigkeit von interner Vereinheitlichung und externer Machtausweitung formte die einzigartige Kulturlandschaft eines übergeschichtli-chen Darwinismus und damit auch die Nähe zu den westlichen Politreligionen. Der historische Ablauf zeigt bis heute, daß Djihad und Dhimma automatisch aufleben, sobald sich die Kräftewaage zugunsten des Islam neigt, unabhängig davon, ob der Islam stark oder die Gegenseite schwach wird. Insofern versteht sich, daß die Befreiung vom Unglauben eine Weltpflicht ist, die sich nicht nur auf das Islamland, sondern besonders auch auf das Nochnicht-Islamland er-streckt. Darauf deutet allein schon dessen offizielle Bezeichnung „Kriegsland“ hin, in dem als Gegner der Westen und als unveränderter Hauptfeind „der Jude“ auftauchen. Mithin wird auch die die spezifische Bedeutung des „Märtyrers“ (arab.: = sha-hid) verständlich, die sich in völligen Gegensatz zum jüdisch-christlichen Begriff

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stellt. Der „Shahid“ ist ein Gläubiger, der im „Djihad“, im Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen stirbt. Es ist einsehbar, daß die ahistorische Logik des Islams ys-tems dem Märtyrer einen hohen Stellenwert einräumen muß. Indem er Allah sein Leben opfert, geht er ins Paradies ein, während die Ungläubigen, ob getötet oder nicht, die Hölle erwartet. Aus dieser Kombination ergab sich die Strategie des „messianischen Darwinis-mus“, auf die Europa bisher – außer Anpassung und Gehorsam – keine Antwort gefunden hat. Ihre Institutionen sind die Hizbollah als iranische und die Hamas als arabische Variante. Mit systematischem Terror, der in zunehmendem Maße Selbstmörder einsetzt, zermürben sie den Libanon und Israel. Über ihre Organi-sationen – vor allem den EAD (European Arab Dialogue) – unterstützt die EU diesen „Frieden des Islam“ mit Zuschüssen von mehreren hundert Millionen Euro jährlich. Zugleich fördert sie zahllose Symposien und Veranstaltungen, in denen die ein-schlägigen Rituale des „Respekts“ eingeübt und verinnerlicht werden. Keine Frage, daß sich hier die beiden Gewaltgruppen „auf dem Weg in die Demokra-tie“ befinden, während sich zugleich Israel nicht nur zu einem „Terrorstaat“, sondern inzwischen zu einem Gewaltgebilde kosmischen Ausmaßes entwickelt.

Die Paranoia, die sich bei den Islamisten und in besonderem Maße bei den Phan-tasten der ultra-radikalen Apokalyptik-Literatur aufbaut, findet auch Sympathi-santen bei der terrorphilen Avantgarde des westlichen „Dialogs“. Auf beiden Seiten – im Westen (noch) etwas verdeckter – wird „der Jude“ zu einem Dämon aufgebläht, dessen Vernichtung nicht mehr tabuisiert wird. Auf die iranische Forderung des „Ausradierens Israels“ reagierten die Eurokraten „besonnen“, also gar nicht. Für die Scharfmacher des Islam liegt der Fahrplan fest: Ihr Endgericht beginnt, wenn alle Juden getötet sind, und es endet, wenn Jesus alle Christen getötet hat. Pater Basilius Streithofen, der unlängst von uns gegangen ist, war als aufrechtem Menschen bei seinem Lob für den „untadeligen Moslem Bassam Tibi“ (NO 6/04) die Technik der Mehrdeutigkeit nicht geläufig, die auch Tibi braucht, um im „Dialog“-Geschäft erfolgreich zu sein. Weder ist Tibi Moslem, sondern Ag-nostiker, noch meinte er den Gegenstand des Lobs ernst, vorliegend das islami-sche „Feindbild Westen“. Denn wäre dem so, hätte er den von ihm selbst mitge-formten Schlußstein aus dem „Friedens“- und „Respekts“-Gebäude des antisemi-tischen Euro-„Dialogs“ längst entfernt: „Der Islam ist eindeutig frei von Antise-mitismus!“52

Anmerkungen 1) Propyläen 5, 41. 2) Grunberger/Dessuant, 296. 3) Pfannmüller, Handbuch, 173. 4) Geiger, Muhammad, 6. 5) Ebd., 22.

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6) Ebd., 98, 88f. 7) Wellhausen, Medina vor dem Islam, 4. 8) Nagel, Theologie, 16f. 9) EI III, 577f. 10) Nagel, Theologie, 16. 11) Goldziher, Muhammedanische Studien I, 69. 12) Rodinson, Muhammad, 104. 13) Ebd., 107. 14) Bouman, Der Koran und die Juden, 68. 15) Vgl. Raddatz, Von Gott zu Allah?, 330. 16) Rodinson, Muhammad, 157. 17) Ebd., 54. 18) Busse, Theologische Beziehungen, 49. 19) Bouman. Juden im Islam, 96. 20) Busse, Beziehungen, 71. 21) Gibbon, Islam, 336. 22) Bouman, Koran, 85f. 23) Goldziher, Muhammedanische Studien I, 69. 24) Iyad Ibn Musa al-Yahsubi, Ash-Shifa (Muhammad, Messenger of Allah), Granada 1991. 25) Rodinson, Muhammad, 214; Peters, From Time Immemorial, 144. 26) Schacht. Katl. in: Encyclopaedia of Islam, Vol. IV. E. J. Brill: Leiden, 1990, S. 766-722, hier: S. 771. 27) Bukhari, Kitab al-Tauhid, 413f. 28) Peters, Rudolph, Jihad, 52. 29) Aufbauend auf dem Universal-Prinzip des Ibn Taymiya (gest. 1228) predigt die Mus-limbruderschaft den generellen Kampf gegen den Unglauben, der in jedem Falle eine Bedrohung und damit den permanenten Verteidigungsfall bedeutet. Mithin ist jeder An-griff der Muslime ein Akt der Verteidigung, wie der Großmufti von Ägypten, Muhammad Tantawi, am Beispiel der Spanien-Eroberung (711-15) bestätigte (Süddeutsche Zeitung, 21.9.2001). 30) Grunebaum, Propyläen 5, 63. 31) Lewis, Juden, 83. 32) Peters, Joan: From Time Immemorial, 145. 33) Möhring, Weltkaiser der Endzeit, 382. 34) Ebd., 369. 35) Der Priester Arius (gest. 336) aus Alexandria verbreitete eine nach ihm benannte Lehre, die Jesus die Göttlichkeit absprach, große Diskussionen in der Kirche auslöste und im Konzil von Nicäa 325 verworfen wurde. Während dieser Beschluß unter Kaiser Con-stans erging, gelang es den Arianern, unter Kaiser Constantius II. ein Konzil in Antiochia (341) abzuhalten, das den Arianismus teilweise rehabilitierte. Nachfolgende Wirren wur-den durch das Konzil von Konstantinopel (381) zugunsten des trinitarischen Glaubens

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beendet. Bei einigen germanischen Völkerschaften, u.a. bei den spanischen Westgoten, lebte der Arianismus noch bis zu Beginn des 8. Jahrhunderts fort, bevor er im Ansturm der Muslime unterging. 36) Dozy, Die Mauren in Spanien I, 263f. 37) Bostom, Legacy of Islam, 56. 38) Bat Ye’or: Decline, 128 ff. 39) Werner, Osmanen, 139. 40) Werner, Osmanen, 139; die spaltende Wirkung der Angst vor den osmanischen Trup-pen ging quer durch die Christenheit. Zuweilen war die Schadenfreude der Lateiner über die Schwäche der Byzantiner kaum zu bändigen, denn „die Feindschaft gegen die schis-matischen Griechen war nicht geringer als gegen den Islam“ (ebd., 152). 41) Nicholson, Literary History, 411f. 42) Ebd., 95. 43) Lewis, Juden, 55f. 44) Dozy, Die Mauren in Spanien II, 301, 303. 45) Ebd., 250. 46) Guttmann, Philosophie, 240. 47) EI II, 95. 48) Guttmann, Philosophie, 259. 49) Koran ed. Ullmann, München 1959, S. 98. 50) Brumlik, Deutscher Geist und Judenhaß, S. 279. 51) Bat Ye’or, Eurabia, 48 ff. 52) Tibi, Islam in Deutschland, 160.

Dr. Hans-Peter Raddatz, Orientalist, Volkswirt und Systemanalytiker, ist Ko-Autor der „Encyclopaedia of Islam“ und Autor zahlreicher Bücher über den Islam.

Bericht und Gespräch

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Stephan Georg Schmidt

„Ich selbst und mein Schöpfer“

Impulse aus der englischsprachigen Newman-Forschung

Bildhafter hat vielleicht kaum je mand das Gottesbild der Moderne in Sprache gefaßt als James Joyce in seinem autobiographisch geprägten Roman Porträt des Künstlers als junger Mann aus dem Jahr 1916. Darin vergleicht er den kreativen Menschen mit dem Schöpfergott, der sich gleichgültig und gelangweilt aus dem einmal vollbrachten Werk seiner Hände heraushalte. Gleichsam „aus der Exis-tenz hinausraffiniert“, stehe dieser Künstler-Gott abseits und „manikürt sich die Fingernägel“.1 Die Vorstellung eines abwesenden Gottes, der die Welt sich selbst überläßt, ist geradezu ein Kennzeichen jener Epoche geworden, die sich Moder-ne nennt, und die mit zwei Weltkriegen und zwei totalitären Systemen reiche Belege zu bieten scheint für die Annahme, daß Gott entweder gar nicht existiere oder aber, falls es ihn doch gebe, sich um seine Schöpfung nicht kümmere.

Es ließe sich gewiß darüber streiten, ob eine solche Betrachtungsweise nicht vielleicht Ursache und Wirkung vertausche, ob nicht also die Leugnung Gottes oder sein „Hinausraffinieren“ aus der Schöpfung durch Naturwissenschaft, Psy-chologie, Kunst und Philosophie erst den Weg gebahnt habe zu den Gewaltex-zessen des vergangenen Jahrhunderts. Auf das auch in politischer Hinsicht ge-fährliche Glatteis einer solchen Debatte sollte man sich jedoch – auch als über-zeugter Christ übrigens – nicht ohne Not begeben, denn für die Annahme, daß die Welt, wie sie sich zeigt, es einem wach um sich blickenden Menschen bis-weilen schwermache, an einen allmächtigen und zugleich guten Schöpfergott zu glauben, gibt es Kronzeugen auch unter durch und durch christlichen Denkern, und zwar lange schon, bevor von Massenvernichtungswaffen und Konzentrati-onslagern die Rede war. Eine der in diesem Sinn zeitgenössisch anmutenden und zugleich prophetischen Gestalten ist der englische Konvertit und Kardinal John Henry Newman, dessen Leben nahezu das gesamte 19. Jahrhundert umspannt. „Die Welt“, schreibt Newman in seiner Autobiographie Apologia pro Vita sua aus dem Jahr 1864, „scheint einfach die große Wahrheit Lügen zu strafen, von der mein ganzes Wesen erfüllt ist, und die Wirkung auf mich ist notwendig nicht weniger verwirrend, als wenn dieselbe Welt meine eigene Existenz leugnete. Wenn ich in einen Spiegel blickte und darin mein Gesicht nicht sähe, so hätte ich ungefähr dasselbe Gefühl, das mich jetzt überkommt, wenn ich die lebendige, geschäftige Welt betrachte und das Spiegelbild ihres Schöpfers nicht in ihr finde. [...] Wäre es nicht diese Stimme, die so deutlich in meinem Gewissen und in meinem Herzen spricht, ich würde bei der Betrachtung der Welt zum Atheisten, Pantheisten oder Polytheisten.“2

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Damit greift Newman – ein halbes Jahrhundert vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dem darauf folgenden Zusammenbruch der bis dahin gültigen gesellschaftlichen und weltanschaulichen Systeme – geistig den Entwicklungen voraus, die sich dann im Verlauf des 20. Jahrhunderts tatsächlich zeigten. Ve r-einfachend betrachtet, ließe sich zunächst vor allem eine Tendenz zum Atheis-mus unter Künstlern, Schriftstellern und Philosophen feststellen. Die beispiellose Grausamkeit und offenkundige Sinnlosigkeit des Sterbens auf den Schlachtfel-dern und in den Terrorlagern führte sie zur Leugnung Gottes. In den letzten Jahr-zehnten dagegen scheinen sich vor allem die beiden anderen von Newman ge-nannten Alternativen durchgesetzt zu haben. Atheismus in Reinform gilt derzeit als überholt, zumal gerade jene Ideologie, die sich mit wissenschaftlichem An-spruch auf ihn stützte, buchstäblich abgewirtschaftet hat. Die gleichsam gottlose Autonomie des Menschen erscheint angesichts einer immer komplexer, unbere-chenbarer und beliebiger sich zeigenden Welt als ein kaum haltbarer Standpunkt. Man mag gleichwohl zeitkritisch fragen, wie lange das wohl so bleibt, wenn man sieht, wie die Fortschritte mancher wissenschaftlicher Disziplinen wie beispiels-weise der Hirnforschung zur Widerlegung des religiösen Glaubens in Stellung gebracht werden. Indes zeigen Umfragen in verschiedenen Ländern bisher, daß eine große Mehrheit durchaus an irgendeine transzendente Macht glaubt, wenn-gleich diese nur selten mit einem persönlichen Gott identifiziert wird. Wer oder was diese übernatürliche Instanz sein könnte, bleibt vielfach ungeklärt, doch unbesetzt bleibt diese geistige Leerstelle deswegen nicht, sondern der typische Eklektizismus der Postmoderne schafft sich hier seinen Ersatz nach dem soge-nannten Cafeteria -Prinzip. Unter Rückgriff auf vorchristliche und fernöstliche Gottes- und Heilsvorstellungen wird eine Mixtur aus allen möglichen religiösen und philosophischen Versatzstücken hergestellt, die man am ehesten bezeichnen könnte als Pantheismus – frei nach dem Motto: „Gott ist überall und nirgends“, was Arthur Schopenhauer „die vornehme Form des Atheismus“3 genannt hat – oder angesichts mancher esoterischen Entlehnungen aus dem Hinduismus oder aus dem altgermanischen Asenkult auch als regelrechten Polytheismus. Eine neuartige, diffuse Religiosität macht sich breit, doch ist die Situation im Grund-satz unverändert: Der Gott der christlichen Offenbarung, von dem der katholisch erzogene Joyce noch ausging, als er sein Porträt schrieb, bleibt im Abseits. Newman – so könnte man mit einigem Recht behaupten – hat dies zu seiner Zeit nicht nur vorausgeahnt, sondern in gewisser Weise sogar selbst durchlitten. Er war sich der Gefahr durchaus bewußt, die die „Betrachtung der Welt“ für den eigenen Gottesglauben mit sich bringt und der heutzutage viele erliegen. Vor allem auch deswegen wohl versucht die neuere Newman-Forschung, insbesonde-re in englischsprachigen Ländern, den großen Intellektuellen des 19. Jahrhun-derts ins Gespräch zu bringen mit den gegenwärtigen philosophischen und (pseudo-)religiösen Ideen. Nach Ansicht von Terrence Merrigan (Katholische Universität Leuven, Belgien), einem der Wortführer dieser neuen Tendenz, las-sen sich aus Newmans Denken „wertvolle Lehren“ ziehen „für das Verständnis jenes verstörten Wesens, das wir als das moderne und/oder postmoderne Subjekt kennen“.4

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Der Rekurs auf Newman beschränkt sich jedoch nicht auf eine bloße Beschrei-bung und Bestätigung der gegenwärtigen Zustände – schließlich bleibt auch Newman selbst nicht bei der „Betrachtung der Welt“ stehen, sondern erwähnt mit Nachdruck die „Stimme, die so deutlich in meinem Gewissen und meinem Her-zen spricht“ und die ihn angesichts des Weltgeschehens eben gerade nicht vom Glauben an den Schöpfergott abfallen läßt. Aus der Zusammenführung der Weltbetrachtung und der „inneren Stimme“ ergibt sich Newmans Relevanz für die Gegenwart. Wenn Newman die Grundprobleme der heutigen Situation gese-hen und sich zu eigen gemacht hat und wenn er diesen ein deutliches Bekenntnis zum Glauben an die Seite stellt, dann – so könnte man als These vielleicht for-mulieren – müßten sich Mittel und Wege finden lassen, sein Denken auch heute fruchtbar werden zu lassen.

Die Schwierigkeiten beginnen allerdings, sobald es darum geht zu bestimmen, was denn die „innere Stimme“ sei, von der Newman spricht. Deren Gleichset-zung mit der Stimme Gottes, die sich im Gewissen eines jeden einzelnen Men-schen zu Wort meldet, ist vielen Zeitgenossen ja nicht mehr ohne weiteres ein-gängig. Das Zweite Vatikanische Konzil hat das Gewissen definiert als „die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist.“5 Das deckt sich mit Newmans Standpunkt, der das Gewissen als ein „Echo der Stimme Gottes“ be-zeichnet.6 Anderswo wird er noch deutlicher: „Das Gewissen ist der ursprüngli-che Statthalter Christi, ein Prophet in seinen Mahnungen, ein Monarch in seiner Bestimmtheit, ein Priester in seinen Segnungen und Bannflüchen.“7 Mit dersel-ben Klarheit verurteilt er jene relativistische Vorstellung, wonach das Gewissen allenfalls „eine Art Sinn für das Schickliche [sei], eine Geschmackssache, die uns das eine oder das andere zu tun lehrt“.8 Auch die psychoanalytische Sicht, die das Gewissen auf Schuldgefühle und Komplexe („schlechtes Gewissen“) reduzieren will, ist seinem Denken fremd. Merrigan sieht in Newmans Gewissensbegriff regelrecht eine „dialektische Be-ziehung“ zwischen gutem und schlechtem Gewissen: „Während ersteres die Güte der göttlichen Vorsehung enthüllt und uns so vor der Verzweiflung bewahrt, die unser Streben nach dem Guten behindern würde, erschüttert letzteres durch die Bekanntgabe der gerechten Urteile Gottes, unsere Selbstgenügsamkeit und inspi-rie rt uns dazu, nach sittlicher Vollkommenheit zu streben.“9 Der Mensch erfährt die Äußerungen seines Gewissens nicht wie ein vom Über-Ich geknechtetes Wesen, sondern indem sich im Gewissen die Stimme Gottes äußert, entwickelt sich ein inneres Zwiegespräch zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer. Diese sind denn auch – nach einem häufig zitierten Satz aus Newmans Apologia – die beiden einzigen Wesen, „die absolut und von einleuchtender Selbstver-ständlichkeit sind: ich selbst und mein Schöpfer“.10 Und an anderer Stelle: „Das Gewissen lehrt uns ferner nicht nur, daß Gott ist, sondern auch was er ist. Es versieht den Geist mit einem wirklichen Bild von [Gott], als einem Medium der Anbetung.“11

Was nach Verinnerlichung aussehen mag, erweist sich bei näherer Betrachtung als Akt innerer und äußerer Freiheit. Das wird besonders deutlich, wenn man

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Newmans Gewissensbegriff absetzt gegen spätere Theorien, die sich ausdrück-lich von christlichen Vorstellungen abwenden. Den Unterschied zur Psychoana-lyse etwa weist Michael J. Buckley (Boston College, USA) unter anderem am Verhältnis zur persönlichen Freiheit auf: Während das Über-Ich mit (Kindheits-) Erfahrungen und Schuldgefühlen das Individuum zu konditionieren und zu de-terminieren suche, wende sich das Gewissen nach Newmans Vorstellung gerade „an die Freiheit, an einen Sinn für Selbstverantwortung oder Selbstbestimmung“; konfrontiert mit einer sittlichen Wahl, erfahre die menschliche Person auf radika-le Weise „ihre eigene Freiheit, ihre Verantwortung für das, was sie erwägt und wofür sie sich entscheidet – ja, geradezu die Verantwortung für ihr ganzes Le-ben.“12

Um so erstaunlicher, wenn heute dieser freiheitliche Aspekt von Newmans Ge-wissensbegriff weitgehend übersehen wird und man sich statt dessen mit einem psychoanalytis ch oder naturwissenschaftlich verbrämten Determinismus, Ge-schmacksfragen oder – die vielleicht typischste Ausdrucksform des postmoder-nen Relativismus, wie ihn beispielsweise der amerikanische Philosoph Richard Rorty vertritt – mit den Vorgaben gesellschaftlicher Mehrheiten zufrieden gibt. In einer scharfsichtigen Kritik an diesem Phänomen hat Joseph Kardinal Ratzin-ger, der jetzige Papst Benedikt XVI., darauf hingewiesen, „daß der Relativismus seinen eigenen Dogmatismus in sich trägt: Er ist sich seiner selbst so gewiß, daß er auch denen auferlegt werden muß, die ihn nicht teilen. Im letzten ist hier der Zynismus unausweichlich [...]: Wenn die Mehrheit – wie etwa im Fall des Pila-tus – immer recht hat, dann muß das Recht mit Füßen getreten werden. Dann zählt im Grunde zuletzt die Macht des Stärkeren, der die Mehrheit für sich ein-zunehmen weiß.“13

Daß trotzdem der Zusammenhang zwischen christlich gebildetem Gewissen und persönlicher Freiheit derzeit kaum gesehen wird, hängt möglicherweise mit dem intellektuellen Zersetzungsprozeß zusammen, der in den zurückliegenden zwei Jahrhunderten die Begriffe des religiösen Subjekts und mithin auch den des Ge-wissens erfaßt hat. Buckley nennt dafür beispielhaft Feuerbach und Freud, die den Gegenstand des religiösen Glaubens zu einer Projektion des Menschlichen auf ein erdachtes Göttliches herabgestuft hätten.14 Diesen Grundfehler kreidete schon Newman den Vertretern der neuen wissen-schaftlichen Richtungen an: die Anwendung rationalistischer Prinzipien in Fra-gen der religiösen Offenbarung, wodurch der eigene begrenzte „Verstand zum Standard und Maßstab der offenbarten Lehren“ erhoben werde.15 Dies sei ein „Mißbrauch der Vernunft“, der die nach Newmans Auffassung bedeutendste natürliche Erkenntnisquelle über Gott – die Stimme, die im Gewissen und im Herzen spricht – bewußt blockiere, so daß die bloße Betrachtung der Welt und der Geschichte einen Menschen, dessen innere Stimme zum Schweigen gebracht sei, leicht „zum Atheisten, Pantheisten oder Polytheisten“ machen könne. Auch die anderen natürlichen Erkenntniswege, auf denen ein Mensch, sofern er dafür offen ist, näher zu Gott kommen kann, scheinen durch den Rationalismus ver-sperrt, der nur gelten läßt, was empirisch verifizierbar und logisch deduzierbar ist. Dabei lehrt schon die menschliche Erfahrung, daß gerade die für das eigene

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Leben prägendsten Kenntnisse und Beziehungen nicht durch Logik und Empirie zustande kommen. Newman bringt das auf den Punkt in seiner Zustimmungslehre, einer erkenntnis-theoretischen Arbeit, die übrigens für die Auseinandersetzung mit dem postmo-dernen Denken sicherlich noch vieles leisten kann: „Das Herz wird gemeinhin nicht durch den Verstand erreicht, sondern durch die Einbildungskraft [imagina-tion], aufgrund unmittelbarer Eindrücke, durch das Zeugnis von Tatsachen und Ereignissen, durch Geschichte, durch Beschreibung. Personen beeinflussen uns, Stimmen schmelzen uns, Blicke bezwingen uns, Taten entflammen uns. Manch ein Mensch wird leben und sterben auf ein Dogma hin; kein Mensch will der Martyrer einer Schlußfolgerung sein.“16 Literarisch hat George Bernard Shaw 1924 in seinem nobelpreisgekrönten Drama über die hl. Johanna von Orléans dies prägnant zum Ausdruck gebracht. Als die Titelheldin einem französischen Offizier ihre militärischen Dienste aufdrängt und sich dabei auf Gottes Stimme beruft, spottet dieser, jene Stimme, die sie da angeblich höre, komme doch bloß aus ihrer eigenen Vorstellung (imagination). Die entwaffnende Antwort, die Shaw der Heiligen in den Mund legt: „Selbstverständlich. So erreichen uns Go t-tes Botschaften nun mal.“17

Subjektstellung des Menschen

Dieses Grundvertrauen in die Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Geistes erscheint der Postmoderne fremd, wenn nicht gar befremdlich naiv. Schon die Vordenker des Rationalismus trauten dem Menschen, was das Wahrnehmen des Göttlichen betrifft, nicht mehr allzu viel zu. Wo Gott aus der Welt „hinausraffi-niert“ war, da gab es eben nicht mehr viel zu erkennen. Zum Leidwesen der Rationalisten blieb jedoch der von ihnen angestoßene Zersetzungsprozeß in die-sem Stadium nicht stehen. Moderne Philosophen und Naturwissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts hatten, auch wenn sie dem Menschen die Gottfähigkeit absprachen, immerhin noch an der Autonomie des Subjekts festhalten können; der vom Absoluten abgeschnittene, sozusagen von den überkommenen Gottes-vorstellungen befreite Mensch war ja in ihren Augen überhaupt erst der wirklich autonome Mensch. Inzwischen aber hat selbst dies keinen Bestand mehr, jeden-falls wenn man Michel Foucault, einem Vordenker der Postmoderne, glauben will. Dessen „Anti-Subjektivismus“ läßt von der angeblichen Autonomie, auf die sich die Moderne noch so viel zugute hielt, kaum etwas übrig – einfach weil für Foucault schon das Subjekt an sich als Träger irgendwelcher Autonomie nur „Fiktion“ ist.18

Obwohl diese Vorstellung erkennbar Lichtjahre entfernt ist von Newmans Men-schenbild, erblicken Newman-Forscher offenbar gerade hier neue mögliche An-knüpfungspunkte, um die Stimme des Kardinals aus dem 19. Jahrhundert in die Diskussion mit der Postmoderne einzubringen. Bemerkenswert scheint in diesem Zusammenhang der Begriff des „dynamischen Subjekts“19, den der bereits zitier-te Theologe Terrence Merrigan vorschlägt. Auch für Newman sei der Mensch zu Lebzeiten als religiöses Subjekt nie mals fertig, sondern befinde sich „in einem

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Prozeß andauernder Entwicklung (oder Veränderung). Man könnte sogar von einem Prozeß einer unablässigen Neuerschaffung sprechen“. Newman selbst spricht dies unter anderem in seinem bekannten Wort aus, auf Erden „heißt leben sich wandeln, und vollkommen sein heißt sich oft gewandelt haben.“20 Kardinal Ratzinger hat in einem Vortrag über Newman den engen Bezug dieses Satzes zu Newmans eigener Biographie betont: „Newman ist in seinem ganzen Leben ein Sich-Bekehrender gewesen, ein Sich-Wandelnder, und so ist er immer er selbst geblieben und immer mehr er selbst geworden.“21

Doch ein solcher Entwicklungsprozeß – auch das lehrt der Blick auf Newmans Leben – ist kein blindes, zielloses Tappen zwischen den zahllosen Möglichkei-ten, die das dynamische Subjekt hat. Für Kontinuität sorge „der Eine, der unab-lässig das Ich zu einem authentischen Selbst-Sein in der Liebe ruft“, schreibt Merrigan, um dann ganz überraschend eine mögliche Gemeinsamkeit zwischen dieser dynamischen Kontinuität und der postmodernen Skepsis gegenüber dem Subjekt anzudeuten: In sich selbst habe das einzelne Ich auch nach Newmans Auffassung keine Basis, sondern es werde „stets durch ,das Andere’ konstituiert: die anderen [Menschen], für die es jeweils Verantwortung trägt, und den Ande-ren [Gott], vor dem es sich zu verantworten hat. Sein Dasein ist also im wesent-lichen Gabe (oder Gnade) und Aufgabe (oder Ruf): etwas, das sich aktualisiert in jeder authentischen Antwort auf die Stimme des Gewissens. Außerhalb dieser Antwort – das heißt, jedesmal wenn das Gewissen beiseite geschoben oder seine Ansprüche geleugnet werden – verliert das Subjekt seinen Urgrund, zerfällt in Fragmente und wird zur Beute der disparaten Begierden, die aus einer zuneh-mend aggressiven Konsumgesellschaft herrühren oder von dieser geschaffen werden.“ In diesem Sinn sei auch Newmans Subjekt wie das der Postmoderne immer nur „vorläufig“.22

Vor diesem Hintergrund gewinnt Newmans Gebet an den unwandelbaren Gott womöglich ganz neue Aktualität: „Ich erkenne, o mein Gott, daß ich mich än-dern muß, wenn ich Dein Antlitz schauen will. [...] Mein wirkliches Sein, meine Seele, muß durch eine wahre Wiedergeburt umgestaltet werden. [...] O stärke mich in dieser großen, furchtbaren und doch glückbringenden Veränderung mit der Gnade Deiner Unveränderlichkeit! Meine Unveränderlichkeit hienieden ist fortwährendes Sich-Verändern. Gib, daß ich Dir täglich ähnlicher werde und von Herrlichkeit zu Herrlichkeit umgewandelt werde durch den Aufblick zu Dir und die Kraft Deines Armes! [...] Welches Los meiner wartet, ob ich reich bin oder arm, gesund oder krank, Freunde habe oder nicht, alles wird mir zum Übel gerei-chen, wenn der Unveränderliche mich nicht behütet, alles wird mir zum Heile sein, wenn Jesus mit mir ist, Jesus, gestern und heute derselbe und für alle Ewig-keit.“23

Anmerkungen

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1) James Joyce, A Portrait of the Artist as a Young Man, London 1977, S. 194f. (Deut-sche Übersetzungen aus Werken, die mit englischem Titel zitiert sind, stammen vom Autor.) 2) John Henry Newman, Apologia pro Vita Sua (Band I der Ausgewählten Werke), Mainz o. J., S. 278f. 3) Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 221991, S. 539. 4) Terrence Merrigan, „‚Myself and my Creator’: Newman and the (Post-)Modern Sub-ject“ (Vortragsmanuskript zur Internationalen Newman-Konferenz, Oxford 2004), S. 1; vgl. dazu auch Robert Barron, „Newman among the Postmoderns“, in: Newman Studies Journal, Bd. 2/1 (Frühjahr 2005). S. 20-31. 5) Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, 16. 6) John Henry Newman, Sermon Notes, London 1913, S. 327. 7) Ders., Polemische Schriften (Band IV der Ausgewählten Werke), Mainz 1959, S. 162. 8) Ders., Sermon Notes, S. 327. 9) Merrigan, a.a.O., S. 14. 10) Newman, Apologia, a.a.O., S. 22. 11) Ders., Entwurf einer Zustimmungslehre (Band VII der Ausgewählten Werke), Mainz 1961, S. 274; für eine Zusammenfassung der Grundlagen von Newmans Gewissenslehre und der wichtigsten Belegstellen aus seinem Schrifttum vgl. Hermann Geißler, Gewissen und Wahrheit bei John Henry Kardinal Newman, Frankfurt/Main 21995, S. 21-27. 12) Michael J. Buckley, „‘The Winter of my Desolation’: Conscience and the Contradictions of Atheism according to John Henry Newman“ (Vortragsmanuskript zur Internationalen Newman-Konferenz, Oxford 2004), S. 25. 13) Joseph Kardinal Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs, Freiburg i. B. 2005, S. 57f. 14) Buckley, a.a.O., S. 10. 15) John Henry Newman, „On the Introduction of Rationalistic Principles into Revealed Religion“ (Tract 73), in: Essays Critical and Historical, Vol. 1, London 1907, S. 31. 16) Ders., Zustimmungslehre, a.a.O., S. 64f. 17) George Bernard Shaw, St. Joan, London 1970, S. 67; vgl. Merrigan, a.a.O., S. 14. 18) Merrigan, a.a.O., S. 7f., 16. 19) Ebd., S. 17. 20) John Henry Newman, Über die Entwicklung der Glaubenslehre (Band VIII der Aus-gewählten Werke), Mainz 1969, S. 41. 21) Joseph Kardinal Ratzinger, „Newman gehört zu den großen Lehrern der Kirche“ (Nachdruck eines Vortrags aus dem Jahr 1990), in: L’Osservatore Romano (Wochenaus-gabe in deutscher Sprache) 22/2005, S. 9. 22) Merrigan, a.a.O., S. 17; vgl. dazu die verschiedentlich als Zeichen der Abkehr von der radikalen Subjektkritik gedeuteten Vorlesungen Foucaults aus dem Jahr 1982 (Michel Foucault, Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt/Main 2004). 23) John Henry Newman, Betrachtungen und Gebete, München 1952, S. 214f; vgl. Mer-rigan, a.a.O, S. 18. Stephan Georg Schmidt ist Anglist, Skandinavist und Historiker. Er ist Presse-sprecher des Erzbistums Köln und Chefredakteur der Kölner Kirchenzeitung.

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Harald Bergsdorf

Rechtsextreme Populisten im Fernsehen

Diagnose und Therapie

Seit einigen Jahren feiern rechtsextreme Parteien wieder Wahlerfolge in Deutschland: Die jüngsten Wahlen unterstreichen diesen Trend. Nach den NPD-Erfolgen gibt es nun verstärkt Debatten über Gegenmaßnahmen. Weitgehende Einigkeit herrscht in einem Punkt: Nur ein Bündel an Aktivitäten wird zum Er-folg führen. Doch so wichtig gerade im Osten eine stärkere Aktivität der (allerdings mitglie-derschwachen) Kirchen und gemäßigten Parteien gegen Rechtsextremismus ist: Auch das Fernsehen muß helfen, Demokratiefeinde zu bekämpfen. Durch Auf-klärung kann es einen Beitrag leisten, Demagogen zu enttarnen und zurückzu-drängen (zum Beispiel agitieren Rechtsextremisten in den jungen Ländern be-kanntlich gegen Ausländer; eine starke Minderheit der Bürger dort meint laut Repräsentativumfragen sogar, der Ausländer-Anteil liege im Osten über 25%; faktisch liegt er bei rund 2%). Am 17. September 2006 gelang es einem Moderator am Wahlabend in Schwerin, dem NPD-Polit iker Udo Pastörs zumindest ansatzweise die Maske herunterzu-ziehen: So bestätigte der rechtsextreme Politiker am Sonntagabend in der ARD einen Satz über Hitler, den er im Wahlkampf abgesondert hatte: „Er ist ja ein Phänomen gewesen dieser Mann, militärisch, sozial, ökonomisch – er hat ja wahnsinnige Pflöcke eingerammt auf fast allen Gebieten.“ Pastörs wörtlich in der Sendung: „Das ist übrigens ein korrektes Zitat.“ Er wolle seinen Satz über das Phänomen Hitler allerdings „wertfrei geäußert“ haben – „nur gemessen an den objektiv meßbaren Ergebnissen auf vielen Gebieten“. Der NDR-Chefreporter beendete sein konfrontatives Kurzgespräch mit den tref-fenden Worten: „Adolf Hitler wertfrei und damit zurück nach Hamburg.“ Auf die Frage, ob er sich für einen Neonazi halte, antwortete der NPD-Politiker: „Wenn Sie damit meinen, daß ich ein Mann bin, der national denkt und fühlt und sozial handelt, dann fühle ich mich durchaus richtig mit einer Bezeichnung be-zeichnet.“ Pastörs läßt sich, wie er selbst sagt, „unter bestimmten Aspekten als Neonazi bezeichnen“. Weiter äußerte er, die DDR habe sehr viele sozialpoliti-sche Ansätze gehabt, die er unterschreibe – ebenso das Dritte Reich, zum Bei-spiel in der Beschäftigungspolitik, aber auch auf anderen Politikfelder, die er nicht näher beschrieb. Schließlich enthüllte Stefan Köster, NPD-Chef von Meck-lenburg-Vorpommern, wie wenig er fundamentale finanzpolitische Fakten des nordost-deutschen Bundeslandes kennt. Ein markantes Beispiel hingegen, wie die (Selbst-)Enttarnung von Rechtsext re-misten scheitert, war der Wahlabend nach dem NPD-Erfolg in Sachsen 2004:

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Als sich die rechtsextremen Demagogen vor laufenden Kameras äußerten, rea-gierten ihre Interviewer von ARD und ZDF wie ein „aufgescheuchter Hühner-haufen“, so Hellmuth Karasek . Keine fundierte Auseinandersetzung, sondern eher Alibi-Journalismus. Bezeichnend die rhetorische Frage, auf die sich Bettina Schausten, ZDF-Journalistin, am damaligen Wahlabend beschränkte, als sie den NPD-Politiker Holger Apfel interviewte: „Wann sagen Sie Ihren Wählern end-lich, daß Sie Neonazis sind?“ Wolfgang Donsbach , renommierter Medienwissen-schaftler aus Dresden, bemerkte: „Es war ein Trauerspiel des Fernsehjournalis-mus, was in Sachsen am Wahlabend abgelaufen ist. Journalisten sind keine Rich-ter …“ Wie sollen Journalisten mit solchen Populisten umgehen – und wie nicht? Aus-blenden oder Aufklärung? Wie präsentieren sich solche Demagogen ihrerseits in Fernsehstudios? Peter Glotz, kürzlich verstorbener Kommunikationswissen-schaftler und SPD-Politiker, plädiert (ähnlich wie Donsbach) für Aufklärung: Er will rechtsextreme Demagogen in offenen, direkten Auseinandersetzungen (stär-ker) demaskieren. Deshalb diskutierte Glotz, Verfasser eines lesenswerten Bu-ches über Rechtsextremismus, nach der Wahl in Sachsen im Fernsehsender N24 mit dem NPD-Chef und Diplom-Politologen Voigt. Glotz enttarnte in seiner Diskussion mit Voigt dessen Äußerungen und deren Konnotationen. So nutzte Glotz die trickreiche Bemerkung Voigts, er halte Hitler lediglich deshalb für einen großen Staatsmann, weil der Diktator – quantitativ – große Veränderungen herbeigeführt habe, um an Hitlers Angriffskrieg und massenhaften Judenmord zu erinnern. Voigts faktenferne Behauptung, deutsche Politiker ignorierten das Leid deutscher Opfer im Zweiten Weltkrieg, widerlegte Glotz, indem er auf das Engagement deutscher Politiker gegen Vertreibungen ebenso hinwies wie auf Besuche deut-scher Politiker auch auf deutschen Soldatenfriedhöfen. Als der NPD-Chef bestritt, ein Judenfeind zu sein, präsentierten seine wohl präparierten Diskussi-onspartner Glotz und Claus Strunz, Moderator der Sendung, ein jüngeres NPD-Flugblatt, auf dem es heißt: „Den Holocaust hat es nie gegeben.“ Zwar handelt es sich dabei um ein provozierendes, aufrüttelndes Zitat einer Initiative für das Holocaust-Denkmal. Doch wie die NPD den Satz „Den Holocaust hat es nie gegeben“ tatsächlich meint, unterstreicht Voigts Äußerung, die Stelen des Denkmals eigneten sich als Fundament einer neuen Reichskanzlei – die Staats-anwaltschaft ermittelt. Allerdings konnte Voigt im Gespräch mit Glotz kaum widersprochen erklären, Deutschland verkomme zu einem fremdbestimmten Land. In Wirklichkeit hat Deutschland zum einen, gerade seit 1990, an Souveränität gewonnen; zum ande-ren kann ein Nationalstaat heute viele Herausforderungen nur noch in Kooperati-on mit anderen meistern und damit stark bleiben. Als Glotz und Strunz dem NPD-Chef vorhielten, seine Partei entwickele sich zum Sammelbecken für Schläger, entgegnete Voigt, ähnlich wie die rot-grüne Bundesregierung betreibe die NPD „Resozialisierung“ – doch es macht nach wie vor einen Unterschied, ob tatsächlich beziehungsweise angeblich geläuterte Schläger (oder Funktionäre eines totalitären Regimes) zu einer demokratischen Partei wechseln oder zu einer

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extremistischen Kraft. Auch wenn die Sendung für den NPD-Chef zu keinem Desaster geriet, kürte eine große deutsche Zeitung Glotz nach der Sendung zum „Gewinner des Tages“, der Voigts Parolen „zerfetzte“: „Klarer Punktsieg für die Demokratie.“ Wie hinterhältig Voigt und seine Leute mitunter mit dem Fernse-hen umgehen, zeigen die wohlkalkulierten Entgleisungen der NPD im Landtag von Sachsen, mit denen die Partei erhebliche Aufmerksamkeit, ja Aufregung provozierte, um in die Medien zu gelangen – Stichwort „Bomben-Holocaust“. Anders als Glotz überschätzten sich andere Journalisten, die mit rechtsextremen Demagogen debattierten – und unterschätzten ihre Gesprächspartner: So disku-tierte Thomas Gottschalk 1992 im Fernsehsender RTL mit Schönhuber. Der Entertainer bot dem rechtsextremen Politiker die gute Gelegenheit, sich einem Millionenpublikum zu präsentieren. Vor laufenden Kameras und Mikrofonen erklärte der damalige REP-Chef, er verabscheue Gewalt und Nationalismus. Die REP bekämpften sogar Ausländer-Haß und garantierten Recht und Ordnung. Angeblich gebe es auch keine „Antisemiten“ bei den REPs. Doch rückten die Medien seine Partei gerne in ein falsches Licht. Gottschalk zeigte sich weit überfordert. In der Sache konnte er dem rechtsextre-men Fernsehprofi Schönhuber kaum etwas entgegenhalten. Vor allem versagte Gottschalk davor, frühere Äußerungen Schönhubers zu thematisieren und zu entschlüsseln. Beispielsweise hatte sich Schönhuber mehrfach apologetisch über das „Dritte Reich“ geäußert. So hatte er in einem Buch behauptet, Hitler habe sich in den Zweiten Weltkrieg treiben lassen. Auch hatte er einmal Juden als „Stinker“ bezeichnet. Im Interview mit Gottschalk betonte der langjährige REP -Chef in einer trickreichen Formulierung, er verabscheue die millionenfache Er-mordung von Juden im Dritten Reich lediglich deshalb, weil Hitler damit Deutschland in eine „Katastrophe“ geführt habe und „Antisemitismus“ heute zum „Untergang“ Deutschlands führen werde. Auch der „Spiegel“ zeigte sich 1994 in einem Interview mit Schönhuber unfähig, dessen trickre iche Formulierungen zu enthüllen. Ähnlich wie Hitler, der die Attentäter des 20. Juli 1944 bekanntlich eine „kleine Clique ehrgeiziger ... Offi-ziere“ genannt hatte, befand Schönhuber in diesem „Spiegel“-Interview, seine innerparteilichen Gegner bildeten „eine kleine Clique ehrgeiziger Funktionäre“. Diese Formulierung Schönhubers entschlüsselten die Redakteure des Spiegels im weiteren Verlauf des Interviews mit keinem Wort. Gottschalk hatte die Aus-einandersetzung mit Schönhuber nach ausländerfeindlichen Morden gesucht. In direkter Konfrontation mit Schönhuber wollte der Entertainer ein Zeichen setzen gegen xenophobe Menschenverachtung. Sein hehres Ziel verfehlte Gottschalk nach der Auffassung zahlreicher Kommentatoren deutlich: Er zeigte sich schlecht vorbereitet und bot kaum mehr als „Betroffenheit“, „charmante Ah-nungslosigkeit“ und „hilflose Appelle an die Menschlichkeit“. Gottschalk miß-lang es, Schönhubers Versuche, sich selbst zu verharmlosen, zu konterkarieren. Micha Guttmann, Mitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland, qualifizierte das Verhalten Gottschalks deshalb als Ve rstoß „gegen jede journalistische E-thik“. Weil Gottschalk an der Aufgabe gescheitert war, den angeblichen „Bie-dermann“ Schönhuber als „geistigen Brandstifter“ zu entlarven, nannte ein SPD-

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Politiker den Talkmaster sogar „Bildschirmtäter“. Immerhin hatte Gottschalk in der Sendung offen eingestanden: „Wir wollen doch hier nicht politisch diskutie-ren. Das kann ich nicht.“ Vor der Sendung hatte Gottschalk offenbar die wenig vergnügliche Aufgabe umschifft, sich gründlich statt nur oberflächlich auf seinen Gast vorzubereiten, insbesondere auf dessen Vorleben, Partei und Politik. In seinem Gespräch mit Schönhuber offenbarte Gottschalk , frei nach Hermann Lübbe, eher Gesinnung als Urteilskraft. Schönhuber bedankte sich schließlich für den „Glücksfall dieser Sendung“, die für Gottschalk einen Reinfall bedeutete. Wie extremistische Populisten im Fernsehen agieren, unterstreicht Jörg Haiders Auftritt beim früheren Spiegel-Chefredakteur Erich Böhme vor einigen Jahren: Ein Diskutant bei Böhme wollte von Haider wissen, wie er zu einem FPÖ-Politiker stehe, der geäußert haben solle, Kindern müßte es verboten sein, den Film „Schindlers Liste“ zu schauen. Es solle sich dabei um den FPÖ-Mann Wal-ter Rauter gehandelt haben. Haider entgegnete, es existiere kein Walter Rauter in der FPÖ und habe auch nie eine Person mit diesem Namen in der FPÖ gege-ben. Damit war dieses Thema in der Sendung des überforderten Böhme erledigt. Es schien, als habe der (damalige) FPÖ-Star spektakulär gepunktet. Offenbar hatte Haider seine Widersacher blamiert beziehungsweise diese sich selbst.

Tatsächlich stammt die inkriminierte Äußerung von einem Mann, der nicht Wal-ter Rauter heißt, sondern Wolfgang Rauter, dem langjährigen FPÖ-Klubobmann, das heißt Fraktionsvorsitzenden, im Burgenland. Deshalb: Auf solche Halbwahr-heiten und Tricks muß vorbereitet sein, wer in Debatten mit Extremisten und Populisten bestehen oder gar punkten will. Doch Böhme hatte kritischen Journa-lismus nur simuliert, wie auch andere Passagen seines Gespräches mit Haider zeigten. Vor der Sendung hatte Böhme noch vollmundig erklärt, er wolle den „Mädels“ (Sabine Christiansen und Maybrit Illner) zeigen, wie der Fernseh-Profi Böhme den FPÖ-Star entlarvt – Christiansen hatte Jörg Haider zuvor erst ein-, dann aber nach heftigen Protesten wieder ausgeladen. Nach der Sendung bei Böhme war klar: Haider hatte den Talkmaster enttarnt – nicht umg ekehrt. So schwierig der Umgang mit extremistischen und populistischen Politikern sein mag: Zu den legitimen Rechten jeder relevanten Partei gehört es, sich auch im Fernsehen zu präsentieren. Bereits Voltaire bemerkt: „Ich hasse Ihre polit ischen Vorstellungen, doch ich würde mich töten lassen, damit Sie das Recht behalten, sie vorzutragen.“ Tatsächlich gründet die freiheitliche Demokratie gerade auch auf Parteienpluralismus und Meinungsvielfalt; beide mögen zwar mitunter unbe-quem sein, sind aber in der freiheitlichen Demokratie unverzichtbar, zumindest grundsätzlich. Relevante, unverbotene Parteien müssen gelegentlich die Chance bekommen, sich auch im Fernsehen zu präsentieren. Doch zuweilen fordern jene, die für einen Medien-Boykott gegen rechtsextreme und –populistische Politiker und Parteien oder gar für ein entsprechendes Parteiverbot eintreten, mehr direkte Bürgerbeteiligung durch Plebiszite und mehr „Selbstbestimmung“ der Bürger, weil diese ernst zu nehmen seien – um dann aber viele, brisante Themen von Volksabstimmungen wieder auszuschließen.

Wer rechtsextreme Parteien hingegen, solange sie unverboten sind, grundsätzlich aus dem Fernsehen verbannen will beziehungsweise verbannt, auch wenn sie

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politische Relevanz erlangt haben und Mindestregeln des Anstands einhalten, bietet den Leitfiguren der betroffenen Parteien auch noch die Chance, sich als Hüter der Pressefreiheit zu gerieren und gegen „Feindmedien“ zu agitieren. Kei-nesfalls dürfen, so der frühere Verfassungsrichter Ernst Benda, „Intendanten aus noch so guten Absichten ... eine eigene Bewertung vornehmen. Das steht ihnen als Staats bürger frei, aber sie können eine solche Bewertung der Parteien nicht dem Wähler aufnötigen. Der Wähler, den wir so gern den mündigen Wähler nennen, entscheidet selbst. Wir sollten bei rechtsradikalen Parteien nicht weggu-cken, sondern vielleicht noch sehr viel genauer hinschauen und darauf vertrauen, daß der Bürger ausländerfeindliche Propaganda durchschaut. Wenn wir kein Vertrauen mehr in die Bürger haben, dann sind wir am Ende der Demokratie.“ Allerdings unterschätzte Benda, wie schwierig es mitunter ist, in der Fernseh-Wirklichkeit die Demagogie von Populisten zu widerlegen. Schwierig vor allem dann, wenn die beteiligten Journalisten inhaltlich unzureichend vorbereitet sind. Darin liegt die Mitverantwortung von Journalisten im Kampf gegen Rechtsex-tremismus. Was aber, wenn ein rechtsextremer Populist vor laufenden Kameras und Mikrophonen einschlägige Hetzparolen ausstößt? Dann bleibt immer noch die Möglichkeit, das Gespräch zu beenden.

Fazit: Das Fernsehen fordert und fördert Personalisierung, Emotionalisierung, Vereinfachung und Negativismus. Insofern eignet es sich besonders für Populi-sten. Um so wichtiger scheint es, solche und andere Populisten und Extremisten dann, wenn sie nach ihren Wahlerfolgen im Fernsehen diskutieren, wohlvorbe-reitet, sachlich und präzise zu befragen, um sie stärker zu enttarnen, gleichermas-sen jenseits von Dramatisierung und Verharmlosung – ganz ausblenden lassen sich Parteien nicht, die in drei ostdeutschen Parlamenten hocken. Ziel muß es sein, mit solcher Aufklärung manchen verirrten Wähler extremistischer Kräfte zu den verfassungstreuen Parteien zurückzuführen – es gibt zwar einfachere, aber auch schwierigere Aufgaben.

Wer sich hingegen von Demagogen vorführen läßt, schadet wahrscheinlich dem Anliegen, die Feinde der Demokratie zurückzudrängen. Nikolaus Brender bilan-ziert im September 2006: „Presse und Fernsehen sind weder Architekten noch Klempner gesellschaftlicher Entwicklungen – wir sind Beobachter.“ Üblicher-weise ist das Fernsehen aber außer Stande, einen Demagogen zu „machen“; es kann ihn allenfalls fördern oder hemmen. Deshalb: So bedeutsam es ist, Extre-misten inhaltlich zu widerlegen – wichtiger bleibt es, differenziert jene schwieri-gen Probleme zu lindern oder zu lösen, derentwegen extremistische Vereinfacher punkten (können). Entscheidend sind die Wertmaßstäbe der Wahlberechtigten und ihre Stimmabgabe beziehungsweise Wahlabstinenz. Dr. Harald Bergsdorf arbeitet als Politikwissenschaftler in Düsseldorf.

Ansgar Lange

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Demokratie lädt zur Wahlenthaltung ein

Der Begriff „Politikverdrossenheit“ ist zu einem modischen Schlagwort gewor-den, das keinen mehr verschreckt. Eigentlich müßte korrekter von der „Politiker-verdrossenheit“ die Rede sein. Doch dies hören die Damen und Herren nicht mehr so gern, die jüngst „mehr Ehrfurcht“ von Unternehmern und Managern forderten. Kritik am Zustand unserer Demokratie ist noch gefährlicher, denn der derjenige, der sie vorbringt, könnte als Anti-Demokrat ins moralische Abseits gestellt werden. Diese Erfahrung mußte vor 45 Jahren auch der konservative Publizist Winfried Martini machen, der in seinem Werk „Freiheit auf Abruf“ (1960) schrieb: „Seitdem vor wenigen Jahren mein Buch ‚Das Ende aller Sicher-heit’ herausgekommen ist, gilt es als ausgemacht, daß ich kein Demokrat sei.“

Womit hatte sich der blendende Stilist, der bisweilen zum Zynismus und zum Aussprechen unangenehmer Wahrheiten neigte, diesen Vorwurf eingehandelt? In seinem 1954 erschienenen Buch über das Ende aller Sicherheit hatte er die These aufgestellt, daß die moderne Demokratie ihren Höhepunkt überschritten habe. Die demokratische Organisation des Staates sei den praktischen Anforderungen der Gegenwart und Zukunft nicht mehr gewachsen. Martini definierte die Frei-heit als obersten Wert. Die Demokratie hingegen stelle keinen Wert an sich dar, sondern sei „nur ein organisatorisches Mittel, um bestimmte Zwecke zu errei-chen“.

Die moderne Demokratie hat ihren Höhepunkt überschritten

Aus heutiger Sicht waren manche Befürchtungen des Autors unbegründet. Mar-tini sah die westlichen Demokratien in der Defensive, da sie in einem Fall krie-gerischer Auseinandersetzung dem Feind aus dem Osten wenig entgegenzuset-zen hätten. Hintergrund dieser Überlegung war wohl, daß er übersteigerten Indi-vidualismus, mangelnde Wehrbereitschaft und gewisse Dekadenzerscheinungen einseitig den Gesellschaften des Westens zuschob, während er die Kampfkraft und Mobilisierungsbereitschaft in Osteuropa doch stark überschätzte.

Ein Kapitel seiner Streitschrift widmete der Verfasser, der als Kommentator des Bayerischen Rundfunks viele Hörer erreichte und vorzugsweise für konservative Regionalzeitungen sowie „Die Welt“ und „Christ und Welt“ schrieb, dem „über-fragten Wähler“. Und ein Unterkapitel beschäftigt sich mit dem abstinenten Wähler. Wahlabstinenz – so Martini – sei fast immer ein Zeichen von Aufrich-tigkeit: „Sie ist ein stummer Protest gegen die Zumutung, fortgesetzt ein Urteil über Dinge und Personen abzugeben, denen man doch so fern wie möglich steht.“ Die Abstinenten seien nicht urteilsfähiger als die Wählenden, aber sie maßten sich auch kein Urteil an, sie posierten nicht als Politiker. Sie „bekennen sich offen zum politikfreien Leben, nach dem doch die meisten Wählenden eine heimliche Sehnsucht haben wie nach dem verlorenen Paradies: eben deswegen

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ziehen sich die Abstinenten den Haß der Demokraten und ihrer roten wie brau-nen Abkömmlinge auf sich, die bei den Wahlen selbst die Altersheime und die Krankenhäuser plündern, weil sie noch nicht einmal den Alten und Kranken den Frieden des Unpolitischen gönnen“.

Wählermobilisierung in Alters- und Pflegeheimen

Martini schließt sich dem Diktum Rousseaus an, wonach die Demokratie nur in armen und kleinen Staaten funktionieren könne: „In der Tat: die Großdemokratie vermag nur als ‚Pseudodemokratie’ zu funktionieren.“ Die permanente Mobil-machung der Wählerschaft, die tatsächliche Verdrängung des freien zugunsten des imperativen Mandats, die Degradierung des Parlaments und andere Maß-nahmen seien Kennzeichen wie Folgen einer zunehmenden Jakobinisierung. Dieser Prozeß der Jakobinisierung, so Martini im Jahr 1954, habe alle Großde-mokratien ohne Ausnahme erfaßt. Diese Überlegungen bringen den Autor dann auf einen Gedankengang, der damals wie heute sicher auch Widerspruch findet: „Der Gegensatz zwischen der modernen Großdemokratie und dem totalitären Staat brauner oder roter Prägung ist also heute in der Praxis zwar noch bedeu-tend, im Grundsätzlichen aber weitaus geringer, als es den Anschein hat.“

Der konservative Schriftsteller und Publizist präferierte den starken Staat und sah diesen insbesondere auch in seinem zweiten großen Buch „Freiheit auf Ab-ruf“ (1960), welches den Untertitel „Die Lebenserwartung der Bundesrepublik“ trug, massiven Gefährdungen ausgesetzt. Viele der damals formulierten Gedan-ken – kaum ein „rechter“ Autor in der Bundesrepublik konnte so gut schreiben wie Martini, weshalb Armin Mohler ihn zur „glänzendsten Feder“ unter dieser Spezies erklärte – waren der Zeit geschuldet. Martini hatte die starke Befürch-tung, daß der „verweichlichte“ und nur noch auf das Materielle eingeschworene Westen der ideologischen Kraft des Ostens unterliegen könne. Heute können wir mit Befriedigung feststellen, daß der Westen den kalten Krieg gewonnen und Martinis Formel „Freiheit geht vor Einheit“ in Deutschland aufgegangen ist. Andere Ideen Martinis klingen hingegen sehr vertraut. So kritisierte er den Hang einiger Politiker und Wirtschaftsvertreter, ausschließlich in ökonomischen Kate-gorien zu denken. Die zurückliegende Bundestagswahl hat eindrucksvoll gezeigt, wie man mit einer solchen Strategie Schiffbruch erleiden kann, weshalb der Kanzlerin mittlerweile aus der CSU und der NRW-CDU geraten wurde, in den sozialen Schmuse-Sound einzuschlagen, der von den Fischer-Chören des Jürgen Rüttgers gesummt wird. Martini machte seine Kritik an der ökonomischen Ikone der CDU, Ludwig Erhard , fest, dem wie den meisten Wirtschaftlern der „innere Zugang zum Wesen des Politischen“ fehle.

Konformismus gilt als Ausweis von Zivilcourage

Schenkt man dem Autor Glauben, dann war auch schon vor einem halben Jahr-hundert der Konformismus eine Geißel der Gesellschaft, die sich die Narrenkap-pe des Querdenkertums aufsetzt. Konformismus, schrieb Martini, gelte den meisten als besonderer Ausdruck von Zivilcourage. Wohlfeile Antifa-Kampag-

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nen, moralisierendes Gerede von drittklassigen Politikern wie Wolfgang Thierse, der in seiner Amtszeit als Bundestagspräsident Parteiinteressen für Staatsinteres-sen hielt, oder inhaltsleere Kampagnen wie „Du bist Deutschland“ zeigen, daß die von Martini beschriebenen Zeiterscheinungen noch nicht der Vergangenheit angehören. Die in „Freiheit auf Abruf“ geäußerten Thesen mündeten in ein Plädoyer für einen konstruktiven Pessimismus. Martini sah die Zukunft oder die Lebenser-wartung der Bundesrepublik sehr pessimistisch, wollte aber keine Panikstim-mung erzeugen. Und während sich Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung ein verdruckstes, Willy Brandt („Mehr Demokratie wagen“) abgelauschtes „Mehr Freiheit wagen“ abrang, erkannte er die „Rettung“ in einem überzeugen-den Bekenntnis zur Freiheit, um eine kampflose Kapitulation des Westens oder die Möglichkeit eines „bundesrepublikanischen Koreas“ zu vermeiden. Es gehört zur Geschichte der Bundesrepublik dazu, daß man sie immer wieder am Abgrund sah. Ein Beispiel für neuere Krisenliteratur ist das Buch des ZDF-Journalisten Wolfgang Herles: Wolfgang Herles: Dann wählt mal schön. Wie wir unsere Demokratie rui-nieren. Piper Verlag: München 2005, 240 Seiten

Herles’ Buch erreicht selbstverständlich nicht das Niveau der zuvor erwähnten Bücher. Es ist flott dahingeschriebenen und läßt sich auf einer Zugfahrt von Berlin nach Bonn gut lesen. Das Erfreuliche an der Lektüre ist aber, daß der meinungsfreudige Journalist Herles einige heilige Kühe schlachtet. Am Ende spricht er sich mehr oder weniger unumwunden dafür aus, nicht mehr zur Wahl zu gehen, weil keine echten Alternativen bestehen. Das Buch erschien wohlge-merkt vor der Bundestagswahl; doch nach der Besiegelung des Dinosaurier-Bündnisses kann sich Herles bestätigt fühlen. Alles bleibt in Deutschland letzt-lich beim Alten, nur unter Ausschaltung der in sich zerstrittenen Opposition aus Liberalen, Grünen und Linkspartei, die am liebsten alle auch gern mitregieren würden. Dann wählt mal schön? Nein danke.

Keine Reform des Landes ohne Reform der Parteien

Wenn Herles auch manchmal allzu plakativ formuliert und man am Ende nicht weiß, worauf er eigentlich hinauswill, so lohnt sich die Beschäftigung mit sei-nem neuesten Titel allemal. Man darf seine Streitschrift als polemischen Angriff auf unseren „Konsens- und Geschlossenheitskult“ lesen, der sich in der schon oben erwähnten „Du bist Deutschland“-Kampagne oder in der häufig zu hören-den Mahnung zeigt, jetzt müßten doch endlich alle an einem Strang ziehen. Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Sozialdemokraten und Christdemokraten, Christen und Muslime, Ausländer und Inländer, Homosexuelle und Heterosexu-elle, Weintrinker und Biertrinker nicht dauernd an einem Strang ziehen, dann ist die deutsche Seele nicht im Gleichgewicht. In den Parteien wird ja schon seit langem nur selten öffentlich gestritten; und wenn parteiintern zwei Kandidaten sich um ein Amt bewerben, dann ist das gleich eine Kampfkandidatur. Leider fällt diese Art der Gehirnwäsche kaum noch jemandem auf. Um noch einmal auf

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Martini zurückzukommen: Wenn man sich einige Personalentscheidungen in den Parteien genauer anschaut, dann ist der Unterschied zwischen den Zuständen in der DDR und der Bundesrepublik nicht mehr allzu groß. Deshalb ist Herles nur zuzustimmen: „Keine Reform des Landes ist möglich ohne eine Reform der Parteien.“ Das demokratische Fundament in Deutschland bröckelt. Schon Götz Aly hat in seinem umstrittenen Buch „Hitlers Volksstaat“ die These aufgestellt, daß sich der „Führer“ die Loyalität der Geführten vor allem auch mit sozialen Wohltaten erkauft hat. Das Ehegattensplitting und die Mitgliedschaft der Rentner in der gesetzlichen Krankenkasse oder auch die Kilometerpauschale sind Errungen-schaften, die auf die Nationalsozialisten zurückgehen. Natürlich sind diese sozia-len Wohltaten nicht deshalb schlecht, weil sie auf dem Mist des „Dritten Rei-ches“ gewachsen sind. Sie belegen nur die These, daß die politische Führung in Deutschland sich in diktatorischen und in demokratischen Zeiten die Gunst des Bürgers schlicht erkauft hat. Der Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft sorgte dafür, daß sich die Demokratie hierzulande so rasch etablierte. Wäre dieser Er-folg nicht eingetreten, wäre den westlichen Alliierten die Umerziehung der Westdeutschen vielleicht nicht geglückt.

Virus der Lethargie

Martini hielt den Wert der Freiheit für entscheidend. Doch in schwierigen Zeiten – und in denen leben wir zweifelsohne – sinkt der Wert der Freiheit. „Ordnung und Gerechtigkeit sind in Deutschland allemal verführerische Werte, viel verfüh-rerischer als Verantwortung und Freiheit“, schreibt Herles. Schlimmer noch, der „Virus der Lethargie“ breitet sich immer mehr aus. Keine neue 68er-Revolte ist in Sicht, da die Vertreter dieser Generation ihre fetten Ruhebezüge genießen und langsam aus der ersten Reihe abtreten. Den Jüngeren blieb nicht mehr so viel Luft zum Atmen. Sie stellen nach den Worten des Historikers Paul Nolte die verunsicherte Generation, die kein Zutrauen mehr in das eigene Können hat, weil die egoistischen Kulturrevolutionäre den Mittagstisch kahl gefressen haben, bevor die Jüngeren überhaupt zu Tisch gebeten wurden. Die ständige Sorge um den Arbeitsplatz und die einseitige Fixierung auf die materiellen Werte haben ihnen den Mut zur eigenen Meinung und zu eigenen Ideen genommen. Man muß sich nur den Typus des pragmatischen Netzwerkers und frischen SPD-Ge-neralsekretärs Hubertus Heil anschauen, der mit seinen Anfang 30 so wirkt, als habe er schon zu August Bebels Zeiten Politik gemacht. Leidenschaft, Visionen, gute Ideen, rhetorische Brillanz, Esprit, charismatisches Auftreten, ordentliche berufliche Erfahrungen: alles Fehlanzeige. Heil betet die SPD-Leier herunter wie in seligen Zeiten der automatenhaft auftretende Olaf Scholz.

Herles’ Zorn trifft alle Parteien gleichermaßen. Die ständige Beschäftigung mit Altkanzler Kohl wirkt auf die Dauer allerdings etwas ermüdend, weil King Kohl den meisten mittlerweile ziemlich gleichgültig sein dürfte. Nett zu lesen ist aber Herles’ saftige Polemik über grüne Gutmenschen: „Quertreiber, die sich als Umweltschützer aufspielen, bekommen vor Gericht auch noch Recht. Sie ja m-

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mern über Arbeitslosigkeit, beklagen den Stillstand im Land, gefährden aber selbst Tausende von Arbeitsplätzen, weil sie die Maßstäbe verlieren. Ein paar hundert Kamm-Molche sind ihnen wichtiger als die Wohlfahrt einer ganzen Region. So verzögern sie den Bau der Autobahn von Kassel nach Gießen. Die Liebe einiger Menschen zum Feldhamster verhindert den Bau eines hochmoder-nen Braunkohlekraftwerks am Niederrhein. Der Einsatz für einige Exemplare der Großtrappe, eines kranichartigen Vogels in Brandenburg, kostet die Bundesbahn Abermillionen für Erdwälle beiderseits der neuen Strecke Berlin-Hannover, die stolze Hauptstadt wird auch zwanzig Jahren nach der Wiedervereinigung noch keinen Großflughafen haben, weil Hausbesitzern der Lärm mißfällt.“ Angesichts des Wegfalls der kommunistischen Bedrohung von außen könnten eigentlich erhebliche Anstrengungen unternommen werden, den von Herles als miserabel bezeichneten inneren Zustand der Republik zu beheben. Sicher über-treibt der Autor oft gewaltig; doch dies ist ein legitimes Mittel für einen politi-schen Beobachter, der Aufsehen erregen will. Sein Bannstrahl trifft nicht nur die mittelmäßigen Politiker und die mittelmäßigen Wähler, sondern auch die Kaste der Manager, die nach der Gier-ist-geil-Mentalität verfährt. Unter Berufung auf John Kenneth Galbraith spricht Herles vom „System der Konzerne“. Nichts anderes sei die Marktwirtschaft in Deutschland. In Deutsch-land möchte jeder im öffentlichen Dienst oder in einem Konzern arbeiten; der Mut zum Unternehmerischen ist weniger stark ausgeprägt. Und während die Intellektuellen ihre geistigen Schrebergärten pflegen – wer nimmt es schon noch ernst, wenn Günter Grass die Gruppe 47 wieder beleben will? –, stecken sich die Politiker das Geld in die Taschen. Den Wählern predigen sie Einschnitte bei der Rente und ermahnen sie zur Eigenvorsorge. Politiker zahlen nichts für ihre Al-tersversorgung. Bei rund 11.000 Euro Pension pro Monat kann Hans Eichel nur müde darüber lächeln, wie sich sein Nachfolger Peer Steinbrück nun bemüht, den Scherbenhaufen wieder zusammenzukehren.

Die Volksvertreter pflegen die Vollkaskomentalität: „Beamte, die ins Parlament einziehen, werden beurlaubt. Sie riskieren nichts, werden während ihrer Tätigkeit als Parlamentarier sogar befördert. Auch Angestellte genießen Kündigungs-schutz, während sie ihr Mandat ausüben.“ Und was ist mit denen, die diesen „Saustall“ ausmisten wollten, ja die eine andere Republik anstrebten? „Die Uni-on degeneriert immer in dem Moment zum Kanzlerwahlverein, in dem sie die Macht zu riechen beginnt“, so Herles, und man muß Merkels Adjutanten Volker Kauder nur zuschauen, wie er seine Kanzlerin frenetisch beklatscht und wie er während seiner Zeit als CDU-Generalsekretär auf jeden zarten Versuch einer intellektuellen Führung verzichtete, um einen Beleg für diese These zu finden. Dann werden die Reformen halt nicht gemacht, sagt sich die Union, der Wähler hat es ja so gewollt, und wir blähen lieber die Ministerien mit treuen Gefolgsleu-ten auf. Daß allerdings ausgerechnet Nimmersatt und Partykönig Laurenz Meyer als wirtschaftspolitischer Sprecher wieder auferstehen würde, damit hat wohl niemand in seinen schlimmsten Träumen gedacht.

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Dem Land fehlt eine gehörige Portion an Liberalismus, Meinungsfreude, Debat-ten innerhalb der Parteien, und es mangelt vor allem an knorrigen Gestalten, die sich nicht nur als Kofferträger und Abnicker verstehen. Herles analysiert den Abgang von Friedrich Merz, der sicher auch erhebliche Defizite hat, der aber wenigstens für einen dezidierten Standpunkt eintrat, völlig richtig: „Merz’ vor-läufiger Abschied aus der Politik mußte sie mehr treffen, als wenn er mit zu-sammengekniffenen Pobacken auf seinem Posten geblieben wäre. Denn Merz zeigte auf der Kaiserin neue Kleider. Unter ihrem Reformkostüm im Business-look trägt sie die Angoraunterwäsche des alten Kohlschen Kanzlerwahlvereins.“ Keine Maggie Thatcher, nirgends. Alles in allem betrübliche Aussichten. Doch während Martini noch ein wenig gegen Windmühlen kämpfte, denn die Polit iker seiner Zeit waren doch in der Regel hochkarätiger als die heutigen Vertreter, ist im Jahr 2005 der Ernstfall eingetreten. Schon wenige Wochen nach der Wahl ist bei vielen Ernüchterung eingetreten. Die wichtigen Fragen werden vertagt. Die große Koalition betreibt Schadensbegrenzung. Ist derjenige, der dann resignierend den Urnengang ver-weigert, ein Anti-Demokrat? Oder handeln nicht gerade die Musterdemokraten fahrlässig, die einfach immer weiterwurschteln wie bisher und dies dann auch noch als neue Nüchternheit ausgeben? Ansgar Lange wirkt als Politikwissenschaftler und Publizist in Bonn.

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Andreas M. Rauch

Randolph Freiherr von Breidbach-Bürresheim

Ein katholischer Offizier im Widerstand gegen das NS-Regime

Schon im Jahre 1946, also nur wenige Monate nach dem Tod des Randolph Freiherr von Breidbach-Bürresheim, wird dieser als ein Gegner des nationals o-zialistischen Regimes genannt. Dies ist den Akten des Bundesarchivs Berlin zu entnehmen. Eine Auflistung für eine Ehrentafel der Toten vom 20. Juli 1944 führt seinen Namen neben so bekannten Persönlichkeiten wie Dietrich Bonhoef-fer, Alfred Delp, Carl Friedrich Goerdeler oder Wilhelm Canaris.

Doch während über einzelne Angehörige des 20. Juli 1944 dicke Bücher verfaßt wurden, findet sich zu Breidbach-Bürresheim wenig. Erst im Deutschen Marty-rologium des 20. Jahrhunderts, welches Helmut Moll im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz 1999 herausgibt, wird ein mehrseitiger Aufsatz zu Breidbach veröffentlicht. Der in Bonn geborene Breidbach wird heute als Märtyrer des Erzbistums Köln verehrt.

Der Lebenslauf des Oberleutnants Dr. iur. Randolph von Breidbach-Bürresheim stellt sich als ein dramatischer Werdegang dar. Am 10. August 1912 geboren verbringt Breidbach einen großen Teil seines Lebens auf dem großelterlichen Landsitz Burg Satzvey bei Euskirchen. Aufgrund der politischen und sozialen Spannungen im Deutschen Reich im Kontext des I. Weltkrieges zieht die Familie 1918 auf das Familiengut Schloß Fronberg bei Regensburg um. Ab 1922 besucht Breidbach das Humanistische Gymnasium in Metten und macht 1931 auf dem Max-Gymnasium in München das Abitur. Im gleichen Jahr beginnt er noch sein Studium der Rechtswissenschaft.

Mit seinem Beitritt in die SA-Reitertruppe umgeht Breidbach zunächst seine Eingliederung in die SA-Studentenstürme im November 1933. Nach Ableistung des Militärdienstes besteht er 1936 das 1. Staatsexamen. 1939 wurde Breidbach aus der SA ausgeschlossen. Im Mai 1938 promoviert er und tritt in die Kanzlei Dr. Josef Müller – einem Mitbegründer der späteren bayerischen CSU – ein. Mit Bonhoeffer reist der Katholik Müller mehrfach nach Rom, wo er enge Kontakte zu Angehörigen des Heiligen Stuhles pflegte. Damit kommt im Lebensbild des Randolph von Breidbach auch eine ökumenische Dimension zum tragen. Im November wird Breidbach Oberleutnant der Wehrmacht und an die Abwehrstel-le München versetzt, wo er über Müller geheime Kontakte zum Heiligen Stuhl pflegen kann, um durch die Einschaltung Großbritanniens das Dritte Reich zum Frieden zu zwingen. Müller wurde auch Admiral Canaris persönlich vorgestellt.

Im Frühjahr 1940 nimmt Breidbach am Frankreichfeldzug teil und leistet im Januar 1941 sein 2. Staatsexamen erfolgreich ab. Danach erfolgt seine Rückkehr zum Militär und an die Ostfront. 1942/43 erkrankt Breidbach an Gelbfieber und

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wird dadurch psychisch und physisch geschwächt. Am 5. April 1943 werden Hans von Dohnanyi, Dietrich Bonhoeffer und Josef Müller verhaftet. Im Ergeb-nis führt dies zum Auffinden der sogenannten „Breidbach-Berichte“ in der Kanz-lei Müller, in denen über Verbrechen der Wehrmacht berichtet wird. Vor diesem Hintergrund wird Breidbach am 5. Mai 1943 durch einen Militärgerichtsrat ver-haftet, weil Breidbach gegen das Heimtückegesetz von 1934 verstoßen haben soll. Das „Heimtückegesetz“ gehört mit zum Schlimmsten, was die nationals ozi-alistische Gesetzgebung hervorgebracht hatte. Denn mit diesem Gesetz war die rechtliche Basis gelegt, jeden zu verfolgen, der sich nicht der nationalsozialisti-schen Bewegung aufgeschlossen zeigte. Damit konnte die totalitäre Herrschaft Hitlers weiter gefestigt werden. In den drei bei Müller gefundenen Berichten geht es um Ostprobleme, Vor- und Nachteile des Bolschewismus und die Frage einer Wiedererrichtung Polens. Breidbach äußert kritisch, daß in Osteuropa nicht wie „im preußischen Sinne“ der Krieg als „Spaß“ wahrgenommen oder gar verherrlicht werde. Es wird von Breidbach dargelegt, „wie der russische Mensch halb verachtend, halb wohlwol-lend belehrend ‚nei Kultura’ sagt, wenn z.B. von den deutschen Besatzungstrup-pen von einer nach hunderten zählenden Menschenmenge mitten in einer Stadt Verurteilte erhängt oder mit dem Genickschuß erledigt würden.“ An anderer Stelle sagt Breidbach, daß die russischen Arbeitskräfte im deutschen Industrie-einsatz vielfach „sehr schlecht behandelt würden“.

Breidbach führt in seinen Berichten aus, daß trotz aller Strafen und drakonischen Maßnahmen jeder Pole von nationaler Haltung durchdrungen und gleichzeitig tief religiös sei: „Auf dem Lande knien die Mensche nieder, wenn gerade ein Priester vorüberkommt, um von dessen Hand den Segen zu empfangen. SS-Posten, die dies bemerken, schlagen die Priester bewußtlos und stoßen die Knienden in den Straßengraben.“ Außerdem berichtet Breidbach, daß viele polnische Aristokraten getötet, verfolgt und enteignet würden: „Manche ihrer Frauen sind mit anderen Angehörigen der weiblichen polnischen Intelligenz im SS-Bordell gezwungen …“ Am 3./4. März 1944 finden in Berlin Gerichtsverhandlungen zum Fall Müller und Breidbach statt, die mit einem Freispruch enden. Doch vom Reichssicher-heitshauptamt wird weiter Haftfortsetzung angeordnet. Im Frühjahr 1944 bittet die Mutter Randolphs Oberst Graf Schenk von Stauffenberg um Hilfe für ihren Sohn. Stauffenberg ist wie Breidbach Angehöriger der Reiterstaffel 17 und zu-dem ein Verwandter. Bei diesem Gespräch garantiert Stauffenberg einen positi-ven Ausgang, wobei er wohl die Pläne um die Beseitigung Hitlers im Blick hat. An 20. Juli 1944 scheitert das Attentat gegen Hitler. Am 6. November 1944 wird Breidbach zusammen mit anderen Beschuldigten im Kontext des 20. Juli 1944 in das Gestapo-Gefängnis nach Berlin -Moabit verlegt, um Geständnisse zu erzwin-gen, was nicht gelingt. Am 20. Februar 1945 erfolgt ein Sammeltransport von Häftlingen des 20. Juli in das Konzentrationslager Sachsenhausen, wo Breidbach aufgrund fortschreitender Tuberkulose am 13. Juni 1945 trotz fürsorglicher Pfle-ge im Krankenlager des bereits befreiten Konzentrationslagers verstirbt. Da Breidbach bereits in den Monaten zuvor unwiderruflich den Todeskeim aufgrund

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seiner schweren Kerkerhaft und seiner Krankheit in sich trug, wird er heute als Märtyrer des Erzbistums Köln verehrt.

Begegnung mit einer Zeitzeugin

Der Welt entrückt, irgendwie unwirklich: so erscheint Burg Satzvey dem Besu-cher auf den ersten Blick. Zwei bronzene Löwen, Symbole von Macht, Herr-schaft und Edelmut, säumen das mittelalterliche Tor von Burg Satzvey – gleich-sam als Wächter eines kleinen Paradieses in der Nähe der Stadt Euskirchen bei Bonn. Zugleich betritt der Besucher jenen Ort, in dem Randolph Rudolph Fried-rich Hubertus Maria Reichsfreiherr von Breidbach-Bürresheim, genannt von Riedt, zunächst als Kind während des I. Weltkrieges, dann als junger Mann in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts und schließlich als Soldat in den ersten Jahren des II. Weltkrieges häufig zu Gast war. Diese großzügige mittelalterliche Burganlage im ländlichen Idyll der Voreifel schien für Randolph von Breidbach einen Hort der Sicherheit, der Geborgenheit und Beständigkeit auszustrahlen, sowohl in ihrer steinernen wie auch in ihrer geistigen Architektur und gerade angesichts der tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Gerade die Repräsentationsräume von Burg Satzvey strahlen eine fürstliche Erhabenheit aus, gemischt mit dem Bewußtsein einer alten Familientradition und einer langen Familiengeschichte. Jeder, der sich in diesen Räumen aufhält, spürt, daß dies ein ganz besonderer Ort ist – und sein Besucher ein Auserwählter. Kaum jemand kann sich dem schönen Charme dieser Zimmerflucht entziehen – und so dürfte es auch Randolph von Breidbach ergangen sein. Wer sich hier länger aufhält oder gar lebt, der mag einen veränderten, selbstbewußten und distanziert kritischen Blick auf viele Dinge des Lebens gewinnen. Die mittelal-terliche Wasserburg in ihrer heutigen Erscheinung stellt sich als ein Gesamt-kunstwerk dar, geschaffen von der Natur und inszeniert von Randolphs Großva-ter Graf Dietrich Wolff Metternich zur Gracht (1853-1923). An der Burg vorbei führt ein Turm in den ersten Stock, wo die im Jahr 2006 88-jährige Adeline Gräfin Beissel von Gymnich, eine Cousine Randolphs und ihr neunzigjähriger Mann leben. Die Wohnung ist mit dunklen, schweren Möbeln eingerichtet, an den Wänden hängen Photografien von lebenden und toten Ve r-wandten. Im Speisesaal blicken mit ernstem, erhabenem Blick alte Familienport-raits aus dem 18. und 19. Jahrhundert auf den Betrachter. Gräfin Beissel von Gymnich erzählt, sie charakterisiert ihren Vetter Randolph, den sie aus Kinder- und Jugendtagen gut kannte. Gradlinig, durchsetzungsstark und zielstrebig sei er gewesen und er habe eine gute Ausbildung erfolgreich durchlaufen. Wie alle Breidbachs sei Randolph ein Gemeinschaftsmensch gewe-sen, wenngleich seine Bücherliebe und sein intellektueller Geist mitunter zu einer gewissen Zurückgezogenheit führten. Zudem sei er ein fro mmer Mensch gewesen, ganz unter dem Einfluß seiner dominanten Mutter stehend, die ihn vor den Geschwistern Maria Christina (1917-1922), Goswin (geb. 1920) und Huber-ta (geb. 1923) bevorzugte. Seine Schwester Maria Christina verstarb tragischer-

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weise mit fünf Jahren, was sicherlich auf Randolphs christlichen Glauben Ein-fluß nahm. Randolph hatte zwar wohl eine Freundin, aber Glaube und Mutter ließen hier wenig Spielraum, so Gräfin Beissel, und solange eine Verlobung oder eine Hochzeit nicht anstanden, war dies auch kein Thema in der Familie gewe-sen. In der äußeren Erscheinung sah Randolph blendend aus und war stets ele-gant gekleidet, so wie er auf seine äußere Erscheinung insgesamt Wert legte. Randolph war in Satzvey stets lebhaft und freundlich, lebenslustig und humo r-voll, bestimmt und zuverlässig gewesen. Insgesamt machte Randolph einen intel-ligenten Eindruck auf seine Umgebung. Randolph ging jeden Sonntag zur Kirche und kam grundsätzlich immer gerne auf Burg Satzvey, zu der er meist mit dem Zug anreiste. Aus dem Gästebuch der Burg Satzvey geht hervor, daß Randolph gerade in den dreißiger Jahren häufig auf Burg Satzvey zu Gast war, mitunter fast monatlich, wie etwa im Jahr 1931. Randolphs Mutter, Maria-Anna (1888-1972), war eine geborene Gräfin von Wolff-Metternich zur Gracht. Ihr Mann Hubertus (1875-1956) hatte das gewalti-ge Schloß Fronberg mit seinen riesigen Gängen und großen Sälen von seiner Mutter Marie-Wilhelmine (1841-1889), einer geborenen Künsberg Freiin von Fronberg , geerbt. Die Mutter Randolphs hatte im Prinzip vor nichts und nieman-den Angst, vor allem, wenn es um ihren eigenen Sohn ging. So fuhr sie nach der Verhaftung ihres Sohnes zu Oberst Graf Schenk von Stauffenberg nach Berlin, und der sagte ihr die Freilassung ihres Sohnes auch zu, wobei er wohl einen erfolgreichen Ausgang der Widerstandsaktivitäten gegen Hitler im Blick hatte. Die Familie von Breidbach-Bürresheim war mit der Fre iherrenlinie derer von Stauffenberg über eine Schwester von Randolphs Mutter verwandt; Christoph Baron von Stauffenberg (1912-2005) war gleichaltrig mit Randolph und sein Vetter. 1945 war Christoph von Stauffenberg zwei oder drei Wochen auf Burg Satzvey mit ein paar Polen versteckt. Die Hilfe für die Polen und deren Äuße-rungen gegenüber den Amerikanern ermöglichten der Grafenfamilie Beissel von Gymnich, auf Burg Satzvey zu bleiben. Im übrigen bestanden auch persönliche Kontakte etwa zu General von Kluge und dem einzig noch lebenden Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944, Philipp von Boeselager, der Mitglied des 15. Reiterregimentes war. Randolph von Breid-bach-Bürresheim und Oberst Graf Stauffenberg waren Angehörige des 17. Rei-terregiments. Allerdings, so Gräfin Beissel, waren die geheimen Widerstands-kontakte sowohl Breidbachs, Strauffenbergs und Boeselagers in der Familie nicht bekannt gewesen, und wenn etwas geahnt wurde, wurde darüber nicht gesprochen. Gräfin Beissel von Gymnich hob hervor, daß ihr verstorbener Vetter in gewisser Weise durch sein Martyrium geheiligt sei, auch wenn er nicht zu den Seligen und Heiligen der römisch-katholischen Kirche gehöre.

Schloß Fronberg, die Heimat

Die Größe des Schlosses Fronberg scheint schon in eine andere Wirklichkeit zu weisen, die mit dem Alltag der meisten Bürger von heute in jener Region wenig gemein hat. So ist charakteristisch für das Schloß, für die Familie von Breid-

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bach-Bürresheim und im Ergebnis auch für die Persönlichkeit des Randolph die Existenz einer Schloßkapelle als in Stein gemeißelter Ausdruck katholischen Glaubens auf Schloß Fronberg. Die Schloßkapelle unterstreicht den transzenden-ten Charakter der gesamten Schloßanlage, die ein Spiegelbild der christlichen Identität ihrer Bewohner bildet. In der geschützten, romantischen Atmosphäre des mittelalterlichen Schlosses, welches zum Träumen einlädt, überschattet nur ein Ereignis die Kindheit von Randolph: der tragische Tod seiner erst fünfjährigen Schwester Christa. Vor den Augen des zehnjährigen Bruders, der bei einem Bootsausflug auf der Naab bei Hochwasser seine Schwester nicht in das Boot zurückholen konnte, ertrank Chri-sta während eines Ferienaufenthaltes in seiner Heimat im Jahr 1922. Im Jahre 1952 erstellten Randolphs Eltern am Hollergraben, wenige Meter von der Hol-lerbrücke entfernt, also in der Umgebung von Fronberg, ein etwa vier Meter großes Holzkreuz mit einem Korpus Christi zur Erinnerung an den tragischen Unglücksfall der kleinen Christa. Randolph war zu diesem Zeitpunkt in einem Alter, in dem das Erinnerungsvermögen heranreift und ein ganzes Leben lang bewußt fortbesteht. Möglicherweise hat das tragische Lebensschicksal seiner Schwester Randolph, gerade weil er es auch persönlich miterlebt hatte, Zeit sei-nes Lebens begleitet und ihn in der Wichtigkeit des katholischen Glaubens im Leben als auch im Tode bestärkt. Im übrigen blieb das gewaltige Schloß ein Zufluchtsort und Schutzraum nicht nur für die Familie von Breidbach-Bürresheim und andere Adelige, sondern ebenso für „kleine Leute“. In den Kriegsjahren kommen hauptsächlich adelige Bekannte und Verwandte der Baronenfamilie aus Ost- und Mitteldeutschland nach Schloß Fronberg, so die Grafen von Kospoth, die Veltheims oder Flüchtlin-ge aus dem Sudetengau, die meist rasch weitergezogen sind – mit Ausnahme der Westphalens. Ab 1944 wird ein Teil der Schloßanlage als Reservelazarett ge-nutzt. Im Schloß werden Luftschutzräume eingerichtet. Rund 200 Verwundete, zum Teil auch Fronberger, die in Hitlers letztem Aufgebot einen längst verlore-nen Krieg weiterführen mußten, werden in den Räumen gepflegt. Auf ein Alarm-signal hin waren die Verwundeten unter zum Teil beschwerlichen Bedingungen in die Schloßkeller zu bringen. Die Schloßbesitzer hatten da nicht viel zu mel-den, da ihr Sohn Randolph den Nationalsozialismus aus politischen und religiö-sen Gründen ablehnte und in Haft saß. Um die Lage Randolphs nicht zu er-schweren, willigten Hubertus und Maria-Anna von Breidbach ein, daß ihr Schloß auf dem Petrusberg zu einer Durchgangsstation und zu einem Zufluchts-ort für viele Menschen wird.

Noch Ende April 1945 werfen im Schloßpark von Fronberg ungarische Angehö-rige der Schutzstaffel (SS) Schützengräben aus. Dabei warten die Schloßbewoh-ner schon sehnsüchtig auf die Amerikaner und wollen Hitlers Schergen nicht mehr sehen. Als Randolphs Vater Hubertus die SS-Leute zur Rede stellen und möglichst wieder loswerden will, tun diese so, als verstünden sie nichts. Da das Schicksal des in den Händen des NS-Regimes befindlichen Sohnes Randolph den Eltern große Sorge bereitet, möchten sie die Lage jedoch nicht eskalieren lassen, um das Leben ihres Sohnes nicht zu gefährden. Schließlich entfernen sich

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die SS-Leute kurz vor dem Eintreffen der amerikanischen Truppen. Im Kartof-felkeller aneinandergekauert erleben die Schloßbewohner die Befreiung. Sie werden von den durchziehenden Amerikanern nicht behelligt. „Und damit war der Krieg für uns aus“ schreibt Hubertus von Breidbach-Bürresheim in seinen Erinnerungen, die 1955 unter dem Titel „Von der Postkutsche zur fliegenden Festung“ erschienen.

In seinen letzten Gymnasialjahren in München wurde Randolph erstmals mit den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Spannungen der Weimarer Republik konfrontiert, die sich für ihn recht chaotisch ausnahmen, gerade vor dem Hinter-grund seines bisherigen Lebensweges. Es ist daher nur nahe liegend, wenn Ran-dolph nach Ordnungsfaktoren suchte, mit denen seiner Ansicht nach die Wirren und Unruhen der Weimarer Republik eingedämmt werden könnten. Randolphs Vater schreibt in seinen Erinnerungen von 1955: „Während … sonstigen Ausflü-gen, Jagden und Arbeiten in Wiese und Feld hatte Randolph, der von Metten nach München ins Gymnasium gekommen war, das Abiturexamen bestanden, war also jetzt stud. iur. und bereitetet sich auf den Universitäten Bonn, Münster, Königsberg auf das Referendar-Examen vor. … Da unsere Vermögensverhält-nisse durch die Aufwertung sich allmählich gebessert hatten, kauften wir im Jahre 1929 ein Automobil, das besonders meiner Frau viel Freude machte. … Im Jahre 1930 machten wir nun eine größere Fahrt mit diesem neuen Vehikel, denn Randolph hatte auch bald den Führerschein erworben. … Unsere Fahrt ging zunächst durch die Fränkische Schweiz nach dem sehr schönen und interessanten Schloß Greifenstein, das dem Grafen Berthold Stauffenberg, meinem Vetter, gehörte. Dieser war beinahe 70 Jahre alt, aber noch fabelhaft frisch und rüstig.“

Aufgrund der politischen Verhältnisse und Kontroversen in München wurde in Randolph ein großes Interesse an Fragen der Politik und Geschichte geweckt. Seine anfängliche Begeisterung für den Nationalsozialismus, in der er zunächst nur eine ordnende, starke Kraft mit klaren Aussagen in den schwierigen Jahren der Weimarer Republik sah, führten zu erregten Debatten im Familienkreis auf Schloß Fronberg vor allem mit seinem Vater, der dem Nationalsozialismus und Hitler gegenüber kritisch eingestellt war. So formuliert Randolphs Vater in sei-nen Erinnerungen: „Hitlers Buch ‚Mein Kampf’ habe ich lange Zeit nicht gele-sen. Erst nachdem ich verschiedene seiner Reden durchs Radio hörte, entschloß ich mich dazu. Diese Reden waren für meinen Geschmack entsetzlich. Erst nachdem ich in seinem oben erwähnten Buch den Satz ‚Da entschloß ich mich, Politiker zu werden’ gelesen hatte, verstand ich warum er in seinen Reden immer das gleiche sagte. ‚Da beschloß ich, Politiker zu werden…’ ‚Da beschloß ich, Maurer zu werden’, kann ich auch schreiben, aber ich glaube nicht, daß dieser Entschluß allein jemanden befähigt, ein Haus zu bauen. Jedenfalls bin ich über-zeugt, daß das mit Unkenntnis gebaute Haus gleich wieder umfallen würde. Nicht nur das Mauern muß gelernt sein, bevor man sich an den Bau eines Hauses begibt, sondern auch für die Politik muß man erst etwas gelernt haben, und es genügt nicht, nur viel gelesen zu haben.“

Ein prägendes Ereignis war für Randolph sicherlich, daß sein konservativ orien-tierter und Hitler gegenüber kritisch eingestellter Vater nach der nationalsozialis-

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tischen Machtübernahme 1933 als Mitglied der Bayerischen Volkspartei für einige Tage in Schwandorf in Haft genommen wurde. Hinzu kamen die Erfah-rungen von mehreren Auslandsreisen, die Randolph nach Holland, England und in die Schweiz führten. In diesen drei Ländern konnte Randolph funktionierende Demokratien erfahren, wodurch sich seine Vorstellung und das vieler seiner Landsleute in jener Zeit aufgrund der Erlebnisse mit der Weimarer Republik revidierte, Demokratie habe stets mit Unruhen und Chaos zu tun. Die Gespräche mit der Familie sowie mit in- und ausländischen Freunden und Bekannten ver-halfen Randolph letztendlich zu der Überzeugung, daß seine Vorstellungen von Christentum, Freiheit, Recht und von der Gott gegebenen Würde des Menschen mit der Ideologie und Praxis des Nationalsozialismus unvereinbar waren.

Verwurzelt im katholischen Glauben

Um das geistige Klima jener Jahre noch deutlicher zu beleuchten, seien noch einige Worte zum katholischen Sozialmilieu und dem totalitären Weltanschau-ungsanspruch des Nationalsozialismus gesagt. Die Erfahrungen des Kulturkamp-fes prägten das Denken und Verhalten vieler Katholiken bis in die Weimarer Republik und das Dritte Reich hinein. Als von der Gemeinschaft der deutschen Nation ausgegrenzte und bekämpfte Minderheit bildete die katholische Kirche eine weitgehend geschlossene Sondergesellschaft. Die katholische Kirche bot mit ihrem fest gefügten Werte- und Normensystem die primäre Orientierung in der Lebenspraxis ihrer Gläubigen. Viele katholische Christen fühlten sich von einer tief verwurzelten, den Alltag umspannenden Frömmigkeit getragen. Ein dichtes Geflecht katholischer Schulen – wie etwa die von Randolph besuchte Klosterschule Metten –, Vereine und Presseorgane prägten den Lebensstil von Kindern und Jugendlichen ebenso wie den der Erwachsenen. Die starke Bindung der Katholiken an ihre Lebens- und Gemeinschaftsformen wirkte sich auch bei den Reichstagswahlen der Weimarer Republik aus. Bezogen auf die Wohnbevölkerung erreichten die Katholiken 1933 einen Anteil von 32,5 Prozent. Auf die politischen Parteien der Katholiken entfielen bei den Reichs-tagswahlen zusammen zwischen 18 Prozent (1920) und 13,9 Prozent (1933) der abgegebenen Stimmen. Das Wahlverhalten der katholischen Bevölkerung zeigte auch für die Reichstagswahlen vom März 1933, die schon unter dem Druck der neuen nationalsozialistischen Machthaber stattfanden, daß den Nationalsozialis-ten in den überwiegend katholischen Gebieten des Deutschen Reiches der politi-sche Durchbruch versagt blieb, so im Emsland, in Westfalen, im Rheinland, in Bayern, Oberschlesien, im Eichsfeld und im Ermland. Die eindringlichen War-nungen vor dem Nationalsozialismus, die die deutschen Bischöfe seit 1930 wie-derholt ausgesprochen hatten, wirkten dabei als hilfreiche Stütze. Professor ehrenhalber Dr. Andreas M. Rauch lehrt Politische Wissenschaft an der Universität Bonn.

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Wolfgang Spindler

Kontinuitäten und Widersprüche im Denken Hans Barions (1899-1973)

Zu den begabtesten und zugleich schillerndsten Gestalten der Theologiege-schichte des 20. Jahrhunderts gehört Hans Barion (1899-1973). Wie unter einem Brennglas verdichten sich in seiner Person und seinem Werdegang die Wider-sprüche des „Zeitalters der Extreme“ (Eric Hobsbawm). Die wissenschaftliche Karriere des in Düsseldorf geborenen, in Bonn promovierten und habilitierten Kanonisten nahm 1931 mit einem Lehrauftrag an der theologischen Fakultät der Staatlichen Akademie in Braunsberg (Ostpreußen) ihren Lauf. Wie für Millionen andere Deutsche brachte auch für Barion das Jahr 1933 eine Wende.

In seinem Fall vollzog sich freilich ein Richtungswechsel, der im Hinblick auf seinen Stand als römisch-katholischen Priester und – seit Wintersemester 1933 – ordentlichen Professor für Kirchenrecht, gelinde ausgedrückt, als außergewöhn-lich gelten muß: Aus dem nationalkonservativ eingestellten Gelehrten wird nicht nur ein NSDAP-Mitglied, sondern in den Folgejahren ein engagierter Kämpfer gegen jede Einflußnahme der kirchlichen Hierarchie auf die politischen Geschik-ke im nationalsozialistischen Weltanschauungsstaat. In den Blickpunkt einer größeren Öffentlichkeit gerät Barion 1938/39, als Kardinal Faulhaber mit dem Hinweis auf eine frühere Suspension Barions vom priesterlichen Dienst dessen Ernennung zum Ordinarius für Kirchenrecht an der katholisch-theologischen Fakultät München die Zustimmung verweigert. Daraufhin läßt der bayerische Kultusminister und Gauleiter Wagner im Februar 1939 die Fakultät kurzerhand schließen; eine Maßnahme, die während des „Dritten Reichs“ nicht mehr rück-gängig gemacht wird. Barion gelangte mit Sommersemester 1939 auf den Lehrstuhl seines Lehrers Albert Michael Koeniger (1874-1950) in Bonn, wo er mit staatlicher Unterstüt-zung von 1940 bis zur kriegsbedingten Schließung der Universität im Herbst 1944 auch als Dekan der katholisch-theologischen Fakultät fungierte. Ein Jahr später fand er sich vor dem Prüfungsausschuß der Universität wieder, um sich für sein Wirken im Interesse der nationalsozialistischen Hochschulpolitik zu verantworten. Die „Entnazifizierung“ gelang ihm zwar, seine Klage gegen das nordrhein-westfälische Kultusministerium auf Wiedereinstellung in das verlore-ne akademische Amt scheiterte aber 1957 endgültig. Fortan lebte er als Privatge-lehrter in Bonn, wo er auch nach schwerer Krankheit verstarb.

Wen dieser Lebenslauf an denjenigen Carl Schmitts (1888-1985) erinnert, liegt durchaus richtig. Barion hat als Theologiestudent in Bonn bei dem berühmten Staatsrechtler Vorlesungen gehört und auf Vermittlung seines Braunsberger Professorenkollegen Karl Eschweiler (1886-1936) Schmitt kennengelernt. Über 400 Briefe und Karten aus der Feder Barions im Düsseldorfer Schmitt-Nachlaß

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zeugen von einem regen geistigen Austausch. Beide litten nicht nur in finanziel-ler Hinsicht darunter, nach 1945 keinen Lehrstuhl mehr innezuhaben. Während jedoch Schmitts „San Casciano“ im sauerländischen Plettenberg ab den fünfziger Jahren zum Pilgerort aufstrebender Jungakademiker avancierte1, kam Barion über den Geheimtipstatus nicht hinaus. Noch mehr als seinen Kollegen vom weltlichen Recht traf den Kirchenrechtler die damnatio memoriae weiter Teile der eigenen Zunft. Heute steht der Rezeption seines Werkes erschwerend im Wege, daß sich der selbsternannte „korrekte Kanonist“ noch während des Zwei-ten Vatikanischen Konzils auf dessen theologische Neupositionierung einschoß, freilich auf einem wissenschaftlichen Niveau, das bis heute seinesgleichen sucht. Waren Barions bio(biblio)graphischen Daten hinlänglich bekannt, so blieb doch im dunkeln, von welcher Art und welchem Umfang sein „Engagement“ im Nati-onalsozialismus war. Auch in der Suspensionsaffäre von 1934 und bei der Suche nach den Hintergründen der Schließung der Münchener Fakultät im Jahre 1939 griff man trotz manch wertvoller Erkenntnisse jüngerer Zeit2 auf Mutmaßungen zurück. Barions erzwungene Privatgelehrtenphase harrte ebenso einer Untersu-chung, wie sein Denken und seine Persönlichkeit aus dem langen Schatten Carl Schmitts erst noch herauszuführen waren.

Erste wichtige Schritte in diese Richtung unternimmt nun ein vielschichtiges, in erfreulich gutem Deutsch3 geschriebenes Werk des jungen Bochumer Dogmati-kers und Philosophen

Thomas Marschler: Kirchenrecht im Bannkreis Carl Schmitts. Hans Barion vor und nach 1945. Verlag nova & vetera, Bonn 2004, 544 S.

In theologie- und zeitgeschichtlicher wie prosopographischer Absicht (10) will der Autor Barions politisch-praktischen Einsatz im „Dritten Reich“ und in der jungen Bundesrepublik darstellen und seine Motivation – jenseits „allzu rascher Kategorialisierung“ (14) – ergründen. Als Grundlage dient ihm reiches Quellen-material u. a. aus den Nachlässen Carl Schmitts, des Schmitt-Schülers Werner Weber (1904-1976), des Literaten, Kunstgeschichtlers und Barion-Vertrauten Gustav „Hillard“ Steinbömer (1881-1972) und aus der Entnazifizierungsakte Barions. So kann Marschler viele neue biographische Details über den von ihm untersuchten Zeitraum zusammentragen und dem Leser Barions Denken näher-bringen. Wie dieser als Mensch „wirklich gewesen ist“ (19), diese Frage Leo-pold-Rankescher Art wird man auch nach der Lektüre des Buches nicht beant-worten können. Barion hat das Persönliche so sehr vom Ethos der „objektiven“ Wissenschaft geschieden, daß das Wort „ich“ praktisch nicht vorkommt. Neues Licht wirft der Autor auf Barions suspensio a divinis nach can. 2186 CIC/1917. Vorbehaltlich noch gesperrter vatikanischer Archivalien (31. 43) weist Marschler jede wenigstens direkte Beteiligung an Eschweilers befürwor-tender „Stellungnahme“ zur Durchführung des „Gesetzes zur Verhütung erb-kranken Nachwuchses“ von 1933 im „katholischen Volksteil“ zurück (29-49). Stattdessen erörtert der Verfasser andere plausible Gründe, darunter verschiede-ne Gutachten, die der Kanonist ab August 1932 zu fakultätspolitischen, staatskir-

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chenrechtlichen und kirchenpolitischen Fragen verfaßt hat und die dem Vatikan bekannt geworden sein dürften. Im umfangreichsten Teil des Buches werden diese Gutachten erstmals publiziert, ihr Inhalt zudem – unnötigerweise – vorweg referiert. Nicht in jedem Fall läßt sich klären, ob oder von welcher staatlichen Stelle Barion (und aus welchem Anlaß) zu diesen Gutachten beauftragt worden ist. Seine Bereitwilligkeit, die neuen Machthaber vor der Raffinesse der römischen Kurie zu warnen, kannte jedenfalls keine Grenzen. Marschlers Bewertung, die Sicherung der Staatsfakul-täten zur theologischen Ausbildung des künftigen Klerus sei Barions „zentrales kirchenpolitisches Anliegen während der ganzen Zeit des Nationalsozialismu s“ (88) geblieben, engt Barions Ambitionen ein. Wer so unmißverständlich und unbedingt wie Barion der „Nationalen Revolution“ bzw. dem „totalen Staat“ auch im Verhältnis zur Kirche zum Durchbruch verhelfen wollte, dem ging es um mehr als um staatstragende Abwehr kurialer Ansprüche4. Der Autor stellt selber fest, daß sich Barion schon im Sommer 1933 als „ideolo-gischer Pragmatiker im nationalsozialistischen Sinn“ (173) präsentierte. Hyper-bolische Anpassung an die neuen Machthaber „zum Beweis der eigenen politi-schen Zuverlässigkeit“ ist zwar „in Betracht zu ziehen“ (ebd.), aber in Barions Fall zu verneinen. Anders als Staatsrechtler wie Schmitt konnte Barion als Prie-ster und Kanonist nur sehr beschränkt mit Aufstiegschancen und politischen Gestaltungsmö glichkeiten rechnen. Es ging ihm um die Sache, und die hieß für ihn, allen wissenschaftlichen Grundüberzeugungen vorgeordnet, „Gewinnung des katholischen Volkes für das Dritte Reich und für die nationalsozialistische Weltanschauung“ (291).

Mit diesen Worten benennt Barion das Ziel seines bedeutendsten und für sein Denken aufschlußreichsten Gutachtens (197-291) dieser Zeit. Es befaßt sich ausführlich mit dem kurz zuvor abgeschlossenen Reichskonkordat. Entgegen der unter vielen Nationalsozialisten verbreiteten und wohl auch von Hitler geteilten Einschätzung wertet Barion das Konkordat keineswegs als Erfolg des neuen Staates. Barion hält den deutschen Unterhändlern grenzenlose Naivität und Ve r-harren in liberalistisch-rechtsstaatlichen Kategorien vor. Sein Fazit: „Das Reichs-konkordat ist ein Sieg der Kurie über das Reich von größtem Ausmaß“ (284f.). Barions – auch nach 1945 aufrechterhaltene (vgl. 166. 374-379) – These, die Kurie sei die „entschiedenste Gegnerin eines totalen und völkischen Staates, wie das Dritte Reich ihn verkörpert“ (286), setzt voraus, daß „Rom“ nicht nur religi-öse Interessen verfolgte, sondern als potestas indirecta eminent politisch agieren wollte. Marschler hält fest: „Unbezweifelbar … offenbart sich 1933 der abgrün-dige Haß Barions gegen alle Formen des politischen Katholizismus und gegen die römische Kurie, die für ihn das politische Mißverständnis des Religiösen geradezu personifiziert“ (173f.).

Hier ergeben sich Berührungspunkte mit Carl Schmitts Auffassung vom Katholi-zismus als politischer Form5, aber auch Differenzen. Sind sich beide darin einig, daß die Frage „Kirche oder Partei?“ – so auch der gleichlautende Titel zweier, die erstaunliche Kontinuität seiner Grundüberzeugungen erhellenden Aufsätze Barions von 1933 und 1965 – eine sachliche Dichotomie bezeichnet, leugnet der

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Kanonist zwar nicht das Faktum, aber, anders als Schmitt, jede theologische Legitimität politischer Machtentfaltung der Kirche (401). Anders gewendet: Wenn man mit dem von Barion und Schmitt bewunderten evangelischen Kir-chenrechtshistoriker Rudolph Sohm (1841-1917) das Wesen des Katholizismus in der Überzeugung von der Identität der spirituellen („Liebeskirche“) und insti-tutionellen („Rechtskirche“) Dimension der Kirche sieht, dann erscheint Barions Ideal einer „unpolitischen“ Kirche und einer „reinen Theologen-Theologie“, wie sie Schmitt spöttisch nennt6, widersprüchlich, ja sinnlos (407-409). Marschler legt die zwischen den beiden Gelehrten verhandelten zentralen Themen mit für einen Theologen beachtlicher Kenntnis der Schmittschen Positionen und der Sekundärliteratur ausführlich dar. Er erzeugt im Leser auch einen plastischen Eindruck vom dem keineswegs spannungsfreien Freundschaftsverhältnis.

Barions Gutachten und seine Beiträge von 1938 bis 1940 im „Ausschuß für Religionsrecht“ der Berliner Akademie für Deutsches Recht7 ordnet der Verfas-ser in zeitgeschichtlicher wie juristischer Hinsicht ebenso souverän ein wie die staatskirchenrechtlichen Stellungnahmen der sechziger Jahre, die Barion u. a. im Auftrag der hessischen Staatskanzlei8 verfaßte. Barions Nachkriegsarbeiten charakterisiert Marschler als „lebendige Illustrationen jener Grundintention seines Denkens und Handelns, der er konstant während seines ganzen Lebens treu geblieben ist: der konsequenten Durchführung der neuzeitlichen Trennung von Kirche und Staat, die er durch das hartnäckige Phänomen des politischen Katholizismus immer wieder infragegestellt sieht“ (424). Ein besonderes Verdienst der Studie besteht darin, daß sie auf die umfangreiche Publikationstätigkeit aufmerksam macht, die der unfreiwillige Privatgelehrte von 1950 bis 1964 unter dem Pseudonym „(Dr. iur.) Johannes Heinrich“ in der KAB-Zeitschrift „Priester und Arbeiter“ entfaltet hat. Marschler hat damit eine Entde-ckung gemacht. Bei diesen vergleichsweis e kurzen Veröffentlichungen, deren Sammlung und Herausgabe zu wünschen wäre, handelt es sich um eher popu-lärwissenschaftlich gehaltene, „für die an der Seelsorge tätigen Multiplikatoren geschriebene Essays“ (431). Wie bei den staatskirchenrechtlichen Wortmeldun-gen vor und nach dem Krieg schlägt auch in ihnen der „echte Barion“ voll durch: sein juristischer Positivismus (vor 1945 der „totale“, danach der „GG-Staat“), die Anknüpfung an den Etatismus und Staatsrealismus Schmitts, die antimarxistische wie antiintegralistische Frontstellung, das Festhalten an zentralen Inhalten des Naturrechts bei gleichzeitiger (stillschweigender) Ablehnung seiner rationalen Begründbarkeit, der dogmatische Traditionalismus auf der einen, die Radikalkri-tik an staatlichen Kirchenprivilegien und kirchlicher Politik andererseits.

Es kann hier nur angedeutet werden, daß Barion auf dieser theoretischen Basis in einen diametralen Gegensatz zum ekklesiologischen Entwurf des Zweiten Vati-kanischen Konzils geraten mußte9, wiewohl – auch in dieser Hinsicht trägt Marschlers Buch zur Aufklärung bei (insbesondere 442-463) – er gerade nicht als Ultramontaner oder Strukturkonservativer klassifiziert werden kann. In Bari-ons Denken kommen vielmehr Prämissen, Überzeugungen und Schlußfolgerun-gen zum Tragen, die noch heute in der deutsch(sprachig)en katholischen Theolo-gie, Staatsauffassung und Kanonistik, und zwar gerade der konzils bejahenden,

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anzutreffen sind. Der „anti-römische Affekt“ (Carl Schmitt10), die These vom „Bruch“ zwischen alter und neuzeitlicher, erst recht zwischen „vor-“ und „nach-konziliarer Kirche“, die Skepsis gegenüber Metaphysik und Naturrecht, die For-derung nach klarer Staat-Kirche-Trennung, der strikt analoge Rechtsbegriff des Kirchenrechts, die Anerkennung der Religions- und Konfessionsfreiheit und anderer (offenbar säkularistisch definierter) Menschenrechte sind nur einige der Stichworte, die für Kontinuitäten stehen. Marschler spricht denn auch vom „sehr modernen Impuls“ (489), der von Barions Denken ausgehen könne. Insofern war es sehr weitsichtig von Georg May, wenn er vor gut 20 Jahren schrieb, Hans Barion sei der „Mann von vorgestern und übermorgen“11. Wie das neu erwachte Interesse an Barion vermuten läßt, scheint dieses Übermorgen nun angebrochen zu sein.

Anmerkungen 1) Vgl. Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993. 2) Manfred Heim, Die Theologische Fakultät der Universität München in der NS-Zeit, in: MThZ 48 (1997) 371-387; Manfred Weitlauff, Kardinal Faulhaber und der „Fall Barion“. Die Schließung der Münchener Theologischen Fakultät durch das NS-Regime 1939, MThZ 54 (2003) 296-332.; jetzt auch ders., Die Theologische Fakultät der Universität München unter der nationalsozialistischen Herrschaft, MThZ 57 (2006) 347-375. 3) Allein leicht skurril wirkt die häufige archaistische Verwendung des Pronominalad-verbs „darnach“ (61, 156, 179 Anm. 94, 341, 377 Anm. 203, 489 u. ö.). 4) Nach dem Krieg plädierte er für die Abschaffung der universitären Theologenausbil-dung (vgl. S. 413f). 5) Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, 1923, 3. Aufl., Stuttgart 1984. 6) Carl Schmitt, Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politi-schen Theologie, 1970, 3. Aufl., Berlin 1990, 97. 7) Vgl. Werner Schubert (Hrsg.), Ausschuß für Religionsrecht. Nachtrag zu Band XIV (Völkerrecht) = Akademie für Deutsches Recht 1933-1945, Protokolle der Ausschüsse, Frankfurt/Main etc. 2003. 8) Marschler (411) äußert sich nicht zum Verbleib dieser im Buch nicht publizierten Gutachten. 9) Der Rezensent bereitet eine Arbeit vor, die sich Barions Kritik an der Staats- und Sozi-allehre dieses Konzils widmet. 10) Carl Schmitt (Anm. 5), 5. 11) Georg May, Rezension Barion, Kirche und Kirchenrecht, ThRev 81 (1985) 330-334, 334.

Dipl.-Jurist Univ. Mag. theol. Wolfgang Hariolf Spindler OP arbeitet in Mün-chen.

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Besprechungen

Friedensordnung

Ein durchaus ambitioniertes Buch hat Christoph Goldt geschrieben, nimmt er sich doch vor, angesichts der heutigen politischen, gesellschaftlichen und wirt-schaftlichen globalen Gesamtlage, Wege und Schritte zu einer Gesinnung des „weltweiten Miteinanders“ zu finden.

C. Goldt: Mission Frieden – Christl i-che Offensive für eine neue Weltord-nung. Sankt Ul rich Verlag, Augsburg 2004

Eine Anfrage an die katholische Kirche, welchen Beitrag sie zum Gelingen einer „Weltinnenpolitik“ leisten kann, steht dabei im Mittelpunkt des Buches. „Weltinnenpolitik“ ist eine vom Autor gewählte Bezeichnung für die Notwe n-digkeit, um eine neue Politik bemüht zu sein, die das Ziel einer friedlichen Zu-kunft hat, und die dabei der zunehmen-den Grenzenlosigkeit in der globalisier-ten Welt Rechnung trägt. Der Autor führt hierzu dem Leser knapp und bündig auf, wieweit die globale Vernetzung heute reicht, daß längst den Beziehungen der Staaten untereinander auch Vernetzungen von Nicht-Regie-rungs-Organisationen und den Wirt-schaftskonzernen und multinationalen Unternehmen gefolgt sind. Er fordert dabei zum „grenzüberschreitenden Den-ken“ (S. 19) angesichts der veränderten Lage in der Welt auf. Daß diese Frage auch insbesondere die großen Welt-Religionen berührt, recht-fertigt der Autor vor allem mit Blick auf die These des „Kampfes der Kulturen“ (S. Huntington), mit Blick auf die Ereig-nisse des 11. Septembers 2001 und der

darauf folgenden US-Politik („Achse des Bösen“), als auch des Einflusses, den die katholische Kirche durch ihre Stellvertreter, die Päpste, im 20. Jahr-hundert, auf die internationale Politik ausgeübt haben, als auch insbesondere durch die Notwendigkeit, eine gemein-same Wert ebasis zu finden, um das Ziel des friedlichen Miteinanders zu gewähr-leisten. Der Autor gibt nach der Darstellung der Zielvorgabe des Buches, vor allem zur Diskussion anzuregen, einen raschen Überblick über die politischen Strukt u-ren, die sich im Laufe der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in der internationalen Politik herausgebildet haben (insbesondere wird die Bedeutung der UNO herausgestellt). Dies erscheint sehr gelungen und gibt eine gute Grund-lage, sich der wichtigsten und entschei-dendsten Veränderungen der internatio-nalen Politik der vergangenen zwei Jahrhunderte bis heute, nochmals be-wußt zu werden. Eine besondere Auf-merksamkeit gilt dabei der Rolle, die der Vatikan im 20. Jahrhundert in der Frie-denspolitik eingenommen hat. Insbeson-dere sind genannt die Stellungnahmen zum Friedensbemühen in den beiden Weltkriegen. Den Endpunkt der Ausfü h-rungen über die Entwicklung der inter-nationalen Politik bildet der Blick auf den Nahost-Konflikt, was dann schließ-lich als Ausgangspunkt zu näheren Ausführungen der Friedensbemühungen der Päpste dient. Hintergrund der Darlegungen bleibt dabei die kritische Anfrage an die ge-genwärtige internationale Ordnung nach anarchistischen Zügen. „Welche Rolle spielt dabei die Kirche?“ – die Kirche als „global player“? (S.69) – diesen Fragen geht der Autor schließ-lich nach, und legt anhand der christli-chen Mission und der Ausbreitung des Christentums, auch durch ihr karitatives

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Tun, dar, daß die Kirche als „global player“ in Sachen Ewiges Heil gelten kann (S. 72). Daß sie insbesondere auch für die Verbreitung und Aufrechterhal-tung von Frieden steht, erscheint durch die ihr anvertraute Botschaft des Evan-geliums dem Autor auch vollkommen gerechtfertigt. In positiver Bewertung stehen die Frie-densbemühungen der Päpste Johannes XXIII., Paul VI., schließlich Johannes Paul II. Erwähnt werden die verschiede-nen Enzykliken, besonders die Sozialen-zykliken, die sich mit Gerechtigkeit und Frieden befassen. Auch im Anhang des Buches sind Auszüge aus der Charta der Vereinten Nationen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu fin-den. Das Friedensgebet in Assisi, angeleitet von Papst Johannes Paul II., findet besondere Erwähnung – ebenso wie das Bemühen der Kirche um weltweite Solidarität, Gerechtigkeit und Frieden Insbesondere erscheint dem Autor schließlich auch die Stellung des Vati-kans in der internationalen Politik und der internationalen Ordnung (Sitz in der UNO, Gespräche mit der WTO) als guter Ausgangspunkt, Schritte auf dem Weg zur „Weltinnenpolitik“ zu gehen, die somit eine christlich inspirierte Poli-tik sein könnte. Durch diese Ausführungen scheint dem Autor die „Christliche Offensive“ mit dem Vatikan und der Kirche als Mitge-stalter ein eher praktikabler Weg als eine Politik, die auf dem Gedanken des „Weltethos“ begründet liegt. Das Ziel der „Weltinnenpolitik“ soll dann aber kein Weltstaat sein, sondern eine internationale und unabhängige Autorität, wie sie möglicherweise eine gestärkte UNO darstellen könnte, die dann für eine Lenkung der Globalisie-rung hin zu weniger Hunger in der Welt

und mehr Gerechtigkeit und Frieden sein würde.

Thomas Fries

Zeugen Christi Der Aufruf von Papst Johannes Paul II., zum Hl. Jahr 2000 ein Martyrologium des 20. Jahrhunderts zu erstellen, hat ein weltweites Echo ausgelöst. Auf der Grundlage seines im Auftrag der Deut-schen Bischofskonferenz erstellten zwei-bändigen Werkes „Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts“ (Paderborn 1999: 3. Aufl. 2001) legt der Kölner Prälat Helmut Moll, der in Regensburg 1973 beim jetzigen Papst Benedikt XVI. promovier-te, eine zusätzliche Monographie vor, in der das Thema inhaltlich und metho-disch weitergeführt wird: Helmut Moll: Martyrium und Wahr-heit. Zeugen Christi im 20. Jahrhun-dert, Weilheim-Bierbronnen (Gustav-Siewerth-Akademie) 2005, 238 S. Im Kern ist das von der „Gustav-Siewerth-Akademie“ (Weilheim-Bier-bronnen), an der der Autor einen Lehr-auftrag innehat, herausgegebene Werk eine Ergänzung und eine Rezeptionsge-schichte des martyrologischen Haupt-werkes. Es beginnt mit einer theologischen Ein-führung zu den Begriffen Martyrium und Wahrheit (12-22) und der Schilde-rung der ökumenischen Gedächtnisfeier am 7. Mai 2000 vor dem römischen Kolosseum mit ihrer universalkirchli-chen Dimension (23-44). Noch einmal werden die auf Papst Benedikt XIV. (Prosper Lambertini; 1675-1758) zu-rückgehenden Kriterien der katholischen Kirche für die Anerkennung eines Mar-

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tyriums behandelt (148-150; von Andrea Riccardi, dem Gründer der Gemein-schaft „Sant’ Egidio“, in seinem schon klassischen Werk „Il secolo del marti-rio“ leider nicht thematisiert) und der evangelischen Auffassung, die auch kein Reinheitsmartyrium kennt, gegenüber-gestellt (190f). Moll ist eher skeptisch gegenüber einer politischen und interreligiösen „Erweite-rung des Märtyrerbegriffes“, wie sie von Hans Maier vorgeschlagen wurde, und unterstützt die von Heinz Hürten ange-mahnte Zurückhaltung (150). Der Ve r-fasser des österreichischen Martyrologi-ums, der Wiener Kirchenhistoriker Jan Mikrut, hat irritierenderweise die bei einem Bombenangriff in Auschwitz um-gekommene Bekennerin Angela Autsch unter die Blutzeugen aufgenommen (149). Der II. Teil der Untersuchungen behan-delt Martyrien aus der Zeit des National-sozialismus, so die 1999 noch unbe-kannten des Regierungsrates Dr. Otto Weiß aus Mülheim an der Ruhr (158-163) und das Opfer der Röhm-Affäre, den in Schlesien wirkenden Stadtbau-meister Kuno Kamphausen (164-172). Es werden viele Blutzeugen der Wahr-heit aus Thüringen, Köln und Krefeld neu vorgestellt (97-157), sowie aus Orden und marianischen Gemeinschaf-ten (71-96). Vorangestellt wird der erweiterte Text eines bisher ungedruckten Kauferinger Vortrag über „Martyrium und Todes-märsche. Das Ende des Konzentrations-lagers Dachau (57-70). Im III. Teil des Buches geht Moll ausführlicher auf „Dimensionen des Martyriums der Reinheit“ ein. Der Zusammenhang von Jungfräulichkeit und Martyrium schon bei den urchristlichen Märtyrern wird erwähnt und auf bereits kanonisierte Vorbilder des 20. Jahrhunderts einge-gangen. Besonders hervorgehoben wird

das Reinheitsmartyrium der 1954 er-mordeten Schülerin Brigitta Irrgang (186-201). Im IV. Teil wird analog zum Hauptwerk auf „Martyrium und Mission“ eingegan-gen (203-211), dabei auch der gleich-namige Vortrag Hans Urs von Baltha-sars auf dem Freiburger Katholikentag 1978 zitiert (209) und speziell das Lei-den des von Guerilleros auf den Philip-pinen umgebrachten niederbayerischen Paters Friedrich Stoiber behandelt (211-217). Die Art seines Todes weist voraus auf die aktuellen Märtyrer durch den Islamismus, etwa den Anfang Februar 2006 in der Türkei in seiner Kirche ermordeten Fidei-Donum-Priester And-rea Santoro. Sören Kierkegaard hat nach eigenen Erfahrungen mit Verspottung durch Karikaturen (was man auf „Popetown“ und „Da Vinci Code“ ausdehnen könn-te) einmal geschrieben: „Käme Christus jetzt zur Welt, so würde er doch viel-leicht nicht getötet werden, sondern ausgelacht. Dies ist das Martyrium in der Zeit des Verstandes; in der Zeit des Gefühls und der Leidenschaft wird man getötet.“ So wahr dieser Aphorismus sein mag, es sind heute beide Zeiten zugleich. Im Gegensatz zu islamistischen Selbst-mordattentätern ist der christliche Blut-zeuge, bar jeden Fanatismus, ein Zeuge der Wahrheit Gottes, die mit Papst Be-nedikts XVI. jüngster Enzyklika die Liebe ist. Wertvolle Materialien und Kriterien dazu hat Helmut Moll in seiner neuen Veröffentlichung zusammenge-stellt.

Stefan Hartmann

Willige Vollstrecker?

In dem noch immer sensiblen Thema der Haltung „der Deutschen“ zu „den Ju-

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den“ in der Epoche des Nationalsozia-lismus bedarf es bei allen Veröffentli-chungen weiterhin Mut und Besonnen-heit, was der vorliegende Band zeigt:

Konrad Löw, „Das Volk ist ein Trost“. Deutsche und Juden 1933-1945 im Urteil der jüdischen Zeitzeu-gen. Olzog, München 2006, 381 S.

Daß überlebende Juden auch nach dem Holocaust einzelnen Deutschen für ihren unerschrockenen und selbstlosen Einsatz im Alltag des NS-Staates Dank und Anerkennung gezollt haben, war be-kannt; weniger bekannt, daß ein rheini-sches Forschungsprojekt zu diesen „un-besungenen Helden“ (Ginzel 1984) nicht weiter verfolgt wurde. Umfassender und theologisch an-spruchsvoller setzt der Autor an, wenn er mit dem Tagebucheintrag des Dres-dener Juden Viktor Klemperer (4.10.1941) eröffnet: „Fraglos empfindet das Volk die Judenverfolgung als Sü n-de“ (S. 11). Im Gegensatz zu verbreite-ten Einschätzung von „Hitlers willigen Vollstreckern“ (D. Goldhagen 1996, hier u. a. S. 199-201) will Löw im ersten Teil, „neben Klemperer alle anderen jüdischen Zeitzeugen“ befragen, „die sich in dem Autor zugänglichen Tage-büchern und Memoiren zum Thema Deutsche und Juden in der NS-Zeit geäußert haben“. Dabei wird nicht ganz klar, ob es sich bei dem Titelzitat um eine Zusammenfassung oder eine Origi-nal-Zitat handelt (S. 21). Auch findet sich eine übersichtliche Liste der Namen dieser ausgewerteten Personalquellen nur auf dem Umschlag. Im zweiten Teil der Aufarbeitung und Bewertung (S. 177-342) bietet der Autor in seinem Bestreben um Objektivität Gegenstimmen und Betrachtungen aus anderen gesellschaftlichen Perspektiven. Den Einleitungsteil rundet er mit eige-nen Anti-NS-Erfahrungen aus dem

bayerischen strengkatholischen Milieu ab. In der zeitlich gut gegliederten Doku-mentation „Ausgrenzung und Vernich-tung“ werden die fünf Kapitel des gut kommentierten ‚Florelegium Judaicum’ jeweils mit einer kurzen Einleitung eröffnet. Im Höhepunkt-Kapitel „Depor-tation und Shoa 1940-1945“ kann er aus Klempers Tagebüchern Formulierungen zitieren wie „99% der deutschen Bevöl-kerung sind jugendfreundlich“ und 93% der Mischehen sind nicht gefährdet. Aus dem aktuellen Gedenken an Paul Spie-gel (†30.4.2006) sei beispielhaft Magda Spiegel zitiert: „Wenn die Regierung gehofft hatte, den Menschen, die den Gelben Stern trugen, würde von seiten der Bevölkerung Hohn und Spott entge-genschlagen und sie würden von den Straßen vertrieben, so mißlang dieser Plan; zwar gab es einige Fanatiker ..., aber weit mehr reagierten mit Ausdrü k-ken des Mitleid und Erbarmens.“ (S. 172). Den ab der Seite 177 in sechs Kapiteln unter dem Titel „Hitlers willige Voll-strecker“ aufgeführten über 30 Gegen-stimmen ist nach Löws Einschätzung „offenbar gemeinsam, daß sie über keine eigene Erfahrung mit totalitärer Macht verfügen“. Dabei reiht der Autor in dieser „Aufarbeitung und Bewertung“ bekannte (besonders seinen Kontrahen-ten Daniel Goldhagen) und weniger bekannte Autoren mit Kurzzitate auf und bindet dies in einen kritischen Ko n-text und Kommentar ein. Aus der Zusammenfassung, welche den Titel noch einmal als Frage aufgreift, sei das als beispielhaftes Ergebnis für die Studie zitiert: „Was die Haltung der Bevölkerung zum Pogrom vom Novem-ber 1938 anlangt, so nehmen alle unver-dächtigen Zeugen, die Juden wie die ausländischen Diplomaten und Journ a-listen, vor allem ein Volk in tiefer De-

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pression wahr. Jeder, der widersprechen wollte, hatte längst begriffen, daß er auf keinerlei Schutz durch Behörden, Ge-richte oder Nachbarn hoffen durfte“ (S. 337). In diesem zweiten Teil (ab S. 191) finden sich auch sieben schwarz-weiße Fotos und Faksimiles, darunter das Schreiben der Heiligen Dr. Edith Stein an Papst Pius XI. (1933, S. 255 f.) und das falsch interpretierte Foto von Gold-hagen (Nuntius Orsenigo statt Kardinal Faulhaber, S. 333), aber auch als Ex-kurs zu den politischen Schwierigkeiten des Erinnerns eine Karikatur zum Ar-menier-Genozid (1905, S. 324). Auf 19 Seiten hat der Autor abschlie-ßend gut und ohne nennenswerte Fehler (Moll, Zeugen für Christus, schon 3. Aufl. 2002; Röhm/Thierfelder, Juden, Christen, Deutsche, 2005 konnte wohl nicht mehr berücksichtigt werden) Bü-cher und größere Aufsätze in seinem Literaturverzeichnis zusammengestellt. Das Personenregister erfaßt verdienst-vollerweise sowohl die historischen Persönlichkeiten aus den Zeugnissen als auch die Autorennamen aus den Anmer-kungen. Zu den besonderen Vorzügen der Arbeit gehört auch das Sachregister, das auch Ortsnamen erschließt. Didak-tisch hilfreich schließt Löw sein Werk mit 20 Thesen ab, die gut den Inhalt des Buches zusammenfassen (S. 340f.). Gerade angesichts der biologischen Grenze der letzten überlebenden Zeit-zeugen dieser Epoche ist dieses neue Werk von Löw eine verdienstvolle Aus-wahl und mutige Deutung, die zur Dis-kussion anregt und verbreitete Vorurtei-le in Frage stellen könnte.

Reimund Haas

Humanismus

Während christliche und katholische Ethiker oft untereinander auch über we-sentliche Fragen streiten, gewinnt man

gelegentlich bei substantiellen Proble-men Verbündete aus anderen, sogar aus ansonsten gegnerischen Lagern. Ein Beispiel bietet das neue Buch eines ent-schiedenen Atheisten, des ehemaligen evangelischen Theologen Joachim Kahl, der seit dem Erscheinen seines Bestsel-lers „Vom Elend des Christentums“ be-kanntgeworden ist: Joachim Kahl: Weltlicher Humanis-mus. Eine Philosophie für unsere Zeit. Litt Verlag, Münster 2005, 260 S. Der Rezensent hat ihn öfters in Streitge-sprächen erlebt und als fairen Gegner erfahren, was sich auch in diesem Buch bestätigt, wenn Religion und Christen-tum abgelehnt werden. Der Dogmatiker Magnus Striet schrieb kürzlich: „In der kritischen Aneignung dieser Fremdper-spektiven erschließt sich erst die ganze Bedeutungsfülle des Glaubens.“ Hier sollen aber nur auf die ethischen Passa-gen hingewiesen werde, die erstaunlich kompatibel sind mit unseren Einsichten. Kahl wehrt sich gegen einen kruden Materialismus, einen antimetaphysi-schen Redukt ionismus und ethischen Relativismus. Er vertritt eine Philoso-phie des „Naturalismus“ und der „Skep-sis“ und arbeitet mit „ontologischen Kategorien“ und „anthropologischen Konstanten“, die als abstrakte Verall-gemeinerungen menschlicher Erfahru n-gen formulierbar werden. Naturalismus heißt, daß die Welt und der Mensch darin als Zusammenhang gesehen wird, dem man nur mit Hilfe der (skeptischen) Vernunft auf die Spur kommt, denn das Sein als Ganzes ist nur gedanklich er-faßbar. Dieses Grundkonzept ist nicht weit vom thomasischen und neoaristote-lischen Naturrechtsdenken entfernt, es bezieht sich ausdrücklich auf antike Denker. Thomas scheint Kahl nicht genügend zu kennen, so daß er die Nähe zu ihm nicht bemerkt.

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Auf dieser Grundlage ergeben sich praktische Konsequenzen. Kahl entwirft eine Fortführung der letzten sieben Ge -bote des Dekalogs, die ihm als notwe n-dige Regelungen menschlichen Zusam-menlebens gelten, einschließlich der heute angegriffenen monogamen Ehe. „Es soll nur gezeigt werden, daß auch im religiösen Kulturerbe wertvolle Schätze ruhen können, die auf eine Wiederentdeckung und pflegliche An-verwandlung warten.“ (193) Habermas läßt hier grüßen! Dem Lob des Ideals vom „gentleman“ (ähnlich bei J.H. Newman) und der Freundschaft kann man gerne zustimmen. Besonders inter-essant sind sexualethische Folgerungen. Ein Kapitel wendet sich gegen die „mo-dische These von der Gleichrangigkeit aller Lebensformen“, ein anderes dem „biologischen und sozialen Vorrang von Heterosexualität gegenüber Homosexu a-lität.“ „Es gibt eine klar erkennbare ethische Rangordnung unter Lebensfo r

men und Lebensentwürfen ... Über die ethische Dignität von Lebensentwürfen läßt sich mit rationalen Argumenten und ethischen Normen befinden und ent-scheiden.“ (226) Selbstverständlich räumt Kahl denen, die von der auf natu-raler Basis erhobenen Normen abwei-chen, gesellschaftliche Toleranz ein, aber seine Argumentation gegen die relativistische Gleichmacherei in der Sexualethik ist für denjenigen, der in der naturrechtlichen Tradition steht, ver-wandt und überzeugend, etsi deus non daretur. Das gleiche gilt für die Famili-enethik: „Familie ist nicht überall dort, wo Kinder sind, sondern nur dort, wo Kinder mit ihren Eltern sind.“ (228) Es ist heilsam in unserer pluralistischen Gesellschaft, solche und ähnliche ethi-schen Überlegungen zu würdigen, die meinen, auch ohne Gott auszukommen – was eine eigene Diskussion evoziert.

Hans Joachim Türk

DIE NEUE ORDNUNG

Einbanddecken

für den 60. Jahrgang 2006

für 15,- € zu bestellen bei: Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg

Simrockstraße 19 D-53113 Bonn

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