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654 Die Paradoxien des E. M. Cioran Ein Gespräch mit Leonhard Reinis ch R: E. M. Cioran oder, wenn man den rumänischen Geburtsnamen ausspricht, Joran, lebt seit mehr als 30 Jahren in Paris. Wir sitzen über den Dächern der Stadt, in der Nähe der Place de l'Orleans, bei diesem Gespräch mit einem Mann, dessen Philoso- phie mich seit 20 Jahren beschäftigt, als das erste Buch von ihm deutsch erschien. Es hieß »Lehre vom Zerfall«, eigentlich schlecht übersetzt, weil »decomposition« eben das Aktivere beinhaltet, was wir Menschen mit dem Ganzen, was Geschichte und Leben heißt, betreiben. Das Buch hat mich damals tief beeindruckt, es traf in eine Zeit, da Albert Camus und andere uns eine Philosophie des revoltierenden Menschen lieferten, und das war Ciorans Buch ein doch größerer Tiefschlag, wenn ich es einmal übertrieben sagen darf. Seitdem sind vier weitere Bücher deutsch erschienen, zu- letzt 1973 der Band mit dem Titel »Die verfehlte SchöpfungAuch hier wieder der ganze tiefe Pessimismus eines Menschen, der sich mit dem Schreiben nicht am Leben hält, sondern vom Tode vielleicht noch ein bißchen abhält. So lautet meine erste, sehr provokatorische Frage an ihn: Warum leben Sie eigentlich noch? C: Diese Frage ist für mich so wichtig wie selbstverständlich. Ich muß sagen, daß ich das Leben immer als etwas absolut Problematisches gelebt habe. Und ich war immer erstaunt, daß ich weiterleben konnte. Ich war ungefähr 17 Jahre alt, als ich dies verstand: daß ich leben kann, aber nur abseits des Lebens, parallel zum Le- ben. Und ich war damals überzeugt, daß ich vielleicht noch zehn Jahre leben könnte oder mit einer großen Anstrengimg vielleicht zwanzig. Es war richtig para- dox für mich — ich bin jetzt ein alter Mann, 65 Jahre alt —, als kürzlich ein Ju- gendfreund, den ich nach 35 Jahren zum erstenmal wiedersah, zu mir sagte: Das Leben hat einen Sinn, weil Du so lange leben konntest. Also als junger Mensch war das Leben für mich etwas absolut Unmögliches. R; Darf ich da unterbrechen. Dieser Freund hat gesagt: Das Leben hat einen Sinn. Sagen Sie selber auch: Das Leben hat einen Sinn? C: Ich sage das nicht, aber mein Freund sagte, er wäre fast bestürzt, daß ich am Leben bin, hatte immer geglaubt, ich würde Selbstmord begehen. Nun, ich habe nicht Selbstmord begangen, aber nicht, weil das Leben einen Sinn hätte, sondern weil ich durch den Selbstmordgedanken leben konnte... die Selbstmordidee ist keine zerstörerische, sondern eine bekräftigende Idee, würde ich sagen. R: Und die Antwort des Selbstmordes auf das Leben ist für Sie auch eine positive Antwort? C: Das würde ich behaupten. R: Daran hängt es, weshalb ich am Anfang schon auf Albert Camus zu sprechen kam. In der Zeit nach 45 war ja die Verzweiflung am Leben, ich glaube, so ähnlich hieß sogar Ihr erstes Buch . . . C: Auf Rumänisch. Ich war 21 Jahre alt, ich war Student in Bukarest, und das Zentralthema war die Verzweiflung. R: Es gehörte also schon in die Lebensphilosophie hinein, in der Sie ja gebheben sind, auch wenn man sie besser eine Todesphilosophie nennt. Bezahlt von Mihail Botez (Bestellcode: JBM0XHSV6KLQB58EMQ3R) © Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

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Die Paradoxien des E. M. Cioran

Ein Gespräch mit Leonhard Reinis ch

R: E. M. Cioran oder, wenn man den rumänischen Geburtsnamen ausspricht, Joran, lebt seit mehr als 30 Jahren in Paris. Wir sitzen über den Dächern der Stadt, in der Nähe der Place de l'Orleans, bei diesem Gespräch mit einem Mann, dessen Philoso-phie mich seit 20 Jahren beschäftigt, als das erste Buch von ihm deutsch erschien. Es hieß »Lehre vom Zerfall«, eigentlich schlecht übersetzt, weil »decomposition« eben das Aktivere beinhaltet, was wir Menschen mit dem Ganzen, was Geschichte und Leben heißt, betreiben. Das Buch hat mich damals tief beeindruckt, es traf in eine Zeit, da Albert Camus und andere uns eine Philosophie des revoltierenden Menschen lieferten, und das war Ciorans Buch ein doch größerer Tiefschlag, wenn ich es einmal übertrieben sagen darf. Seitdem sind vier weitere Bücher deutsch erschienen, zu-letzt 1973 der Band mit dem Titel »Die verfehlte SchöpfungAuch hier wieder der ganze tiefe Pessimismus eines Menschen, der sich mit dem Schreiben nicht am Leben hält, sondern vom Tode vielleicht noch ein bißchen abhält. So lautet meine erste, sehr provokatorische Frage an ihn: Warum leben Sie eigentlich noch? C: Diese Frage ist für mich so wichtig wie selbstverständlich. Ich muß sagen, daß ich das Leben immer als etwas absolut Problematisches gelebt habe. Und ich war immer erstaunt, daß ich weiterleben konnte. Ich war ungefähr 17 Jahre alt, als ich dies verstand: daß ich leben kann, aber nur abseits des Lebens, parallel zum Le-ben. Und ich war damals überzeugt, daß ich vielleicht noch zehn Jahre leben könnte oder mit einer großen Anstrengimg vielleicht zwanzig. Es war richtig para-dox für mich — ich bin jetzt ein alter Mann, 65 Jahre alt —, als kürzlich ein Ju-gendfreund, den ich nach 35 Jahren zum erstenmal wiedersah, zu mir sagte: Das Leben hat einen Sinn, weil Du so lange leben konntest. Also als junger Mensch war das Leben für mich etwas absolut Unmögliches. R; Darf ich da unterbrechen. Dieser Freund hat gesagt: Das Leben hat einen Sinn. Sagen Sie selber auch: Das Leben hat einen Sinn? C: Ich sage das nicht, aber mein Freund sagte, er wäre fast bestürzt, daß ich am Leben bin, hatte immer geglaubt, ich würde Selbstmord begehen. Nun, ich habe nicht Selbstmord begangen, aber nicht, weil das Leben einen Sinn hätte, sondern weil ich durch den Selbstmordgedanken leben konnte.. . die Selbstmordidee ist keine zerstörerische, sondern eine bekräftigende Idee, würde ich sagen. R: Und die Antwort des Selbstmordes auf das Leben ist für Sie auch eine positive Antwort? C: Das würde ich behaupten. R: Daran hängt es, weshalb ich am Anfang schon auf Albert Camus zu sprechen kam. In der Zeit nach 45 war ja die Verzweiflung am Leben, ich glaube, so ähnlich hieß sogar Ihr erstes Buch . . . C: Auf Rumänisch. Ich war 21 Jahre alt, ich war Student in Bukarest, und das Zentralthema war die Verzweiflung. R: Es gehörte also schon in die Lebensphilosophie hinein, in der Sie ja gebheben sind, auch wenn man sie besser eine Todesphilosophie nennt.

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C: Ich war damals sehr von einem deutschen Philosophen beeinflußt, der heute überhaupt nicht mehr gelesen wird, den ich aber sehr bewundere: Georg Simmel. R: Ja, Georg Simmel ist leider fast vergessen und von einigen seiner Schüler sogar verleugnet. Ich denke gerade an Georg Lukäcs, der in seiner »Zerstörung der Ver-nunft« so bösartig über seinen großen Lehrer schreibt, von dem er übrigens sehr viel gelernt hat. Beim Erwähnen des Namens Simmel rege ich mich immer etwas über die Undankbarkeit von Schülern auf. C: Sie wissen, daß Heidegger in derselben Zeit auch über den Tod geschrieben hat. Meiner Meinung nach stellt seine Auffassung des Todes eine terminologische, wie soll ich sagen, Transformation der Metaphysik des Todes dar, die Simmel in seinem Buch »Lebensanschauung« entwickelt hat. Übrigens zitiert Heidegger in seinem Kapitel über den Tod Simmel, der meiner Meinimg nach der größte philo-sophische Essayist Deutschlands war, seiner Generation wenigstens. R: Es gibt etwas von Simmel, was mich immer stark berührt hat: ich meine seinen Essay über den Fremden, wo er nicht nur den Juden als den »Fremden« dargestellt hat, sondern gleichzeitig auch schon das, was später in der gängigen Philosophie »Entfremdung« genannt wird. Im Grund genommen ist sein Grundgedanke Ihnen sehr verwandt: daß man nämlich eigentlich nur daneben lebt. Sie sagen: Das Leben neben dem Leben trotz der Möglichkeit des Selbstmordes und ohne daß man ihn voll-zieht. Und damit komme ich noch mal auf das erste Buch, das in Deutschland von Ihnen erschienen ist: Ihre »Lehre vom Zerfall« oder von der »decomposition«. Uber-setzt hat damals Paul Celan, und das interessiert mich in doppelter Hinsicht: erstens vom Tode Celans her, der wohl nicht zufällig ein Selbstmordtod war, und zum ande-ren mit der Frage: Waren Sie miteinander bekannt, befreundet? C: Befreundet wäre zu viel gesagt; denn Celan war eigentlich ein unmöglicher Mensch. Als er mein Buch übersetzte, sah ich ihn fast täglich. Er konnte der reiz-vollste Mensch sein, ganz höflich und entgegenkommend. Aber später litt er, man muß schon so sagen, an Verfolgungswahn. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich treffe ihn auf der Straße und er sagt: Kommen Sie mit. Es gibt hier eine Bücherei, die Sie viel-leicht nicht kennen. Dabei kauft er ein sehr teures Wörterbuch. Und eingepackt — ein Geschenk. Ich wollte das nicht annehmen. Er war sehr großzügig, von Natur aus. R: Ja, er war ein sich selbst Herschenkender, und gleichzeitig jemand — ich habe ihn ja auch einige Male getroffen —, der immer glaubte, wenn er in München auf einer Straßenbahn war, er habe irgendeinen Antisemiten gesehen, der ihn verfolge. C: Ich habe niemanden getroffen in meinem Leben, der so verletzbar war. Er war die absolute Verletzbarkeit für mich. Ein Gespräch mit ihm war erschöpfend, weil man ständig aufpassen mußte, nicht etwas zu sagen, das ihm mißfiel. Einmal war ich bei ihm eingeladen, und kam vollständig erschöpft nach Hause. Man kann näm-lich nicht ein Gespräch mit jemandem führen, dessen man immer bewußt ist. Ein Gespräch muß irgendwie halbbewußt sein. R: Ich glaube: wir sprechen jetzt ein bißchen halbbewußt, und das ist auch gut für unser Gespräch. Ich meine nämlich, daß zwischen Celan und Ihnen nicht nur räumlich eine Gemeinsamkeit besteht. Beide kommen Sie aus dem Orient, wenn man es so übertrieben sagen kann, beide haben Sie dann in Paris Ihre Heimat gefunden, beide sind Sie Menschen, die unerhörte Sprachdisziplin getrieben haben; denn Ihre Verachtung der Literatur besteht ja darin, daß Sie in der Literatur so eine Art

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Krebs wuchs des Wortes sehen. Celan hat es in seinen »Sprachgittern« auch gleichermaßen gezügelt: es könne nur noch gesagt werden, was nicht unbedingt ver-schwiegen werden muß. Also insofern gibt es viele Beziehungen, und meine Ein-gangsfrage, warum Sie überhaupt noch da sind und nicht Selbstmord begangen ha-ben, hat eben umgekehrt Celan mit seinem Selbstmord beantwortet. C: Ja, aber man muß nicht vergessen, er konnte das nicht vermeiden. Ich bin in einem Dorf geboren. Mein Vater war ein orthodoxer Priester und irgendwie bin ich ursprünglicher als Celan, urwüchsiger, wollen wir mal sagen, ich hatte vielleicht mehr Lebenskraft, im ganz primitiven Sinne. Das Leben hat mich immer unheim-lich interessiert. Wissen Sie, es gibt von Baudelaire einen Ausdruck, das ist für mich eine Art Resume meines Lebens. Baudelaire spricht von Ekstase und Abscheu vor dem Leben. Dies beides habe ich immer wieder gelebt. Also, für mich ist der Selbstmord so ein Extremfall dieses Doppelerlebnisses. R: Da sind wir wieder beim Zentralthema Ihrer Philosophie. Es scheint mir wich-tig, daß wir uns bewußt werden, daß nach 45 sehr viele junge Menschen in dem Doppelspiel Camus—Cioran die beiden Möglichkeiten des Menschen in der Revolte und des Zerfalls durch Dekomposition gesehen haben, und beide ein bißchen auch sagten: Die beste Lösung am Schluß wäre, daß man dieser Sinnlosigkeit und dieser Revolte letztlich doch wieder eine Bejahung des Lebens abgewinnt — im Wissen um die Absurdität, auf die wir auch noch zu sprechen kommen; denn Ionesco ist ja einer der besten Freunde, die Sie überhaupt haben, neben Beckett, und da gibt es ja diesen großen Zusammenhang, wobei mich eines allerdings etwas verwundert: In irgendwelchen biographischen Notizen über Sie steht, Sie hätten in jener Zeit auch für die »Temps modernes« und mit Sartre zusammengearbeitet. Ich kann mir das nicht recht vorstellen, weil doch Sartre Ihre Auffassung genauso verachten müßte, wie Sie die seine. C: Ja, das stimmt. Für mich hat Sartre nichts bedeutet. Sein Werk ist mir fremd, und seine Erscheinung interessiert mich eigentlich nicht. Nicht einmal »Das Sein und das Nichts«. Irgendwie ist das alles äußerlich für mich. Er hat das »Nichts« beschrieben, aber von außen, alles ist, wie die Franzosen sagen, fabriziert. Was mich interessiert, ist sein äußeres Schicksal, aber nicht seine Philosophie. R: Nun, Sartres Denken ist ja immer auch ein politisches, aber ich meine: Was er originell dazugebracht hat, ist doch der Existentialismus, der Ihnen als Lebensphilo-sophen ja eigentlich sehr nahe ist. C: Das schon. Aber — wie soll ich sagen — Pascal oder Kierkegaard, das ist nichts für ihn. Er ist sozusagen für den objektiven Existentialismus, ich würde den meinen einen subjektiven nennen. Ich habe eine religiöse Dimension. Die hat er sicher nicht. Ich habe einfach keine tiefe Beziehung zu ihm. R: Also die religiöse Dimension, die ich selber übrigens niemandem von außen her absprechen möchte — Sie haben sie ganz bestimmt, auch wenn Sie wahrscheinlich für Orthodoxe irgendwelcher Kirchen unannehmbar sind. Sie würden im Mittelalter verbrannt worden sein wegen Ihrer Bücher. Sie hätten sozusagen den Selbstmord auf dem Scheiterhaufen gemacht, weil Sie das Buch geschrieben haben. C: Wissen Sie, daß das letzte Buch »Die verfehlte Schöpfung« in Spanien verboten wurde? R: Das ist ja klar. Obwohl das Buch im Grunde religiös ist. Es ist ja sogar eine

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Theologie drin, keine dogmatische, aber — glauben Sie eigentlich an den Teufel? C: Ich glaube — für mich — der Teufel war immer eine großartige Idee, ich habe immer an den Teufel gedacht. Und ich muß sagen, ohne den Teufel kann man überhaupt nichts erklären, ohne ihn kann man vor allem die Geschichte nicht ver-stehen. Dasselbe gilt für die Erbsünde. Ich kann mich gut an das Gespräch erin-nern, das ich vor einigen Jahren mit dem Kardinal Danielou gehabt habe. Ich sagte ihm, daß ohne die Erbsünde das Christentum keinen Sinn habe und die Ge-schichte unbegreiflich würde. Darauf hat er mir geantwortet: Sie sind zu sehr Pes-simist, die Erbsünde — das ist nicht so wichtig. Also für mich ist die Erbsünde eine Idee, die unentbehrlich ist, um die Geschichte zu verstehen. R: Ich muß sogar sagen: Für mich ist sie unentbehrlich, um mein bißchen Christsein zu realisieren, sonst könnte ich sagen: Dann bin ich doch gleich irgendein fort-schrittsgläubiger Sozialist. C: Und ich hab gesagt: Hochwürden, Sie sind zu sehr Pessimist. Wenn nämlich für die Kirche solche Ideen nebensächlich werden, dann ist das ein Symptom. Und ich hab mit ihm sogar gestritten damals, ich kann mich gut erinnern: Wenn die Kirche so liberal ist, dann ist es aus, dann hat das keinen Sinn mehr. Und ich bin selbst, wie Sie wissen, kein Christ, obwohl mein Vater Stadtpfarrer in Hermannstadt war und eine gewisse Rolle in der orthodoxen Kirche in Siebenbürgen gespielt hat. Für mich ist, wie soll ich sagen, die Religion sehr wichtig. Aber ich persönlich kann nicht glauben. Ohne das religiöse Erlebnis könnte ich nicht leben, aber des Glaubens selbst bin ich absolut unfähig. Ich kann das nicht mehr annehmen; ich habe immer — R: Haben Sie das mal analysiert bei sich oder haben Sie versucht, zu erklären, warum Sie so denken? C: Nein, aber ich habe immer Mystiker gelesen, habe auch mystische Erlebnisse gehabt in meinem Leben. Zum Beispiel — ich betrachte als den Höhepunkt mei-nes Lebens ein Erlebnis, das ich noch vor 30 Jahren gehabt habe, vielleicht mehr. Es war auf einmal — ich fühlte, daß sich die Zeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in mir konzentriert haben, daß ich das Zentrum der Zeit bin. — Dann habe ich viel Mystik gelesen, weil ich glaube, daß in mir selbst ein mystischer Zug ist; diese Verzückungen, diese Exzesse, der Wahnsinn, die mystischen Übertreibungen, das habe ich viel mehr in der Mystik als in der Literatur gefunden. Aus demselben Grund habe ich mich zeitlebens für Dostojewski interessiert, weil er immer Grenzsi-tuationen beschrieben hat. Und was ist die Mystik anders als eine Grenzsituation? Man ist immer am Rande von etwas. Ich muß sagen: ich habe keine Religion in meinem Leben, keinen bestimmten Glauben, aber die Mystiker — da habe ich mich immer wiedergefunden. In einem anderen Zeitalter wäre ich vielleicht in ein Kloster gegangen, aber auf jeden Fall fühle ich mich heimisch in diesem Kreis. R: Sie sind gelegentlich auch ein »Gnostiker« genannt worden. C: Ja, mein letztes Buch »Die verfehlte Schöpfung« ist von den Gnostikera beein-flußt worden, aber es ist eine Sache von geistiger Verwandtschaft. Eigendich bin ich nicht von den Gnostikern, sondern von ihren Nachfolgern beeinflußt, von den Bogomilen und von den Katharem. Die Bogomilen haben in Bulgarien gelebt, sie gehören zum Ideenkreis des Balkan, und ich glaube, das ist kein Zufall, ich fühle mich wirklich wie ein moderner Bogomile. Die Idee, daß die Welt von einem

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schlechten Gott geschaffen ist, etwas wie eine zerstörte Idee Gottes, der also nicht durch den Skandal der Schöpfung kompromittiert ist. R: Es hat sich also der Teufel als der Mächtigere gezeigt, solange es Schöpfimg gibt. Das ist die Weltgeschichte als Zerfallsprozeß. Da sind wir fast wieder bei Da-nielou gelandet. C: Ja, ja, das ist eine Zentralidee für mich: wenn man die Idee des Teufels wegläßt, kann man den Weltgang nicht verstehen, er ist unbegreiflich. Die Bogomilen hießen diesen Teufel »Satanael«, der Schöpfer ist eigentlich eine Karikatur Gottes — R: »Der Affe Gottes«, hieß es auch einmal. C: Gut, Affe Gottes. Nach dem »Tode Gottes« sind wir zwar alle unvermeidlicher-weise Rationalisten, wir glauben nicht mehr an Gott und Teufel, aber die Idee des Teufels ist für mich absolut notwendig. Und wir sind heute ja auch alle — sagen wir: Manichäer, Bogomilen und Katharer; auch wenn wir theoretisch dagegen sind, sind wir doch innerlich davon überzeugt. R: Da frage ich mich, ob Sie mit dieser Behauptimg recht haben. Leszek Kolakow-ski, der polnische Philosoph, hat vor kurzem einen wichtigen Essay geschrieben »Kann der Teufel erlöst werden?«1, wo er zunächst Ihren Gedanken sehr nahe-kommt, allerdings dann die Frage stellt, ob die Erbsünde nicht schon ein Grundmo-tiv, ja eine Möglichkeit bedeutet, die Erlösung erheischt und ermöglicht. Sie gehen ja fast unerlöst, jedenfalls soweit ich Ihre Bücher gesehen habe, aus dieser Welt, wenn Sie einmal weggehen. C: Für mich gibt es keine Erlösimg, außer im buddhistischen Sinne. Sie wissen, im Buddhismus gibt es die Idee, daß man das Nirwana auch im Leben erreichen kann. Also ich glaube, der Mensch kann nicht objektiv erlöst sein, aber es gibt Augen-blicke, wo man erlöst ist. Das sind die großen Augenblicke im Leben, wenn man über die Geschichte hinauslebt. Ich habe Ihnen vorhin ein Beispiel erwähnt: das Gefühl, daß ich das Zentrum der Zeit bin. Es war ein so starkes Erlebnis, daß ich meine Faust in den Mund stecken mußte, um nicht zu schreien. Also so etwas wie eine Ekstase. R: Das hieße allerdings, daß Ihrem Wesen christliche Mystik näherliegt als der Buddhismus. Übrigens, das wollte ich eben noch sagen, ich habe oft bei Ihren Bü-chern die Empfindung gehabt: Ich will das nicht so sehen. Ich weiß natürlich, daß ich mich damit auch gleichzeitig ins Unrecht setze. Aber das eine, das ist mir schon klar: daß die heutige Zeit Ihnen so viel mehr Recht gibt, als Sie es vor 20 oder 30 Jahren erwarten konnten. Denn die ganze Fortschrittsideologie, die Sie von Anfang an bekämpft haben, der Zivilisationsmensch, den Sie mit bitterer Ironie verurteilt haben, der steht ja nun vor einer gewissen Ratlosigkeit, um es ganz bescheiden aus-zudrücken. Oder um es mit Ihren Worten zu sagen, vor denen ich geradezu Angst habe, sie zu zitieren — Sie schreiben: »Meine Vision von der Zukunft ist so deutlich, daß ich, hätte ich Kinder, sie auf der Stelle erdrosseln würde.« C: Also ich muß sagen, ich hoffe, Sie haben keine Kinder. R: Ich sage Ihnen sogar, ich habe vier Kinder. C: Da kann ich ruhig sprechen. Also für mich gilt: ich hätte im Leben alles ma-chen können, nur keine Kinder zeugen. Ich wollte nicht heiraten, weil ich fürchtete,

1 Zuerst deutsch im MERKUR Nr. 319, Dezember 1974.

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Kinder zu haben. So wie ich gegen den sogenannten Fortschritt bin, die Progression, so bin ich gegen die Fortpflanzung. R: Das ist keine neue Idee von Ihnen. Es gibt scholastische Philosophen, die schon bei der theoretischen Frage, was würde denn eigentlich, wenn alle Männer Mönche würden und alle Frauen Nonnen, gesagt haben: Ja, das wäre eigentlich die Erlösung des Menschen von sich selbst und zu Gott hin. Das haben sie noch gesagt, aber das war für sie eine total positive Aussage. C; Also für mich ist es ein persönliches Erlebnis. Wenn ich ein Kind sehe, oder zum Beispiel ein Baby, dann werde ich unheimlich traurig. Wenn meine Freunde mir eine Geburtsanzeige schicken, weiß ich nie, wie ich antworten soll. Ich kann überhaupt nicht antworten. Ich könnte überhaupt nicht die Verantwortimg über-nehmen, jemanden in diese Welt zu stürzen. Und wenn das Leben, der Mensch, die Geschichte, morgen aufhören würden — ich würde nicht traurig sein. R: Herr Cioran, Sie haben zwar nicht geheiratet, haben auch keine Kinder gehabt, eine Freundin haben Sie doch. Das Problem der Sexualität ist bei Ihnen nicht ganz ausgeklammert. Es gehört aber mit zu diesem Problem. Das Lob der Faulheit, das Lob der Indifferenz, Sie haben es gesungen, auch ein gewisses Lob der totalen Ent-haltsamkeit gegenüber der Fortpflanzung. Aber es bleibt etwas, was Sie doch viel-leicht sagen: Die Menschen brauchen es noch, um als Tiere wenigstens zu existieren. C: In meiner Jugend — um es ganz ehrlich zu sagen — vergötterte ich die Dirnen. Im Balkan war das Bordell ein Ersatz für den Salon. In Hermannstadt ging ich zwei- oder dreimal in der Woche ins Bordell. Für mich war das wie ein Empfang. Für mich hatte das Geschlechtsleben nur einen Sinn: mit Dirnen zu schlafen. R: Sie verstehen unter den Dirnen die Frauen? C: Ja. Für mich war die Frau die Dirne. Eine Frau, die nicht Dirne war, interes-sierte mich überhaupt nicht. Der Wechsel in meinem Leben kam nach dem Einzug der Deutschen in Paris. Ich begann, ein regelmäßiges Verhältnis zu Frauen zu ha-ben, die nicht Dirnen waren, und betrachte das als die erste große Niederlage mei-nes Lebens; denn früher war ich ganz frei. Von nun an begann ich von Frauen ab-hängig zu werden und verstand, was ich früher nicht gut verstanden habe: daß ich die Frauen nicht entbehren kann. Ich muß aber hinzufügen, daß ich diese Nieder-lage ganz ohne große Schwierigkeiten angenommen habe. Und einer der Gründe dafür liegt in der Erkenntnis, daß ich doch auch ein Tier bin . . . R: Ein bißchen ist das Tierseinwollen oder das Zum-Tier-Zurückkommen ohnehin ein Punkt Ihrer Philosophie. Sie wollen ja sagen, daß der Mensch nur eine zu früh gewordene, bessere Form des Affen der Schöpfung, nämlich des Teufels ist, und man hätte eigentlich diesen Apfel nicht essen sollen. Man hätte eigentlich beim Tierleben bleiben sollen, in dem Sie sich ja noch am ehesten zu Hause fühlen. C: Genau. Ich glaube, daß der Weg, den der Mensch eingeschlagen hat, ein Irrweg gewesen ist. Der Mensch hätte Tier bleiben müssen mit einem gewissen Zuschlag, sagen wir: ein nachdenkliches Tier. Aber wir sind zu weit gegangen, und das kann nur schlecht enden.

R: Ich weiß nur nicht, wer da zu weit gegangen ist? C: Der Mensch ist nicht nur Alleinherrscher der Welt geworden, er ist im Be-griff, auch die Tiere auszurotten, er ist allein auf der Welt, er ist mit sich selbst ge-

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blieben, und das geht nicht. Man spürt, es ist ein Unbehagen — nicht bloß das Un-behagen in der Kultur, von dem Freud gesprochen hat, es ist viel tiefer. R: Ich kann nur eines sagen: Für mich hat die Geschichte einen Sinn, weil ich sie in einem Heilszusammenhang, in einem Sinnzusammenhang, wie man es nennen mag, bringe. Ich kann nicht einsehen, daß man sagt: Ich hätte eigentlich lieber ein Tier sein wollen, möchte die Frau auch nur als Tier sehen. Ich habe eben auch in der Fortpflanzung und weil ich Geschichte akzeptiere, einen Sinn gesehen, wäh-rend Sie sagen: Das beste ist, die Welt geht zumindestens in bezug auf diese Men-schen zugrunde — ja, darüber hinaus, und das müßten Sie mir noch erklären: die Menschheit sei schuld daran, Mensch geworden zu sein. C: Die Menschen sind nicht eigentlich schuld, aber sie sind wie in einem Verhäng-nis. Ich kann nicht erklären, wie dieser Prozeß hätte verhindert werden können. Aber was ich feststelle, ist, daß der Weg, den wir gegangen sind, ein falscher ist. Warum sind wir da? Nur um zu l eben . . . und um das Leben zu erleiden vielleicht, als Zuschauer, aber nicht als Schöpfer. R: Genau, was Sie da sagen: Des Menschen Weg ist ein falscher Weg, und gleich-zeitig zu sagen: Er erleidet diesen Weg, den er plötzlich gehen muß — das sind die alten Paradoxien, die wir schon einmal festgestellt haben. C: Ich möchte das biblisch erklären. Das kann wirklich paradox klingen, aber ich persönlich habe den Eindruck, ich bin aus der Hand Gottes gefallen. Also ich glaube, daß der Mensch, der von morgens bis abends sich betätigt, ein, wie soll ich sagen, ein verdammter Mensch ist, er gehört der Hölle. Das ist kein Leben. Sehen Sie, das Tier macht überhaupt nichts. Es ißt und sieht zu. R: Damit sind wir nun wieder beim Adam-und-Eva-Problem, beim Sündenfall. In Ihren Augen ist es auch der Sündenfall. Wir selber sind vielleicht — was heißt »wir«, zumindestens ich würde sagen, bin so ein bißchen glücklich, daß ich in diesen gräß-lichen Zwiespalt geraten bin, und ich weiß genau, daß ich mich erstens vom Tier unterscheide, in einer Frau niemals nur das Tier sehen würde, und zweitens, daß ich auf der anderen Seite sage: Ich könnte mit diesem Paradies der Tiere nicht viel an-fangen. C: Wissen Sie, mit der Frau, das brauchen wir nicht sehr einfangen. Man muß hier absolut aufrichtig sprechen. Man muß die Ehrlichkeit haben, einen Geschlechtsakt zu betrachten. Er ist etwas außerordentlich Wichtiges und zur selben Zeit etwas ganz Nichtiges, er ist fast lächerlich. R: In diesem Punkt widersprechen wir uns überhaupt nicht. Es ging mir um die Einschätzung der Frau als menschlichen Partner. C: Gut, aber für mich ist die Frau ein nebensächliches Problem. Ich könnte ohne Frau physisch nicht leben, aber das ist, sagen wir, metaphysisch unwichtig. Die wichtigen Probleme bestehen außerhalb dieser strengen Notwendigkeit oder ge-nauer: dieser Fatalität. Sie löst das wichtige Problem des Menschseins überhaupt nicht. Ich habe immer den Eindruck, daß das Leben, das wir leben, nicht das richtige Leben ist. Das richtige Leben — wie soll ich sagen, für mich ist es ein kontempla-tives Leben. R: Genau. Davon sind wir auch ausgegangen. Ich sagte: Sie sind auf der einen Seite fast ein Mönch, Sie folgen auf eine eigene und eigenartige Weise dem evan-gelischen Gebot der Armut und schließlich auch der Enthaltsamkeit in bezug auf

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die Frau. Gleichzeitig haben Sie aber dem Trieb Tribut gezahlt und sich gesagt: Das Biologische muß ich ja in Anspruch nehmen. Da gibt es für mich allerlei In-konsequenzen. C: Wissen Sie, ich werde Ihnen auch jetzt nochmal eine indirekte Antwort geben. Flaubert hat einmal gesagt: Ich bin ein Mystiker und ich glaube an nichts. Dies Wort ist wie ein Stempel auf mein Leben, wie soll ich sagen — in dieser Unverein-barkeit sind alle Widersprüche, die ich gelebt habe, einbegriffen: um Mystiker zu sein, das heißt, an eine Grenze gelangt zu sein und etwas doch behauptet zu haben und zugleich sich nicht zu beteiligen. Ich fühle mich in der Welt als ein Mensch, der sich an nichts beteiligt. R: Das klingt, als könne man das Wort »Mystiker« durch »Zyniker« ersetzen. Ich glaube, Ihre Religion besteht in einer gewissen Form der Forderung von Asoziali-tät, weil eine Sozialität von solchen Heiligen, wie wir sie heute überall predigen hören — daß diese Sozialität eigentlich etwas ganz Falsches tut, nämlich nur jenes Mitleid zurechtmacht, das, wie Nietzsche immer schon meinte, das Schlimmste ist, was man an Hochmut gegen andere aufbringen kann. C: Ich bin absolut einverstanden. Das muß ich ganz zugestehen: Ich bin absolut asozial, obwohl ich das Leiden meiner Mitmenschen ganz von nahe kenne. Ich bin kein Sozialist, weil für mich die soziale Frage unlösbar ist. Also nicht aus Mitleidlo-sigkeit, nicht aus Mangel an Interesse am Mitmenschen; aber ich betrachte das als etwas, das nicht wichtig ist. Das Elend ist nebensächlich. Ich habe jahrelang mit Kartoffeln gelebt, ich habe fast nur Kartoffeln gegessen. Ich habe das Elend ge-kannt, aber das ist unwichtig. Wichtig ist, was einer ist. Das größte Erlebnis in Paris war für mich als Philosoph ein Bettler, der aus Beruf Bettler war. R: Ich finde einen schönen Aphorismus von Ihnen, der dazu gehört: »Schauen Sie sich die Fresse des Menschen an, der auf irgendeinem Gebiet Erfolg hatte, der sich abgemüht hat. Sie finden da nicht die mindeste Spur von Mitleid. Er ist aus dem Stoff, aus dem der Feind gemacht ist.« C: Wissen Sie, ich habe viele Leute gekannt, deren Leben ein Erfolg war. Ich muß sagen: Diese Leute sind eine große Enttäuschung für mich gewesen. Im Gegenteil, die Leute, die ihr Leben verfehlt haben — die sind viel interessanter. Ich würde es sogar schärfer ausdrücken: wenn jemand mit seinem Leben zufrieden ist, dann ist er metaphysisch uninteressant. Die Menschen, die wirklich interessant sind, sind diejenigen, die sich nicht, wie soll ich sagen, objektiv verwirklicht haben. R: Ein gewisser Widerspruch tut sich Ihnen hier selber auf. Sie haben viele Bücher geschrieben, sind viel diskutiert, sicherlich auch viel attackiert worden. Gleichzeitig muß man sagen: Sie haben sich auf eine Weise manifestiert in diese Geschichte hinein, die Sie so hassen, und dadurch sind Sie sich selbst ein Paradox. C; Es gibt Paradoxe im Leben, die man annehmen muß, ohne zu versuchen, sie zu erklären. Ich bin ein Gegner der Geschichte, und Sie haben absolut recht, ich ge-höre da nicht hin. Aber was wichtig ist: wofür einer sich unbedingt einsetzt. Für mich ist es die Richtung meines Denkens oder meines Erlebens, für mich strebe ich an, die Geschichte zu überwinden. Ich kann das nicht, weil es unmöglich ist. Und Sie wissen, daß wir speziell in Westeuropa, im Abendland, von Geschichte wie an-gesteckt sind, das ist unsere Krankheit. R: Spricht hier nicht Ihre Verbindung zu dem Volk mit, aus dem Sie stammen?

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Man spricht ja oft von dem ausgesprochenen Sinn der Rumänen für die Skepsis, ja den Nihilismus. C: Ich kenne Deutschland, ich kenne Frankreich und Italien, ich kenne Spanien und England. Aber es gibt kein Volk, das so skeptisch-nihilistisch, so pessimistisch ist wie die Rumänen. Denn das Grunderlebnis der Rumänen ist das Erlebnis der Vergeblichkeit, und das habe ich in meiner Kindheit gelebt, ja, ich muß sagen: Das war für mein ganzes Leben — eine belastende Erbschaft. R: Ich glaube, in Ihrem letzten Buch schreiben Sie mal: Ich hasse die Okzidenta-len, weil sie das lieben, weil sie es geradezu fordern, daß man sie haßt. Also Sie hassen sie und fühlen sich als Orientale? C: Ja, ich fühle mich als Orientale. Als ich nach Westeuropa kam, kam ich mit dem Gefühl: Westeuropa ist ohne Zukunft. Das ist ein verdammter, wie soll ich sa-gen, ein zukunftsloser Erdteil. Selbstverständlich hat auch Osteuropa keine Zu-kunft, das weiß ein jeder, aber das hat auch keine Geschichte. Zukunft existiert nicht; von dorther hat man eine gute Perspektive über Europa. Ich lebe jetzt seit über 30 Jahren in Westeuropa, aber ich lebe als Ausländer, fühle mich Ausländer. R: Jetzt kommen wir wirklich auf das Thema zurück, was letzten Endes zum zentralen Problem für Ihre Bücher wird. Soweit ich ein bißchen geschichtsbewußt und in größeren Traditionen lebe und eben Kinder habe, so habe ich auch das Ge-fühl: Wenn Sie die Fortschrittsgesinnung geißeln, dann kriegen Sie im Augenblick unerhört viel Recht. Sie sagen: Osteuropa hatte keine Geschichte, und ich als Orientale — darf ich Sie so nennen? — habe das Gefühl, die einzige Geschichte, die wirklich gemacht wird, und zwar auf unheilvollste Weise und im Weltmaßstab unter dem großen Affen Gottes, genannt der Teufel, ist die Geschichte des Okzi-dents, sozusagen unsere Geschichte, die mit ihrer Fatalität nun demnächst zu einer totalen Katastrophe führt. So etwa lese ich es aus Ihren Büchern. C: Als ich vor dem Krieg hierher kam, sagten die Leute auf der Straße: Die Lage ist so; wir müssen das tun, wir müssen das machen. Gleich nach der Niederlage Frankreichs während des Krieges bemerkte ich hier in Paris und dann später, der Franzose hat nur noch eine Idee: weg von der Geschichte, keine Verantwortung mehr. Alle lebten in dieser Richtung. Das ist vielleicht scharf ausgedrückt, aber ich würde mehr sagen: Dies Gefühl ist jetzt üblich in England, auch in Deutschland, im ganzen Westen Europas. R: Ist das nicht eine ganz große Inkonsequenz Ihrer eigenen Philosophie, daß Sie sozusagen den Europäern die Verantwortungslosigkeit vor der Geschichte vorwer-fen, obwohl Sie ja selber sagen: Die einzige Rettung ist, daß man geschichtslos ist? C: Selbstverständlich. Aber wenn ich gegen die Geschichte bin, so auf einer meta-physischen Ebene. Dieses Westeuropa ist nicht gegen die Geschichte aus metaphy-sischen Gründen, sondern aus Unfähigkeit, aus Erschöpfung. Übrigens hat auch Franc is Bondy diese Inkonsequenz bemerkt, vor 20 Jahren in einer Besprechung der »Neuen Zürcher Zeitung«, wo er sagte: Auf der einen Seite ist Cioran gegen die Geschichte, auf der anderen sagt er: Europa will aus der Geschichte heraus. R: Ich habe mich in unserem Gespräch schon an Ihre Paradoxien gewöhnt, aber Sie müssen ja mit denen leben. C: Nein. Dieser Erdteil war das Zentrum der Weltgeschichte seit Jahrhunderten, und wir in Osteuropa haben dieses Westeuropa angebetet, und deswegen bin ich

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auch nach Paris gekommen. Um zu sehen, das ist bloße pure Vergangenheit. Wür-den die Westeuropäer die Geschichte aus metaphysischen oder mystischen Gründen ablehnen, wie zum Beispiel Indien, dann würde ich zustimmen; aber es ist aus purer Müdigkeit, aus purer Aushöhlung. Es sind Völker, die keine Mission mehr haben. R: Wenn wir jetzt schon so weit in die Politik gekommen sind und wahrscheinlich die buddhistischen Strömungen in Westeuropa als eine etwas lächerliche Mode an-sehen, die sie ja weitgehend auch sein mag: Kommt es nicht fast darauf hinaus, daß Sie jetzt hoffen, daß vielleicht China die Weltgeschichte demnächst in den Griff bekommt. C: Davon bin ich überzeugt, auch für die Zukunft Chinas bin ich absolut über-zeugt. 1890 kam der größte russische Philosoph von damals, Wladimir Solowjew, nach Paris und hielt einen Vortrag über den Panmongolismus. Die Leute fanden ihn lächerlich. Was er vorhergesagt hat, ist heute Realität: Die Zukunft ist dort. R: Da muß ich aber etwas einschränken. Für Solowjew war doch zum Teil der Pan-mongolismus eine Bedrohung des dritten Roms und nicht so sehr Westeuropas — er hat ja an das dritte Rom in Moskau auch noch geglaubt bis zu seinem Ende. C: Vergessen Sie nicht, daß er sich fast zum Katholizismus bekehrt hat. Aber ver-stehen Sie: Ich persönlich glaube, daß Europa in 10, 20 oder 50 Jahren vollständig von Rußland beherrscht wird — nicht militärisch, aber die Hegemonie Rußlands scheint mir eine unvermeidliche. Dennoch wirkt das historisch provisorisch, die Zu-kunft gehört bestimmt China oder den Negern, oder ich weiß nicht. Demgegenüber lebt und denkt Europa als ein zukunftsloser Erdteil. Aber alles das, muß ich hinzu-fügen, ist doch nebensächlich. Historische Probleme, das ist Journalismus im Grunde. Vielleicht ist die Philosophie der Geschichte auch ein Journalismus. R: Da kommen wir wirklich in eine schwierige Sache. Welt- und Heilsgeschichte, wie sie fast in allen Religionen gelehrt wird, war doch niemals bloßer Journalismus, sondern Bestandteil auch der Selbstverwirklichung des je einzelnen Menschen. Schließlich hat auch die große Therese von Avila noch die Päpste beraten, sie war auch nicht so eine ganz unpolitische Frau. C: Ich habe vor einem Monat einen merkwürdigen Mann getroffen, einen Minister aus dem Libanon, politisch links eingestellt, sogar radikal. Was mich an ihm inter-essierte: er war ein Fanatiker des Vedanta und in der indischen Metaphysik sehr bewandert. Ich habe ihn gefragt: Wie können Sie zugleich Minister sein und An-hänger einer Metaphysik, die hundertprozentig unhistorisch, ja antihistorisch ist? Seine Antwort: Theoretisch ist es ein Widerspruch, aber praktisch nicht. Für mich ist die Geschichte ein Schein, und insofern ich in diesem Schein lebe, tue ich meine Pflicht, bin ich ein Minister. Das ist mein Beruf, aber das ist nicht wichtig; ich mache es gut, aber ohne zu glauben. Für mich ist das Wichtigste anderswo. Ist das nicht die Antwort auf Ihre Fragen? R: Das ist die Antwort auf Ihre Frage an den Minister, aber nicht auf meine Frage. Wir fingen ja an: Warum haben Sie sich nicht das Leben genommen? Warum tun Sie so viel in eine Geschichte hinein, die von Ihnen als nicht einmal er-lösungsmöglich angesehen ist. Was für mich eigentlich das Schlimmste war, was Sie mir in diesem Gespräch gesagt haben, ärger als die größte Weltkatastrophe, die auch im Evangelium schon angekündigt ist. C: Wissen Sie, ich glaube, man muß aufrichtig mit sich selbst sein und sich auch

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zu allen Widersprüchen bekennen. Ich habe immer wieder gesagt, daß ich nicht für die Weltabgeschiedenheit veranlagt bin, obwohl diese Abgeschiedenheit mein Ideal war. Und ich glaube, wir alle, die in der jüdisch-christlichen Tradition erzogen worden sind, sind nicht dafür begabt. Das ist der Grund, weshalb ich nie ein richti-ger Buddhist sein konnte. R: Jetzt bin ich fast versucht, diese Frage, die ich stellen wollte, wieder selber in Frage zu stellen. Sie sagten ursprünglich, die Rumänen seien von Natur aus nicht nur Skeptiker, sondern sogar Zyniker. Meinen Sie sich selber auch damit? C: Die griechischen Zyniker gehören zu meinen Lieblingsautoren. Diogenes war der Mann, den ich unheimlich schätzte, und der Philosoph, den ich in dieser grie-chischen, abendländischen Tradition am meisten schätze, ist Pyrrhon, der Skeptiker. R: Eins bewundere ich an Ihnen: daß Sie im Grunde genommen dieses Leben rea-lisiert haben. Sie sagen uns mit Recht: Wenn Ihr nicht lernt, jeden Tag ein neues Bedürfnis einzustellen, dann kommt Ihr nicht mehr weiter. Eigentlich sagt das der Club of Rome schon heute. Die Frage bleibt: Wie glauben Sie — und damit kom-men wir wieder zur Geschichte — läßt sich so etwas kollektiv realisieren? C: Absolut nicht. Denn ich betrachte mich ja als einen Vertreter des Endes der Geschichte. Ich glaube wirklich, daß die Menschheit enden wird, wenn alle Men-schen wie ich sein werden. Das ist keine Überheblichkeit — R: Bei Ihrer Zeugungsunlust ist das vollkommen klar. Am Ende unseres Gesprächs stelle ich mir die weitere Weltgeschichte fast als einen Kampf der Kinderlosen ge-gen die Kinderbesitzer vor, zwischen denjenigen, die noch eine Zukunft hier erwar-ten und denen, die sagen: Zukunft hat das eh nie gehabt. Hab' ich jetzt übertrieben? C: Nein, Sie haben nicht übertrieben. Es wird immer Menschen geben, die nicht mehr an die Zukunft glauben. Ich glaube, daß die Fortschrittsidee jetzt wirklich überwunden ist, aber es wird schon weitergehen. Die Zukunft wird wahrscheinlich als Zukunft eine unheimliche Rolle spielen, aber die Menschheit wird den Glauben an die Zukunft mehr und mehr verlieren. Ich glaube, wir treten in eine Phase der Geschichte ein, wo die Tragödie, wie soll ich sagen, alltäglich werden wird. R: Wenn Sie gesagt hätten: »Das Prinzip Hoffnung hat ausgespielt«, dann hätte ich gesagt: »Ja, das hat nun wirklich ausgespielt«. Aber das Prinzip Glaube? C: Vielleicht wird die Menschheit die Wahrheit entdecken — ich meine die Wahr-heit als vollständige Hellsicht, wenn keine Illusion mehr besteht. Aber dann wird die Geschichte aufhören. R: Nach dem Prinzip Hoffnung und dem Prinzip Glaube eine letzte Frage: das Prinzip Freiheit. Was halten Sie davon, weil Sie damals in Berlin lebend, unter den Nazis, nach Paris gegangen sind, um Ihr Denken in seiner, wir sagten es schon, asozialen Form fast für sich allein zu erhalten? Was bedeutet Ihnen Freiheit? C: Freiheit ist für mich das Recht, Häretiker zu sein. Ich könnte nicht leben in einem Staat, wo die eine offizielle Philosophie gilt; denn ich bin in meinem Tempe-rament Häretiker, sogar ein Abtrünniger. Freiheit ist für mich die Möglichkeit, nicht nur anders zu denken als die anderen, sondern seine eigentlichen Wider-sprüche ungezwungen zu leben. Wo keine Freiheit ist, muß man die inneren Widersprüche verheimlichen und das ist nicht gut für das Gleichgewicht eines Menschen. Wenn Sie so wollen, ist Freiheit für mich einfach die einzige Form der Gesundheit.

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